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<strong>Martin</strong> <strong>Wagenschein</strong>: Zusammenhänge der Naturkräfte. Das Gefüge des physikalischen Naturbildes, Braunschweig: Vieweg 1937<br />

28. Januar 2000<br />

Auf CD-ROM gefasst von Prof. Dr. Michael Soostmeyer, Essen 2000, Kraneburgstraße 81, D 46240 Bottrop


<strong>Martin</strong> <strong>Wagenschein</strong>: Zusammenhänge der Naturkräfte. Das Gefüge des physikalischen Naturbildes, Braunschweig: Vieweg 1937<br />

28. Januar 2000<br />

10 Abbildungen<br />

Umschlag Heinz Menz, Berlin<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

Druck von Fried. Vieweg & Sohn, Braunschweig<br />

Printed in Germany<br />

Auf CD-ROM gefasst von Prof. Dr. Michael Soostmeyer, Essen 2000, Kraneburgstraße 81, D 46240 Bottrop


<strong>Martin</strong> <strong>Wagenschein</strong>: Zusammenhänge der Naturkräfte. Das Gefüge des physikalischen Naturbildes, Braunschweig: Vieweg 1937<br />

28. Januar 2000<br />

Meiner Lieben Frau<br />

zu eigen<br />

Auf CD-ROM gefasst von Prof. Dr. Michael Soostmeyer, Essen 2000, Kraneburgstraße 81, D 46240 Bottrop


<strong>Martin</strong> <strong>Wagenschein</strong>: Zusammenhänge der Naturkräfte. Das Gefüge des physikalischen Naturbildes, Braunschweig: Vieweg 1937<br />

28. Januar 2000<br />

{VII}<br />

Vorwort *)<br />

Michael Faraday (1845)<br />

„Längst hegte ich ... die fast an Überzeugung<br />

grenzende Meinung, daß die verschiedenen<br />

Formen, unter denen die Naturkräfte sich<br />

offenbaren, einen gemeinsamen Ursprung haben<br />

oder, mit anderen Worten, in so unmittelbaren<br />

Verwandtschaft und gegenseitiger Abhänigkeit<br />

steheh, daß sie sich in einamder verwandeln<br />

können....“<br />

Ohne irgendwelche mathematischen oder physikailischen Kenntnisse oder<br />

Fertigkeiten vorauszusetzen, wendet sieh dieses Buch nur an den Forschungstrieb,<br />

den Natursinn und die Nachdenklichkeit eines unbefangenen Lesers. Die<br />

Darstellung hält sich nach Möglichkeit an das Offenbare und Anschauliche, ohne<br />

doch zu verbergen, daß die Physik enge Wirklichkeit anderer Art nicht entbehren<br />

kann. Sie beschränkt sich außerdem auf die sogenannte klassische Physik, aber<br />

nicht als etwas Abgeschlossenes, sondern als das Durchgangstor zur modernen<br />

Physik.<br />

Die Welt umgibt uns, und wir erfahren von ihr durch Auge und Ohr und die<br />

anderen Sinnesorgane. Sie sind wie Feinster für die Seele. Jedes zeigt uns einen<br />

anderen Ausblick, undd so zerfällt die Natur vor unserem nachdenklichen Blick<br />

wie eine Landschaft, die wir durch verschiedene Luken eines Turmens sehen.<br />

Die Welt erscheint eins als eine Vielfältigkeit von Erscheinungen und Kräften:<br />

Licht, Schall, Schwere, Elektrizität und anderen. Es ist immer ein Hauptziel der<br />

physikalischen Forschung gewesen, einen verbindenden Zusammenhang zu<br />

suchen zwischen diesen verschiedenen Naturkräften, einen gemeinsamen<br />

Untergrund, in dem sie sieh vereinigen.<br />

* Das Vorwort wendet sich mehr an physikalisch mehr schon unterrichteten, die<br />

Einführunug vorwiegend an den von Vorkenntnissen ganz freien Leser.<br />

Auf CD-ROM gefasst von Prof. Dr. Michael Soostmeyer, Essen 2000, Kraneburgstraße 81, D 46240 Bottrop


<strong>Martin</strong> <strong>Wagenschein</strong>: Zusammenhänge der Naturkräfte. Das Gefüge des physikalischen Naturbildes, Braunschweig: Vieweg 1937<br />

28. Januar 2000<br />

{VII}<br />

Nun scheint es aber in unserer menschlichen Natur begründet zu sein - und in der<br />

großen Natur überhaupt, von der wir nur ein kleiner, aber das Ganze spiegelnder<br />

–Teil sind daß dieses Unternehmen ganz nur gelingen kann mit Hilfe von<br />

Begriffen und Worten von eigener Art. Von solchen nämlich, die etwa bedeuten,<br />

das unseren Sinnen unmittelbar immer unzugänglich bleiben muß (Atome,<br />

Elektronen, Äther, Kraftlinien usw.). Nicht aus Zufall oder weil wir so weit noch<br />

nicht gekommen sind, sondern weil dies Begriffe sind, deren Dasein auf einer<br />

ganz anderen Bühne spielt als das des Wassers, des Steines, des Lichtes und all<br />

der anderen Dinge unserer täglichen Umwelt.<br />

So kommt es, daß der Laie, der von den letzten Zusammenhängen am stärksten<br />

angezogen wird, vom Fachmann immer gerade auf diese geheimnisvollen<br />

Begriffe sich hingewiesen sieht, daß aber alle diese Versuche volkstümlicher<br />

Darstellung der wissenschaftlichen Ergebnisse zuletzt etwas Unbefriedigendes<br />

behalten müssen. Weil nämlich der Laie gerade die letzten Begriffe mißverstehen<br />

muß, indem er glaubt, sie bedeuteten etwas von derselben Art wie die Dinge, die<br />

seine Augen sehen, seine Ohren hören und seine Hände greifen können.<br />

Diese Mißverständnisse haben nicht nur zur Folge, daß der Wißbegierige, ohne es<br />

zu bemerken, etwas anderes erhält als er sticht. Sie sind mitverantwortlich zu<br />

machen für die Verbreitung jener Auffassung von der Natur, die wir durch das<br />

Wort "Materialismus" bezeichnen, und die im Volke weit länger lebt und wirkt<br />

als in der Wissenschaft selbst.<br />

Aus dieser Notlage gibt es zwei Auswege (- beide unvollkommen, da der<br />

vollkommene mir das jahrelange gründliche Fachstudium ist, das aus dem Laien<br />

einen Fachmann werden läßt).<br />

Entweder: man macht gemeinsam mit dem Laien eine Tiefenbohrung an einer -<br />

fast beliebigen - Stelle des physikalischen Arbeitsfeldes und lehrt ihn weniger<br />

Ergebnisse als Arbeitsweise. Dann sieht er an einem Problem, welcher Art die<br />

letzten Begriffe sind, und ahnt, wie das Ganze zu verstehen ist.<br />

Oder: man versucht, wie weit man in der Beschreibung des Zusammenhanges<br />

kommt, wenn man die allerletzten Dinge meidet und sieh möglichst daran hält,<br />

wie sie sich im Sinnlichen, im Offenbaren kundgeben.<br />

Auf CD-ROM gefasst von Prof. Dr. Michael Soostmeyer, Essen 2000, Kraneburgstraße 81, D 46240 Bottrop


<strong>Martin</strong> <strong>Wagenschein</strong>: Zusammenhänge der Naturkräfte. Das Gefüge des physikalischen Naturbildes, Braunschweig: Vieweg 1937<br />

28. Januar 2000<br />

IX<br />

Dieser Versuch ist hier gemacht. Er schließt nicht aus, daß der Leser außer den<br />

Ergebnissen nach Möglichkeit auch die Wege erfährt, auf denen man zu ihnen<br />

gekommen ist. Ja, es war mir wesentlich, daß er tätig und urteilend selbst an dem<br />

Gedankenfortschritt teilnehmen könne.<br />

Der Versuch kann nur gelingen, wenn auch seine Sprache sich frei hält von den<br />

erstarrten und unlebendigen -Formulierungen der Wissenschaft. Damit geht<br />

freilich auch der Vorzug der wissenschaftlichen Ausdrucksweise verloren: die<br />

unmißverständlich verabredete Eindeutigkeit ihrer Bezeichnungen. Aber darauf<br />

kommt es hier nicht so sehr an. - Wer von den vielen Gleichnissen aus der<br />

menschlich-sinnlichen Welt unwissenschaftlich berührt wird, bedenke, daß auch<br />

die wissenschaftlichen Worte im Anfang Gleichnisse waren (wir sprechen von<br />

magnetischer "Abstoßung", von "lebendiger Kraft") und nur scheinbar, durch ihre<br />

Abgegriffenheit, diesen Zug verloren haben. - Auch einzelne Fachwörter sind<br />

vermieden, denn gerade sie geben keine Erkenntnis, täuschen sie aber oftmals<br />

vor. Damit aber der Leser, der weiter vordringen will oder schärfer nachdenkt<br />

oder schon dies und jenes weiß, einen Anschluß findet, sind die Anmerkungen<br />

angefügt.<br />

Im Ganzen wäre es mir schon eine Freude, wenn es mir gelänge, davon zu zeugen,<br />

daß die schimmernde Welt sich vor dem Blick des wissenschaftlich Denkenden<br />

und Lernenden nicht in ein graues und lebloses Gerüst entzaubert, daß sie<br />

vielmehr weiter und erfüllter wird, bereichert durch unzählige Fäden der Beziehung<br />

und ergänzt durch einen Hintergrund von eigener Wirklichkeit.. In ihm verbinden<br />

sich die vielen Wunder, von denen wir umgeben sind und laufen gleichsam<br />

perspektivisch zusammen auf wenige Urgeheimnisse, deren Rätsel in demselben<br />

Maße tiefer werden, indem ihre Zahl sich vermindert.<br />

Darmstadt, Herbst 1937<br />

Dr. <strong>Martin</strong> <strong>Wagenschein</strong><br />

Auf CD-ROM gefasst von Prof. Dr. Michael Soostmeyer, Essen 2000, Kraneburgstraße 81, D 46240 Bottrop


<strong>Martin</strong> <strong>Wagenschein</strong>: Zusammenhänge der Naturkräfte. Das Gefüge des physikalischen Naturbildes, Braunschweig: Vieweg 1937<br />

28. Januar 2000<br />

Inhalt (Originalfassung)<br />

Einführung<br />

1<br />

Trägheit und Gravitation 4<br />

Das Fallen 4<br />

Ohne Schwere 4<br />

Trägheit 5<br />

Gravitation 7<br />

Vergleich mit dem Magnetismus 8<br />

Wonach die Gravitation sich richtet 9<br />

Erklärung der Schwere 11<br />

Warum alle Dinge gleich schnell fallen 13<br />

Fällt der Mond? 14<br />

Die Flut 17<br />

Die Welt im Großen 21<br />

Bewegung und Wärme 24<br />

Einleitung 24<br />

Die B r o w n sche Bewegung 25<br />

Gedanken über das Vorige<br />

26<br />

Reibung 29<br />

B r o w n s c h e Bewegung und Wärme 30<br />

Bedeutung 31<br />

Was Wärme ist. 32<br />

Bestätigungen 34<br />

Eine Lücke 36<br />

Rückblick 37<br />

Wärme und Licht 42<br />

Einleitung 42<br />

Plan 42<br />

Das Ende des Lichtes 43<br />

Die Entstehung des Lichtes 44<br />

Der Vorläufer 45<br />

Das Gesetz des Vorläufers 46<br />

Der Begleiter 47<br />

Frage 47<br />

Vergleich (Schall) 48<br />

Antwort 50<br />

Licht und Elektrizität 52<br />

Frage 52<br />

Leuchten ist nicht die innere Unruhe selbst 52<br />

Leuchten ist etwas Feineres und Geordneteres 53<br />

Von der Elektrizität 57<br />

Elektrische Schwingung 59<br />

Sender für schnelle elektrische Schwingungen 60<br />

Empfänger für schnelle elektrische Schwingungen 61<br />

Ein zweiter Wesenszug des Elektrischen 61<br />

Abstimmung 62<br />

Licht und elektrische Schwingung 63<br />

Licht als Wechselspiel 64<br />

Was Licht ist 65<br />

Kürzere Darstellung für die fünf letzten Abschnitte 66<br />

Folgerungen und Einsichten 67<br />

Leuchten<br />

67<br />

Kleine Sender 67<br />

Kunstvolle Sender 67<br />

Leuchtendes Gas 68<br />

Gegenprobe 68<br />

Aus Wärme: Licht 69<br />

Aufglühen 69<br />

Auf CD-ROM gefasst von Prof. Dr. Michael Soostmeyer, Essen 2000, Kraneburgstraße 81, D 46240 Bottrop


<strong>Martin</strong> <strong>Wagenschein</strong>: Zusammenhänge der Naturkräfte. Das Gefüge des physikalischen Naturbildes, Braunschweig: Vieweg 1937<br />

28. Januar 2000<br />

Immer Strahlung 69<br />

Aus Licht: Wärme 70<br />

Aus Licht: Licht 70<br />

Das elektrische Auge 71<br />

Elektrizität als Fundament 71<br />

Elektrizität und Magnetismus 74<br />

Der Magnet bewegt alles 74<br />

Alles kann Magnet werden 74<br />

Das Grundgesetz 75<br />

Gegenseitigkeit 76<br />

Vergleich mit der Elektrizität 77<br />

Was Magnetismus ist 79<br />

Ergänzungen<br />

82<br />

Der dritte Wesenszug des Elektrischen 82<br />

Die kleinen elektrischen Kreisel 84<br />

Einwände und Antworten 85<br />

Was ist “Magnetisch Machen”? 86<br />

Der Verlust des Magnetismus 88<br />

Die Brücke 92<br />

Rückblick 92<br />

Materie und Elektrizität 93<br />

Der leere Raum 97<br />

Besinnung 101<br />

Zusammenfassung 103<br />

Zusammenfassungen des Ganzen 109<br />

Anmerkungen 113<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

(Fassung für den Gebrauch der digitalen Fassung)<br />

(Diese Fassung ist aktiv! Sie verschiebt die Seitenzahlen nach oben. Durch Aktivierung<br />

der Seitenzahlen (darauf klicken!) gelangt man unmittelbar zu dem Kapitel, zu dem man will. Die<br />

Seitenzahlen des Originales sind in { n; 2n+1 } Klammern oben rechts des Seitenanfanges gesetzt.)<br />

Einleitung................................................................................................................................. 10<br />

Trägheit und Gravitation......................................................................................................... 14<br />

Das Fallen ................................................................................................................................ 14<br />

Ohne Schwere .......................................................................................................................... 14<br />

Trägheit .................................................................................................................................... 15<br />

Gravitation................................................................................................................................ 17<br />

Vergleich mit dem Magnetismus............................................................................................. 18<br />

Wonach die Gravitation sich richtet........................................................................................ 19<br />

Erklärung der Schwere............................................................................................................ 21<br />

Warum alle Dinge gleich schnell fallen.................................................................................. 23<br />

Fällt der Mond? ....................................................................................................................... 24<br />

Die Flut..................................................................................................................................... 27<br />

Die Welt im Großen ................................................................................................................. 31<br />

Bewegung und Wärme............................................................................................................. 34<br />

Einleitung................................................................................................................................. 34<br />

Auf CD-ROM gefasst von Prof. Dr. Michael Soostmeyer, Essen 2000, Kraneburgstraße 81, D 46240 Bottrop


<strong>Martin</strong> <strong>Wagenschein</strong>: Zusammenhänge der Naturkräfte. Das Gefüge des physikalischen Naturbildes, Braunschweig: Vieweg 1937<br />

28. Januar 2000<br />

Die B r o w n sche Bewegung.................................................................................................. 35<br />

Gedanken über das Vorige ...................................................................................................... 36<br />

Reibung..................................................................................................................................... 39<br />

B r o w n s c h e Bewegung und Wärme .................................................................................... 40<br />

Bedeutung................................................................................................................................. 41<br />

Bestätigungen........................................................................................................................... 44<br />

Eine Lücke................................................................................................................................ 46<br />

Rückblick.................................................................................................................................. 47<br />

Wärme und Licht ..................................................................................................................... 52<br />

Einleitung................................................................................................................................. 52<br />

Plan........................................................................................................................................... 52<br />

Das Ende des Lichtes ............................................................................................................... 53<br />

Die Entstehung des Lichtes ..................................................................................................... 54<br />

Der Vorläufer ........................................................................................................................... 55<br />

Das Gesetz des Vorläufers ....................................................................................................... 56<br />

Der Begleiter ............................................................................................................................ 57<br />

Frage......................................................................................................................................... 57<br />

Vergleich (Schall) .................................................................................................................... 58<br />

Antwort ..................................................................................................................................... 60<br />

Licht und Elektrizität ............................................................................................................... 62<br />

Frage......................................................................................................................................... 62<br />

Leuchten ist nicht die innere Unruhe selbst ........................................................................... 62<br />

Leuchten ist etwas Feineres und Geordneteres ...................................................................... 63<br />

Von der Elektrizität .................................................................................................................. 67<br />

Elektrische Schwingung .......................................................................................................... 69<br />

Sender für schnelle elektrische Schwingungen...................................................................... 70<br />

Empfänger für schnelle elektrische Schwingungen............................................................... 71<br />

Ein zweiter Wesenszug des Elektrischen ................................................................................ 71<br />

Abstimmung ............................................................................................................................. 72<br />

Licht und elektrische Schwingung.......................................................................................... 73<br />

Licht als Wechselspiel.............................................................................................................. 74<br />

Was Licht ist............................................................................................................................. 75<br />

Kürzere Darstellung für die fünf letzten Abschnitte .............................................................. 76<br />

Folgerungen und Einsichten................................................................................................... 77<br />

Kleine Sender..................................................................................................................................... 77<br />

Auf CD-ROM gefasst von Prof. Dr. Michael Soostmeyer, Essen 2000, Kraneburgstraße 81, D 46240 Bottrop


<strong>Martin</strong> <strong>Wagenschein</strong>: Zusammenhänge der Naturkräfte. Das Gefüge des physikalischen Naturbildes, Braunschweig: Vieweg 1937<br />

28. Januar 2000<br />

Kunstvolle Sender.............................................................................................................................. 77<br />

Leuchtendes Gas................................................................................................................................ 78<br />

Gegenprobe........................................................................................................................................ 78<br />

Aufglühen. ......................................................................................................................................... 79<br />

Immer Strahlung. .............................................................................................................................. 79<br />

Aus Licht:Wärme .............................................................................................................................. 80<br />

Aus Licht: Licht................................................................................................................................. 80<br />

Das elektrische Auge. ........................................................................................................................ 81<br />

Elektrizität als Fundament ...................................................................................................... 81<br />

Elektrizität und Magnetismus.................................................................................................. 84<br />

Der Magnet bewegt alles.......................................................................................................... 84<br />

Alles kann Magnet werden ...................................................................................................... 84<br />

Das Grundgesetz ...................................................................................................................... 85<br />

Gegenseitigkeit ......................................................................................................................... 86<br />

Vergleich mit der Elektrizität................................................................................................... 87<br />

Was Magnetismus ist ............................................................................................................... 89<br />

Ergänzungen ............................................................................................................................ 92<br />

Der dritte Wesenszug des Elektrischen............................................................................................. 92<br />

Die kleinen elektrischen Kreisel........................................................................................................ 94<br />

Einwände und Antworten ........................................................................................................ 95<br />

Was ist “Magnetisch Machen”?.............................................................................................. 96<br />

Der Verlust des Magnetismus.................................................................................................. 98<br />

Die Brücke.............................................................................................................................. 102<br />

Rückblick................................................................................................................................ 102<br />

Materie und Elektrizität......................................................................................................... 103<br />

Der leere Raum ...................................................................................................................... 107<br />

Besinnung............................................................................................................................... 111<br />

Zusammenfassungen ............................................................................................................. 113<br />

Elektrizität und Magnetismus................................................................................................ 117<br />

Die Brücke.............................................................................................................................. 118<br />

Zusammenfassung des Ganzen ............................................................................................. 119<br />

Anmerkungen......................................................................................................................... 122<br />

{1}<br />

Einleitung<br />

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<strong>Martin</strong> <strong>Wagenschein</strong>: Zusammenhänge der Naturkräfte. Das Gefüge des physikalischen Naturbildes, Braunschweig: Vieweg 1937<br />

28. Januar 2000<br />

Wenn wir der Kindheit entwachsen, trennen wir die Natur in die beiden Reiche<br />

des Lebendigen und des Unbelebten. Aber es gibt Erscheinungen, Kräfte, Gesetze,<br />

die für beide Reiche gelten. Diese Vorgänge untersucht die Physik 1 ) *).<br />

Um Ordnung zu schaffen, macht sie eine Einteilung, faßt zu Gruppen zusammen.<br />

Diese sind: Schall, Wärme, Licht, Bewegung, Elektrizität, Magnetismus. - Man<br />

sieht sofort, daß diese Gruppierung nicht nach einer einheitlichen Regel gemacht<br />

ist. Die ersten drei Kapitel richten sich nach unseren Sinnesorganen (Ohr, Haut,<br />

Auge), die anderen aber nach gewissen Naturkräften (Elektrizität, Magnetismus)<br />

oder Vorgängen, für die wir nicht je einen besonderen Sinn besitzen, die wir<br />

vielmehr durch mehrere Sinne wahrnehmen. Wir wollen uns nicht daran stoßen,<br />

daß diese Einteilung nicht einheitlich ist. Sie hat natürlich ihre Gründe und ist für<br />

den Anfang nicht zu vermeiden. Wir wollen keine Unterschiede machen und<br />

allgemein von “Naturkräften” sprechen, also z. B. auch das Licht eine Naturkraft<br />

nennen. Nicht ganz im Sprachgebrauch der Wissenschaft, aber doch im Sinne des<br />

Lebens.<br />

So sehen wir die Natur durchwirkt von mehreren Naturkräften. Sie sind<br />

grundverschieden voneinander. Licht und Magnet haben nichts miteinander<br />

gemein, zwischen ihnen ist keine Brücke. So scheint es wenigstens.<br />

Aber der Mensch hat immer die Hoffnung gehabt - und die Natur hat ihn immer<br />

wieder dazu ermutigt -, daß die Naturkräfte alle miteinander in Verbindung stehen<br />

könnten. Er kann den Glauben nicht aufgeben, daß schließlich hinter aller Vielgestaltigkeit<br />

ein Gesetz und eine Kraft über die Natur herrscht. Genau wie in den<br />

verschiedenen Gesetzen eines wohlgeleiteten Staates überall dieselbe Grundidee<br />

zum Ausdruck kommt.<br />

Diese Sehnsucht ist noch nicht ganz in Erfüllung gegangen. Wieweit sie aber<br />

Wirklichkeit geworden ist, soll hier berichtet werden 2 .<br />

*) Anmerkungen Seite 113,<br />

{2}<br />

1 Wenn man dies unter “Physik” versteht, so ist die “Chemie” ein Teil von ihr. Aber ein so wichtiger und<br />

eigenartiger Teil, daß man ihn meist selbständig neben die Physik stellt, diesen Begriff also in einem engeren<br />

Sinne gebraucht. Die Chemie untersucht die gleichsam persönliche Eigenart der verschiedenen Stoffe, aus denen<br />

die Dinge gemacht sind. Sie fragt nach dem, was dem Wasser, was der Erde, was dem Kupfer eigentümlich ist.<br />

Jeder Stoff hat seine Eigenart, und von ihr hängt es ab, wie er sich mit anderen Stoffen verträgt. Die Physik – im<br />

engeren Sinne – dagegen übersieht diese Unterschiede. Sie sieht nur auf das, was alle Stoffe angeht. Alle Stoffe<br />

können z. B. warm werden, oder bewegt sein. Aber nur ein Stoff kann in allen seinen Eigenschaften so sein wie<br />

das Kupfer, eben das kann in allen seinen Eigenschaften so sein wie das Kupfer, eben das Kupfer allein. Darum<br />

wird das Kupfer in der Chemie, Wärme und Bewegung in der Physik betrachtet.<br />

2 Die Enthüllung dieser Zusammenhänge ist eine Leistung fast auschließlich des 19. Jahrhunderts.<br />

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28. Januar 2000<br />

Dieser Bericht soll nur die wichtigsten Ergebnisse bringen und er soll kurz und<br />

allgemeinverständlich sein. Das wird erkauft durch einen Verzicht: Wir wollen<br />

hier möglichst wenig sprechen von den Dingen, für die zwar der Laie ein natürliches<br />

Interesse hat - gerade heute -, die er aber nur mißverstehen kann, wenn er<br />

nicht Kraft, Willen und Zeit hat zu einem ganz gründlichen Studium. Es wird also<br />

nicht die Rede sein von Elektronen, Atomzertrümmerung, Relativitätstheorie,<br />

Kraftlinien u. a. Es handelt sich nämlich dabei um Dinge und Vorstellungen, die<br />

nicht offenkundig sind. Das heißt: sie müssen - häufig mit Hilfe komplizierter<br />

Apparate – erschlossen und können nicht selbst vorgezeigt werden. Man kann<br />

Niemanden den Aufbau des Wasserstoffatoms „zeigen“, so daß er ihn mit seinen<br />

Sinnen wahrnimmt. Und man wird es auch niemals können. Man muß ihm eine<br />

lange Kette von Experimenten vorführen, er muß Begriffe bilden und sich dann<br />

von alleine ein „<strong>Bild</strong>“ machen. Dabei sind Mißverständnisse fast unvermeidlich<br />

und Selbsttäuschungen über das, was „Verstehen“ heißt, sehr häufig.<br />

Deshalb wollen wir diese Schwierigkeit umgehen und uns möglichst an das „Offenkundige“<br />

halten, das soll heißen: an das, was mit unseren Sinnen - wenigstens<br />

grundsätzlich wahrgenommen werden könnte.<br />

Natürlich geht uns dadurch etwas an Einsicht in das physikalische Gedankengebäude<br />

verloren. Aber - abgesehen davon, daß gerade diese Teile des Gebäudes<br />

noch stark im Bau und Umbau sind - der Verlust ist nicht so sehr groß, wie man<br />

glauben sollte. Wir bekommen doch einen Blick für das Tatsachengerüst von dem<br />

dieses großartige Gedankengebäude getragen wird.<br />

Der Leser soll also offenkundige Antworten bekommen. Die Frage etwa, ob eine<br />

Verbindung zwischen Elektrizität und Magnetismus gefunden wurde, soll ihm<br />

durch die Beschreibung eines sehr einfachen Experimentes gegeben werden, das<br />

er im Grunde selbst machen könnte. Es soll vor allem die Rede sein von dem, was<br />

er sehen und hören würde, wenn er diese grundlegenden, diese überbrückenden<br />

Versuche selbst vor sich hätte.<br />

Aber hier ist etwas Wichtiges zu sagen: Diese einfachen Versuche, die hier beschrieben<br />

werden, sind meist nicht dieselben wie die, durch welche die Zusammenhänge<br />

entdeckt<br />

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28. Januar 2000<br />

{3}<br />

wurden.<br />

Die Entdeckung geschah durch außerordentlich verwickelte und sehr überlegte<br />

Experimente, deren Beschreibung ein dickes Buch erfordern würde. Sie gelang<br />

nur durch die Zusammenarbeit vieler Geschlechter und Völker im Laufe einiger<br />

hundert Jahre. Denn die Brücken zwischen den einzelnen Naturkräften sind - für<br />

uns Menschen - meist außerordentlich schwer zu erkennen. Nur mit Umständen<br />

und mit List. Sind sie aber einmal gesichert, so ist es nachträglich leicht, zu sehen:<br />

sie lassen sich auch mit ganz einfachen Mitteln darstellen. Mit ihnen konnten<br />

sie aber nicht entdeckt werden, weil die entscheidenden Schlußeffekte darin zwar<br />

„da“ sind, aber so schwach, daß unsere Augen und Hände tausendmal feinfühliger<br />

und flinker sein müßten als sie sind, um etwas davon zu merken.<br />

Die Art Versuche, die ich hier beschreibe, waren also meistens nicht geeignet, die<br />

