Zum Problem des genetischen Lehrens. - Martin Wagenschein
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Darlegen<strong>des</strong> und genetisches Lehren<br />
In den folgenden Beispielen stelle ich dem <strong>genetischen</strong> Unterricht den vorwiegend üblichen<br />
gegenüber, den ich also „darlegend“ nennen möchte. „Dogmatisch“, wie man manchmal sagt,<br />
wäre nicht treffend, denn der Schüler braucht in ihm nicht rezeptiv zu bleiben und kann vom<br />
Denken Gebrauch machen. Ganz irreführend wäre es, nur ihn als „systematisch“ zu<br />
bezeichnen, denn auch das genetische Verfahren hat immer das Ziel, Ordnung zu stiften.<br />
Nur ist die Entdeckung <strong>des</strong> Systems (besser: der Systematisierbarkeit eines Gegenstandsberei-<br />
ches) psychologisch und pädagogisch gesehen, etwas ganz anderes als die Kenntnisnahme<br />
(auch die verstehende), der dem Fachmann vorliegenden (nicht dem Anfänger) fertigen Struktu-<br />
ren: mit Hilfe von Denkwerkzeugen, die zu diesem Zweck (dem Schüler nicht erkennbaren<br />
Zweck) vorher eingeübt werden. Dieses darlegende Lehren ist vergleichbar der Führung durch<br />
eine geordnete Ausstellung der Funde einer abgeschlossenen Expedition. Dabei kann sie eine<br />
gute Führung sein, indem sie den Geführten zu Worte kommen, fragen und verstehen lässt,<br />
und ihm sogar Aufgaben stellt, die ihm kleinere Schritte selbsttätig zu tun erlauben.<br />
Für das genetische Verfahren folge nun als<br />
1. Beispiel: Erdgeschichte<br />
Wie wird ein darlegender Lehrgang für dieses Thema gebaut sein? Er wird von „außen“<br />
heranführen an das schon geklärte, fertige, dem Lehrer in Raum und Zeit transparente<br />
Erdbild. Er wird vielleicht zuerst, wie von weither kommend, die Kugelgestalt ins Auge fassen,<br />
etwas vorausschicken über die mutmaßliche Entstehung <strong>des</strong> Erdballs, um dann die einzelnen<br />
Teile seiner Schale, geordnet nach Aggregatzuständen, vorzunehmen: Gesteinshülle,<br />
Gewässer, Atmosphäre.<br />
Ein genetischer Lehrgang nun wird etwa dieselben Tatsachen und Theorien – nicht<br />
„bringen“, sondern – entdecken lassen. Er meint die eigentliche, die lebende, nicht die ihre<br />
Funde sichernde und zur Nutzung übersichtlich verwaltende Wissenschaft. Er verlässt sich<br />
darauf, „dass uns die Betrachtung der Natur zum Denken auffordert“ 7 .<br />
Er braucht dazu, am Anfang, eine weittragende Frage, die sich dem unbefangenen, aber<br />
wachen Menschen aufdrängt aus der ruhigen, von Vorkenntnissen nicht geleiteten und auch<br />
nicht belasteten, Betrachtung der originalen Sache selbst. Das ist hier die Landschaft. Und<br />
zwar in ihrer Veränderung. – Während der darlegende Lehrgang dazu neigen wird, zuletzt<br />
erst auf die Veränderungen durch die a) „exogenen“, b) „endogenen Kräfte“ zu kommen,<br />
und dann erst auf die Vergangenheit der Erde, wird der genetisch vorgehende sich sofort von<br />
den zeitlichen Fragen in Bewegung setzen lassen, weil sie uns ungerufen bedrängen und be-<br />
unruhigen. Denn sie rühren an unsere eigene Vergänglichkeit. Der Lehrer hat die Aufgabe,<br />
solche Fragen in einer Schülergruppe virulent zu machen, ohne sie auszusprechen. In<br />
unserem Fall gibt es wohl viele Möglichkeiten. Ich berichte über eine, an Sekundanern<br />
erprobte; jungen Leuten also, die schon viel draußen herumgelaufen sind.<br />
7 Goethe am 12. Mai 1801 an Steffens. (Zitiert nach A. Flitner: Goethe an Wilhelm von Humboldt,<br />
in: Goethe, Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft, Weimar, 1965.)<br />
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