Brücke zu finden, aber sie sind, wenn auch schwach in der Wirkung, so doch<br />

wahr und richtig, und deshalb sehr gut geeignet, die Brücke zu beschreiben.<br />

Gerade die Zusammenhänge sind oft fein wie Spinnweb für uns grobe Wesen.<br />

Und eben darum zerfällt für den Menschen, der ohne Forschung lebt, die Welt in<br />

so viele Bereiche.<br />

Der Leser wird also selten solche Versuche hören, die er selbst praktisch nachprüfen<br />

kann. Aber nur deshalb, weil es ihm etwa an einem Mikroskop fehlt, oder an<br />

einer äußerst feinen Hebelübertragung, oder an einer außerordentlich schnell rotierenden<br />

Maschine, also immer nur an „Vergrößerungs“-Apparaten irgendwelcher<br />

Art, die den Kern der Sache nicht verändern. Insofern ist er also auf den<br />

Glauben angewiesen. Aber das ist jeder, der Ergebnisse erfahren will.<br />

Die Begründungen, die hier gegeben werden, sind nur Andeutungen. Niemals<br />

möge der Leser glauben, daß es in der Forschung so leicht ist, Wege zu finden<br />

und zu gehen, wie hier, sie nachträglich zu erläutern.<br />

Vorkenntnisse sind nicht notwendig, aber auch nicht störend.<br />

Trotzdem muß das Buch wohl sehr gründlich, langsam und nachdenkend gelesen<br />

werden.<br />

Am Ende des Buches steht für jedes Kapitel eine Zusammenfassung seines Inhaltes.<br />

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28. Januar 2000<br />

{4}<br />

Trägheit und Gravitation<br />

Das Fallen<br />

Alle Dinge fallen. Oder, wenn sie daran gehindert sind, so möchten sie es doch,<br />

und deshalb lasten sie. - Du meinst: Luft fällt nicht, sie schwebt; und wenn sie<br />

warm ist, sucht sie die Höhe. Aber ihr Drängen nach oben ist Schein. Auch sie<br />

sucht die Tiefe. Nur ist um sie herum Anderes. Wasser oder Erde, das strebt stärker<br />

als sie nach unten, schiebt sich unter sie und drängt sie zurück, nach oben. Es<br />

geht ihr wie dem Kork im Wasser, wie dem Schwachen beim Ansturm auf das<br />

Ziel. Auch er drängt nach vorn und kommt doch immer mehr zurück.<br />

Alles fällt nach unten. Und wo ist unten? Hier! sagt der Europäer und zeigt auf<br />

seinen Erdboden. Hier! sagt der Australier- und zeigt auf seinen. Nun siehst du:<br />

sie zeigen in entgegengesetzter Richtung. - Unten ist, wo die Erde ist!<br />

Alle Dinge fallen gegen die Erdkugel. Die Erde “zieht sie an“ sagt man. Aber das<br />

ist keine „Erklärung“. Es ist nur eine andere Ausdrucksweise. Denn was wir sehen<br />

und spüren können, ist immer nur, wie sie sich auf die Erde zu bewegen, oder,<br />

wenn wir sie festhalten, an unserer Hand nach unten ziehen.<br />

Ohne Schwere<br />

Denke dir alles weg, außer dich selbst! - Das ist nicht leicht. Versuche es so: Denke,<br />

du steigst auf, in einem Luftballon oder einem Raketenflugzeug, immer höher,<br />

daß die Erde wegsinkt unter dir, bis sie aussieht wie eine kleine ferne Kugel. Laß<br />

sie weiter entschwinden - sie wird wie ein schwacher Stern. Dann wirf sie ganz<br />

aus der Welt! Laß ihr das Flugzeug folgen: dann bist du allein. Nur Himmel über<br />

und unter dir, Himmel nach allen Seiten. Daran Sonne, Mond und Sterne. Nun<br />

denke auch die noch aus der Welt hinaus, so bist du ganz allein. Nur etwas Licht<br />

möge bleiben.<br />

Auf CD-ROM gefasst von Prof. Dr. Michael Soostmeyer, Essen 2000, Kraneburgstraße 81, D 46240 Bottrop


<strong>Martin</strong> <strong>Wagenschein</strong>: Zusammenhänge der Naturkräfte. Das Gefüge des physikalischen Naturbildes, Braunschweig: Vieweg 1937<br />

28. Januar 2000<br />

{5}<br />

Du fürchtest zu fallen? Wohin? Die Erde ist nicht mehr da. Es gibt kein Unten<br />

mehr.<br />

Auch die Dinge, die du vielleicht bei dir hast, oder absichtlich mitgenommen zu<br />

dieser Fahrt, auch sie fallen nicht. Ein Apfel, ein Bleistift, ein Stein: lege sie vor<br />

dich in den Raum: sie schweben. Sie zerren auch nicht mehr an deiner Hand,<br />

nicht der eine viel und der andere wenig, sondern alle überhaupt nicht. „Fallen“......<br />

„Unten“ und „Gewicht“, „leicht“ und „schwer“, das sind Begriffe, die du<br />

auf der Erde gelassen hast. Sie gelten hier so wenig, wie der Name der Hauptstraße<br />

deiner Heimatstadt in der großen Welt bekannt ist.<br />

Trägheit<br />

Du fängst an zu spielen mit den Dingen, die du mitgebracht hast. Ein altes und ein<br />

neues Spiel.<br />

Das alte Spiel: Werfen und Fangen. Freilich kannst du den Ball nicht „hoch“ werfen<br />

und warten, daß er wieder „herunterfällt“, du kannst ihn nur fortwerfen, geradeaus<br />

und auf Nimmerwiedersehen 3 . Du kannst ihn aber auch behalten: du wirfst<br />

ihn dann von einer Hand in die andere, nicht im Bogen natürlich, sondern geradlinig<br />

vor deiner Brust hin und her.<br />

Dann ist es dort im leeren Raum genau wie es auf der Erde war: Eine große Eisenkugel<br />

mußt du stark anstoßen, um sie in Gang zu bringen, und ebenso, wenn<br />

sie dann in der anderen Hand gefangen wird, gibt sie dieser Hand einen starken<br />

Stoß.<br />

Ebenso ist es, wenn die Hand sie seitlich aus ihrer geraden Bahn werfen will.<br />

Kurz: Sie ist schwer in Gang zu bringen und schwer zur Ruhe und schwer aus ihrer<br />

geraden Bahn. Mit einem Apfel, einem Bleistift, einer Nuß geht beides leichter:<br />

diese Dinge sind folgsamer, sie passen sich leichter an, wir brauchen nicht<br />

soviel Anstrengung, um sie umzustellen. Aber auch sie sind nicht ganz frei von<br />

diesem Widerstand, der beim Werfen und Fangen zu spüren ist. Er ist kleiner als<br />

bei der Eisenkugel, aber er ist da. Alte Körper haben ihn - auch Luft; du spürst ihren<br />

Stoß im Winde. Und eben deshalb ist auch sie ein „Körper“. Das ist also eine<br />

Ureigenschaft allen Stoffes. Man nennt sie „Trägheit“. Man sagt: „Alle Dinge<br />

sind träge.“ Eine große Eisenkugel ist träger als eine gleichgroße<br />

3 Hier ist von der Gravitaion noch abgesehen. Wer das Kapitel zu Ende gelesen hat, bemerkt, daß der Ball<br />

tatsächlich wieder zu dem Körper zurückgezogen wird, der ihn geworfen hat.<br />

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<strong>Martin</strong> <strong>Wagenschein</strong>: Zusammenhänge der Naturkräfte. Das Gefüge des physikalischen Naturbildes, Braunschweig: Vieweg 1937<br />

28. Januar 2000<br />

{6}<br />

Holzkugel, und eine kleine Eisenkugel ist weniger träge als eine sehr große Holzkugel.<br />

Du wunderst dich, daß ich nicht einfach „schwer“ sage statt „träge“? Aber wir<br />

waren übereingekommen, von Schwere nicht mehr zu sprechen -, es könnte Verwechslungen<br />

geben.<br />

Das ist der Grund, weshalb ich dich in den leeren Weltraum führte. Wir hätten ja<br />

zu diesem Spiel die Erde nicht unbedingt verlassen müssen. Du hättest auch dort<br />

verstanden, was Trägheit ist. Aber du hättest diese Eigenschaft mit „Schwere“<br />

verwechselt. Aber hier draußen, ohne Erde, ist Schwere ja nicht mehr da, und die<br />

Trägheit ist geblieben. Es ist hier leichter, beide auseinanderzuhalten. Freilich:<br />

das, was besonders träge ist, auch im Himmelsraum noch, das ist auf Erden auch<br />

besonders schwer. Das ist so, aber das ist seltsam, und nicht selbstverständlich.<br />

Es sind doch zwei ganz verschiedene Dinge, der Zug zur Erde und der Widerstand<br />

gegen einen Stoß. Davon später (S. 13).<br />

Du mußt dir diesen Unterschied, und das was das Wort “träge” meint, sehr<br />

deutlich machen: die Schwere ist eine irdische Kraft, sie zieht immer nach unten,<br />

und sie tut es immerfort. Die Trägheit geht mit den Dingen, wohin sie auch<br />

gebracht werden in der Welt. Sie bleibt bei ihnen, aber sie zeigt sich nicht immer.<br />

Sie schläft gleichsam in ihnen, erwacht immer dann, wenn ein Stoß das Ding in<br />

Bewegung bringen, oder wenn ein Hemmnis es aufhalten will. Dann wacht sie auf<br />

und zeigt sich als ein Nichtwollen. Was will der Körper nicht? Er will die<br />

Bewegung nicht, wenn er ruhte, - er will die Ruhe nicht, wenn er flog. Er will das<br />

weiterhin, was er tat: geradeaus, und nicht schneller und nicht langsamer. Er ist -<br />

was Bewegung angeht – “träge”; das heißt hier nicht: “faul”, sondern: beharrlich,<br />

eigensinnig, schwerfällig, konservativ, widerspenstig gegen das Neue, unfolgsam.<br />

Wir dürfen die Trägheit ruhig eine Naturkraft nennen. Sie macht uns viel zu<br />

schaffen und meist wirkt sie zerstörend. Wenn ein Gefäß zerbricht, das zu Boden<br />

fällt oder gegen die Wand geschleudert wird, so geht das so vor sich - der eine<br />

Teil des Gefäßes wird vom Boden oder von der Wand schon aufgehalten, gebremst;<br />

der andere kümmert sich nicht darum, er fliegt beharrlich, eigensinnig<br />

weiter und zerreißt so den Zusammenhang mit dem anderen Teil.<br />

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7}<br />

Wer - hier auf der Erde - Bälle hochwirft und fängt, wer Stöcke auf der Spitze balanciert,<br />

der spielt mit der Schwere. Mit der Trägheit aber hat der Fußballspieler zu tun.<br />

Er versteht, daß es mühsamer ist, eine Bleikugel anzutreten als einen Gummiball,<br />

und auch, daß es mehr Kraft kostet, ihn aufzuhalten. Das ist die Trägheit, und sie ist<br />

groß bei dem einen und klein bei dem andern. Und das ist im leeren Himmelsraum<br />

nicht anders als auf der Erde. Aber schwer sind sie dort nicht mehr. Das ist etwas<br />

ganz anderes, es war - auf der Erde.<br />

Wir können die Trägheit auch genau messen. Wann sagen wir: ein Körper ist doppelt<br />

so träge wie ein anderer? Wenn es uns doppelt so viele Mühe macht, ihn aus der<br />

Ruhe zu bringen 4 .<br />

Gravitation<br />

Das neue Spiel: das kannst du auf der Erde nicht machen. Deshalb wird es dich erstaunen.<br />

Nimm den Apfel in die eine Hand und die Nuß in die andere und lege sie vor dich in<br />

den Raum - etwa in 1 m Abstand voneinander - und lasse sie dann gleichzeitig los,<br />

ohne ihnen den geringsten Stoß zu geben. Zugleich denke nun auch deinen eigenen<br />

Körper noch weg. Dein Geist soll dableiben und zusehen mit Geistesaugen, was<br />

geschieht.<br />

Er sieht dann Folgendes: er sieht, daß die beiden sofort anfangen, gerade aufeinander<br />

los zu treiben, anfangs ganz ganz langsam, dann immer schneller. Am Ende treffen<br />

sie sich, legen sich aneinander und bleiben zusammen.<br />

Nun fängst du an zu probieren, wie das ist. Du nimmst andere Dinge: einen Felsblock<br />

und ein Grasbüschel, zwei Felsblöcke, zwei Grasbüschel, ein Glas Wasser und<br />

eine Blume: es geschieht immer dasselbe. Du läßt deinen eigenen Körper wieder da<br />

sein und wählst ihn als das eine und den Felsblock als das andere Ding: ihr treibt<br />

aufeinander zu bis zur Berührung. Du nimmst drei Dinge: sie bewegen sich alle zueinander<br />

und treffen sich in einem mittleren Punkt.<br />

Du darfst dir das nicht schnell vorstellen: Bis dein Körper (70 kg) mit einem Felsstück,<br />

das auf der Erde 10 kg wiegt, aus 1 m Abstand zusammenkommt, wird es<br />

Stunden dauern.<br />

Du bemerkst sehr bald noch etwas anderes: Wenn du Dinge gewählt hast, die sehr<br />

verschieden sind in ihrer Trägheit: z. B.<br />

4 Genauer: Jede Messung erfordert Zeit. Um nun den Körper eine Zeitlang dauernd und immer wieder “aus der<br />

Ruhe zu bringen” muß man ihn so vor sich her schieben, daß die schiebende Hand seine Trägheit als Widerstand<br />

ständig in gleichem Maße spürt. (Es zeigt sich, daß man dann immer schneller und schneller laufen muß. Man<br />

macht mit dem Körper zusammen eine “gleichförmig beschleunigte Bewegung”.) Nehmen wir an, wir machen das<br />

eine Sekunde lang und wählen die Kraft so, daß der Körper im ganzen einen Meter weit kommt. – Dieser<br />

Behandlung unterwerfen wir nun zwei verschiedene Körper. Wenn dann an dem einen die schiebende Hand<br />

doppelt so stark drücken muß (um ihn in einer Sekunde einen Meter weit zu schaffen) wie an dem anderen, so sagt<br />

man: seine Trägheit (oder auch seine “Masse”) ist doppelt so groß wie die des anderen. Entsprechend versteht man<br />

eine drei- oder vierfache Trägheit.<br />

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den Felsblock und das Grasbüschel: dann kommt das Büschel viel schneller in Gang als<br />

der Block. Der bewegt sich auch, nur viel langsamer. Er ist nur ein kleines Stück gewandert,<br />

da hat ihn das flinke Büschel schon erreicht. Wenn du mit dem 10-kg-<br />

Felsblock aus 1 m Abstand das Spiel machst, so hast du nur 12 cm dich treiben zu lassen,<br />

da hat er dich schon erreicht. Es ist also genau so, als wenn zwischen den zwei<br />

Körpern ein Gummiseil gespannt wäre. Es würde ebenfalls den trägeren langsam, den<br />

weniger trägen schneller in Fahrt bringen.<br />

Man kann natürlich die beiden Körper daran hindern, daß sie sich einander nähern, mit<br />

Gewalt. Man bindet sie fest, an einen anderen Körper, oder man hält sie zurück. Dann<br />

ziehen sie wie gefüllte Luftballons an ihren Seilen.<br />

Am einfachsten kannst du das selbst spüren, wenn du wieder dich dem Felsblock gegenüberstellst<br />

und ihn in 1 m Abstand mit der flachen Hand von dir abhältst (ohne zu<br />

stoßen), noch ehe er sich in Gang gesetzt hat (Abb. 3, S. 23). Dann spürst du sofort, wie<br />

ihr gegeneinander gedrängt werdet, und wie dein Arm schließlich eine bestimmte<br />

gleichbleibende Kraft aufzubringen hat, um den Block in einem bestimmten Abstand zu<br />

halten. Er hat übrigens nicht viel auszuhalten nicht mehr, als wenn er hier auf Erden<br />

1/2000 Milligramm „stemmt“. [Dieses Gewicht ist zugleich ein Maß 5 für die Stärke der<br />

Anziehung zwischen deinem Körper und dem Felsblock.]<br />

Dieser Druck ist die verhinderte Bewegung. Und die Bewegung ist dieser Druck, der<br />

sich auslebt. Beides: „Anziehungskraft“ und „Bewegung“ sind Ausdruck derselben Naturkraft.<br />

Man nennt sie „allgemeine Massenanziehung“ oder „Gravitation“. Ihr Gesetz<br />

läßt sich sehr einfach aussprechen: alle Dinge drängen zueinander und, wenn sie nicht<br />

daran gehindert werden, treiben sie aufeinander zu.<br />

Vergleich mit dem Magnetismus<br />

Es erscheint dir jetzt klar, daß wir von dieser langsamen und schwachen, gleichsam<br />

schleichenden Kraft hier auf der Erde nicht leicht etwas merken können. Die schnelle<br />

Fallbewegung reißt die Körper zu Boden, ehe sie sich merklich zueinander in Bewegung<br />

gesetzt haben. Und wenn wir sie auf<br />

5 Genauer: Gegeben sind zwei Körper in bestimmtem Abstand voneinander. Die Gravitationskraft, die sie<br />

zueinander zieht, soll gemessen werden. – Prinzipiell geschieht das so: Zwischen beide wird eine<br />

zusammengedrückte Spiralfeder gebracht, deren Spannung gerade ausreicht, um eine Annäherung der beiden<br />

einander zu verhindern. Diese Spiralfeder wird dann, entspannt, auf die Erde gebracht, senkrecht gestellt, und von<br />

oben mit einem solchen Gewicht belastet, daß sie wieder genau so weit zusammengerückt wird, wie es unter der<br />

Wirkung der zu messenden Gravitationskraft geschehen war. Ist dieses Gewicht 23 g, so sagt man: Die<br />

Gravitationskraft zwischen den beiden Körpern hat die Größe von 23-g-Gewichten. - Vergleichen wir diese<br />

Messung mit der Messung der Trägheit (Anm. 4), so zeigt sich ganz besonders deutlich, daß Trägheit und<br />

Gravitation ganz verschiedene Dinge sind. Denn sie werden auf völlig verschiedene Weise gemessen.<br />

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leichte Räder setzten, so wäre doch der erste schwache Ansatz zur Bewegung<br />

nicht imstande, die Reibung zu überrennen, die auch auf den glattesten Schienen<br />

und in den besten Kugellagern niemals ganz wegzubringen ist.<br />

Was die Gravitation so wichtig macht, das ist, da sie alle Dinge erfaßt, ausnahmslos,<br />

gleichgültig ob aus Stein oder Holz oder Metall, ob groß oder klein, tot oder<br />

lebendig. - Vergleiche sie mit der magnetischen Anziehung: das ist gleichsam eine<br />

Privateigenschaft von Eisen. 6 Die Gravitation dagegen kennt kein Ansehen des<br />

Stoffes. Darum muß sie tief im Wesen des Stoffes überhaupt begründet sein. -<br />

Noch aus einem anderen Grunde muß sie das: Eisen kann magnetisch sein, es<br />

muß nicht. Und man kann einem Stück Eisen, das ein Magnet ist, seinen Magnetismus<br />

wieder nehmen. Man braucht es nur auszuglühen. Die Gravitation einem<br />

Körper auszutreiben, ist ganz unmöglich. Wir wissen kein Mittel. Wir können ihn<br />

glühen, schmelzen, in Stücke schlagen, verformen und verfärben: nichts kann ihn<br />

davon abbringen, daß er sucht, mit den anderen Körpern sich zu vereinigen.<br />

Wonach die Gravitation sich richtet<br />

Gibt es denn gar nichts, wonach die Gravitation sich richtet, womit sie wenigstens<br />

einen Zusammenhang hat? Ja, das gibt es, und du würdest es bei deinem Spiel<br />

längst gemerkt haben:<br />

Halte den Felsblock 50 cm von dir ab: du spürst einen bestimmten Druck. Halte<br />

ihn 1 m ab, 1.50 m, 2 m, 20 m: der Druck wird kleiner, immer kleiner, und zwar<br />

ziemlich schnell. Aber niemals hört er ganz auf, es sei denn, du triebest den Block<br />

ins Unendliche fort, das heißt: du schafftest ihn aus der Welt. Da haben wir ein<br />

Mittel, ihn der Gravitation zu entziehen. Aber so eines meinten wir nicht.<br />

Es gibt noch ein anderes: Halte wieder den Block 1 m von dir ab und merke dir<br />

den Druck. Nun nimm einen Hammer, schlage ein Stück von dem Block ab, wirf<br />

es aus der Welt und wiederhole die Messung mit dem Rest des Blockes, der übrig<br />

ist. Der Druck ist kleiner geworden. Je mehr du fortschaffst, desto geringer wird<br />

er. Könntest du auch von deinem eigenen Körper ein Stück fortwerfen, so würde<br />

die Kraft dadurch ebenfalls vermindert. Die beiden Körper sind also ganz gleich-<br />

6 Später wird sich zeigen, daß das nicht ganz richtig ist. Das ändert aber nichts an dem Schluß, daß Gravitation<br />

und Magnetismus wesensverschieden sind. Denn die Gravitation nimmt auf die stoffliche (chemische) Eigenart<br />

jedenfalls keine Rücksicht, während der Magnetismus sich von ihr abhängig zeigt.<br />

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berechtigt. Dieses Mittel, dem Körper seine Gravitation zu rauben, paßt sehr gut<br />

zu dem vorigen:<br />

Es gibt kein Mittel, einem Körper die Gravitation zu nehmen, es sei denn, daß wir<br />

ihn vernichten, das heißt: ihn - auf einmal oder stückweise - aus der Welt schaffen.<br />

Die Gravitation gehört zu den Dingen so fest wie ihr Dasein!<br />

Immerhin haben wir nun zweierlei gefunden, wonach sie sich richtet, wovon es<br />

abhängt, ob sie groß oder klein ist. Das ist: 1. die Entfernung der beiden Körper<br />

voneinander, 2. ihre „Größe“? „Größe“ können wir nicht sagen: Nimm ein kleines<br />

Bleistück, es drückt stärker als ein größerer Aluminiumblock. Also das „Gewicht“?<br />

Es wäre ein Rückfall, wenn wir uns so ausdrückten. Ein Rückfall auf die<br />

Erde, auf irdische Begriffe. Das Wort „Gewicht“ hat keinen Sinn im leeren Himmelsraum.<br />

Wie sagen wir also? - Aber es handelt sich gar nicht darum, wie wir es nennen.<br />

Sondern die Frage ist, ob es eine andere, uns schon bekannte und benannte, und<br />

nicht nur auf der Erde gültige Eigenschaft der Körper gibt, mit der die Gravitation<br />

hier einen Zusammenhang offenbart.<br />

Da helfen nur genaueste Messungen. Man hat sie gemacht und ihr Ergebnis ist<br />

merkwürdig genug: Die Gravitation richtet sich nach der Trägheit!<br />

Das heißt, wenn man es ganz ausführlich sagt, Folgendes:<br />

Du formst dir zwei Tonklumpen zurecht, und zwar so, daß der eine genau doppelt<br />

so träge ist wie der andere (vergleiche Anm. 4). Es können auch zwei Kupferblöcke<br />

sein, oder ein Ton- und ein Kupferblock.<br />

Und nun mißt du, wie stark ein dritter Körper - etwa dein eigener - den einen anzieht,<br />

und wie stark den anderen. Du hältst also zuerst den einen Klumpen mit der<br />

flachen Hand in einem gewissen Abstand von dir ab, mißt den Druck (Anm. 5)<br />

und machst dasselbe dann mit dem anderen (Abb. 3, S. 23). Dann findest du: der,<br />

der doppelt träge ist, drängt auch genau mit der doppelten Kraft gegen deinen<br />

Körper. (An Stelle deines Körpers kann natürlich irgendein anderer Körper stehen.<br />

Und wenn du dessen Trägheit verdoppelst, so hat das auch die Wirkung, daß<br />

die gegenseitige Anziehung zweimal so groß wird.)<br />

Etwas wissenschaftlicher ausgedrückt: die Anziehungskraft, mit der zwei Körper<br />

aufeinander wirken, ändert sich in dem-<br />

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selben Maße, in dem die Trägheit eines der beiden Körper geändert wird.<br />

Was bedeutet das nun? Es bedeutet den Zusammenhang zweier Naturkräfte. Und<br />

zwar zweier Naturkräfte, die von Hause aus gar nichts miteinander zu tun haben:<br />

Trägheit: der Widerstand gegen „langsamer“ und „schneller“, und Gravitation:<br />

der Drang, jedem anderen Körper entgegenzutreiben. Sind es nicht Körpereigenschaften,<br />

die miteinander gar nicht verwandt sind, so wenig wie etwa die Tapferkeit<br />

eines Menschen sich nach seinem Schönheitssinn richtet? Wären Trägheit<br />

und Gravitation aufeinander angewiesen, wie z. B. körperliche und seelische Gesundheit,<br />

so wäre ihre Verbindung verständlicher. 7<br />

So bleibt etwas Rätselhaftes und Dunkles in dem Zusammenhang dieser beiden<br />

Naturkräfte, die alle Stoffe beherrschen, allen Stoffen eingeboren sind.<br />

Für „Stoff“ wollen wir von nun an das fremde aber schöne Wort „Materie“ setzen.<br />

Schön, weil es von mater herkommt, das bedeutet Mutter. Dadurch enthält<br />

es, was es bezeichnen soll: das, was allem Körperlichen gemeinsam ist; das, worin<br />

das Verschiedene - Wasser, Erde, Luft – übereinstimmt. Und als diese aller<br />

Materie gemeinsamen Eigenschaften haben wir nun Gravitation und Trägheit erkannt.<br />

Sie sind die Ureigenschaften der Materie. Und wenn wir von etwas nicht<br />

wissen, ob es zur Materie gehört, Licht z. B. oder Elektrizität, so kommt es darauf<br />

an: hat es diese beiden Eigenschaften oder nicht.<br />

Erklärung der Schwere<br />

Damit wären wir mit der Hauptsache zu Ende. Aber ich muß noch etwas nachtragen<br />

zur Gravitation. Vorher hätte es dich vielleicht verwirrt. Jetzt ist es nötig,<br />

sonst bemerkst du nicht, wie wichtig sie - und damit auch ihr Zusammenhang mit<br />

der Trägheit - ist. Sie könnte dir bis jetzt noch als etwas Geheimes und für uns<br />

Erdenmenschen Gleichgültiges erscheinen. Jedenfalls müssen wir sie herunterholen<br />

aus dem leeren Himmelsraum, in dem wir in Gedanken unsere Versuche<br />

machten. Was bedeutet sie für uns auf der Erde? Holen wir die Erde zurück.<br />

Vorher überlegen wir: Der 10-kg-Felsblock und dein Körper drängten aus 1 m<br />

Abstand zueinander mit der winzigen An-<br />

7 Wer diese Meinung hat, daß körperliche Gesundheit die Voraussetzung der seelischen ist, aber auch umgekehrt,<br />

daß die Unversehrtheit der Seele die des Körpers mit sich bringt, der kann sich das so deuten, daß beide, und<br />

damit auch Leib und Seele selbst, im Grunde dasselbe sind, und sich für uns nur durch gleichsam einen Wechsel<br />

des Gesichtspunktes als verschieden zeigen. Für das Paar Gravitation - Trägheit ist dies etwa die Lehre der<br />

“Allgemeinen Relativitätstheorie”: daß nämlich beide in gewissem, sehr abstraktem Sinne ein und dasselbe sind.<br />

Ob aber diese Lehre nur den Rang einer Denkmöglichkeit oder den einer Wahrheit hat, ist heute noch nicht entschieden.<br />

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fangskraft von 1/2ooo Milligrammgewichten und erreichten sich auch erst nach<br />

Stunden. Nimmst du zwei ganz wenig träge Dinge, so ist auch ihre Gravitationskraft<br />

geringer, denn sie richtet sich ja nach beider Trägheit. Für zwei Briefe von je<br />

10 g und in 1 m Abstand voneinander geht sie schon in die milliardstel Milligrammgewichte<br />

und es dauert Tage, bis sie sich treffen. - Nimm aber zwei Felsblöcke,<br />

groß wie Häuser, so drängen sie aus 10 m Abstand schon mit einer Anfangskraft<br />

von 1/2 kg aufeinander los und prallen nach Minuten zusammen.<br />

Holen wir nun die Erde zurück. Was ist sie anderes, als eine riesenhafte Felskugel<br />

von ungeheurer Trägheit! Halte ihr deinen Apfel entgegen, und es wird zwischen<br />

den beiden eine Gravitationskraft entstehen, die gewaltig ist, eben wegen dieser<br />

großen Trägheit der Erdkugel. Aus demselben Grunde wird aber die Erde selbst<br />

sich kaum rühren. Der unvergleichlich viel weniger träge Apfel wird sie in<br />

schneller Bewegung über viele Meter hin erreicht haben, ehe sie selbst auch nur<br />

den millionsten Teil eines Millimeters ihm entgegengekommen ist. So ruht die<br />

Erde, und so „fällt“ der Apfel auf sie „hinunter“. Und so müssen alle die leichten<br />

Dinge fallen, mit denen wir hier auf der Erde zu tun haben. Alles muß so sein,<br />

wie wir es gewohnt sind.<br />

Nur sehen wir es jetzt von einem höheren Gesichtspunkt aus. Denn wir haben<br />

jetzt die Schwerkraft durch die Gravitation „erklärt“. So sind wieder zwei Naturkräfte<br />

in Zusammenhang gebracht. Aber in ganz anderem Sinne als Gravitation<br />

und Trägheit. In viel vollkommenerer Weise. Denn die Schwerkraft ist in der<br />

Gravitation aufgegangen, sie ist dasselbe wie sie, nur für uns Menschen gleichsam<br />

verzerrt dadurch, daß wir auf der Oberfläche einer ungeheuer trägen Kugel<br />

wohnen. Sie ist nichts anderes als auf die Erde bezogene Gravitation.<br />

Die Übermacht der Erde täuscht uns doppelt: Wir merken erstens nicht, daß die<br />

Anziehung zwischen ihr und dem Apfel oder dem Stein eine gegenseitige ist.<br />

Sondern wir haben den Eindruck, als sei der fallende Apfel allein der Tätige, als<br />

„suche“ er die „Tiefe“. - Zweitens läßt sie uns keine Zeit, zu erfahren, laß alle<br />

Dinge unter sich ebenfalls einander anziehen. Denn zwei Äpfel, die zugleich vom<br />

Baume fallen, hat sie so schnell sich entgegen zu Boden gerissen, daß in der kurzen<br />

Fallzeit ihre Annäherung aneinander nicht zu merken ist.<br />

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So sind wir in einer recht seltsamen Lage: Wir übersehen die Gravitation, weil sie<br />

an unserem Wohnort innerhalb der Welt zu stark und zu einseitig ist. Wer an einer<br />

Küste wohnt, über die immer ein Sturm von Westen hinwegbraust, der weiß<br />

gar nicht, daß es auch andere Winde und lindere Lüfte geben kann. So leben wir<br />

gleichsam in einem Gravitations-Sturm.<br />

Warum alle Dinge gleich schnell fallen<br />

Wie groß die Kraft zwischen Erde und Stein ist, dafür allerdings ist die Erde allein<br />

nicht bestimmend. Der Stein hat ebensoviel Einfluß wie sie (S. 10). Wir wissen<br />

aus täglicher Erfahrung: der zehnmal trägere Stein ist auch zehnmal schwerer.<br />

Das ist uns so selbstverständlich geworden durch unser Erdenleben, daß wir kaum<br />

denken können, daß es auch anders sein könnte. Von Kindheit an spüren es doch<br />

unsere Arme: was schwer in der Hand lastet, das ist auch schwer zu werfen. Das<br />

Wort „schwer“ bedeutet beides.<br />

Aber die Experimente im leeren Himmelsraum haben dich nun vorurteilslos gemacht.<br />

Jetzt weißt du: daß der zehnmal trägere Stein auch zehnmal schwerer<br />

wiegt, das kommt daher, daß die Gravitation sich nach der Trägheit richtet. Das<br />

ist so, aber es ist keineswegs selbstverständlich, es ist sogar sehr seltsam. Es ist<br />

fast so merkwürdig, als wenn sich die Schwere nach der Härte oder der Farbe der<br />

beiden beteiligten Körper richtete. Denke dir, wie es wäre, wenn die Gravitation<br />

sich nach der Härte richtet. Die harten Dinge wären dann auch immer schwer und<br />

die weichen alle leicht. Wir könnten auch nichts dagegen tun. Wir wären es von<br />

Jugend an so gewohnt und würden es wahrscheinlich selbstverständlich finden.<br />

Und vermutlich hätten wir für „schwer“ und „hart“ nur ein Wort.<br />

Damit hängt noch etwas zusammen. Das zehnmal Trägere ist auch das zehnmal<br />

Lastendere. Das heißt: die Gravitation hilft dem Flinken wenig und dem Schwerfälligen<br />

viel. Der Erfolg ist, daß beide gleich schnell ins „Fallen“ kommen: der<br />

abstürzende große Felsblock kommt auch nicht eher unten an als das Steinchen,<br />

das er mit abgelöst hat. Alle Körper fallen gleich schnell! Daß Papier so viel langsamer<br />

fällt als ein Stein, liegt nur am Widerstand der Luft. Er trifft das Papier auf<br />

großer Fläche und kann es, da es so wenig träge ist, leicht<br />

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bremsen. Im luftleeren Raum fällt eine Flaumfeder genau so schnell zu Boden wie ein<br />

Stück Blei. Das ist die irdische Übersetzung des Satzes: die Gravitation richtet sich nach<br />

der Trägheit.<br />

Fällt der Mond?<br />

Ich glaube, du wirst noch fragen, woher man über die Gravitation dies alles überhaupt<br />

weiß. Die Versuche im leeren Himmelsraum kann man ja doch gar nicht wirklich machen.<br />

Man kann die gegenseitige Anziehung zweier Körper nicht so bemerken, daß man zwei<br />

Äpfeln aufpaßt, die zugleich vom Baume fallen. Auch nicht so, daß man sie auf leichte<br />

Wägelchen setzt oder auf Schiffchen, und wartet, daß sie aufeinander los treiben. 8<br />

Aber mit feineren Aufhängungen, Drehungen und Hebeln ist es doch gelungen. Schon<br />

1797. Das ist kein Apparat, den man sich selbst zusammenbasteln kann. Aber in jeder<br />

Universität, auch in mancher höheren Schule schon, kannst du ihn dir zeigen lassen, und<br />

kannst sehen, wie eine schwere Metallkugel langsam auf eine andere zuwandert, wenn<br />

die in die Nähe kommt. Es ist eine winzige Bewegung, aber durch eine Art Lichthebel<br />

kann man sie dir vielmals vergrößert sichtbar machen. - Seit 1797 zweifelt niemand<br />

mehr an der Gravitation.<br />

Der große N e w t o n war ihrer aber schon hundert Jahre vorher sicher, obwohl er sie<br />

niemals so unmittelbar sehen konnte. Er hat sie in den Bewegungen des Mondes und<br />

der Planeten entdeckt, diesen großen fernen Felskugeln, die sichere, seltsame Wege<br />

durch den Himmelsraum gehen. Daß er das konnte, wird dir zuerst kaum einleuchten, ja<br />

es kommt dir dabei vielleicht sogar ein Gedanke, der dir zuletzt den Glauben an die<br />

Gravitation wieder ganz nimmt:<br />

Müßten nicht - wirst du fragen -, wenn alle Körper zueinanderstreben, längst alle<br />

Himmelskörper sich zu einem gedrängten Haufen gesammelt haben, innerhalb einer<br />

unendlichen Leere? Warum stürzen die Sterne, die doch große schwere glühende<br />

Kugeln sein sollen, nicht alle aufeinander? Reicht die Gravitation etwa nicht so weit?<br />

Gelten in diesen Fernen andere Gesetze? Oder sind die Sterne vielleicht schon lange im<br />

Sturz gegen die Mitte der Welt? Ist die Welt nur noch nicht alt genug, ist die Zeit des<br />

Zusammenstoßes noch nicht<br />

8 Man könnte vermuten, es wäre die Gravitation, die die Tinte in der Feder hält, die das Wasser in den Schwamm<br />

saugt und zwei Wassertropfen zum Zusammenfließen bringt. Das ist aber ein Irrtum, wie folgender einfache<br />

Versuch zeigt: An einer waagerechten Glasplatte kann man einen Wassertropfen von einer gewissen Größe<br />

anhängen. Wenn dafür die Gravitation zwischen dem Wassertropfen und der Glasplatte verantwortlich zu machen<br />

wäre, so müßte eine doppelt so dicke Platte einen doppelt so schweren Tropfen tragen können. Das ist aber, wie<br />

jeder weiß, nicht so. Sie kann auch nicht merklich mehr tragen. - Diese Kräfte haben also mit Gravitation nichts zu<br />

tun. (In den Lehrbüchern der Physik findet man Näheres über sie unter den Stichworten: Oberflächenspannung,<br />

Kapillarität, Molekularkräfte, Kohäsion, Adhäsion.) Sie sind von großer Wichtigkeit sie sorgen<br />

z. B. dafür, daß die Körper überhaupt zusammenhalten - fallen aber nicht sehr auf. Sie sind in diesem Buch nicht<br />

besonders behandelt.<br />

Es ist gelungen, sie auf elektrische Kräfte zurückzuführen.<br />

Auf CD-ROM gefasst von Prof. Dr. Michael Soostmeyer, Essen 2000, Kraneburgstraße 81, D 46240 Bottrop


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erfüllt? Aber warum fällt nicht wenigstens der Mond, der uns so nahe ist und von dem wir lernen,<br />

er laufe im Kreis um die Erde? Ist nicht jeder Kreislauf ein Widerspruch gegen die Gravitation?<br />

Oder ziehen den Mond die Sterne nach außen? Wird vielleicht jeder Stern von seinen<br />

Nachbarn nach allen Seiten gezogen, daß er nicht weiß, wohin er fallen soll? Beginnt das Fallen<br />

bei den Sternen, die am Rande der Welt stehen?<br />

Wir wissen nicht, ob die Welt der Sterne Mitte und Rand hat, oder ob sie unendlich ist nach allen<br />

Seiten. - Wir wissen, daß die Gravitation von Stern zu Stern reicht. Ihr ist keine Grenze gesetzt,<br />

nur wird sie schwächer, je weiter sie sich im Raum verliert. - Aber dies brauchen wir zu<br />

unserer Frage alles nicht. Sie ist einfacher zu lösen. Gerade der Kreislauf des Mondes zeigt uns,<br />

warum er nicht fällt! (Abb. 1) 9<br />

Dies (Abb. 1) ist eine Zeichnung<br />

N e w t o n s. Du siehst die Erdkugel und<br />

auf ihr einen übertrieben hohen Berg.<br />

Seine Spitze ragt weit über die Lufthülle<br />

hinaus in den leeren Raum. - Du stellst<br />

dich auf seine Spitze V und wirfst einen<br />

Stein waagerecht fort also in der Richtung<br />

VH. Er fällt im Bogen und<br />

trifft auf die Erde bei D. Nun wirfst du<br />

einen zweiten in derselben Richtung,<br />

aber fester. Er landet in flacherem Bogen<br />

weiter weg bei E. So wirfst du weiter,<br />

immer stärker. Allmählich kommen die<br />

Steine so weit, daß der Erdboden unter<br />

ihrem Fluge sich merklich wegkrümmt.<br />

Du siehst, wohin das führt. Die Steine<br />

haben schließlich immer weniger<br />

Aussicht, überhaupt noch auf die Erde zu kommen. Und es ist ja klar: wenn du<br />

plötzlich ganz ungeheuer stark wirfst, stärker als jede Kanone kann, dann wird<br />

ihn auch die Gravitation nicht halten. Er fliegt fast geradlinig fort, über H, und<br />

kommt nie zurück.<br />

9 ) Die Figur ist übernommen aus: Sir I s a a c N e w t o n s Mathematische Prinzipien der<br />

Naturlehre, S. 515. Herausgegeben von Ph. Wolters, Berlin 1872. (Das lateinisch geschriebene<br />

Originalwerk Newons erschien 1686,) Einige, hier nicht benutzte, Buchstaben sind<br />

fortgelassen. Hinzugfügt habe ich die Buchstaben H, I, K, L, M und die punktierten Strecken<br />

VH und HM. (Aus technischen Gründen musste die Fußnote versetzt werden. Unrprünglich ist<br />

sie von <strong>Wagenschein</strong> hinter “Newtons” im Folgetext gesetzt.<br />

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Aber, steigern wir die Geschwindigkeit nicht plötzlich sondern allmählich, dann merkst<br />

du, es gibt eine ganz bestimmte Abwurfgeschwindigkeit, bei der etwas Besonderes geschieht:<br />

dann ist nämlich die Wurflinie genau ebenso stark gekrümmt wie die Erde unter<br />

ihr. Dann fällt der Stein um die Erde herum! Immer krümmt sie sich unter ihm weg und<br />

entzieht ihm sein Ziel, den Boden. Dabei mußt du Folgendes bedenken: Wenn er von V<br />

nach I gekommen ist, so ist er auf diesem Wege nicht gebremst worden, denn dort ist<br />

keine Luft oder sonst etwas im Wege. Er fliegt also in I noch ebenso schnell wie in V.<br />

Und seine Richtung ist auch wieder, wenn man sie auf die Erde bezieht, horizontal. Er<br />

hat also überhaupt in I - in bezug auf die Erde - genau dieselbe Bewegung wie in V. Hat<br />

ihn diese Bewegung von V nach I gebracht, so muß sie ihn genau so von I nach K weitertragen,<br />

von K nach L, und schließlich nach V zurück. So geht das fort: Er muß unaufhörlich<br />

kreisen! - Der Mond kreist nun schon viele tausend Jahre unverändert über<br />

den Menschen. Wir brauchen nur anzunehmen, daß er früher einmal von irgendeiner<br />

Kraft an der Erde vorbei- oder aus ihr herausgeworfen worden ist. Da hat sie ihn „eingefangen“.<br />

Warum also fällt der Mond nicht? Weil er von Anfang an eine Bewegung hatte, die ihm<br />

nicht genommen werden kann, da er träge ist, und nichts ihm begegnet, was ihn bremsen<br />

könnte. - Und was tut die Gravitation dabei, wo er doch nicht fällt? Sie krümmt seinen<br />

Weg, denn ohne sie flöge er von V nach H. Aber sie reißt ihn herunter zur Kreisbahn<br />

nach M. Und wenn man es so betrachtet, so ist er doch gefallen, um das Stück<br />

HM. - So sind sie beide bei diesem Kreisen im Spiel: die Trägheit, die geradeaus drängt<br />

und die Gravitation, die zur Erde zieht. Wäre die Geschwindigkeit des Mondes größer<br />

als sie ist, so hülfe sie der Trägheit zum Sieg: der Flucht des Mondes. Wäre die Gravitation<br />

größer als sie ist, so wäre der Erfolg auf ihrer Seite: Absturz. So wie es ist, sind<br />

beide aufeinander abgewogen, der Kampf steht unentschieden und bleibt es 10 .<br />

Dieses Beispiel läßt wohl ahnen, wie N e w t o n aus der Mondbahn die Gravitation entdecken<br />

konnte. - Auch macht es deutlich, warum die Sterne sich nicht längst zu einem<br />

Klumpen zusammengedrängt haben: Sie sind alle in Bewegung. (Auch die Fixsterne.<br />

Manche machen 100 km in der Sekunde,<br />

10 Der Kampf steht aber nicht so auf des Messers Schneide, wie es nach dieser etwas übertriebenen Darstellung<br />

scheinen könnte. Es ist kein so “labiler” Gleichgewichtszustand wie etwa das Balancieren eines Stockes auf seiner<br />

Spitze. Die geringste Störung, etwa die Annäherung eines anderen Planeten, müßte ja dann genügen, das<br />

Gleichgewicht umzuwerfen und den Mond zur Flucht oder zum Absturz bringen. - Gegen ein solches haarscharf<br />

abgewogenes Gleichgewichtmußte man auch folgenden Einwand machen: es müßte dann, nach unserer<br />

Darstellung, der Mond eine ganz bestimmte, genau abgewogene Geschwindigkeit haben und bei seiner<br />

Entstehung, seiner Ankunft bei der Erde, gehabt haben, wenn die Kreisbahn entstehen sollte. Wäre das nicht ein<br />

höchst unwahrscheinlicher, ja unmöglicher Zufall? - Die genaue Untersuchung zeigt denn auch, daß dann, wenn<br />

die Geschwindigkeit nicht genau den zur Kreisbahn nötigen Wert hat, nicht gleich die Katastrophe eintritt (Flucht<br />

oder Absturz), sondern daß der Mond dann zwar keinen Kreis macht, aber doch noch eine beständige, dauerhafte<br />

Bahn: er schwingt in einer überhängenden Ellipse um die Erde herum. Und tatsächlich ist auch die wirkliche<br />

Mondbahn (und ebenso die Bahn jedes Planeten um die Sonne) eine solche Ellipse, allerdings eine nicht sehr<br />

längliche, sondern eine dem Kreis sehr ähnliche. - Erst eine sehr große Anfangsgeschwindigkeit würde den Mond<br />

ganz der Erde entführen, “ganz kleine würde ihn auf die Erdoberfläche stürzen lassen. - Diese Anmerkung ist<br />

auch zum vollen Verständnis des auf S. 16 nun folgenden Absatzes von Nutzen.<br />

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aber sie sind so unvorstellbar weit entfernt, daß man tausend Jahre zusehen müßte,<br />

um die Verschiebung zu erkennen.) Nichts hemmt sie im leeren Raum, und der<br />

Schwung ihrer Bewegung ist es, die Trägheit, das „nicht von selbst zur Ruhe<br />

kommen können“, was sie daran hindert, sich zu vereinigen. So wie der Schwung<br />

des trägen Mondes ihn hindert, auf die Erde zu stürzen, so fallen auch die Sterne<br />

nicht aufeinander, sie fallen aneinander vorbei.<br />

So wird die Gravitation um ihren vollen Erfolg durch das betrogen, mit dem sie<br />

so eng verbunden ist: die Trägheit.<br />

Die Flut<br />

Zuletzt muß ich von einem anderen großen Schauspiel sprechen, das von der Gravitation<br />

geleitet wird. Es ist eigentlich ihre für den Menschen eindrucksvollste<br />

Kundgebung und die am meisten überzeugende. Denn wir sind es nicht so gewohnt<br />

wie das Fallen, und es rollt nicht in so gleichgültigen Fernen ab wie der<br />

kreisende Mond. Nur einem Teil der Menschheit ist es unmittelbar bekannt: den<br />

Anwohnern der Küsten. Ich meine Ebbe und Flut des Meeres.<br />

Zweimal am Tage steigt es und fällt. An den flachen Küsten ist es ein wechselndes<br />

Heranfluten und Zurücksaugen. Es erscheint wie ein gewaltiges, lebendiges<br />

Atmen des Meeres.<br />

Nicht an allen Küstenorten der Welt zugleich kann das Meer steigen und sinken.<br />

Wenn man dem nachgeht, so merkt man: der Mond ist der Regent dieser schweren<br />

Atemzüge: Wie er am Himmel aufsteigt, erhebt sich auch das Meer, und die<br />

Ebbe begleitet seinen Untergang. So haben alle Orte Flut, für die er hoch am<br />

Himmel steht; und da, von wo man ihn am Horizont sieht, ist tiefster Wasserstand.<br />

Ein Wasserberg also wölbt sich ihm entgegen und wandert mit ihm täglich<br />

um die Erde. Oder richtiger (da der Mond täglich nur scheinbar über unseren<br />

Himmel rollt, in Wirklichkeit 11 aber unsere Erdkugel sich unter ihm nach Osten<br />

wälzt): der Flutberg steht, dem Monde zugewandt, und unter ihm dreht sich die<br />

Erde. Und zwar nicht das Wasser selbst bleibt stehen, nur seine Erhebung; nicht<br />

das Wasser selbst scheint um die Erde zu rauschen, nur der Befehl des Mondes<br />

zur Erhebung.<br />

11 “Wirklich” heißt hier: Betrachtet vom Welt-Ganzen aus, vom Gerüst der Sternbilder.<br />

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Ist das nicht die Gravitation zwischen der großen Felskugel Mond und dem nachgiebigen<br />

Wasser unserer Meere, das er zu sich hinaufsaugt, an der Stelle, die ihm<br />

am nächsten ist? So muß es sein. Aber es ist erst die halbe Wahrheit. Denn es entsteht<br />

ein Flutberg auch immer auf der gegenüberliegenden, der dem Mond abgewandten<br />

Seite der Erdkugel (Abb. 2). (Und darum erhebt sich an jedem Ort zweimal<br />

täglich die Flut.) Das erscheint ganz unverständlich! Und noch etwas ist<br />

unklar dabei: zieht der Mond nur Wasser an? Müßte nicht auch die starre Erdkugel,<br />

da sie doch frei beweglich ist, dem Zuge der Gravitation folgen und ihrem<br />

vorderen Wasserberg nachrücken?<br />

Gewiß ist es so. Nicht nur zieht die Erde am Mond. Auch er zieht an der Erde.<br />

„Es“ zieht an ihnen beiden. Sie wollen zueinander. Das ist das Werk der Gravitation.<br />

Zwischen ihnen ist sie am Werk.<br />

Und da nun auch der Mond an der Erde zieht, so kommt sie mit ins Schleudern.<br />

Sie will hinter ihm her. Und da er ihr im Kreise davonläuft, so sucht sie ihn, wo er<br />

war. Und da sie viel träger ist als er, so irrt sie nun in einem kleinen Kreis. Einmal<br />

herum im Monat wie er, beide um einen Punkt herum, der ihr viel näher liegt als<br />

ihm (o in Abb. 2). - Denke dir an jedes Ende eines kurzen Seiles einen Stein gebunden,<br />

einen großen und einen kleinen, und dieses Ganze schleudere in die Luft.<br />

Es wird davonfliegen - und es wird sich zugleich drehen. Dieses Drehen allein betrachte:<br />

Eine ähnliche Bewegung machen monatlich Erde und Mond zusammen.<br />

Es war also nicht ganz richtig zu sagen: der Mond dreht sich „um die Erde“. Er<br />

kreist um beider gemeinsamen Schwerpunkt (o), der, näher der Erde, zwischen<br />

beiden liegt 12 , und um denselben Punkt kreist auch die Erde, immer dem Mond<br />

gegenüber.<br />

So macht also auch die Erde eine kleine monatliche Kreisbahn. Und für die gilt<br />

dasselbe, was wir für die Mondbahn fanden: Auch hier ein Kampf zwischen<br />

Trägheit und Gravitation. Und es muß ein ganz bestimmtes Gleichgewicht da<br />

sein, eine ganz bestimmte Geschwindigkeit, damit die Erde den Kreis macht und<br />

nicht gegen den Mond stürzt - oder davon.<br />

Nun ist ja die Gravitation (S. 9) um so schwächer, je weiter die beiden Körper,<br />

zwischen denen sie wirkt, von einander abstehen.<br />

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12 In Wirklichkeit liegt dieser Schwerpunkt sogar noch innerhalb der Erdkugel, etwa 1500 km unter der<br />

Oberfläche.<br />

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Abbildung 2. Ebbe und Flut<br />

Die in jedem Monat einen vollen Kreis erfüllende Schleuderbewegung von Erde<br />

und Mond und, als Folge davon: die beiden Flutberge des Meeres. Der vordere<br />

(dem Mond zugewandte) entsteht durch das Überwiegen der Gravitation, der hintere<br />

durch das Überwiegen der geradeaus, d. h. nach außen treibenden Trägheit. -<br />

Die Schweife bedeuten nichts Körperliches. Sie bezeichnen die Wege, die ihre<br />

Ansatzpunkte während eines Viertelmonats zurückgelegt haben. (S. 20.)<br />

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Die Geschwindigkeit der trägen Erde muß also im Gleichgewicht sein mit der<br />

Gravitationskraft, mit der der Mond sie in ihrem bestimmten Abstand noch anzieht.<br />

Nun ist die Erde aber kein Punkt. Sie erfüllt einen großen Raum. Für ihren Mittelpunkt<br />

stimmt der Ausgleich zwischen Gravitation und Geschwindigkeit genau.<br />

Für die anderen Erdpunkte aber nicht. Um das zu verstehen, mußt du wissen, daß<br />

alle Orte der schleudernden Erdkugel dieselbe Geschwindigkeit haben und gleich<br />

große Kreise machen, wie die Schweife in Abb. 2 zeigen. Man denkt zuerst, die<br />

mondnahen Punkte müssen kleine, die mondfernen große Kreise machen. Aber so<br />

wäre es nur, wenn Mond und Erde durch eine feste Stange verbunden wären.<br />

Nimm eine Bratpfanne, halte sie flach gegen die Wand, den Stiel nach unten, und<br />

fahre sie an der Wand in einem Kreis herum, aber so, daß der Stiel immer unten<br />

bleibt. Dann hast du die richtige Bewegung vor dir! Die Geschwindigkeit und die<br />

Bahnkrümmung ist deshalb für die mondferne Seite genau so groß wie auf der<br />

mondnahen.<br />

Die Gravitation aber nicht. Sie ist auf der fernen Rückseite der Erde der Geschwindigkeit<br />

unterlegen, auf der mondnahen Seite hat sie den Vorteil.<br />

Die feste Erde hält diesen Unterschied aus. Aber das Wasser, das Meer nicht. Es<br />

ist beweglich gegen die feste Kugel. Zwar hat es dieselbe Geschwindigkeit wie<br />

die ganze Erde (mit gehangen mit gegangen), aber eben deshalb ist das mondnahe<br />

Meer nicht im Gleichgewicht. Bei ihm ist die Mondkraft zu stark. Es dringt deshalb<br />

zum Mond. (Es müßte eigentlich schneller fliegen als die ganze Erde, um die<br />

Mondkraft durch seinen Schwung auszuhalten und nicht gegen den Mond hin zu<br />

treiben.)<br />

Das mondferne Meer - im Gegenteil - wird von der Erde zu schnell mitgenommen.<br />

Zu schnell für die dort schon schwächere Gravitation. Deshalb drängt es<br />

nach außen.<br />

Das mondnahe Meer drängt zum Mond, das mondferne läuft ihm davon. Beide<br />

konnten aber nicht von der mächtigen Erde los. Sie können ihren Wunsch nur<br />

andeuten, sie steigen auf, jedes zu einem Flutberg. Auch der zweite, der<br />

mondferne, ist ein Werk der Gravitation, trotzdem er vom Monde wegstrebt.<br />

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Denn die Gravitation ist es ja, die die Erde ins Schleudern bringt, und daher kommen<br />

beide Wasserberge.<br />

Unter diesen beiden Bergen kreiselt die Erde einmal täglich herum, und deshalb<br />

kommt jeder Ort täglich zweimal an die Flut.<br />

So sind Ebbe und Flut das einzige Geschehen in unserer menschlichen Welt, in<br />

dem die Gravitation nicht zur Erde hintreibt. Diese Wassermassen wollen nicht<br />

nur nach unten, sie sind - auf der mondnahen Seite - auch nach dem Monde hin<br />

schwer. Sie „fallen“ gegen ihn. Sie verraten untrüglich, daß er nicht nur eine<br />

Lichtgestalt und glänzende Scheibe ist, sondern eine große, massige, schwere,<br />

materielle Kugel.<br />

Die Welt im Großen<br />

Wenn du am Strande stehst und siehst Mond und Sterne aufsteigen über dem gewölbten<br />

Meer, so kann sich in deinem Anschauen und in deinem Denken alles<br />

verbinden, was dieses Kapitel enthält:<br />

Die Erde krümmt sich leicht unter dir hin. Die Gravitation hat sie zur Kugel zusammengezogen<br />

zu Zeiten, als sie noch nachgiebig war.<br />

Langsam dreht sie sich - und nimmt dich mit - nach Osten. Die Trägheit macht,<br />

daß sie nicht ruhen kann von einem Antrieb, der sie in uralter Zeit einmal gefaßt<br />

und wieder losgelassen hat. So rollst du langsam unter den Mond, und er und die<br />

Sterne scheinen aufzugehen - im Osten.<br />

Aber der Mond kreist außerdem auch wirklich, langsamer, monatlich einmal,<br />

auch nach Osten, wie die Erde kreiselt. Die Gravitation hält ihn auf diesem Kreise<br />

an die Erde fest. Ohne sie flöge er davon, auch er einem alten Anstoß beharrlich,<br />

träge, folgend.<br />

Er zerrt an der Erde, er will sie mitnehmen. Aber sie kommt nur in ein schwerfälliges<br />

Schleudern, weil sie so groß und träge ist.<br />

Das Wasser zwischen ihnen spürt den Zug von beiden. Und wenn es auch seine<br />

Heimat, die mächtigere und nahe Erde nie verlassen kann, so hebt es sich doch<br />

der fernen Felskugel Mond entgegen. Mit ihm steigt die Flut und rauscht am<br />

stärksten, wenn er am höchsten steht. - Sie kommt wieder nach zwölf<br />

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Stunden, gleich im Anblick, und ist doch nicht dieselbe. Denn der Mond geht nun<br />

unter dir und jenseits der Erde. Nicht zu ihm drängt dieses Wasser. Es hängt dem<br />

anderen Zuge aller Materie nach, dem Zwang nach Geradeaus - auf der Schleuderbahn<br />

der Erde.<br />

Und wenn du dich erhöbest und könntest zusehen von außen, so sähest du die Erde<br />

ihren großen Jahreskreis um die Riesin Sonne ziehen. Ein <strong>Bild</strong> der Ordnung.<br />

Aber auch die Erde läuft in einem ständigen Kampf zwischen dem Sturz zur Sonne<br />

und der geraden Flucht.<br />

Und selbst die Sonne folgt - in einem Sternstrom treibend ähnlichem Gesetz.<br />

Trägheit und Gravitation, ihre Zweieinigkeit hält die große materielle Welt im<br />

Zaum. Sie hindert, daß sie in sich zusammenstürzt wie daß sie auseinander treibt.<br />

Sie ist das Ureigenste der Materie, ihr Antreiber und ihr Bändiger, ihr maßvoller<br />

Beweger.<br />

Warum aber diese beiden Naturkräfte so eng zusammenhängen, das wissen wir<br />

noch nicht gewiß 13 .<br />

Abbildung 3. Trägheit und Gravitation<br />

Mensch und Block schweben schwerelos im Weltraum.<br />

Je leichter sich der Block durch die stoßende Hand in Bewegung setzen<br />

läßt, desto geringer ist auch der Druck, mit dem er sich gegen die ruhende Hand<br />

andrängt. (S. 8 bis 12.)<br />

13 Vgl. Anm. 7.<br />

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Bewegung und Wärme<br />

Einleitung<br />

So dunkel uns die Kräfte des vorigen Kapitels blieben, noch als wir sie durch<br />

dacht hatten, so vertraut wird es dich berühren, daß Wärme und Bewegung zusammengehören.<br />

Denn wir sehen die Frühlingswärme alles Ruhende erwecken, Pflanzen und Tiere<br />

zu Wachstum und Bewegung. Kälte macht starr, und mit dem Leben verläßt die<br />

Wärme unser Blut. Der Untätige wird kalt, und wer warm werden will, macht sich<br />

Bewegung.<br />

Eis ist fest, zu Wasser erwärmt wird es beweglich, zu Dampf erhitzt bewegt es<br />

selbst und droht die Wärme zu sprengen, die ihm den Raum versperren. Kaltes<br />

Eisen wird durch Hämmern heiß und glühend.<br />

So erschafft Wärme Bewegung und umgekehrt.<br />

Aber damit sind wir erst am Anfang im Verständnis dieser Beziehung. Wir sehen<br />

sie, aber wir verstehen sie nicht. Denn wir wissen zwar genau, was Bewegung ist -<br />

denn wir sehen und tasten sie, wir erzeugen und erleiden sie am eigenen Leibe<br />

aber von der Wärme ist uns nur die eine Empfindung gegeben, oder besser: das<br />

eine, gegensätzliche Empfindungspaar warm - kalt. Warum beide, Wärme und<br />

Bewegung, sich gegenseitig hervorrufen, würden wir recht erst begreifen, wenn<br />

wir wüßten: was ist denn nun mit dem Wasser oder mit dem Eisen geschehen,<br />

was ist in ihnen vorgegangen, wenn sie erst kalt waren, und nun sind sie warm?<br />

Wir wissen es heute. Erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts klärte es sich, und<br />

jetzt sind wir gewiß, daß das <strong>Bild</strong> richtig ist, das wir uns davon machen.<br />

„<strong>Bild</strong>“ muß man sagen, weil wir uns nicht unmittelbar von ihm überzeugen können.<br />

Die Antwort liegt im Unsichtbaren, in einer geheimen kleinen Welt, in die<br />

unsere groben Sinne nie<br />

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eindringen können. Alle Wege, die zu ihr führen, sind Gedankenfolgen und<br />

Schlüsse, vom Groben ins Feine.<br />

Es gibt aber ein Experiment - und nur dies eine -, das uns zwar nicht gerade die<br />

Wärme selbst wirklich sehen läßt, aber doch gleichsam einen Schimmer oder<br />

Schatten von ihr. Dieses Experiment, das nur durch die Erfindung des Mikroskopes<br />

möglich wurde, hätte allein vielleicht ausgereicht, auf die richtige Spur zu<br />

kommen; aber nie hätte es allein die Gewißheit geben können, die wir bis heute<br />

aus vielen anderen Erscheinungen erschlossen haben. Nachdem wir die Wahrheit<br />

über die Wärme aber nun haben, kann ich sie dir an diesem Experiment am besten<br />

anschaulich und glaubhaft machen.<br />

Die B r o w n sche Bewegung<br />

Du löst in Wasser etwas Zinnober auf, den roten Farbstoff aus dem Aquarellfarbkasten,<br />

oder etwas chinesische Tusche. Ein Tropfen davon kommt zwischen zwei<br />

dünne Glasplatten, und diese dünne Schicht betrachtest du nun durch ein Mikroskop<br />

von etwa 1000facher Vergrößerung.<br />

Du siehst dann im klaren Wasser die einzelnen, winzig kleinen Bröckchen des<br />

Farbstoffes (die dem freien Auge den Eindruck machen, als sei die Flüssigkeit<br />

durchgehend rot gefärbt). Es kommt allein darauf an, daß es winzige, in der Flüssigkeit<br />

schwebende feste Körnchen sind, es braucht nicht Tusche oder Zinnober<br />

zu sein. Es geht sogar mit kleinen Fetttröpfchen, die du einfach so bekommst, daß<br />

du etwas Milch in Wasser gießt.<br />

An alledem beobachtest du etwas sehr Seltsames, und immer das Gleiche. Anfangs<br />

übersiehst du es, du erkennst nur die Körnchen im Wasser. Sobald du es<br />

bemerkst, erstaunt es dich und fesselt dich zugleich. Ein Anblick, in den man lange<br />

versinken kann:<br />

Die Körnchen bewegen sich, nämlich, und zwar auf eine ganz eigentümlich ziellose,<br />

hastig wimmelnde Art. Sie kommen dabei nicht recht vom Fleck, sie zittern,<br />

unruhig und in kleinen Rucken auf Zick-Zack-Wegen hin und her. Erst wenn du<br />

eins von ihnen aufs Korn nimmst und eine Zeitlang verfolgst, so<br />

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merkst du, daß es weiter kommt. Wohin, läßt sich nie voraussagen: bald dahin<br />

bald dorthin, auf regellosen Irrwegen: ein Spielball des Zufalls. Es ist kein<br />

gemeinsames Strömen oder Wirbeln, wie wir das von den Sonnenstäubchen<br />

kennen, die der Luftbewegung folgen. Sondern jedes Körnchen bewegt sich<br />

selbständig und für sich. Aber immer sind die kleinsten die flinksten, daran ist<br />

kein Zweifel. Je größer, desto lahmer. Sehr große sehen aus, als säßen sie fest in<br />

einem unsichtbaren Morast und mühten sich zitternd und vergeblich<br />

loszukommen. Die allergrößten rühren sich überhaupt nicht mehr . – Deshalb<br />

gelingt der Versuch auch nur, wenn die Körnchen durchschnittlich sehr klein<br />

sind.<br />

Es ist nicht nötig, daß die Stäubchen in Wasser oder sonst eine Flüssigkeit eingebettet<br />

sind. Sie können auch in Luft – oder sonst einem Glas – schweben. Zigarettenrauch,<br />

in einen kleinen Glaskasten eingesperrt und seitlich durchleuchtet, zeigt<br />

denselben Anblick, noch lebendiger sogar. Nur strömt die Luft immer außerdem<br />

ein wenig (infolge der erhitzenden Beleuchtung) so daß man einen Mückenschwarm<br />

zu sehen meint, den der Wind vorüberträgt.<br />

Man kann diese Erscheinung heute auch als Lichtbild auf der Leinwand für mehrere<br />

Beobachter zugleich sichtbar machen. Man benutzt dazu in Wasser verteilte,<br />

sehr kleine Kristalle, die man seitlich, quer zur Blickrichtung, grell beleuchtet. So<br />

glitzern sie auf dunklem Grund, und man glaubt, in einen Himmel tanzender Sterne<br />

zu blicken.<br />

Gedanken über das Vorige<br />

Was ist von dieser Bewegung zu halten?<br />

Daß der Engländer B r o w n, als er sie 1827 als erster sah, glaubte, etwas Lebendes<br />

vor sich zu haben, ist nicht verwunderlich, zumal er Botaniker war. Später<br />

merkte man dann, daß jedes Stäubchen in diese wimmelnde Bewegung gerät,<br />

wenn es nur klein genug ist. Auch würden Lebewesen sich anders bewegen. Denn<br />

es ist ja ein Kennzeichen dieser „Brownschen“ Bewegung, daß die einzelnen<br />

Körnchen sich nicht im geringsten umeinander kümmern. Jedes tanzt auf eigene<br />

Faust, gleichgültig, welche Bewegung der Nachbar<br />

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macht. Sie suchen, fliehen oder verfolgen sich nie, und ihre Zusammenkünfte sind<br />

offenbar immer zufällig. Auch wäre es nicht ganz zu verstehen, daß gerade die<br />

kleinsten die tätigsten wären. Und schließlich müßten sie, wenn sie lebten, ohne<br />

Nahrung in die Wasserschicht eingeschlossen, sterben und zur Ruhe kommen.<br />

Und damit stoßen wir auf eine neue, sehr wichtige und unheimliche Eigenschaft<br />

der B r o w n schen Bewegung:<br />

Wenn du unvorbereitet zum ersten Male dieses Gewimmel sähest, so würdest du<br />

dir sagen: da geht gerade etwas vor; gut, daß ich dazu komme. Du siehst gefesselt<br />

5 Minuten zu, und fragst dich: wie lang mag das wohl dauern? Du siehst eine halbe<br />

Stunde zu, du gehst nach zwei Stunden, zwei Tagen wieder hin, - nach zwei<br />

Wochen schließlich: es ändert sich gar nichts, es geht immer weiter! (Nur dafür<br />

muß gesorgt sein, daß das Wasser nicht austrocknet; man kann es ja in eine dichte<br />

Kammer einschließen). Es dauert jahrelang, es hört niemals auf!<br />

Vergebens fragt man sich, wodurch diese Bewegung immer wieder angetrieben<br />

wird? Denn sonst überall zeigt uns die Natur, daß jede Bewegung - ihr selbst überlassen<br />

- sich totläuft, weil sie in Reibung erstickt 14 . Und gerade hier, bei der B r<br />

o w nschen Bewegung, kann die Reibung nicht gering sein, da die Stäubchen sich<br />

durch Wasser oder Luft hindurchwühlen müssen.<br />

Überlegen wir ganz ordentlich, woher die Kraft kommen, wo sie sitzen könnte, so<br />

zeigen sich wohl nur zwei Möglichkeiten:<br />

Die erste ist, daß die Bewegung von den Stäubchen selbst ausgeht. - Lebendig<br />

sind sie nicht. Dann könnte es also sein, daß sie auf andere Art sich gegenseitig in<br />

Bewegung bringen, anziehend oder abstoßend, ähnlich wie wir das von der Gravitation<br />

oder vom Magneten her kennen. Das müßte man aber der Bewegung ansehen.<br />

Dann dürfte eben nicht jedes Stäubchen tanzen, wie es ihm gefällt, sondern<br />

auch so, wie es dem Nachbarn gefällt. Irgendeine Beziehung, eine Ordnung (voneinander,<br />

zueinander, umeinander müßte hervortreten. Das ist aber nicht so! - Und<br />

selbst wenn es so wäre, so bliebe noch<br />

14 Das gilt nur für solche Bewegungen, bei denen der bewegte Körper in (reibender oder stoßender) Berührung mit<br />

anderen Körpern oder mit sich selbst ist. Es gilt also nicht für die Mondbewegung und ähnliche.<br />

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das Rätsel, warum nicht diese Eigenbewegung in der hemmenden Flüssigkeit allmählich<br />

erlahmte und aufhörte.<br />

So bleibt nur die andere Möglichkeit: die Stäubchen selbst sind ganz untätig, und<br />

die Bewegung kommt aus der Flüssigkeit. Das brächte uns auch über die Reibungsfrage<br />

weg: Denn wenn das Reibende zugleich das Treibende ist, so hat ein<br />

so getriebenes Stäubchen keine Ursache mehr, zur Ruhe zu kommen. So wenig<br />

wie der Faustball über einem Feld von Spielern. Die Fäuste hemmen ihn wohl,<br />

zugleich aber geben sie ihm die verlorene Bewegung mit einem Überschuß zurück.<br />

– Oder, denke dir in stillem Wasser ein Boot, das in die tummelnde Herde<br />

großer Fischer gerät. Oder, das schönste Beispiel 15 : Auf einem Ameisenhaufen<br />

liegt ein Stückchen Papier, das von den wimmelnden Tieren ziellos hin und her<br />

gerückt wird. Vorausgesetzt, daß die Ameisen es nicht benutzen und fortschleppen,<br />

sondern nur im Vorbeistreifen achtlos daran stoßen.<br />

Die in der Flüssigkeit wohnende, die Stäubchen bewegende Kraft müssen wir<br />

uns, wie der Anblick und diese Vergleiche zeigen, als eine regellos stoßende vorstellen.<br />

Nicht als etwas so geordnetes wie Strömen oder Wirbeln, sondern als eine<br />

viel feinere, ungeregelte, überall gleiche innere Unruhe. Wenn sie überall gleich<br />

ist, so wird es auch verständlich, daß die beweglicheren kleinen Stäubchen ihr<br />

besser folgen können als die trägeren großen. Je kleiner sie sind, desto genauer<br />

werden sie – wie mehr oder weniger große Stücke Papier auf den Wellen oder auf<br />

dem Ameisenhaufen – sich der Unruhe anpassen, die gerade an der Stelle<br />

herrscht, die sie ausfüllen. Unterhalb einer gewissen Grenze können wir die<br />

Körnchen nicht mehr sehen; und vielleicht sind die kleinsten, die wir erkennen<br />

können, noch immer recht groß im Vergleich zu dem Gefüge der inneren Unruhe<br />

selbst, - so etwa wie eine Zeitung sich verhalten mag zu der einzelnen Ameise.<br />

Trotzdem gibt uns der Anblick des kleinsten umhergetriebenen Körnchens ungefähr<br />

an, wie wir uns die innere Unrast der Flüssigkeit (oder der Luft) vorstellen<br />

müssen: als ein schnelles, immer wechselndes, zielloses, ruckartiges Umherspringen,<br />

an jeder Stelle ohne Beziehung zur Nachbarschaft.<br />

Da die Stäubchen untätig sind, müssen wir annehmen, daß die innere Bewegung<br />

der Flüssigkeit, die sie antreibt, auch<br />

15 Dieser Vergleich findet sich bei R. W. Pohl: Mechanik und Akustik, 2. Auflage, Berlin 1931, Seite 117<br />

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dann da ist, wenn sie fehlen. Sie verraten nur und vermitteln zwischen der Feinheit<br />

der inneren Unruhe und der Größe unseres Körpers. Und sogar im stärksten<br />

Mikroskop sieht jede Flüssigkeit ruhig und unterschiedslos aus. Die innere Bewegung<br />

selbst bleibt uns ewig verborgen, so wie das Wimmeln der einzelnen Ameisen,<br />

deren Wohnhaufen wir aus 10 m Entfernung betrachten.<br />

Reibung<br />

Wenn wir uns in dieses <strong>Bild</strong> der inneren Unruhe vertiefen, so kommt uns das alte<br />

Bedenken wieder: Die unbequeme Frage nach der Reibung haben wir im Grunde<br />

doch nur von den Körnchen auf die Flüssigkeit abgeschoben. Warum erstickt sie<br />

nicht ihre eigene Bewegung? Sie ist nicht lebendig, sie enthält keine Faustballspieler,<br />

keine Ameisen, die aus Nahrung die Kraft gewinnen, in Bewegung zu<br />

bleiben. Wasser können wir in die tollste Bewegung bringen: stellen wir es dann<br />

hin und überlassen es sich selbst, so strömt es noch eine Weile, aber immer langsamer.<br />

Innerlich reibt es sich, in sich selbst, wie ein Tonklumpen, den du mit der<br />

Hand knetest. Und zuletzt kommt es zur Ruhe. So jede andere Flüssigkeit auch.<br />

Aber verstehen wir denn das, verstehen wir die Reibung, zumal wir von der Trägheit<br />

wissen, die alle Bewegung erhalten will? Hier in der Flüssigkeit, scheint doch<br />

Bewegung spurlos zu vergehen?<br />

Wie nun, wenn die Frage sich so löste: wenn nun dieses Verlorengehen nichts anderes<br />

wäre als ein Übergehen der groben sichtbaren Bewegung in diese neu entdeckte,<br />

unsichtbare, feine, geheime innere Unruhe? Wenn sich die Bewegung, mit<br />

der wir einen Knüppel durchs Wasser ziehen, nun einfach in sie verwandelte, verzettelte,<br />

verkrümelte, und also gar nicht als Bewegung verlorenginge? Wenn der<br />

Reibungsverlust eben dieser Übergang wäre? Wohin sollte dann diese innere, innerste<br />

Bewegung selbst sich noch verlieren? Sie ist am Ziel, sie kann sich nur<br />

noch an sich selbst verlieren. Und das heißt: sie muß sich erhalten ohne Ende.<br />

Dieser Gedanke fällt uns schwer, denn er wendet sich gegen das Gewohnte. Aber<br />

er ist der einzige, der die Frage löst, und er hat sich in allen Fällen bewährt.<br />

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Brownsche Bewegung und Wärme<br />

Nun wirst du aber schon lange fragen wollen: was hat das alles mit der Wärme zu<br />

tun?<br />

Tatsächlich kommen wir erst jetzt zur Hauptsache. An der B r o w nschen Bewegung<br />

ist noch etwas zu beobachten. Es zeigt sich erst bei genauerem Zusehen und<br />

Studieren, aber es ist von der größten Bedeutung:<br />

Wenn du das Wasser oder die Luft, in dem die Körnchen umhergetrieben werden,<br />

stark abkühlst, so zeigt sich, daß ihre Bewegungen lahmer werden. Umgekehrt<br />

macht Erhitzung sie lebhafter. Dieser Zusammenhang ist ganz streng: Zu jeder<br />

Temperatur gehört ein bestimmtes Tempo der Bewegung, und jede Schwankung<br />

des Wärmegrades wird sichtbar abgebildet.<br />

Nun habe ich das etwas übertrieben: Du darfst dir nicht denken, daß es sehr viel<br />

ausmacht. Wenn es z. B. im Zimmer 10 oder 20 Grad wärmer wird, so macht das<br />

noch wenig aus, und du kannst es dem Bewegungsbild nicht ohne weiteres ansehen.<br />

Man muß stark erhitzen oder abkühlen und genaue Messungen dazu machen,<br />

etwa verfolgen, wie weit ein bestimmtes Bröckchen in der Minute kommt, bei<br />

Kälte und bei Wärme.<br />

Man stößt dabei auf die Frage: ob die Bewegung wohl auch bei Kälte noch anhält?<br />

Nun ist ja wohl mancher durch die Einteilung des Thermometers irregeführt<br />

zu glauben, daß bei „Null Grad“ alle Wärme aus den Dingen entwichen ist, um<br />

nun der Kälte Platz zu machen, wenn das Quecksilber noch weiter sinkt. Aber es<br />

ist ja ganz willkürlich, daß wir 0 Grad gerade dann sagen, wenn das Wasser anfängt<br />

zu gefrieren. Auch meint der Physiker, wenn er „Wärme“ sagt, nicht das<br />

Wärmegefühl. Er sagt: „Wärme“ ist da, solange es noch kälter werden kann. Das<br />

nennt er „Wärme“.<br />

Und dazu paßt es, wenn wir am Mikroskop sehen: die B r o w n sche Bewegung<br />

ist auch bei 10 Grad Kälte noch da, auch bei 20 und bei 30 Grad, wenn auch etwas<br />

zögernder. Auch sie bleibt da, solange es noch kälter werden kann. (Man<br />

muß aber eine Flüssigkeit wählen, die bei der beobachteten Temperatur noch<br />

nicht eingefroren ist!)<br />

Und kann es denn „immer kälter“ werden? - Das ist nun ohne weiteres schwer zu<br />

sagen, ebenso wenig wie: ob es immer<br />

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heißer werden kann. Man muß das ausprobieren. Die Physiker, die das getan und<br />

versucht haben, den Körpern auf sehr kunstvolle Weise immer mehr Wärme zu<br />

entziehen, sagen uns, daß das einmal ein Ende hat, daß bei ungefähr 273 Grad<br />

Kälte keine Wärme mehr herausgeholt werden kann. Die Körper sind dann<br />

gleichsam leer von ihr. Man hat diese Temperatur fast erreichen, aber nie<br />

unterschreiten können.<br />

Das ist eine Entdeckung, die sehr gut dazu paßt, daß - wie wir sahen - Temperatur<br />

und B r o w nsche Bewegung miteinander gehen. Denn wie die Abkühlung, so ist<br />

auch eine erlahmende Bewegung etwas, das einmal ein Ende findet: die Ruhe. So<br />

müssen wir annehmen - und viele Beobachtungen führen dazu -, daß die B r o w n<br />

sche Bewegung bei 273 Grad Kälte endgültig erstarrt und uns das <strong>Bild</strong> eines<br />

Todes gibt, den auch die leblosen Körper noch sterben können.<br />

Aber es ist kein rechter Tod: wenn man das Abgekühlte wieder warm werden<br />

läßt, so ist auch die Bewegung wieder da, in alter Frische, und läßt an nichts erkennen,<br />

daß sie inzwischen erloschen war.<br />

Bedeutung<br />

Wir hatten uns gefragt: was hat die B r o w n sehe Bewegung mit der Wärme zu<br />

tun? Wenn wir nun die Antwort darauf kurz zusammenfassen sollten, so würden<br />

wir wohl sagen:<br />

(x)<br />

Erwärmung bewirkt Zunahme der B r o w n schen<br />

Bewegung, das heißt eine Steigerung der geheimen inneren Unruhe,<br />

die in Flüssigkeiten und Gasen am Werke ist.<br />

Und vorher hatten wir gefragt: Was ist Wärme? „Was ist denn nun anders geworden<br />

in dem Wasser, das erst kalt war und nun ist es heiß?“ Was ist in ihm vorgegangen,<br />

was hat sich verändert?<br />

Kann uns die Brownsche Bewegung und der Satz (x) für diese Frage etwas be-<br />

deuten?<br />

Zuerst scheint es, als hätten wir zu den vielen belebenden Wirkungen der unbekannten<br />

Macht „Wärme“ nur noch eine neue hinzugefunden. Wärme steigert so<br />

viele Bewegungen, so auch diese Brownsche.<br />

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Aber es ist ein ungeheurer Unterschied in der Bedeutung, ob ein Kaulquappenschwarm<br />

in der Sonne lebhafter wird oder die B r o w nsche Bewegung. Denn sie<br />

ist überall und immer da. Alle flüssigen und luftförmigen Stoffe sind insgeheim<br />

unaufhörlich von ihr erregt.<br />

Und die festen nicht? - Auch sie! Nur ist sie in ihnen noch verborgener. Ist die<br />

Bewegung im Flüssigen schon träger als im Gas, so muß sie im Festen noch gehaltener<br />

sein. Niemals würde sein starrer Verband ein Gleiten gestatten, wie es in<br />

der Flüssigkeit möglich ist. Das Mikroskop zeigt uns denn auch in den festen<br />

Körpern nichts von einer inneren Bewegung. Und doch haben wir Beweise dafür,<br />

daß auch hier ein Zittern und sogar ein langsames Wandern im Gange sein muß.<br />

Man hat gefunden, daß z. B. Blei und Gold, wenn sie in enger Berührung liegen<br />

bleiben, gleichsam zusammenheilen: das Gold wandert langsam ins Blei hinein in<br />

unzähligen Vorposten. Und je wärmer es ist, desto schneller geht das vor sich.<br />

So ist also auch der feste Zustand nicht ausgenommen, und wir müssen erkennen,<br />

daß jene fiebernde Unruhe, ebenso wie die Wärme, überall und immer dem Stoffe<br />

innewohnt, in Wasser, Luft und Stein, mit ihr steigt und fällt und ihr folgt wie ein<br />

unzertrennlicher Begleiter.<br />

Was Wärme ist<br />

Wenn du siehst, daß Zwei immer zusammen sind und immer dasselbe tun, so<br />

kannst du nicht leicht sofort sagen, welcher von beiden der Bestimmende ist, und<br />

welcher der Geführte. Hier, in unserem Falle, wirst du aber kaum schwanken und<br />

es so ansehen, daß die Wärme der Anführer ist, und daß die innere Bewegung ihr<br />

folgt. Nun kann man das bei scharfer Beobachtung ja prüfen: das, was dem anderen<br />

folgsam ist, muß ihm auch in der Zeit folgen, es muß ihm ein wenig nachhinken.<br />

Bei der B r o w nschen Bewegung ist es nun aber nicht festzustellen, daß sie<br />

der Erwärmung nachfolgt. Aber auch umgekehrt ist es nicht. Sondern beide sind<br />

immer gleichzeitig auf dem Posten. Hat das Thermometer 50 o erreicht, so ist auch<br />

die Bewegung bei ihrem 50 o -Tempo angelangt. Sie macht<br />

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nicht nach, sie macht mit. Sie folgt nicht wie das Echo, sondern wie der Schatten<br />

oder wie das Spiegelbild 16 .<br />

Danach wäre es also nicht richtig zu sagen: „die Erwärmung ruft die Zunahme der<br />

B r o w n schen Bewegung hervor“ und ebensowenig: „die Steigerung der Bewegung<br />

verursacht die Erwärmung“. Es wäre eines so richtig wie das andere. Aber<br />

strenggenommen ist beides falsch. Es ruft nicht eins das andere. Sie sind zugleich<br />

da und ändern sich zugleich.<br />

Wir sind nun nah am Ziel, der Antwort auf die Frage „was ist Wärme?“.<br />

Etwas wird dir noch den letzten Stoß geben: Es ist nicht gelungen „die Wärme<br />

selbst“ sonst irgendwie zu fassen. Eine Zeitlang glaubte man, sie sei ein äußerst<br />

feiner Stoff, aber das hat man längst aufgeben müssen. Der Stoff ist nicht da. Es<br />

ist nur unsere Empfindung da und außerdem, als ihr treuer Begleiter, die „innere<br />

Unruhe“ dessen, dem man einen gewissen Wärmegrad anfühlt.<br />

Ist es da vernünftig, noch immer nach „der Wärme“ zu suchen, noch weiter an ein<br />

ungreifbares Gespenst zu glauben, das die B r o w n sche Bewegung „verursacht“,<br />

so wie es unsere Empfindung verursacht?<br />

Sehen wir, was ist: Immer wenn deine Augen an der Brownschen Bewegung sehen,<br />

daß die innere Unruhe des Stoffes wächst, so sagen dir deine Fingerspitzen,<br />

die diesen Stoff anfühlen: er wird wärmer. Und wenn die innere Bewegung erlahmt,<br />

so meldet deine Haut: er wird kälter. Ist es nicht das einfachste, anzunehmen:<br />

Das, was deiner Haut dieses Gefühl macht, das ist eben die innere Bewegung<br />

des Stoffes, die daran klopft und rüttelt? Hat er mehr Bewegung als die<br />

Haut, und wird sie also von ihm aufgerüttelt, so meldet sie „warm!“ Hat er weniger<br />

davon und läßt sich auf ihre Kosten innerlich stärker antreiben, so meldet sie<br />

den Verlust als „Kälte“ 17 . Wir schließen also:<br />

Wärmeempfindung ist die vergleichende Wahrnehmung der inneren Bewegung<br />

des berührten Stoffes durch besondere Organe der Haut.<br />

Was dem Auge durch den Anblick der B r o w n schen Bewegung als Bewegung<br />

angezeigt wird, das spürt die Haut als<br />

{34}<br />

16 - Dieser Vergleich ist nicht streng richtig. Auch der Schatten der bewegten Hand folgt ihrer Bewegung nicht<br />

gleichzeitig, sondern soviel später, wie das Licht Zeit braucht, um von der Hand bis zum Schatten zu gelangen.<br />

17 Hiermit hängt es auch zusammen, daß derselbe Gegenstand der Hand warm erscheint, wenn diese Hand kalt<br />

war, und kalt, wenn die Hand warm war. - Ebenso wird es dadurch verständlich, daß ein Stück Metall sich kälter<br />

anfühlt als ein Stück Holz, auch wenn das Thermometer für beide gleiche Temperatur nachweist, Das Eisen leitet<br />

nämlich die Wärme der Hand schneller ab als das Holz, so daß der Verlust an Wärme für die Hand größer ist,<br />

wenn sie das Eisen anfaßt<br />

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besondere Empfindung. So zeigt uns dasselbe zwei verschiedene Gesichter, je<br />

nachdem wir es mit dem einen oder mit dem anderen Sinn aufnehmen.<br />

So verstanden, ist die Wärme eben diese innere und unsichtbare Bewegung der<br />

Materie.<br />

Bestätigungen<br />

Das ist für uns bis jetzt nur eine Annahme, wenn auch die vernünftigste. Aber die<br />

Gründe, die wir hier durchdacht haben, sind allein doch nicht beweisend genug.<br />

Wenn du willst, so kannst du doch weiter hartnäckig nach dem Gespenst<br />

„Wärme“ suchen, das nur nicht zu fassen ist und auf eine ebenfalls unfaßbare<br />

Weise für die innere Bewegung und zugleich für die Wärmeempfindung sorgt.<br />

Wenn heute niemand mehr an es glaubt, sondern alle Physiker davon überzeugt<br />

sind, daß Wärme die innere Bewegung ist, so liegt das daran, daß sich aus dieser<br />

Vorstellung alles 18 , was die Wärme sonst mit sich bringt, in einer vollkommenen<br />

und fast wunderbaren Weise verstehen läßt. Das will ich dir noch kurz andeuten:<br />

Das heiße Gas, das dem Feuer entströmt, ist erfüllt von heftigster innerer Bewegung.<br />

Halte ein Gefäß mit kaltem Wasser hinein: das Gas umspült es und durch<br />

unmittelbare Berührung greift seine innere Bewegung über in unzähligen Stößen,<br />

dringt ein in Gefäß und Wasser und greift auch dort immer mehr um sich. Auch<br />

ein Thermometer und sein Quecksilber, das du hineingestellt hast, wird von allen<br />

Seiten von dem Aufruhr durchdrungen. Es „steigt“, denn das Quecksilber, durch<br />

die zunehmende Unruhe im Innersten aufgelockert, verlangt nun mehr Raum. So<br />

etwa wie eine Volksmenge, die anfangs dicht gedrängt und ruhig dasteht, und<br />

dann allmählich in einen immer wilderen Tanz verfällt. Denn wenn der Einzelne<br />

tanzt wie er will, nur immer toller, so wird der Volkshaufe sich auf einen immer<br />

größeren Patz ausbreiten müssen; selbst dann, wenn alle so nahe beisammen bleiben,<br />

wie sie nur können, ohne doch das Tanzen zu lassen. – Ebenso wie das<br />

Quecksilber dehnen sich Wasser und Topf; alles weitet sich in der Wärme. – Erhält<br />

nun der unsichtbare Aufruhr durch das fort<br />

18 Ausnahme: S. 36.<br />

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heizende Feuer immer neuen Anstoß und Nachschub, so wirft er zuerst feinste<br />

Trümmer aus dem Wasser heraus – es dampft -, und schließlich zerreißt er offen<br />

und sichtbar den Zusammenhang der Flüssigkeit im Inneren: sie kocht. Allmählich<br />

verkochend zerfetzt sie sich völlig zu Dampf. Damit sind die Fesseln des<br />

stofflichen Zusammenhangs gesprengt. Im Dampf und Gas ist die verborgene<br />

Bewegung zu einem inneren Sturm angewachsen. Es geht nun zum Angriff nach<br />

außen über, der Dampf drängt heftig auseinander und, wenn er eingeschlossen ist,<br />

sprengt er die Wände (vgl. Abb. 4, S. 41, Zeichnung 2). Ist das leergekochte Gefäß<br />

immer weiter großer Hitze, das heißt prasselnder Unruhe, ausgesetzt, so<br />

kommt sein starres Gefüge ins Wanken und dann ins Fließen: es „schmilzt“, und<br />

schließlich zerstäubt es auch zu Dampf. – Das ist das letzte Schicksal aller Stoffe<br />

in der Hitze. Der eine verfällt ihm eher als der andere: Das muß daran liegen, daß<br />

für jeden die Kraft des inneren Zusammenhanges eine andere ist.<br />

Wenn wir mit Feuer oder heißer Platte heizen, so ist das wesentliche die Berührung<br />

zwischen dem Heizenden und dem Geheizten, zwischen dem Warmen und<br />

dem Kalten. Denn sie allein gestattet den Übertritt der inneren Bewegung. Auch<br />

Luft kann ihn vermitteln, wenn auch langsam.<br />

An Stelle der vielen kleinen unsichtbaren Stöße kann aber auch ein großer äußerer<br />

Angriff dasselbe leisten: wir können auch hämmern oder reiben. Mit jedem<br />

Schlag des Schmiedehammers empfängt die oberste Schicht des Eisens einen<br />

Stoß, der, in die Tiefe fortgegeben, sich immer weiter ins Metall zerstreut und<br />

verliert, immer ungeordneter und unsichtbarer wird, ohne doch zu vergehen. Die<br />

grobe sichtbare Hammerbewegung lebt weiter als das geheime Gewimmel im Eisen,<br />

dem Blick verborgen, der Haut fühlbar als Wärme (vgl. Abb. 4, Zeichnung<br />

1).<br />

Warum in der Wärme alles Lebende lebhafter und beweglicher wird – die Wirkung<br />

des Frühlings -, auch das durchschauen wir jetzt ein wenig. Das Leben als<br />

geheimnisvoll bauende Kraft braucht einen gefügigen Stoff. In der Wärme wird er<br />

innerlich beweglich und damit zugänglich seiner sanften Gewalt, die seine Teile<br />

ordnet und lenkt zu sinnvoller Form und Bewegung. In der Kälte ist er starr in<br />

sich verfangen.<br />

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Aber auch ein Übermaß von Wärme wird dem Leben wieder gefährlich: es macht<br />

das Folgsame ungebärdig, das Bewegliche bewegt nun selbst und zerstört. Sein<br />

wirres und ungeordnetes Gewimmel zerreißt die kunstvollen Bauten des lebendigen<br />

Leibes. Hitze tötet wie Frost. - Deshalb ist auch weder das Harte noch das<br />

Luftartige der eigentliche Baustoff der Lebenskraft. Darum machte sie ihre ersten<br />

Versuche in den Meeren der Vorzeit, und darum sind die Leiber der Tiere und<br />

Pflanzen aus Flüssigem gebildet, gerade in den Teilen, die am meisten lebendig<br />

sind.<br />

Eine Lücke<br />

So könnten wir also wohl zufrieden sein mit unserer Erkenntnis: Wärme ist innere<br />

Bewegung des Stoffes.<br />

Aber, hast du bemerkt, daß da eine Lücke ist? Daß es eine Naturerscheinung gibt,<br />

die unverständlich und dunkel bleibt? Etwas, das nicht paßt in dieses <strong>Bild</strong>? Oder,<br />

wie sollen wir es verstehen, daß die Sonnenwärme auf die Erde kommt? Denn der<br />

Raum zwischen Sonne und Erde ist leer! –<br />

Zwei Kugeln stehen sich gegenüber, zwischen ihnen ist eine weite Leere. Die eine<br />

ist sehr heiß, also ein von stürmischer innerer Bewegung durchtobter Gasball. Die<br />

andere ist kühl, das heißt: ihre innere Unruhe ist nur leicht. Und nun erleben wir<br />

den warmen Sonnenschein! Die innere Bewegung der Erde bekommt etwas ab<br />

von der der Sonne 19 ! Und doch ist keine Berührung da, keine stoffliche Brücke,<br />

auf der die Bewegung stoßend fortschreiten könnte, Schritt für Schritt, so wie sie<br />

es tut im Löffel auf dem Weg vom heißen Getränk zur Hand.<br />

Unwillkürlich kommt man auf den Gedanken, der Stoff selbst, aufgelöst, verdampft<br />

durch seine innere Bewegung, flöge vielleicht in feinen Trümmern herüber<br />

und schlüge hier wie ein Hagel winziger Geschosse ein, deren Wucht nun<br />

auch hier die innere Unruhe verstärkte. Wenn es so wäre, müßte der Wärmestrahlende<br />

Körper leichter und leichter werden und schließlich zerstäuben. Das ist<br />

aber nicht so. Er verliert die Bewegung seines Stoffes, aber nicht seinen Stoff<br />

selbst.<br />

Nein, die „Wärme unterwegs“ scheint eine völlig andere zu sein wie die in den<br />

Körpern „seßhafte Wärme“. Es ist als zöge sie eine Tarnkappe über, wenn sie auf<br />

die Reise geht.<br />

19 Direkt können wir nur den Gewinn der Erde kontrollieren, nicht den Verlust der Sonne. Aber die gleichen<br />

Verhältnisse lassen, sich im Laboratorium herstellen: Zwei Körper verschiedener Temperatur sind getrennt durch<br />

einen luftleer gepumpten Raum, und doch gewinnt der eine, was der andere (in seiner Richtung) verliert. - Daß die<br />

Temperatur der Erde durch die ständig zustrahlende Sonnenwärme nicht immerfort zunimmt, liegt daran, daß auch<br />

sie, auf dieselbe geheimnisvolle Art wie die Sonne, ihre innere Bewegung in die Ferne verliert.<br />

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Dieses Rätsel findet seine Lösung aus einer ganz neuen Richtung. Die Wärme ist<br />

ja nicht nur an den groben Stoff gebunden; sie hat noch eine andere, gleichsam<br />

vornehmere Verwandtschaft mit dem Licht, die uns im Sonnenschein vertraut ist.<br />

Auf dem Wege über das Licht kann sich die Lücke schließen.<br />

Rückblick<br />

Ehe wir uns dem zuwenden, sehen wir zurück. Wärme ist eine Art der Bewegung:<br />

innere, geheime, zuckende Unruhe der Materie. Wie fügt sich diese Erkenntnis<br />

zur früheren und wie wirkt sie überhaupt auf uns?<br />

1. Die erfüllte, wirr bewegte Innenwelt der Dinge scheint im Gegensatz zu<br />

stehen zu dem Anblick, den uns die Welt im Großen gab; dem endlosen leeren<br />

Raum, in dem die Gestirne widerstandslos ihre festen und geordneten Bahnen<br />

ziehen, im Banne der Trägheit und der Gravitation. - Aber dieser Gegensatz ist<br />

kein Widerspruch, sondern eine Ergänzung. Es wirken dieselben Gesetze. Um die<br />

großen Materiebälle der Gestirne hat die Gravitation den Raum leer gesaugt. Die<br />

Ordnung der Bahnen im Leeren ist die Ursache für das Gedränge im Kleinen.<br />

Und auch die Trägheit wirkt in beiden Welten. Wie sie die Sterne niemals ruhen<br />

läßt, so ist sie auch der Grund dafür, daß die innere Bewegung nicht vergehen<br />

kann. Und auch reibende und stoßende Bewegung vergeht nicht. Nur im Großen<br />

und Sichtbaren verschwindet sie. Sie flüchtet ins Innere, wo sie unzerstörbar<br />

bleibt.<br />

2. Diese Flucht macht uns nachdenklich: Wir rühren Wasser um mit einem<br />

Stock (S. 29) und warten, es macht Wellen und wirbelt, dann strömt es ruhiger<br />

und wird schließlich still. Die äußere Bewegung ist innere geworden, Wärme. -<br />

Und nun nimmst du irgendwoher ein wenig Wasser, aus dem Regen oder aus dem<br />

Teich, oder du nimmst Luft oder einen Stein, irgend etwas - und weißt nun: auch<br />

darin ist diese Bewegung. Und wie ist sie hineingekommen? Auch sie kann einmal<br />

grobe sichtbare Bewegung gewesen sein, irgendwann vor unbekannter Zeit,<br />

und dann geflüchtet ins Innere dieses Wassers oder Steines, und irrend von einem<br />

zum andern. Du siehst ein Grab, in das alle große Bewegung einmal einmündet,<br />

ein großes, gleichmachendes Sammelbecken vergangener Bewegung. Und<br />

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was daran unheimlich ist: man hat das Gefühl, daß alle Bewegung, die jetzt noch<br />

in der Welt sichtbar ist, dorthin drängt, daß es einmal aus sein wird mit aller großen<br />

geordneten Bewegung. Denn man spürt (und es ist durch Messungen bestätigt),<br />

daß dieser Übergang viel leichter ist, und also viel häufiger sein muß, als der<br />

umgekehrte: die Wiedergeburt einer großen Bewegung aus dem wirren Durcheinander<br />

des Kleinen. Derartiges ist zwar nicht unmöglich, es kann vorkommen<br />

(Abb. 4, Zeichnung 2), bei der Sprengung eines Vulkans z. B. (und in jedem<br />

Explosions-Motor!) Da ist es die stürmende innere Unruhe heißer Gase, die gegen<br />

die Bergwände trommelt und sie in Stücken davonschleudert. Aber solche Vorgänge<br />

sind verhältnismäßig selten, seltener als das Gegenteil, das doch immer das<br />

letzte Wort hat und das täglich um uns her geschieht, wie das Mahlen einer großen<br />

Mühle. Dazu kommt, daß Wärme sich nicht als ein brauchbarer Vorrat zusammenhält,<br />

sondern sich immer mehr nutzlos ausbreitet und verdünnt durch Leitung<br />

und Strahlung.<br />

So tut sich eine erschreckende Zukunft für die Welt auf: sie wird im Großen immer<br />

unbewegter und dafür immer gleichmäßiger warm. Man hat das den<br />

„Wärmetod“ genannt.<br />

Aber solche Schlüsse haben nicht viel Sinn. Denn wir kennen nur einen winzigen<br />

Teil der Welt und die Menschheit lebt erst eine kurze Zeit. Zwar dürfen wir glauben,<br />

daß die Gesetze, die wir „hier“ und „jetzt“ gefunden haben, überall und immer<br />

gelten. Aber es mag andere geben außerdem, die wir noch nicht kennen, solche<br />

die an anderen Orten und zu anderen Zeiten die Umstände vorfinden, die sie<br />

offenbar werden lassen. Manches spricht dafür, daß es Einflüsse gibt, die dem<br />

Untergang der Bewegung in Wärme entgegenwirken: Müßte die Welt nicht schon<br />

längst im Wärmetod erloschen und erlahmt sein? Sie steht schon lange und ist<br />

noch voller Bewegung, und immer wieder tauchen „neue Sterne“ aus dem Himmel<br />

auf.<br />

So liegt nicht nur etwas Bedrückendes in der Vorstellung der inneren Bewegung.<br />

Auch etwas Befreiendes geht von ihr aus. Die große Welt, in der die Sterne ihre<br />

genauen Wege gehen, kann uns in ihrer Ordnung erstarrt und tot vorkommen. Das<br />

Innere der Materie zeigt uns das <strong>Bild</strong> der äußersten Freiheit. Aus diesem Durcheinander<br />

kann neue Ordnung hervor-<br />

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gehen, wenn es von der rechten Kraft ergriffen wird. Und wir haben ein Beispiel<br />

dafür in unserer nächsten Nähe: der geheimnisvollen aller Mächte, dem Leben,<br />

gelingt es, lebende Wesen zu erzeugen und zu erhalten. Das sind materielle Körper,<br />

in denen nicht nur die Wärmebewegung ihr Wesen treibt. Aus ihr heraus und<br />

durch sie hindurch führt eine für uns noch nicht faßbare Ordnung kleine Teile<br />

sinnvolle Wege, die dem Ganzen dienen.<br />

3. Die Einsicht, daß Wärme unsichtbare Bewegung ist, kann sehr ernüchternd und<br />

befremdend wirken: Heißt das denn nicht, daß die Wärme, - das, was wir von ihr<br />

fühlen, das Eigentümliche und Unbeschreibliche dieser Empfindung, daß dies<br />

alles nur Schein ist? Wärme gibt es demnach eigentlich gar nicht. Wir sind<br />

Getäuschte! “In Wirklichkeit” ist nichts da, als diese sinnlose, wirre,<br />

unaufhörliche Bewegung. Nein, es gibt für dich nichts Gewisseres als deine<br />

Empfindung. Aber ebenso wie wir mit den Nerven unserer Haut die Wärme auf<br />

eine Art erleben, so können wir mit den Augen zwar nicht sie selbst, aber doch<br />

einen Abglanz von ihr sehen! Und aus beiden können wir in denkender<br />

Betrachtung uns das “<strong>Bild</strong>” machen der inneren Bewegung. Alles dies: Fühlen,<br />

Sehen, Denken hat uns die Natur mit unserem körperlichen und seelischen Bau<br />

mitgegeben, indem sie uns zu Menschen machte. Auf alle diese Arten fassen wir<br />

nach der Natur, immer aber aus unserer menschlichen Beschränktheit, aus der<br />

Beschränktheit, die der Teil haben muß, der aufs Ganze geht.<br />

Der Physiker betrachtet die Welt aus einer Beschränkung, die er sich selbst auferlegt:<br />

er arbeitet nur auf dem Grund dessen, was die Natur uns allen gemeinsam<br />

durch die Sinne darbietet, und er sucht das Meßbare. Niemals kann er also den<br />

menschlich-sinnlichen Standpunkt verlassen und erfahren, was die Wärme „an<br />

sich“ ist. Auch in der Vorstellung der Bewegung stecken unsere sinnlichen Erfahrungen,<br />

und zwar aus mehreren Sinnesgebieten gemischt und darum zuverlässiger<br />

und in Raum und Zeit meßbar. Darauf kommt es ihm an, und deshalb erscheint es<br />

ihm als ein Fortschritt, die Wärmeempfindung durch innere Bewegung zu erklären.<br />

Immer aber bleibt er in der Welt, in die unsere Sinne uns einblicken lassen.<br />

Sucht einer mehr, sucht er das Wesen der Dinge, das „hinter“ ihrer sinnlichen Erscheinung<br />

wirkt, so verläßt er den<br />

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Standort und den Gesichtspunkt des Physikers. Es scheint, daß er dann eine gänzlich<br />

andere Haltung einnehmen muß, die sich mit der des Physikers nicht vereinigen<br />

läßt. Nicht als ob sie ihr widerspräche. Aber sie liegt auf einer ganz anderen<br />

unvergleichbaren Ebene. Diese andere und tiefere Art der Naturerkenntnis ist die<br />

mystische. Wer auf diese Art von der Welt erfährt, muß dem Übersinnlichen ausgesetzt<br />

sein. Sein Kennen ist tiefer, aber es ist nicht nachprüfbar. Er muß allein<br />

gehen und kann niemand genau sagen, was er gefunden hat, weil Worte nicht fähig<br />

sind, solche Erkenntnisse mitzuteilen. Denn Worte entspringen <strong>Bild</strong>ern aus<br />

der Welt des Sinnlichen 20 .<br />

20 Vgl. A. S. Eddington, Die Naturwissenchaft und die Welt des Unsichtbaren. Berlin-Lübars., 1930.<br />

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Abbildung 4. Bewegung und Wärme<br />

1. Bewegung erzeugt Wärme, nämlich dann, wenn sie durch Anprall oder<br />

Reibung zweier Körper aneinander gebremst wird. Eher reibt sich der aus dem<br />

Himmelsraum gegen die Erdkugel stürzende Block mit der Luft und wird glühend<br />

zur Sternschnuppe. (S. 35.) 2. Wärme erzeugt Bewegung, nämlich dann, wenn ein<br />

heißes, eingeschlossenes Gas sich ausdehnt, und z. B. einen Block aus dem Vulkan<br />

in die Höhe wirft. (S. 35, 38.) 3. Wärme ist Bewegung, nämlich innere Bewegung<br />

des warmen Körpers. Ihre Wirkung wird sichtbar in der Brownschen Bewegung:<br />

Blickfeld eines Mikroskops; darin ein größeres Stäubchen und ihre Orte, in<br />

gleichen Zeitabschnitten festgelegt und geradlinig verbunden. (Schematisch.) (S.<br />

25.)<br />

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Wärme und Licht<br />

Einleitung<br />

Das erste Kapitel war in sich geschlossen. Das vorige nicht. Die Lücke deutete<br />

auf das Licht (S. 36).<br />

Wenn wir nun der Verwandtschaft Wärme - Licht nachgehen, so wirst du hoffen,<br />

daß wir jetzt Boden finden, daß die Lücke sich schließt. Aber sie wird sich zunächst<br />

nur in bezug auf das Licht schließen. Es wird uns gelingen, das Loch<br />

gleichsam mit Licht zu stopfen. Aber wir werden davon noch nicht wissen, was<br />

das Licht selbst ist, so wenig wir vor dem 11. Kapitel wußten, was Wärme ist. -<br />

Das Licht - ich kann es schon hier sagen - kann nicht aus sich selbst heraus oder<br />

aus der Wärme verstanden werden. So wie die Wärme (die seßhafte Wärme) auf<br />

der Bewegung des Stoffes, so ruht das Licht auf der Elektrizität.<br />

Wärme Licht<br />

Bewegung Elektrizität<br />

Zwischen Wärme und Licht sind wir also auf dem höchsten Bogen einer halbgebauten<br />

Brücke. Wir tasten im Leeren wie die Raupe, wenn sie das Ende eines<br />

Zweiges erreicht hat.<br />

Plan<br />

Wenn wir jetzt Beziehungen aufsuchen, die es zwischen Wärme und Licht geben<br />

mag, so soll es uns nicht stören, daß wir vom Licht noch nicht wissen, was es ist,<br />

und von der Wärme auch noch nicht ganz. Du kannst zwei Menschen auf der<br />

Straße beobachten, die du gar nicht kennst, und trotzdem kannst du ihrem Benehmen<br />

ansehen, wie sie zueinander stehen, welcher der stärkere, welcher der abhängige<br />

ist, ob sie freundlich oder feindlich zueinander sind. So wollen wir auch<br />

Licht und Wärme beobachten.<br />

Wenn du es schnell vom praktischen Leben aus überdenkst, so könntest du zuerst<br />

vielleicht meinen, sie gingen sich bei aller Freundschaft doch manchmal sehr aus<br />

dem Wege. Über-<br />

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helle, kalte Wintertage fallen dir ein, und schlechtgeheizte Versammlungsräume,<br />

die auch von der festlichsten Beleuchtung nicht warm werden. Auch an das kalte<br />

Licht des Mondes muß man denken. - Aber man muß da vorsichtig sein. Da sind<br />

Nebeneinflüsse beteiligt (die weiße Farbe des Schnees z. B.) und unsere groben<br />

menschlichen Maßstäbe, für die vielleicht wenig Wärme so gut wie keine ist.<br />

Wenn wir genau und geordnet vorgehen, werden wir doch merken. Wärme und<br />

Licht sind nicht gerade unzertrennlich, aber wo der eine ist, da haben wir den anderen<br />

nicht weit zu suchen.<br />

Wir wollen das so prüfen: Wir verfolgen das Licht von seiner Entstehung bis zu<br />

seinem Vergehen, und auf diesem Wege sehen wir uns überall um, ob die Wärme<br />

dabei ist.<br />

Nur will ich, gleich gegen die Ordnung, mit dem Vergehen anfangen, weil wir<br />

dort am ehesten ein klares Ergebnis finden werden.<br />

Das Ende des Lichtes<br />

Licht kann nur vernichtet werden, wenn es auf Materie aufprallt, aber nicht immer<br />

wird es dann ganz zerstört. Nicht alle Stoffe sind Vernichter. Manche, wie Glas,<br />

sind gleichgültig und lassen es durchgehen. Wir nennen sie durchsichtig. Andere<br />

wollen nichts mit ihm zu tun haben und werfen es zurück. Spiegel tun das, der<br />

Schnee, Kalk und alles Weiße. (Und darum ist es weiß, denn was viel Licht von<br />

sich wirft, muß hell erscheinen und Weiß ist die äußerste Helle.) Aber dann gibt<br />

es Lichthungrige, die alles behalten, Lichtfallen, Lichtvernichter. Ihre Farbe ist<br />

schwarz, denn es kommt kein Licht mehr von ihnen her zurück. - Die meisten<br />

Stoffe sind nicht so einseitig. Die halbhellen, die grauen, braunen, bunten 21 sind<br />

nicht so habgierig wie die schwarzen und nicht so ablehnend wie die weißen. Sie<br />

geben sich damit zufrieden, einen Teil des Lichtes zu behalten und das übrige zurückzugeben.<br />

Mag nun Materie das Licht ganz oder zum Teil in sich behalten, die Frage ist: was<br />

wird aus dem Licht, das sich in ihr verliert? Ist es einfach „weg“?<br />

Halte deine Hand in die Sonne (sie gehört zu den Körpern, die einen Teil aufnehmen):<br />

sie wird warm. Im schwarzen Handschuh wird sie heißer als im weißen!<br />

Ein angerußtes Thermometer zeigt in der Sonne mehr als ein blankes!<br />

21 Daß das grüne Licht; das ein Blatt zurückwirft, ebenfalls ein Teil ist des weißen Lichtes, mit dem die Sonne das<br />

Blatt bescheint, wird erst später (S. 55) begründet werden.<br />

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Und nicht nur Sonnenlicht, alles Licht wärmt! Mondlicht und Laternenschein,<br />

Glühwurmleuchten und Sternenschimmer - sie alle enden als Wärme - Du glaubst<br />

es nicht -. Aber geh auf die Sternwarte und laß es dir zeigen: sie fangen das<br />

Mondlicht, ja das Licht von Sternen, in großen hohlen Spiegeln und sammeln es<br />

auf ungeheuer empfindliche Thermometer. Es ist eine Tatsache: Alles Licht<br />

wärmt die Körper, die es vernichten. Ja man möchte sagen: es wird zur Wärme, es<br />

verwandelt sich in sie. Auf rätselhafte Weise erzeugt es in ihnen die innere<br />

Unruhe. Wärme (seßhafte Wärme) ist das letzte Schicksal des Lichtes.<br />

Die Entstehung des Lichtes<br />

Gehen wir zurück und nun der Reihe nach.<br />

Wie entsteht das Licht, wo entspringt es? - Verfolgen wir es rückwärts bis zum<br />

Anfang. Lassen wir uns dabei nicht durch Zwischenstationen täuschen; das<br />

Mondlicht entsteht nicht auf dem Mond, der Glanz des Wassers nicht auf dem<br />

See. Es kommt von der Sonne: der Mond, das Wasser, sie lenken es nur um, wie<br />

alle Dinge, die wir bei fremder Beleuchtung sehen. Wir müssen uns an die<br />

selbstleuchtenden Körper halten. - Da sehen wir: Kerze, Feuer, Kohlenglut, auch<br />

Glühbirne und Gaslicht, sie alle enthalten heiße Stoffe, wie ja auch die<br />

Sonnenoberfläche ein glühendes Gasmeer ist. Fast scheint es, als wäre immer<br />

Wärme der Erzeuger des Lichtes. Es gibt aber Ausnahmen, wenn sie auch in der<br />

Minderzahl erscheinen: Glühwürmchen z. B. und das fahle Licht faulenden<br />

Holzes. - Wir dürfen also nur sagen: Das meiste Licht entsteht in heißen Körpern.<br />

Aber natürlich läßt sich das nicht umkehren: die Wärmflasche leuchtet nicht, der<br />

Ofen muß nicht sichtbar glühen:<br />

Alles Licht wärmt, aber nicht alles Warme leuchtet. Nicht alle heißen Körper<br />

geben Licht.<br />

Und welche geben es? Vielleicht erstaunt es dich zu hören: alle, wenn sie nur heiß<br />

genug sind! Du glaubst es für Eisen, für Stein; aber wie ist es mit Holz, mit<br />

Wasser, mit Pflanzen? Auch sie müssen schließlich sichtbar glühen, aber du<br />

kennst sie dann nicht mehr, denn vorher werden sie verwandelt, sie sind zerkocht,<br />

verbrannt, zerfallen. Was dann aus ihnen geworden ist, Asche und Gase, das wird<br />

in der Hitze leuchten. Alle Stoffe leuchten, wenn sie heiß genug geworden sind.<br />

Der<br />

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eine tut es früher, der andere später, schließlich bleibt keiner zurück. Auf der<br />

Sonne ist diese Hitze erreicht: alles muß dort in seine Urstoffe zerfallen und<br />

leuchten. Die Glut ist das letzte Schicksal, das dem heißen Körper bevorsteht. Das<br />

Licht ist die Krönung der Wärme. Es bricht aus ihr heraus wie das Singen aus<br />

dem Fröhlichen.<br />

Der Vorläufer<br />

Aber auch vorher ist der warme Körper nicht stumm. Auch ehe er leuchtet, geht<br />

insgeheim und dunkel etwas von ihm aus, eben das, was uns erstaunte, und dem<br />

wir nun nachspüren: die Wärme selbst, sie allein, die strahlende Wärme, die<br />

“Wärme unterwegs”. - Setze dich vor den Ofen, zwei Meter von ihm ab, ins<br />

dunkle Zimmer. Wenn er zu heiß wird, leuchtet er rot, aber vorher schon spürst<br />

du seine Wärme auf Stirn und Wange brennen. Laß ein Blech schnell zwischen<br />

dich und ihn halten und sofort hat es den Transport abgeschnitten. Das ist nicht<br />

das Überkriechen der seßhaften Wärme durch die Luft, so wie sie durch den<br />

Löffel kriecht (“Leitung”). (Das gibt es auch in Luft, aber das geht viel<br />

langsamer, so langsam wie durch ein Federkissen.) Nein, dies hier ist das schnelle<br />

Fliegen, das auch vor dem leeren Raum nicht Halt macht (“Strahlung”). Wenn du<br />

eine hohle Glaswand um den Ofen baust und pumpst die Luft heraus, so strahlt<br />

die Wärme auch da hindurch, besser sogar, als wenn der Hohlraum mit Luft<br />

gefüllt wäre. Es ist das geheimnisvolle Reisen der Wärme durch den leeren Raum,<br />

von dem wir nicht verstanden, wie es ihr gelingt. Wir wissen es auch jetzt noch<br />

nicht. Wir sehen nur: Solange die Körper noch nicht heiß genug zum Leuchten<br />

sind, strahlen sie dunkle Wärme aus, auch durch den leeren Raum. Die strahlende<br />

Wärme ist der Vorläufer des Lichts.<br />

Und wann beginnt der Vorläufer sich zu zeigen? Bei welcher Wärme, welcher<br />

Kälte ist er schon unterwegs? - Der Ofen strahlt gewiß die dunkle Wärme, auch<br />

deine Hand. Auch der Tisch und der Eisblock? - Geh mit deiner warmen Hand in<br />

einen überheizten Raum (einen auskühlenden Brennofen z. B. von 70 o ). Strahlt<br />

sie dort noch? Wohl schon. Aber sie bekommt mehr als sie gibt. - Leg den<br />

Eisblock von 0 o in einen Kühlraum von 3 o Kälte, und du siehst, daß er hier als ein<br />

schwaches Öfchen geachtet wird. Er heizt, er ist warm, er ist<br />

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“wärmer”, er strahlt sein bißchen Wärme aus. Und Wärme hat alles, was noch<br />

nicht die innere Totenstarre von –273 o erreicht hat (S. 31). - Der Eisblock strahlt<br />

auch in der Sonne seinen kleinen Reichtum aus (wie deine Hand im Brennofen).<br />

Sie gibt es ihm tausendfach zurück. Er schmilzt davon, wird warm und kann nun<br />

noch mehr als vorher geben. - Tisch und Stuhl im Zimmer stehen sich gegenüber.<br />

Nichts scheint zu geschehen. Doch beide strahlen sich ihre dunkle Wärme zu.<br />

Nichts ist davon zu merken, denn jeder gibt soviel er nimmt. So strahlt jeder<br />

Körper, der noch Wärme, noch innere Unruhe in sich hat, diese Wärme dunkel<br />

aus. Ein jeder gibt solange er hat. Der unruhige verschenkt sich und fragt nicht,<br />

wem er gibt. - So erscheint der dunkle Vorläufer des Lichtes nicht erst kurz bevor<br />

das Leuchten aufglimmt: er ist schon immer dagewesen, solange nur Bewegung<br />

war im Inneren dessen, das nachher leuchtet.<br />

Das Gesetz des Vorläufers<br />

Die dunkle Strahlung ist ein sehr genauer, ein pedantischer Vorläufer. Nicht nur,<br />

daß sie genau so schnell durch den Raum schießt wie das Licht - in einer Sekunde<br />

eine Strecke, die sich siebenmal um die Erde wickeln läßt -, sie läuft auch<br />

sozusagen auf denselben Schienen. Ich meine das so: Denke dir einen glühenden<br />

Ofen. Sein rotes Licht fange und lenke mit Röhren, Spiegeln, Linsen, laß es um<br />

Ecken gehen und wirf es hin und her, wie in einem Labyrinth. Zuletzt soll es etwa<br />

durch ein Brennglas laufen. Dann kannst du dahinter auf einem Stück Papier<br />

einen roten Lichtfleck auffangen. Tust du dein Auge dorthin und blickst dem<br />

Licht entgegen in das Glas, so siehst du um all die Ecken herum das rote<br />

Leuchten deines Ofens. - Und nun laß ihn langsam ausgehen. Sein Licht erlischt,<br />

aber er strahlt noch Wärme. Statt des Lichtes schießt er nun sie in dem Labyrinth.<br />

Und an genau der Stelle, wo vorher der rote Lichtfleck hinkam, da ist jetzt ein<br />

Wärmefleck! Dein Auge sieht dort zwar nichts mehr, aber wenn du deine Stirne<br />

an diese Stelle hältst, so fühlt sie, wie Wärme ankommt (vgl. Abb. 5, S. 51). - Das<br />

heißt: Die dunklen Wärmestrahlen haben dieselbe Schnelligkeit und befolgen<br />

dieselben Weggesetze wie das Licht.<br />

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Der Begleiter<br />

Und was wird nun mit dem dunklen Vorläufer, wenn an der Quelle die Hitze so<br />

gestiegen ist, daß das Licht ausbricht? Verschwindet er dann, um ihm Platz zu<br />

machen? Tritt das Licht alleinherrschend in seine leeren Fußtapfen? - Nein, wir<br />

wissen ja: alles Licht wärmt, hat Wärme bei sich. Wenn eine Wolke vor die<br />

Sonne tritt, so wird es dunkel und kalt im gleichen Augenblick. Und jedes<br />

Brennglas sammelt an derselben Stelle mit dem Licht die Wärrme.<br />

Sieht das nicht so aus, als bliebe der dunkle Vorläufer, als würde er nun zum<br />

Begleiter? Als liefe mit jedem Lichtstrahl ein Wärmestrahl, als ritten sie<br />

gleichsam dasselbe Pferd? Denn, so sagen uns die Physiker aus vielen<br />

vergeblichen Versuchen: es ist auf keine Weise möglich, sie zu trennen, den<br />

normalen (warmen) Lichtstrahl also aufzuspalten) in einen dunklen Wärmestrahl<br />

und einen Strahl kalten puren Lichtes. Sie sind unzertrennlich. - Diese Art, die<br />

Sache anzusehen, hat viel für sich.<br />

Aber es ist noch eine andere möglich, folgende: Sobald das Leuchten einsetzt,<br />

hört die dunkle Wärmestrahlung auf. Es beginnt eine reine Lichtstrahlung, die<br />

aber die Eigenschaft hat, beim Auftreffen auf Materie ganz oder zum Teil<br />

vernichtet und in (seßhafte) Wärme verwandelt zu werden.<br />

Tatsächlich ist es schwer, zwischen beiden Ansichten zu entscheiden. Das liegt<br />

daran, daß wir die dunkle Begleitstrahlung (falls sie selbständig da ist) unterwegs<br />

gar nicht anders nachweisen können, als indem wir sie auf Materie auflaufen<br />

lassen und an ihrem Enderzeugnis erkennen, der seßhaften Wärme. Aber die<br />

können wir genau so gut als eine Umwandlung der Lichtstrahlung ansprechen, -<br />

wie wir wollen!<br />

Das ist eine unangenehme Lage, und wir kommen nur heraus, wenn wir uns<br />

besinnen:<br />

Frage<br />

Was wollten wir? Erkennen, was hinter der strahlenden Wärme steckt. (So wie<br />

wir gefunden haben, daß in der “seßhaften” Wärme die innere Bewegung des<br />

Stoffes zu uns spricht, den wir berühren.)<br />

Was haben wir erfahren? Daß die strahlende Wärme Vorläufer und Begleiter des<br />

Lichtes ist.<br />

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Was nutzt uns das, da wir nicht wissen, was das Licht ist?<br />

Das Etwas X, das wir als strahlende Wärme aufnehmen, und das Etwas Y, das wir<br />

als Licht empfinden, beide sind uns unbekannt geblieben. Insofern hat uns dies<br />

Kapitel nicht weiter gebracht. Aber können wir jetzt nicht etwas über die<br />

Beziehung zwischen den beiden Unbekannten X und Y sagen?<br />

Wie war es? Vorläufer und Begleiter, gleich schnell, auf gleichen Wegen,<br />

unzertrennlich -. Das heißt: erst ist X allein da, aber es benimmt sich schon genau<br />

wie der andere. Und dann, sobald der auch dazu gekommen ist, sind sie wie<br />

Zwillinge, gleich schnell am gleichen Ort, tun sie immer dasselbe.<br />

Was unterscheidet sie eigentlich? Der eine wird gefühlt, der andere gesehen,<br />

nichts sonst. Ist es nicht, als beobachtetest du einen Läufer, einen allein, und dann<br />

drücktest du ein wenig gegen das eine Auge, so daß du schielst: da sind es zwei<br />

geworden. Was unterscheidet sie? Der eine ist für das linke Auge da, der andere<br />

für das rechte, sonst nichts.<br />

Vergleich (Schall)<br />

Das war nur ein Gleichnis. Aber ich will dir einen Fall erzählen, wo die Dinge<br />

fast genau so liegen, aus einem anderen Gebiet der Physik, der Lehre von den<br />

Tönen. Dieses Gebiet hat hier kein eigenes Kapitel erhalten, denn wir sehen die<br />

Töne nicht eigentlich als Naturkraft an, weil sie uns nicht so viel bedeuten, wie<br />

etwa das Licht, außer in der Form, die ihm menschliche Kunst erst gibt: als Musik<br />

und Sprache. Aber, unparteiisch gesehen, hat das Ohr dieselben Rechte wie das<br />

Auge. So wie der Physiker danach forscht, was das Licht ist, so fragt er auch: was<br />

ist ein Ton? Hierauf ist die Antwort nun leicht und klar, und dadurch ist sie auch<br />

für andere Gebiete der Physik ein Vorbild geworden, oft ein gefährliches: Tönen<br />

ist ein regelmäßiges Zittern. Von jedem Körper, der einen Ton gibt, schwingt<br />

irgendein Teil - bei der Geige ist es die Saite - sehr regelmäßig und schnell hin<br />

und her, 1000- oder 10000mal in der Sekunde. So bekommt die Luft 1000 oder<br />

10000 Stöße in der Sekunde. Die laufen hintereinander her, breiten sich aus in der<br />

Runde - wie Wellen um den Stein, der in den stillen Teich gefallen ist - und<br />

treffen dein Ohr. Sie laufen hinein, und machen drinnen ein feines Ohr erzittern.<br />

Auf CD-ROM gefasst von Prof. Dr. Michael Soostmeyer, Essen 2000, Kraneburgstraße 81, D 46240 Bottrop


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wieder 1000- oder 10 000mal in der Sekunde. Wie es weiter geht, wissen wir<br />

nicht, aber dieses Zittern, auf Nervenbahnen deinem Gehirn gemeldet, empfindest<br />

du als gleichmäßig anhaltenden Ton; je schneller das Zittern, desto höher klingt<br />

er. - Du siehst die Ähnlichkeit mit dem Licht-. Musikinstrument und Kerze, Ohr<br />

und Auge entsprechen einander. Beim Tönen wissen wir, was dahinter steckt:<br />

Zittern, Stöße. Bei Wärme und Licht ist das noch dunkel: X und Y. Besonders<br />

dunkel auch deshalb, weil der Zwischenraum leer sein darf. Nun aber die<br />

Hauptsache: Laß ein Instrument, eine Geige etwa, erst langsam, dann immer<br />

schneller schwingen. Die Saite ist dann zuerst ganz schlaff und muß zunehmend<br />

straffer gespannt werden. Der Ton wird dann immer höher. Solange die Saite<br />

noch sehr schlaff ist, so daß sie vielleicht nur 5mal in der Sekunde hin- und<br />

herzittert: Da hörst du überhaupt keinen Ton. Du empfindest ja auch keinen, wenn<br />

du deine Hand langsam hin und her bewegst. Erst wenn etwa 16 Luftstöße in der<br />

Sekunde ankommen, hörst du einen ganz tiefen, dumpfen Hummelton. Bei 500<br />

hast du einen Ton mittlerer Höhe, bei 1700 ist er schon recht hoch. Mit sehr<br />

schnellen Erschütterungen (über 20 000 in der Sekunde) geht es dem Ohr wieder<br />

wie mit den ganz langsamen, es ist taub für sie. (Kennst du das, wenn kleine<br />

Vögel schon die Kehle bewegen, aber du hörst noch nichts?) Aber die Stöße sind<br />

natürlich trotzdem da. Und du kannst dir denken, daß man feine Apparate bauen<br />

kann, Schallempfänger, künstliche Ohren, die sie anzeigen. - Nun denke dir, du<br />

stehst neben einem solchen Apparat, beobachtest seinen Zeiger und zugleich<br />

horchst du gut. Denn in der Ferne soll nun ein Tonerzeuger anfangen zu<br />

schwingen, erst ganz langsam, dann immer schneller. Aber davon sollst du nichts<br />

wissen, auch sollst du vergessen, was du eben über Töne gehört hast. Du machst<br />

nur Augen und Ohren auf. Was erlebst du? Der Zeiger rührt sich plötzlich (sobald<br />

nämlich das ferne Instrument beginnt), eine Zeitlang er allein. Was für ein X mag<br />

dahinter stecken, denkst du. Auf einmal beginnt ein tiefes Tönen, das dann in die<br />

Höhe schleift wie ein anlaufender Motor. Was für ein Y mag das bringen? Ein<br />

Blick auf den Zeiger. Das X ist auch noch da. Und in demselben Maße, wie der<br />

Zeiger sich dreht, steigt der Ton an. Wenn die Tonmaschine aufhört, fällt der<br />

Zeiger zurück und der Ton schweigt. Beide,<br />

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das X, das der Zeiger anzeigt, und das Y, das du hörst, sind unzertrennlich. Und<br />

dieselben Weggesetze haben sie auch.<br />

Antwort<br />

Genug: du siehst nun die Entscheidung auch für Wärme - Licht: Das unbekannte,<br />

den leeren Raum durchdringende Etwas, das auf geheimnisvolle Art die Wärme<br />

überträgt, ist dasselbe Unbekannte, das unsere Augen als Licht empfinden. Licht<br />

ist sichtbare Wärmestrahlung. Nur ist das Auge noch blind, wenn die Haut von<br />

dem (noch nicht sehr heißen) Körper schon die Wärme kommen fühlt. Diese<br />

dunkle Strahlung ist unsichtbares Licht.<br />

Beide, Licht- und Wärmestrahlen sind Dasselbe. Die Haut empfindet es immer,<br />

das Auge erst, wenn es durch eine bestimmte Hitze des Leuchtenden eine gewisse<br />

Steigerung erfahren hat. Worin diese Steigerung besteht, davon später. (Beim<br />

Schall entspricht ihr eine zunehmende Schnelligkeit des Zittern.) Was “Es” aber<br />

ist, das wir als Wärme und Licht empfinden, ist damit noch nicht gefunden. Auch<br />

bleibt es rätselhafte wie “Es” aus der inneren Unruhe des Stoffes entspringen und<br />

in sie sich wieder verwandeln kann.<br />

Strahlende Wärme = Licht<br />

seßhafte Wärme<br />

⎥⎥<br />

innere Bewegung der Materie<br />

?<br />

Ist unsere Entscheidung auch richtig? - Wer weiterhin glaubt, daß mit jedem<br />

Wärmestrahl ein Lichtstrahl reist, wer hartnäckig die zwei Reiter sieht, die wir als<br />

einen erkennen, der ist so wenig zu überzeugen, wie der Schielende, der glaubt,<br />

die Welt sei zweimal da.<br />

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Abbildung 5. Licht und Wärme<br />

gehen gleiche Wege, denn sie sind unterwegs dasselbe. – Von der Felswand links<br />

geht bei Nacht nur noch die Wärme aus, bei Tage auch das Licht. Beide, Licht<br />

und Wärme finden den Weg zu dem Sitzenden. Er sieht durch seine Höhlung bei<br />

Tag das Spiegelbild der Felswand im Wasser und spürt nach Sonnenuntergang<br />

mit seiner Haut ihre gespiegelte Wärmestrahlung vom Wasser her durch dieselbe<br />

Höhlung kommen. (S. 46).<br />

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Licht und Elektrizität<br />

Frage<br />

Wenn wir jetzt “Licht” sagen, so meinen wir das unsichtbare mit. Wir meinen das<br />

“Etwas”, von dem in der Zusammenfassung des vorigen Kapitels (S. 105) die<br />

Rede ist. Und sollten wir das Rätsel des sichtbaren Lichtes gelöst finden, so auch<br />

das der strahlenden Wärme.<br />

Wie im Warmen die wirre innere Unruhe sich verbirgt, wie im Tönenden ein<br />

großer sichtbarer Teil des Körpers regelmäßig schwingt, so muß auch im<br />

Leuchtenden etwas geschehen, das eben das Leuchten ausmacht. Und wie der<br />

Ton, der vom Tönenden in die Ferne dringt, eine Folge regelmäßiger Luftstöße<br />

ist, so möchten wir auch wissen: was ist das, was in Feuer, Glühwurm, Kerze und<br />

Sonne geschieht und herausbricht und uns draußen Kunde gibt? Zwei Fragen<br />

stehen also vor uns: Was ist Leuchten und was ist Licht? Was geht im<br />

Leuchtenden vor und was geht vom Leuchtenden aus? Was ist Lichterzeugung<br />

und was ist Lichttransport?<br />

Leuchten ist nicht die innere Unruhe selbst<br />

Vielleicht hast du den Gedanken, daß wir das erste wenigstens schon wissen?:<br />

Unterwegs sind Licht und Wärme eins; sollten sie es nicht schon von Anfang an,<br />

nicht schon in der Quelle sein? Licht, sagten wir, “wird erzeugt” durch die<br />

Wärme, durch die innere Unruhe des leuchtenden Stoffes. Können wir nicht<br />

geradezu sagen: Lichterzeugung, Leuchten also, “ist” eben diese innere stoffliche<br />

Unruhe dessen, das leuchtet? Dasselbe also wie (seßhafte) Wärme, nur eben<br />

sichtbare, dem Auge erst in einer gewissen Steigerung bemerklich, der Haut<br />

vorher schon?<br />

So einfach kann es aber nicht sein. Denn wir vergessen das Licht, das nicht aus<br />

Wärme kommt, wir vergessen die<br />

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Leuchtkäfer und das faulende Holz. Meist entsteht das Licht in dem durch Hitze<br />

erregten Stoff, nicht immer. Es gibt z. B. Stoffe, die leuchten, wenn sie belichtet<br />

werden. Sie werfen das Licht nicht einfach zurück, sie nehmen es auf und strahlen<br />

es aus ihrem Innern wieder, oft verwandelt, in einer anderen Farbe. Andere<br />

glimmen im Dunklen nach, wenn sie vorher im Hellen waren, sie speichern auf<br />

und geben langsam wieder aus. Die Leuchtfarbe an den Zifferblättern unserer<br />

Uhren tut das. Es gibt auch Stoffe, die lassen sich elektrisch oder chemisch zum<br />

Leuchten anregen. Sie bleiben alle kühl dabei.<br />

Nein, die Wärme ist nicht das einzige Mittel, um das Licht aus den Stoffen<br />

hervorzurufen, aber sie ist ein unfehlbares, also wohl ein grobes Mittel. Die<br />

innere Unruhe des Stoffes “ist” nicht das Leuchten, sie ist nur sein nie<br />

versagender Antreiber. Im Leuchten muß etwas anderes und wohl Feineres<br />

verborgen sein.<br />

Leuchten ist etwas Feineres und Geordneteres<br />

Wie sehr es etwas Feineres sein muß, als das wirre Durcheinander der<br />

Wärmebewegung, etwas streng Gegliedertes, geordnet sich Entfaltendes, das will<br />

ich dir jetzt zeigen: Schon darin zeigt sich ein geordneter Aufbau, daß der<br />

steigend erhitzte feste oder flüssige Körper erst unsichtbar, dann rötlich strahlt,<br />

um schließlich über Gelb in fast bläulicher Weißglut zu enden.<br />

Im Licht ist aber ein noch feineres Gefüge verborgen. Nur ist es nicht alltäglich<br />

zu sehen. Erstens, weil es sich nur an glühenden Gasen auffinden läßt, zweitens<br />

weil das Auge dafür stumpf, fast blind ist, und ein Hilfsmittel, ein Werkzeug<br />

braucht.<br />

Unser sonst so empfindliches Auge ist nämlich in einer Beziehung grob und<br />

vermischend, und dem Ohr unterlegen. Wenn ein Geiger zwei Töne zu gleicher<br />

Zeit anstreicht, so hörst du sie beide heraus, sie vermischen sich nicht, sie bilden<br />

einen Klang (Akkord). Zwei Lichter verschiedener Farbe dagegen, die dem Auge<br />

gleichzeitig und überdeckt, durchdrungen, dargeboten werden, kann es nicht mehr<br />

auseinanderhalten, nicht mehr einzeln herauserkennen, sie verschwinden in einer<br />

Mischfarbe, der ihre Bestandteile nicht mehr anzusehen sind: Laß einen roten und<br />

blauen Scheinwerfer auf dieselbe Stelle einer<br />

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weißen Wand leuchten. Dieser doppelt Licht zurückwerfende Fleck sieht dann lila<br />

aus. (Dem entspräche es, daß das Ohr einen mittleren Ton hörte, wenn es einen<br />

tiefen und einen hohen zugleich wahrnähme.) - Beklebe eine kreisrunde<br />

Pappscheibe halb mit rotem, halb mit grünem Papier und laß sie schnell kreiseln.<br />

Der rasche Wechsel der Farben ist für das ruhig hinblickende Auge dann wie ein<br />

gleichzeitiges Da-Sein, weil der Eindruck jeder Farbe in ihm nachklingt. Es sieht,<br />

wenn Rot und Grün gut gewählt sind, ein helles Grau, das weder dem Rot noch<br />

dem Grün im entferntesten ähnlich ist. So macht das Auge aus zwei Farben eine<br />

neue, die nicht verrät, woraus sie sich vereinigt hat. Es kann sogar denselben<br />

Mischeindruck auf verschiedene Weise bilden (auch Blau zusammen mit Gelb<br />

ergibt Grau 22 . Kommt ihm nun irgendein Farbton vor, so weiß es nicht: ist das nun<br />

eine einzelne Farbe, oder tun sich hier mehrere zusammen, und welche und<br />

wieviele? (Im Beispiel also: Grau oder: Blau und Gelb oder: Rot und Grün oder:<br />

Blau und Gelb und Rot und Grün?) Durch diesen Mangel entgeht dem Auge<br />

manches. Ein kunstvoll aufgebauter Farbakkord erscheint ihm ebenso eintönig<br />

wie eine Einzelfarbe oder wie ein wahlloses Gemisch.<br />

Man kann ihm aber helfen. Das gelingt so: Ein Lichtstrahl, der von einem<br />

durchsichtigen Stoff schräg in einen anderen übertritt (aus Luft in Wasser z. B.),<br />

macht dabei immer eine Schwenkung, wird “gebrochen”. Und da zeigt sich nun:<br />

wenn er einfarbig ist (in Wirklichkeit, nicht nur fürs Auge), so bleibt er es auch<br />

nach der Brechung. Kommt aber, dem Auge undurchschaubar, auf den Strahl ein<br />

Farbgemisch, so überstehen die einzelnen Farben diesen Übergang auf<br />

verschiedene Weise, sie werden verschieden stark gebrochen. Sie trennen sich<br />

also räumlich, werden auseinander gefächert und sortiert, erscheinen nun<br />

nebeneinander und werden so+ dem Auge einzeln erkennbar. - Wie das zugeht,<br />

kann uns jetzt gleichgültig sein, denn im Augenblick denken wir technisch, nicht<br />

physikalisch, wir forschen nicht, wir nutzen aus. - Praktisch geschieht das durch<br />

ein dachförmig geschaffenes Glasstück (“Prisma”), das den Strahl gleich zweimal<br />

in derselben Richtung knickt und also auch doppelt stark in seine einfarbigen<br />

Bestandteile aufsplittert. - Betrachte durch ein solches Prisma den lila Lichtfleck,<br />

von dem wir vorhin sprachen, und du siehst statt seiner<br />

22 Mischt man nicht Lichter, sondern Farbstoffe, so geben Blau und Gelb zusammen grün. Dies ist ein ganz<br />

anderer Vorgang. Den Unterschied erklärt jedes Physikbuch (additive und subtraktive Farbenmischung).<br />

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nun zwei, einen roten und einen blauen, nebeneinander. Natürlich macht man den<br />

Lichtfleck, den man so untersuchen will, möglichst schmal, linienförinig, damit<br />

die zwei <strong>Bild</strong>er sich nicht zum Teil überdecken. - Ein Auge, das durchs Prisma<br />

blickt, ist also von seinem Mangel befreit.<br />

Mit so verfeinertem Auge bist du nun vorbereitet zu sehen, was ich dir zeigen<br />

will. Es ist nur an leuchtenden Gasen zu sehen.<br />

Wenn du Eisen, Kupfer, Kohle, Quecksilber - irgend etwas - durch Hitze in<br />

hellste Glut bringst, so leuchten sie alle gleich, also ganz unpersönlich, nämlich<br />

weiß. Diesem Licht ist nicht anzusehen, welche Art Materie es geboren hat. Das<br />

gilt aber nur, solange diese Materie trotz der Hitze fest oder flüssig bleibt. Ist sie<br />

verdampft, oder ist sie sowieso ein Gas, so ändert sich das.<br />

Vorher aber noch etwas anderes, Seltsames: so ein weißer Lichtfleck (auch<br />

Sonnenlicht gehört dazu), durchs Prisma betrachtet, zieht sich zu einem bunten<br />

Band auseinander, das alle Farben enthält, die es überhaupt gibt, schön geordnet,<br />

der Reihe nach ineinanderfließend, und das Ende wieder dem Anfang ähnlich: rot,<br />

orange, gelb, grün, blau, violett (ganz wie wir es vom Regenbogen kennen, und<br />

bei dem denn auch die Regentropfen dasselbe tun wie hier das Prisma). Das sieht<br />

so aus, als wäre Weiß eine Mischfarbe, und wirklich: läßt du, als Gegenprobe,<br />

alle Farben zugleich ins Auge fallen, so empfindet es weiß (oder grau). - Den<br />

vorigen Absatz kann ich also auch so zusammenfassen: Jede feste oder flüssige<br />

Materie leuchtet in der Hitze alle Farben zugleich.<br />

Nun aber die Gase: In der Lockerheit und Freiheit, die dieser Zustand wohl<br />

bedeutet, bekommt die Materie plötzlich Charakter, die einzelnen Stoffe<br />

bekennen Farbe: Das leichte Wasserstoff-Gas (in ein Glasrohr eingesperrt und<br />

durch elektrische Funken aufglühend) leuchtet ein prächtiges Rot, Natrium (ein<br />

silbriges Metall, das sich wie Seife schneidet und an der Luft gleich grau<br />

verrostet, ein Bestandteil des Kochsalzes) verdampft in der Flamme fahl-gelb.<br />

(Halte etwas Satz an die Gasflamme.) Ein Nagel in die große Hitze des<br />

elektrischen Lichtbogens gehalten, wird zu Eisendampf und leuchtet grün.<br />

Quecksilberdampf strahlt ein peinliches Milch-Violett.<br />

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Und so gibt jeder Stoff sein Farbsignall (Nicht zu verwechseln mit der Eigenfarbe<br />

des festen Zustandes: Kupfer ist rot, Kupferdampf glüht grün.)<br />

Im Prisma aber zeigt sich noch mehr: daß diese Signale nämlich Mischlichter<br />

sind. Nur Natriumlicht ist auch durchs Prisma gesehen gelb. Aber das rote<br />

Wasserstoffröhrchen siehst du durchs Prisma dreimal: einmal rot, daneben scharf<br />

abgesetzt blau-grün, und ganz seitlich glimmt, viel stärker gebrochen als die<br />

beiden anderen, ein schwach violettes. Das Wasserstoffgas gibt also einen<br />

Farben-Dreiklang, und immer und überall denselben. Man kann ihn daran<br />

erkennen. Man kann diesen Farbklang mit einem Dreiklang auf dem Klavier<br />

vergleichen: zwei tiefe Töne werden unten angeschlagen, dazu kommt ein ganz<br />

leiser, hoher dritter Ton. Das ist das Signal des Wasserstoffs.<br />

Laß das grüne Eisenlicht auf einer weißen Wand einen schmalen Streifen bilden.<br />

Sieh diesen Streifen durchs Prisma an 23 : Du erstaunst, wie er zu einem bunten<br />

Gitter auseinanderspringt, aufsplittert in tausend getrennte Farben, die sich in<br />

seinem Grün versteckten.<br />

So gibt es für jeden Stoff eine ganz bestimmte Auswahl von Farben, in denen er<br />

allein als Gas leuchtet.<br />

Aus dem Vorrat Weiß wählt sich also jeder als Gas leuchtende Stoff nach<br />

eigenem Gesetz einige Farbtöne aus, der eine wenige, der andere viele; mancher<br />

Tausende, jeder andere, aber jeder Stoff immer dieselben, und niemals zwei<br />

verschiedene Stoffe dieselben. Wie die Sprossen einer ungleichmäßigen Leiter<br />

lieben sich diese Eigenfarben aus dem Band der möglichen heraus. Sie folgen<br />

aufeinander nach strengen, auf den ersten Blick unübersehbaren Regeln.<br />

Es scheint also, als ob erst im aufgelockerten, im gasförmigem Zustand die Stoffe<br />

die innere Freiheit fänden, dem ausgestrahlten Licht eine Eigenart mitzugeben.<br />

Dabei hat es einen nur geringen Einfluß, auf welche Art das Gas zum Leuchten<br />

angeregt wird: durch Flammenhitze, durch den elektrischen Funken oder durch<br />

Belichtung. Manche Sprossen der Lichtleiter treten bei der einen Art deutlicher<br />

hervor als bei der anderen, nicht immer ist der Akkord vollständig; aber im<br />

ganzen bleibt er ziemlich unverändert erhalten.<br />

23 Alle diese Versuche sind so einfach beschrieben, wie sie im Grunde im Prinzip, sind. Ihre praktische<br />

Durchführung macht mehr oder weniger große technische Schwierigkeiten und erfordert Vorrichtungen, die den<br />

Grundgedanken oft nur schwer noch erkennen lassen. Wer also die hier so einfach beschriebenen Versuche in<br />

derselben Einfachheit auch wirklich machen sollte, würde meist nichts oder doch weniger sehen, als er erwartet.<br />

Er kann sich aber leicht in einem Lehrbuch der Physik über die Apparate unterrichten, die – auf dem hier<br />

beschriebenen Grundprinzip aufgebaut – eine feinere und bequemere Beobachtung ermöglichen<br />

(“Spektroskopie”) Spektralanalyse”).<br />

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Diese lange Abschweifung sollte noch einmal auf andere und deutliche Weise<br />

zeigen, daß das Leuchten etwas Anderes und viel Feineres sein muß als die wirre<br />

Wärmebewegung, von der es angeregt werden kann. Es muß - wenigstens in den<br />

Gasen - ein Vorgang sein: strengstens geregelt und in sich erstaunlich vielfältig.<br />

Außerdem wechselnd von Stoff zu Stoff, gleichsam eine persönliche Kundgebung<br />

der stofflichen Eigenart, vergleichbar der Stimme eines Menschen, die sein<br />

Wesen enthält und in die Ferne trägt.<br />

Von der Elektrizität<br />

Und nun wollen wir wissen, von welcher Art dieser Vorgang ist.<br />

Wir besteigen die Brücke von der anderen Seite, wo die mühselig tastende<br />

Forschung endlich den tragenden Boden fand, von der Elektrizität her.<br />

Du weißt: Bernstein (oder Hartgummi), wenn du ihn reibst, dann zieht er die<br />

kleinen Papierstückchen an sich. Und wenn die Papierschnitzel - oder was es<br />

sonst ist - etwas zu schwer sind, so richten sie sich wenigstens auf; sie tun eben,<br />

was sie können, um ihrem Streben zu folgen. Und schwenkst du den Bernstein<br />

hin und her, so folgen sie ihm. - Kinder und Forscher werden nicht müde, diesem<br />

Spiel zuzusehen. Sie staunen über die wunderbare Wirkung in die Ferne. Noch<br />

wunderbarer für den der weiß, daß sie vom leeren Raum nicht aufgehalten wird,<br />

so wenig wie Gravitation, Wärme und Licht (vgl. S. 97). Einstweilen nehmen wir<br />

die elektrische Kraft unerklärt als Tatsache und Grundlage an.<br />

Übrigens muß es nicht Bernstein oder Hartgummi sein. Ein jedes Ding, - man<br />

muß es nur “isoliert” anfassen -, mit einem anderen Stoff gerieben 24 , oder auch<br />

nur berührt, erhält diese seltsame Macht, andere Dinge an sich zu ziehen. Und<br />

diese Macht meine ich, wie ich sie im folgenden auch benenne: den “elektrischen<br />

Zustand”, oder “die Elektrizität” oder “das Elektrische”.<br />

Es ist interessant, sie mit ihren Brüdern, der Gravitation und der magnetischen<br />

Anziehung zu vergleichen. Magnetisch kann nur Eisen sein 25 und muß es nicht. Es<br />

gibt ja auch<br />

24<br />

Auch Wärme entsteht durch Reibung. Der Unterschied: zum Elektrischmachen müssen es verschiedene Stoffe<br />

sein, und Berührung genügt schon.<br />

25<br />

Das gilt nur bei flüchtiger Betrachtung. Genaueres folgt (S. 74).<br />

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unmagnetisches Eisen. Der Magnetismus erscheint nur als eine gelegentliche<br />

Privatunternehmung einiger Stoffe. Als ein Zustand, den gewisse Stoffe haben<br />

können. - Elektrizität dagegen ist ein Zustand, in den jeder Stoff kommen kann. -<br />

Sie ähnelt darin der Gravitation. Aber die Gravitation ist kein ”Zustand” mehr,<br />

denn sie kann keinem Ding genommen werden. Sie ist ein eingeborenes<br />

Wesensmerkmal aller Materie.<br />

In welcher Art der elektrische Zustand den Stoffen innewohnt, das kannst du noch<br />

an folgendem sehen: Es wäre falsch zu glauben, der elektrische Zustand des<br />

Bernsteins hätte seine anziehende Macht unmittelbar auf das Papier selbst. Denn<br />

genauere Untersuchungen haben gezeigt, daß er seltsamerweise zuerst auf das<br />

Papier so wirkt, daß sich im Papier, in seiner Spitze, ebenfalls ein elektrischer<br />

Zustand erhebt 26 ; und daß dann zwischen ihm und dem elektrischen Zustand des<br />

Bernsteins enge Anziehung sich anspinnt, die das Papier mitnimmt. Niemals kann<br />

Elektrisches das Körperliche unmittelbar erfassen. Elektrisches wirkt unmittelbar<br />

immer nur auf seinesgleichen.<br />

Du fragst mit Recht: woher dieser elektrische Zustand im Papier? Tatsächlich hat<br />

es niemand gerieben oder elektrisiert. Der elektrische Zustand hat sich in ihm aus<br />

dem Nichts erhoben. - Das hängt damit zusammen, daß die Erregung des<br />

elektrischen Zustandes nicht darin besteht, daß etwas da ist, was vorher fehlte;<br />

sondern darin: daß etwas, was vorher in einer gewissen und “normalen” Menge<br />

da war, jetzt zuviel (oder zuwenig) da ist. Und erst diese Abweichung vom<br />

Gewöhnlichen macht sich als ein besonderer, als der “elektrische” Zustand<br />

bemerkbar. - Ein Gleichnis dazu: Den gewöhnlichen Luftdruck (1 kg auf das<br />

Zentimeterquadrat) empfinden wir nicht; und nur, wenn er zu groß oder zu klein<br />

ist, wird uns unwohl; wir spüren, es ist etwas los, da ist ein besonderer “Zustand”.<br />

Und nun denke dir einen geschlossenen Raum, der mit Luft von gewöhnlichem<br />

Druck erfüllt ist, und du stehst in einer Ecke. Ein Zauberer möge es nun<br />

irgendwie fertig bringen, die Luft in dieser deiner Ecke zu stauen, sie dort auf<br />

Kosten der gegenüberliegenden Ecke anzusammeln. Dann spürst du plötzlich den<br />

Druck, den “Zustand”. Er ist da, obwohl er nicht von außen in den Raum<br />

hineingebracht worden<br />

26 Schneidet man dem Papier mit einem isolierenden Werkzeug die Spitze ab, solange der Bernstein in der Nähe<br />

ist, so zeigt sich diese Spitze elektrisch. So bleibt es, auch nachdem der Bernstein entfernt ist.<br />

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ist. Ähnlich hat sich in dem ganz normalen, unelektrischen Papier der elektrische<br />

Zustand aus dem “Nichts” erhoben. Und der Zauberer ist in diesem Fall die<br />

elektrische Kraft des Bernsteins. (Wie sie das macht, ist damit nicht erklärt. Das<br />

gehört zu den Grundgesetzen der Elektrizität.)<br />

Dies zur Einführung der Elektrizität. Es ist nur das, was im folgenden zunächst<br />

gebraucht wird, und lange nicht alles, was für die Elektrizität grundlegend ist.<br />

Dahin würde z. B. gehören, daß zwei Bernsteinstücke, die beide elektrisch sind,<br />

sich abstoßen, und vieles andere. (Vgl. S. 78).<br />

Und nun will ich dir sagen, was Licht ist.<br />

Elektrische Schwingung<br />

Wie das Papier auf dem Tisch dem elektrisierten Bernstein entgegengereckt<br />

dasteht, dieser Moment ist es nicht, der uns am meisten fesselt. Dieser starren<br />

Verspannung allein wäre wenig anzusehen. Erst wenn du den Bernstein besiegst,<br />

und das Papier gehorsam folgt, dann erst erkennst du die rätselhaft verbindende<br />

Kraft und merkst, daß im Bernstein die führende, tätige Ursache sitzt, die befiehlt,<br />

und daß das Papier, oder besser - der elektrische Zustand in ihm, der<br />

empfangende und gehorchende Teil ist. Nicht tote Haltung, sondern lebendige<br />

Bewegung überträgt sich jetzt durch den Raum.<br />

Dauernd und geordnet läßt sich das so einrichten, daß der Bernstein regelmäßig<br />

hin und her bewegt wird und das Papier zum Mitwedeln zwingt. Beide<br />

“schwingen”.<br />

Dieses Spiel soll die Grundlage der folgenden Überlegungen sein. Und weil es<br />

später gut passen wird, soll der Bernstein der “Sender” heißen, denn er sendet die<br />

Befehle; und das Papier wollen wir den “Empfänger” nennen, weil es sie in<br />

Empfang nimmt und ausführt. In diesen Worten spürt man die Vorstellung des<br />

Zwischenraumes, durch den der Befehl hindurch muß. Nur verstehen wir noch<br />

nicht, wie er durch den leeren Raum hindurch kann, denn es ist kein Faden da und<br />

kein Geschoß.<br />

Unsere Überlegung wird dahin gelten, daß wir dieses Spiel immer schneller<br />

treiben und selten, was das für den Sender und was es für den Empfänger<br />

bedeutet.<br />

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Sender für schnelle elektrische Schwingungen<br />

Zuerst der Sender, das Bernsteinstückchen. Die führende Hand wird schließlich<br />

nicht mehr schneller können.<br />

Auch wenn wir es mit einer Maschine hin und her reißen, muß diese Maschine<br />

bald zerbrechen und in Stücke auseinanderfliegen. Auch das leichteste Material<br />

ist zu träge, um solchem Hin und Her zu folgen und so überplötzlich umzukehren.<br />

Und wir brauchen viel schnellere Zuckungen, als eine Maschine aushält.<br />

Nun kommt es aber bei dem, worauf ich ziele, nicht darauf an, daß der Bernstein<br />

selbst bewegt wird, sondern der elektrische Zustand muß das tun, der auf ihm<br />

sitzt. Es genügte, wenn ich abwechselnd seine linke und seine rechte Seite<br />

elektrisch machte. Noch besser nehme ich statt seiner ein Stück Metall, einen<br />

“Leiter”, auf dem der elektrische Zustand nicht sitzen bleibt, wohin er gebracht<br />

wird, sondern auf dem er sich ausbreitet und von dem ganzen Stück Besitz<br />

ergreift. Wenn man ein solches Metallstück auf seiner einen Seite schnell<br />

elektrisch macht und es dann in Ruhe läßt, so schwankt der elektrische Zustand<br />

von selbst eine Zeitlang auf dem Metall von einer Seite zur anderen hin und her.<br />

Nicht anders wie in einem Gefäß das Wasser schwankt, wenn es nicht sorgsam in<br />

die Mitte gegossen wurde. Und wie dieses Wasser um so schneller schwankt, je<br />

kleiner das Gefäß ist, so zuckt auch der elektrische Zustand um so rascher, je<br />

kleiner das Metallstück ist, das ihn trägt.<br />

Da der elektrische Zustand (im Gegensatz zur Materie) fast ganz ohne Trägheit ist<br />

(vgl. Anm. 32), so folgt er augenblicklich und es macht ihm nichts aus, beliebig<br />

oft in der Sekunde umzukehren. So haben wir ein einfaches Mittel, den<br />

elektrischen Zustand immer schneller ins Pendeln zu bringen. In der Praxis ist das<br />

nicht so einfach, wie es sich hier anhört. (Vgl. Anm. 28.)<br />

So kommt man bei den elektrischen Schwingungen, die den “Rundfunk” tragen,<br />

auf 150 000 bis 1 500 000 Wechsel in der Sekunde. (Eine Abkürzung: für 1 500<br />

000 schreibt man 15 . 10 5 . 10 5 ist “Eins mit 5 Nullen”) Im Laboratorium erreicht<br />

man 3 . 10 12 . Weiter aber geht es nicht, denn dazu brauchten wir schließlich so<br />

kleine Körper, daß unsere Hände sie nicht halten,<br />

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unsere Augen sie nicht mehr sehen könnten. Aber die erreichten Wechselzahlen<br />

sind schon ungeheuer groß!<br />

Empfänger für schnelle elektrische Schwingungen<br />

Inzwischen müssen wir uns aber den Empfänger ansehen. Das Papier hat das<br />

Zittern natürlich ebenfalls aufgeben müssen. Es kommt bei den schnellen<br />

Schwingungen nicht mit. So ist auch der Empfänger unbrauchbar geworden. Er<br />

zeigt nicht mehr an, ob noch etwas geschieht.<br />

Nun war ja aber das Schwanken des Papieres nicht das Wesentliche. Es folgte ja<br />

nur dem elektrischen Zustand in ihm (S. 58). Nehmen wir also auch statt des<br />

Papieres einen Leiter, ein Stück Metall, so wird zwar dieses selbst so schnell nicht<br />

mitkommen, aber wir brauchen es nur ruhig hinzulegen: in ihm wird der<br />

elektrische Zustand hin und her schwanken, immer gehorsam auf den Bernstein<br />

zielend, so wie es vorher die Spitze des Papieres tat. Und da wir ja auch den<br />

Bernstein durch ein Metallstück ersetzt haben, in dem der elektrische Zustand<br />

schwankt, müssen wir sagen: der elektrische Zustand im Empfänger zielt immer<br />

auf den elektrischen Zustand des Senders. Er reckt sich immer in der Richtung<br />

aus, aus der er den Befehl kommen spürt. So etwa wie die Augen des Hundes der<br />

Hand des Herrn folgen, der einen Stock hin und her schwenkt.<br />

Ein zweiter Wesenszug des Elektrischen<br />

Es ist also dieser Einstellungszwang (die elektrische Anziehung), der die Ursache<br />

ist für die Übertragung der elektrischen Schwingung vom Sender auf den<br />

Empfänger.<br />

Ich muß aber, um genau zu sein, hinzufügen, daß es noch einen zweiten<br />

Wesenszug des Elektrischen gibt, der ebenfalls entscheidend mit im Spiele ist:<br />

Der elektrische Zustand des Empfängers ist nicht nur für die Stellung des<br />

elektrischen Zustandes im Sender empfindlich, er hat, ganz unabhängig davon,<br />

auch eine Erregbarkeit durch ruckartige Bewegungen, die der elektrische Zustand<br />

in seiner Umgebung ausführt. Deutlicher: Wenn irgendwo der elektrische Zustand<br />

sich zuckend bewegt<br />

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(auf einem ruhenden Leiter oder zusammen mit einem bewegten Körper), und irgendwo<br />

nebenan findet sich auch elektrischer Zustand [verborgen noch oder schon offen vorhanden (S.<br />

58)], so reizt ihn diese Zuckung zur Nachahmung. Er kann keinen Tanz von seinesgleichen mit<br />

ansehen, ohne ihn nachzumachen. Und zwar ist die ansteckende Wirkung um so stärker, je<br />

schärfer und schneller die Rucke des Vortänzers sind. Dieser zweite Wesenszug ist zwar im<br />

Grunde von dem ersten (dem Einstellungszwang) ganz verschieden 27 , aber in unserem Falle,<br />

dem der Schwingung, unterstützt er ihn vollkommen: Wenn nämlich im Sender der elektrische<br />

Zustand regelmäßig hin und her fährt, so spürt das die Elektrizität des Empfängers erstens als<br />

einen Stellungswechsel, zweitens aber als unaufhörliches Rucken. Beide Gesetze treten hier in<br />

Kraft und unterstützen einander in der Wirkung.<br />

Daß dieser zweite Wesenszug hinzukommt, macht alles vielleicht etwas schwerer verständlich.<br />

Aber du brauchst dir für das, was folgt, diese Einzelheiten nicht gegenwärtig zu halten. Es<br />

genügt, wenn du weißt: Sender und Empfänger sind jeder ein Metallstück 28 . Wenn in dem<br />

ersten der elektrische Zustand regelmäßig hin und her fährt, so wirkt diese Zuckung in die<br />

Ferne und erzeugt im Empfänger einen Vorgang von ganz derselben Art. Daß dies so<br />

geschieht, liegt zutiefst im Wesen der Elektrizität begründet.<br />

Nun wenden wir uns zurück zu unserem Gedankengang.<br />

Abstimmung<br />

Es gibt ein Mittel, den Empfänger für die Befehle des Senders besonders empfindlich und dem<br />

leisesten Wink gehorsam zu machen. Es besteht darin, daß man ihn ebenso groß wie den<br />

Sender macht. Denn dann wird die Schnelligkeit, mit der der elektrische Zustand zu schaukeln<br />

bereit ist, in beiden dieselbe sein. Der Empfänger ist dann, wie man sagt, auf den Sender<br />

“abgestimmt”. Es kommen also die Befehle des Senders in genau dem Takt an, der auch dem<br />

Empfänger natürlich ist. Dadurch werden dann die elektrischen Schwingungen im Empfänger<br />

stärker als sie ohne Abstimmung würden. Genau wie du eine Schaukel nur dann gut in<br />

Schwung bringen kannst, wenn du sie in ihrem eigenen Takt anstößt.<br />

27 Daß die zwei Wesenszüge im Grunde ganz verschieden von einander sind (in der Sprache der Physik: daß<br />

elektrostatische Influenz nicht dasselbe ist wie elektromagnetische Induktion), zeigt folgendes Experiment: Ein<br />

Bernsteinring werde gleichmäßig elektrisiert und dann, in sich selbst, ruckartig gedreht. Liegt in der Nähe ein Leiter, so<br />

wird in ihm nach dem ersten Gesetz nichts geschehen, weil die Anordnung des elektrischen Zustandes im Ring und im<br />

Raum durch diese Drehung im ganzen nicht verändert worden ist. Tatsächlich geschieht aber etwas in dem Leiter: ein<br />

elektrischer Ruck, ein “Stromstoß”. Er reagiert also noch auf etwas anderes als auf veränderte Anordnung, er wird<br />

gezwungen, den Bewegungsruck nachzuahmen. Das ist das zweite Gesetz, - Umgekehrt läßt sich aus dem zweiten<br />

Gesetz nicht ableiten das erste: daß der ruhende elektrisierte Bernstein das ruhende Papier zu sich hinzieht.<br />

28 In der Praxis sind diese “Metallstücke” komplizierte Apparate. Das hat verschiedene Gründe: 1. Man kann die<br />

Schnelligkeit der alektrischen Schwingung nicht nur durch die Größe, sondern auch durch die Form des Metallstückes<br />

beeinflussen. 2. Es sind Vorrichtungen nötig, die die elektrischen Schwingungen immer wieder anregen, so wie eine<br />

Glocke vom Klöppel angeschlagen werden muß. 3. Es ist störend, wenn die Schwingungen zwischen den einzelnen<br />

Klöppelschlägen immer wieder erlahmen, ausklingen wie der Ton einer Glocke auch. Um sie ungedämpft und<br />

gleichmäßig in Gang zu halten, hat man besondere Apparate erfunden. 4. Um große Entfernungen zu überbrücken, sucht<br />

man den Sender besonders stark und den Empfänger durch “Verstärker” besonders empfindlich zu machen.<br />

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Nur mußt du noch wissen, wie man es dem Empfänger ansieht, wenn es in ihm<br />

elektrisch zuckt: Man schneidet ihn durch, so daß in seiner Mitte eine ganz<br />

schmale Lücke entsteht. Diese Lücke wird von dem elektrischen Hin und Her<br />

durchschlagen und es entsteht dort ein feines Blitzen: “es funkt”. Dieser Funken<br />

wird also besonders hell, wenn der Empfänger auf den Sender “abgestimmt ist”,<br />

wenn er von ihm “aufgeschaukelt” wird.<br />

Licht und elektrische Schwingung<br />

Du weißt jetzt, wie man sehr schnelle elektrische Schwingungen machen,<br />

Wechselbefehle senden und empfangen kann. Bei Versuchen mit solchen<br />

Schwingungen ist nun folgendes herausgekommen: Es zeigte sich, daß das<br />

Funkenspiel des Empfängers immer etwas später einsetzte als die elektrischen<br />

Schwingungen des Senders begannen; je größer der Abstand zwischen den beiden<br />

war, desto später. Das war an sich verständlich: der Befehl braucht Zeit; er ist<br />

inzwischen unterwegs. Aber daß die Verspätung genau eine Sekunde war bei<br />

einem Abstand von 300 000 km 29 , das war sehr merkwürdig, oder, in der Sprache<br />

des Detektivs, sehr verdächtig. Es deutete auf einen bekannten Täter. Denn das ist<br />

genau dieselbe Strecke, die das Licht in einer Sekunde durchscheint, siebenmal<br />

der Umfang der Erdkugel.<br />

So war man auf eine Spur gekommen. Nun prüfte man den Täter auf seine<br />

übrigen Gewohnheiten. Man stellte zwischen Sender und Empfänger körperliche<br />

Hindernisse, dieselben, die für die Lichtstrahlen von Bedeutung sind: Spiegel,<br />

Prismen, Linsen und andere, weniger bekannte aber wichtige Vorrichtungen. Es<br />

kam heraus, daß die Wirkung auf den Einpfänger dadurch auf genau dieselbe Art<br />

und in demselben Maße gestört und geändert wird, wie das vom Licht bekannt<br />

war. Wenn z. B. hinter dem Sender ein metallener Hohlspiegel aufgestellt wird,<br />

und man sucht nun mit dem Empfänger den Raum ab, so findet sich ein Ort, an<br />

dem er am besten funkt. Und dies ist derselbe Punkt, in dem das Licht sich<br />

sammelt, wenn an der Stelle des Senders eine gewöhnliche Kerze steht!<br />

Das heißt: Die elektrischen Befehle gehen durch den Raum und durch die<br />

Hindernisse genau, als wären sie unsichtbares<br />

29 Dieser Wert ist natürlich nicht direkt gemessen. Man braucht einen Eisenbahnzug nicht 50 km weit und nicht<br />

eine Stunde lang zu verfolgen, um festzustellen, daß er 50 km in der Stunde macht.<br />

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Licht, genau wie wir das bei den unsichtbaren Wärmestrahlen fangen.<br />

Das muß mehr als ein merkwürdiger Zufall sein. Licht und elektrische<br />

Schwingungsbefehle sind einander also sehr ähnlich. Und doch können sie nicht<br />

einfach dasselbe sein, sonst müßten unsere Augen ja elektrische Schwingungen<br />

sehen. Wie ist das zu verstehen?<br />

Licht als Wechselspiel<br />

Die Antwort kommt von der anderen Seite, vom Licht her. Man wußte schon<br />

lange, längst ehe man auf die elektrische Fährte kam, daß das Licht einem<br />

schnellen Wechselspiel entspringen muß. Daß in einem jeden leuchtenden<br />

Körper, ja in jedem kleinsten Teil von ihm, ein Zustand unbekannter Art<br />

regelmäßig auf das Wasser eines stillen Teiches tupfst, so siehst du auch, wie von<br />

dieser Stelle etwas ausgeht, das den Wechsel mit sich führt: Die Wellenringe, die<br />

einander in gleichen Abständen folgen.) So ist auch dem Lichtstrahl ein<br />

Wechselgefüge eingewoben, fein und nicht gerade auffällig und nie direkt zu<br />

sehen. Aber du kannst dich doch leicht davon überzeugen: Betrachte ein sehr<br />

helles, aber möglichst wenig ausgedehntes (also kleines, fernes) Licht – Laterne,<br />

Bogenlampe, einen sehr hellen Stern oder den einzelnen Faden einer Glühlampe -<br />

, in völliger Dunkelheit durch eine sehr schmale Ritze. (Einen solchen feinen<br />

Spalt bekommst du am einfachsten so, daß du zwei Rasierklingen mit den<br />

Schneiden eng aneinander und unmittelbar vor das Auge hältst.) Du mußt dich<br />

etwas üben und scharf zusehen: dann erkennst du, wie das Licht beiderseits<br />

ausgezogen erscheint, quer zum Spalt – in eine ganze Reihe immer schwächerer<br />

Lichter, in deren Mitte das ursprüngliche alls hellstes stehen bleibt, - Wie das im<br />

einzelnen zugeht, ist jetzt unsere Sache nicht. Wir ziehen nur einen allgemeinen<br />

Schluß darauf: In diesem gitterartigen Anblick kommt ein regelmäßiger Wechsel<br />

zum Ausdruck. Da ein einzelner Spalt nichts Wechselndes an sich hat, muß das<br />

Licht daran schuld sein, muß etwas Wechselndes in sich tragen. Zwei glatte<br />

Dinge können zusammen nichts Gezacktes erzeugen.<br />

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Man erkannte sofort, daß das räumliche Nebeneinander, das der Lichtstrahl uns<br />

bei solchen Experimenten vorführt, herkommt von einem zeitlichen Nacheinander<br />

in der Lichtquelle, das sich in den Raum hinausgeworfen hat – ganz wie bei den<br />

Wasserwellen. Und man hat es verstanden, aus dem Räumlichen das Zeitliche zu<br />

berechnen.<br />

Dabei kam zweierlei zutage, beides gleich erstaunlich:<br />

1. Die Wechselzahl richtet sich nach der Farbe. Rotes Licht kommt aus<br />

(verhältnismäßig) langsamen, blaues aus schnelleren Wechseln. Zu jedem Ton<br />

des Farbenbands gehört eine bestimmte Wechselzahl.<br />

2. Diese Zahlen sind ungeheuer groß. Für rotes Licht fand man 4 . 10 14<br />

Schwankungen in der Sekunde, für violettes etwa das Doppelte.<br />

Was Licht ist<br />

Dies alles wußte man mit Bestimmtheit, ohne doch zu wissen, welcher Art dieser<br />

wechselnde Zustand wäre!<br />

Aber dann erfuhr man allmählich das, was im 10. Abschnitt steht, und du siehst<br />

nun, wie wir die Frage beantworten können, ja müssen, die am Ende dieses<br />

Abschnittes gestellt ist.<br />

Die Wechselzahlen des Lichtes sind über die Grenze, die wir Menschen mit<br />

elektrischen Schwingungen machen können. Gelänge uns das, so hätten wir<br />

elektrische Schwingungen, deren Ausbreitung dem Licht in allem gleicht! In der<br />

Schnelligkeit der Ausbreitung, im Verkehr mit den Hindernissen der Ausbreitung<br />

und in der Wechselzahl. Und, so vermuten wir, auch in der Sichtbarkeit! Daß wir<br />

sie vorher, unter 10 14 , nicht sehen, liegt wohl daran, daß das Auge eben erst von<br />

10 14 an für sie empfänglich wird, genau wie die Luftstöße dem Ohr erst dann<br />

einen Eindruck machen, wenn sie mehr als 16mal in der Sekunde an das<br />

Trommelfell klopfen.<br />

Kurz, wenn wir alles zusammenhalten, so bleibt kein anderer Schluß als dieser:<br />

Licht ist die sichtbare Kunde von sehr schnellen regelmäßigen Schwankungen des<br />

elektrischen Zustandes. Alles was leuchtet, muß elektrische Sender in sich haben,<br />

und das Auge muß eine Art Empfänger sein, der auf einen bestimmten Be-<br />

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reich von Wechseln (4 . 10 14 bis 4 . 10 14 eingestimmt ist. Licht ist unaufhörlicher<br />

elektrischer Wechselbefehl, der das Auge erregt.<br />

Auch die dunklen Wärmestrahlenhaben sieh einordnen lassen: sie kommen aus<br />

den Schwingungen, die etwas langsamer als die des roten Lichtes vor sieh gehen<br />

(10 12 bis 4 10 14 ).<br />

Kürzere Darstellung für die fünf letzten Abschnitte<br />

Eine so verwickelte Entdeckung wie die, daß Licht ein elektrischer Wechselbefehl ist, kann<br />

man nur recht verstehen, wenn man ungefähr weiß, wie sie gemacht wurde. Das sollten die Abschnitte<br />

6 bis 12 andeuten. - Jetzt kannst du ohne Mißverständnis folgende Zusammenfassung<br />

verstehen 30 ) (Abb. 6, S. 73) -<br />

Du sitzest im Dunkeln, ein paar Meter von mir, und ich habe einen elektrisierten Bernstein in<br />

der Hand, den ich hin und her -bewege. Erst langsam, dann immer schneller, und schneller.<br />

Wenn es mir möglich wäre, es darin beliebig weit zu bringen, so würdest du, sobald meine<br />

Hand auf 4 . 10 14 : Schwankungen in der Sekunde gekommen wäre, etwas Seltsames bemerken.<br />

Nachdem du nämlich kurz vorher schon aus der Richtung des zitternden Bernsteins Wärme<br />

gespürt hast, Wärmestrahlung auf dein Gesicht, siehst du jetzt eine rötliche Lichtwolke, die das<br />

Gebiet umschließt, in dem der Bernstein schwingt. In dem Maße, in dem die Schwingung<br />

weiter an Raschheit zunimmt, ändert diese Lichtwolke in allmählichen Übergängen ihre Farbe.<br />

Bei 5 . 10 14 Wechseln in der Sekunde ist sie über Orange hin Gelb geworden. Dann sieht sie,<br />

immer der Verwandtschaft der Farben folgend, Gelbgrün und Grün aus, und hat schließlich<br />

über Grünblau und Blau das Violett erreicht, sobald die Schwingungszahl etwa doppelt so hoch<br />

geworden ist, wie sie beim roten Leuchten war. Dann erlischt die Wolke. Du sitzest wieder im<br />

Dunkeln und siehst nichts mehr, auch wenn die elektrische Schwingung vor dir anhält und sich<br />

weiter beschleunigt. Ich will aber gleich hinzufügen'. Eine Biene würde sie noch eine Welle<br />

länger sehen als du. Und eine photographische Platte, an Stelle deines Auges ge-<br />

setzt, wird auch von jeder noch schneller schwingenden elek-<br />

30 Ein Grund, weshalb nicht einfach dieser Abschnitt an Stelle der fünf vorhergehenden gesetzt wurde, ist<br />

folgender: Der Satz, daß in kleinen Bezirken des leuchtenden Körpers der elektrische Zustand sich “hin und her<br />

bewegt”, gibt nach den Einsichten der neuesten Physik ein zu grobes, zu anschauliches <strong>Bild</strong>. Das hängt damit<br />

zusammen, daß wir einerseits das Große nur aus dem unsichtbar Kleinen zusammenhängend erklären können<br />

(man denke an die innere Wärmebewegung und an die kleinen Sender), andererseits aber doch nur solche Begriffe<br />

und Worte zur Verfügung haben, die der Welt des großen und der Sinne entnommen sind. Früher glaubte man, sie<br />

wären von nichts abhängig und gälten für alles Denkbare, aber jetzt ist man darauf gestoßen worden, daß sie nur<br />

für den Bereich gelten, aus dem sie erwachsen sind. So scheint es unter Umständen auch mit dem Begriff<br />

“Bewegung” zu sein. Deshalb ist das, was in den kleinsten Bezirken des Leuchtenden vorgeht, durch diese<br />

Begriffe niemals anschaulich zu beschreiben, sondern es ist nur in leeren Zahlen symbolisch zu fassen. Wir<br />

können nur sagen: Denken wir uns den Bezirk allmählich größer werdend auf den Vorgang mit ihm, so wird es<br />

immer richtiger, sich darunter eine “Hinundherbewegung” des elektrischen Zustandes vorzustellen. Dieses <strong>Bild</strong><br />

tritt allmählich anschaulich hervor, wie der Umriß eines Baumes, wenn der Nebel sich lichtet. (Vgl. Anm. 38 und<br />

S. 101).<br />

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trischen Strahlung geschwärzt werden. Mit ihr läßt sich die, "Licht"wolke des<br />

zitternden Bernsteins weiterhin photographieren, auch wenn dein Auge nichts<br />

mehr sieht. Auch wird deine Körperhaut eigenartige, Verbrennungen zeigen.<br />

"Röntgenstrahlen", "Gammastrahlen“ sagt der Physiker.<br />

Nicht wahr, es ist klar: die Lichtwolke ist nicht etwas, das<br />

zu den elektrischen Schwingungen hinzukommt. Am Ort der Schwingungen<br />

geschieht immer nur die Schwingung selbst, nichts anderes. Sie ist die;<br />

Lichtwolke. Von einer gewissen Wechselzahl an ist sie es, und zwar für das<br />

Auge. In deinem Auge geschieht - anfangs nichts; sobald aber die gewisse<br />

Wechselzahl erreicht ist, geht etwas vor in ihm (der Empfang des<br />

Wechselbefehls), und zugleich eine Empfindung in deiner Seele. Dazu sagst du:<br />

ich sehe Licht. Leuchten „ist“ elektrische Schwingung, so -wie, Wärme die innere<br />

Unruhe „ist“.<br />

Folgerungen und Einsichten<br />

Wir wissen nun was Licht ist.<br />

Aber diese Erkenntnis ist kein Ende. Sie wirkt auf den Nachdenklichen wie ein<br />

Donner, der allenthalben Echos ablöst. Folgerungen und Einsichten stellen sich<br />

ein, die wir, einer Kette gleich, schnell aneinanderreihen wollen:<br />

Leuchten. Wie Licht erzeugt wird, wollten wir wissen, und wie es den Raum<br />

durchdringt (S. 52). Nur die erste Frage ist beantwortet. Das Rätsel der<br />

Ausbreitung ist nicht erhellt dadurch, daß wir nun "elektrische Fernwirkung" statt<br />

Licht setzen dürfen.<br />

Kleine Sender.<br />

In allem, das selber leuchtet, müssen elektrische Sender sitzen. - Kleine Sender,<br />

ungeheuer kleine- deshalb, weil sie schnelle Schwingungen von sich geben (S.<br />

65) und, weil es so viele sind. Viele, weil ja jedes kleinste Teil- chen der Kohle,<br />

der Kerzenflamme, des Natriumdampfes für sich selber leuchtet. Kleine,<br />

voneinander isolierte, in sich leitende Bezirke müssen es sein, in denen der<br />

elektrische Zustand sich erhoben hat und schwankt. Erhoben aus dem elektrischen<br />

Nichts, wie wir es ausgedacht hatten in dem, Gleichnis von dem Saal, in dem die<br />

Luft zu schaukeln beginnt (S. 58).<br />

Kunstvolle Sender.<br />

Aber der elektrische Zustand muß in ihnen auf eine sehr verwickelte Weise<br />

schwanken. Sie<br />

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können nicht einfach gebaut sein, diese Sender, so klein sie sind. Denn jedes<br />

kleinste Eisenteilchen leuchtet aus dem Eisendampf sein grünes Eisenlicht (S.<br />

56), von dem wir wissen, daß sich tausend Farben in ihm mischen. Jeder kleine<br />

Sender muß diese tausend Farben zugleich geben. Deshalb kann er, da ja jede<br />

Einzelfarbe eine andere ihre eigene Schwingungszahl hat (S. 65), nicht in einer, er<br />

muß in tausend Wechselzahlen zugleich elektrisch schwingen! Wie die Glocke<br />

oder die Flöte mehrere Töne zugleich hören lassen, wie du an einer Geige alle<br />

vier Saiten zugleich zupfen kannst, so wird der kleine Eisensender in irgendeiner<br />

(elektrischen!) Weise tausendfältig gebaut sein. Wie eine Geige mit 1000 Saiten,<br />

wie ein tausendstimmiger Brummkreisel einen “Klang” gibt, so gibt er den<br />

reichen Akkord des Eisens. Jeder Eisensender ist genau so gebaut wie der andere,<br />

jeder gibt denselben elektrischen Akkord. Aber ein anderer Stoff hat seine Sender<br />

anders gestimmt, jeder auf seine Weise: das Natrium einstimmig, die meisten in<br />

vollen Lichtklängen, jeder anders, jeder unverkennbar.<br />

Leuchtendes Gas.<br />

Aber der Stoff muß gasförmig sein. Nur in diesem aufgelockerten Zustand haben,<br />

so scheint es, die kleinen Sender so weit Abstand voneinander genommen, daß sie<br />

frei ihren elektrischen Klang schwingen können. In der Enge und Bedrängnis des<br />

Flüssigen oder gar des Festen sitzen sie so dicht aneinander, daß sie sich wohl<br />

gegenseitig stören und verstummen. Freiübungen können nicht gut und nicht frei<br />

werden, wenn die Turner sich zu nahe stehen und sich berühren. So verstimmen<br />

sich die Sender bis zur Unkenntlichkeit. Und so kommt es, daß für alle Stoffe,<br />

sobald sie sich ins Flüssige verdichten, der eigene, der persönliche Lichtklang<br />

zerfließt zu dem wahllosen Durcheinander “Weiß” (S. 55). Es ist, als ob der<br />

Orgelspieler, der vorher den reichen Akkord gegriffen hat, nun eingeengt sich mit<br />

beiden Armen auf die Tasten legen muß.<br />

Gegenprobe.<br />

Man hat eine Gegenprobe gemacht auf die elektrische Natur der vielstimmigen<br />

kleinen Sender. Sind sie elektrisch, so müssen sie sich auch durch elektrische<br />

Kräfte verstummen lassen. Also brachte man einen sehr stark elektrisierten<br />

Körper in die nächste Nähe des leuchtenden Gases,<br />

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dessen Licht man interdes durchs Prisma im Auge behielt. Und wirklich gab es<br />

eine feine Veränderung der einzelnen Farbtöne, Verschiebungen, Spaltungen der<br />

Lichtlinien, - als wäre an jeder Saite der vielstimmigen elektrischen Geige etwas<br />

geschraubt worden.<br />

Aus Wärme: Licht. Wodurch erhebt sich der elektrische Zustand im kleinen<br />

Sender immer wieder? Wo sind die Klöppel dieser Glocken, die Peitschen dieser<br />

Brummkreisel? - Wir sagten: Licht entsteht - meist - aus Hitze. Das heißt - die<br />

elektrische Schwingung im kleinen Sender wird aufgeregt durch die Unruhe des<br />

Stoffes, durch die Stöße dieses wirren Getriebes. Ein Vergleich: Ich sehe vor mir<br />

einen unruhig bewegten See, auf dem schwimmen Geigen, die schlagen<br />

aneinander, daß sie klingen. Das scheint leicht verständlich. Aber verstehe es<br />

nicht zu leicht, indem du dich verführen läßt durch die vielen Gleichnisse aus der<br />

Welt der Töne. Es sind Gleichnisse! Hier wird nicht, wie bei der Glocke, ein<br />

körperlicher Klöppelschlag die Ursache körperlicher Schwingbewegung; hier<br />

wird ein körperlicher Anstoß Urheber einer elektrischen Schwingung im<br />

Körperlichen. - Ein Zeichen, daß der elektrische Zustand dem körperlichen Sein<br />

tief verbunden sein muß. - Daß Leuchten aber auch anders als durch diesen<br />

groben materiellen Anstoß angeregt werden kann (durch Belichtung z. B. - S. 53),<br />

ist jetzt auch verständlich. Dann kommt von weither der elektrische<br />

Wechselbefehl und greift unmittelbar ein ins elektrische Gefüge des kleinen<br />

Senders. Davon später mehr (Abschnitt k).<br />

Aufglühen.<br />

Daß mit zunehmender Hitze das “Licht” der festen und flüssigen Stoffe erst<br />

dunkle Wärmestrahlung ist, dann sichtbar rot wird, und schließlich immer<br />

schneller schwingend immer “blauer” (und da das andere dabei bleibt, immer<br />

weißer) wird, auch das verstehen wir jetzt, wenigstens im Gleichnis: die tieferen<br />

Saiten der Geige sind schlaff und deshalb langsamer, aber leichter beweglich, und<br />

wenn du in die Flöte bläst, so mußt du dich am meisten anstrengen, um die hohen<br />

Töne herauszubekommen.<br />

Immer Strahlung.<br />

Je kühler also die Materie, je ruhiger ihre innere Bewegung, desto langsamer auch<br />

das elektrische Schwingen in ihr, das wir dann nur noch als dunkle Wärme-<br />

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strahlung empfinden. Und da diese Strahlung, wie wir wissen (S. 46), niemals aufhört,<br />

solange der Stoff noch kälter werden kann, so bedeutet das: auch die leiseste innere<br />

Unruhe bringt in den kleinen Sendern den elektrischen Zustand noch ins Schwingen.<br />

Alle Materie ist immer erfüllt von diesen elektrischen Zuckungen, die in die Ferne<br />

wirken.<br />

Aus Licht:Wärme<br />

Die Wirkung des Lichtes in der Ferne ist im allgemeinen ja die, daß es auf<br />

Materie trifft und, in ihr aufgesaugt (S. 43), Wärme erzeugt, ihm also einen<br />

Beitrag gibt zu seiner inneren Bewegung. Verstehen wir das? Niemals 31<br />

Wir wissen ja, wie der Sender wirkt, daß er einen Empfänger braucht, ein Ding<br />

wie er selbst, in dem er auch dasselbe wachruft was in ihm ist: elektrische<br />

Schwankung. Solche Empfänger muß nun jeder Stoff in sich haben; es sind<br />

zugleich die Sender für den Fall, daß er einmal leuchten muß; und das kann jedem<br />

Stoff geschehen. In diesen kleinen Empfängern erhebt sich also auf den Befehl<br />

des fernen Senders die elektrische Schwingung. Und nun muß es so sein, daß im<br />

allgemeinen diese Empfänger sich gegenseitig so stören und beeinflussen, daß sie<br />

das körperliche Gefüge, in dem sie wohnen, mit erschüttern. (Vergleich: Ich sehe<br />

vor mir viele aufgehäufte Geigen; von ferne, durch irgendeinen Zauber, werden ihre<br />

Saiten in ein starkes Schwingen gebracht: dann kommen auch die Geigenkörper selber<br />

ins Zittern und Rutschen, der Haufe in Bewegung.) - So entsteht Wärme aus Licht.<br />

Dabei ist es wieder wichtig, daß die Materie nicht unmittelbar von der Bewegung<br />

ihresgleichen angesteckt wird, sondern von der ihres elektrischen Zustandes. Es ist<br />

genau der umgekehrte Vorgang wie die Entzündung des Lichts aus den stofflichen<br />

Anstößen der Wärmebewegung.<br />

Aus Licht: Licht.<br />

Nicht immer muß aber die elektrische Schwingung sich in stoffliche Unruhe umsetzen.<br />

Wenn die Empfänger sich gegenseitig nicht stören, wie es in den Gasen vorkommt oder<br />

in den Kristallen (deren äußere Regelmäßigkeit auch eine innere Ordnung verrät), wenn<br />

sie außerdem den Wechselbefehlen willig und stark folgen (weil ihre eigene<br />

Wechselzahl der der Sender gleich oder verwandt ist, S. 62), so klingt ihre Schwingung<br />

frei und lange aus, das heißt der<br />

31 Die Anziehung des Papierblättchens durch den elektrisierten Bernstein widerspricht dem nicht. (Vgl. Anm. 26)<br />

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Körper leuchtet. So verstehen wir das Leuchten, das nicht aus Erwärmung,<br />

sondern aus dem Einfall von Licht entsteht.<br />

Das elektrische Auge.<br />

Unser Auge muß ein elektrisches Organ sein. Es muß Empfänger in sich haben,<br />

und auf 4 . 10 14 bis 8 . 10 14 Wechsel in der Sekunde müssen sie abgestimmt sein<br />

und bereitwillig eingeben. Irgendwie gelingt es ihnen, aus dieser Folge von<br />

Schwingungszahlen eine Leiter von wenigen Stufen zu machen. Diese Stufen<br />

empfindet unsere Seele, und für sie sind es die Farben. Ebensogut können wir<br />

sagen: Was wir als Farben kennen, das erfaßt der forschende Verstand als eine<br />

Folge unendlich vieler, ineinander übergehender Schwingungszahlen. Dasselbe<br />

erscheint uns auf verschiedene Weise, von zwei verschiedenen Standpunkten aus;<br />

beides sind menschliche Standpunkte.<br />

Elektrizität als Fundament<br />

Die Brücke, die wir schlugen, ruht auf den beiden Pfeilern: bewegter Stoff und<br />

bewegte Elektrizität. Stoff ist unseren Sinnen vertraut, und besonders glauben wir<br />

zu wissen, was Bewegung ist, denn wir spüren es an und in uns selbst, wie es ist,<br />

zu bewegen oder bewegt zu werden. Aber was Elektrizität ist, weiß in diesem<br />

Sinne niemand. Wir kennen einige ihrer Charakterzüge, einiges von der Art, wie<br />

sie den Raum erfüllt, doch nichts über ihr Wesen. 32 Aber wir dürfen auch nicht<br />

zuviel und nichts Undeutliches verlangen, indem wir wünschen, alles müsse sich<br />

erklären lassen. Denn was heißt hier.- “Erklären”? Wir haben die Wärme erklärt,<br />

indem wir sie als Bewegung des Stoffes erkannten; das Licht, als es seine<br />

elektrische Natur verriet. Etwas erklären, das heißt also: es als wesensverwandt<br />

erkennen, oder wesensgleich, mit etwas, das wir schon kennen. So baut sich eins<br />

aufs andere. Aber schließlich muß das einmal aufhören. Es muß letzte Dinge und<br />

Erscheinungen geben, die alles tragen, die nicht erklärt werden können, sondern<br />

die alles andere erklären. Wir wissen nicht von vornherein, auf wieviel solchen<br />

Pfeilern ruhend die Welt sich uns Menschen zeigt, wenn wir sie auf physikalische<br />

Art betrachten. Bis jetzt sehen wir zwei: die Materie als Gravitations- und<br />

Trägheitsträger und die Elektrizität als einen Zustand, dessen Bereitschaft der<br />

Materie tief eingewurzelt ist und<br />

{72}<br />

32 Der elektrische Zustand läßt sich abwischen wie Staub und sozusagen löffelweise umfüllen von einem Ding auf<br />

das andere. Dies deutet schon an, was durch äußerst feine Untersuchungen herausgefunden wurde: Der elektrische<br />

Zustand ist gebunden an die Anwesenheit einer besonderen, ungemein leichten – 2000mal leichter als<br />

Wasserstoffgas! -, alle Wände durchdringenden Materie. Dieser Materie sind Gravitation, Trägheit und elektriche<br />

Kraft eingeboren. - Ich gehe auf diese Begriffe nicht ein. Sie führen allzusehr vom “Offenbaren” ab. Wenn ich<br />

weiterhin vom “elektrischen Zustand” spreche, so widerspricht das nicht der Tatsache einer elektrischen Substanz.<br />

Denn für sie ist die elektrische Kraft eine von Gravitation und Trägheit zwar räumlich unabtrennbare, aber doch<br />

wesentlich verschiedene Naturkraft. (Vgl. Anm. 40.)<br />

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anhaftet. Beide entfalten ihre eigentliche Wirksamkeit erst in der Bewegung.<br />

Und wenn die Überschrift des nächsten Kapitels “Elektrizität und Magnetismus”<br />

heißt, so soll dir das nicht die Hoffnung wecken, als ließe sich unter dem Pfeiler<br />

Elektrizität als tieferes Fundament der Magnetismus aufdecken. Wir können nicht<br />

die Elektrizität durch den Magnetismus erklären, sondern umgekehrt: so wie sie<br />

das Licht trägt, so löst sie auch das Rätsel des Magnetismus.<br />

Abbildung 6. Licht und Elektrizität<br />

Der Stehende bewegt ein geriebenes, also elektrisiertes Stückchen Bernstein<br />

schnell hin und her. Wenn er es dahin bringen könnte, daß die Zahl seiner Hin-<br />

und Herbewegungen in der Sekunde 400 000 000 000 000 erreichte, so würde der<br />

im Dunkeln Sitzende an der Stelle des Bernsteinwirbels eine rote Lichtwolke<br />

erblicken: Licht ist elektrische Schwingung. (S. 66.)<br />

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Elektrizität und Magnetismus<br />

Der Magnet bewegt alles<br />

Die magnetische Kraft ist eine Sache des Eisens. Kann etwas so Besonderes<br />

erklärt werden durch Elektrizität, die wir erkannt haben als ein Allgemeines, in<br />

allen Dingen Wirksames?<br />

Ich habe dich bis jetzt in diesem Glauben gelassen, daß der Magnet aus Eisen sein<br />

muß, und ebenso das, wonach er greifen kann. Das muß auch jeder meinen, der<br />

nicht genau nachforscht. Tut er das aber, so findet er, daß es auch mit Nickel geht<br />

und mit Kobalt (wie Nickel ein dem Eisen ähnliches Metall), wenn auch nicht so<br />

gut. Eisen, Nickel, Kobalt, diese drei können sich gegenseitig vertreten: der<br />

Eisenmagnet zieht auch Kobalt und Nickel an, der Nickelmagnet auch Eisen und<br />

Kobalt und so fort. So stellte sich eine Familie von Stoffen heraus, die dem<br />

Magnetismus ergeben sind, immer noch eine kleine Familie. - Erst als man sehr<br />

starke Magnete bauen konnte (alle aus Eisen), merkte man mit Erstaunen, daß<br />

ganz schwach, aber doch ohne Zweifel alle Stoffe sich in der Nähe solcher<br />

Magnete in Bewegung setzen 33 : Platin, Kupfer, Stein, Papier, Wasser - alles. - Du<br />

bist erstaunt, und auch vieleicht enttäuscht dadurch, denn mit dem Besonderen ist<br />

etwas Geheimnisvolles gefallen. Zugleich aber erfüllt diese Entdeckung auch mit<br />

Bewunderung: die Welt ist wieder reicher und weiter geworden: ohne daß wirs<br />

ahnten, ist alles dem Magneten unterworfen.<br />

Alles kann Magnet werden<br />

Dem Eisenmagneten (allenfalls Nickel oder Kobalt), denn nur aus Eisen lassen<br />

sich so starke Magnete machen. Er wirkt auf alles, nicht nur auf Eisen, und darin<br />

sind nun alle Stoffe dem Eisen gleichgestellt. - Sind sie ihm aber auch darin<br />

ebenbürtig, daß sie selbst fähig sind, Magnet zu werden, fähig also, nicht nur<br />

angezogen zu werden, sondern selbst anzuziehen?<br />

33 Dabei zeigt sich allerdings: es gibt auch Stoffe, die vom Magneten nicht angezogen, sondern von ihm<br />

fortgetrieben werden. Ich habe über diesen Unterschied im Text absichtlich hinweggesehen. Da er für den<br />

Hauptgedanken dieses Buches ohne Bedeutung ist, möchte ich aber nicht verschweigen. Näheres in den<br />

physikalischen Lehrbüchern unter “Diamagnetismus”. Die Erklärung des Diamagnetismus macht keine<br />

Schwierigkeiten.<br />

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Diese Frage erhält sofort Ihre Antwort, sobald man folgendes weiß: Es ist nicht<br />

so, daß der Eisenmagnet den eisernen Nagel “einfach anzieht”. Ehe das beginnen<br />

kann, läuft ein rasches und geheimes Vorspiel ab (vgl. S. 58!). Es besteht darin,<br />

daß erst auch der Nagel schnell zu einem Magneten gemacht wird. Erst dann kann<br />

er nämlich angezogen werden. Denn der Magnet gibt sich nur mit Seinesgleichen<br />

ab. Aber er ist nicht engherzig dabei: wo er es nicht vorfindet, da macht er es<br />

schnell dazu. Wie er das fertigbringt, aus der Ferne Eisen magnetisch zu machen,<br />

und worin diese Veränderung des Eisens eigentlich besteht, das kann erst am<br />

Schluß dieses Kapitels sich klären (S. 87). Halten wir uns jetzt nur an die<br />

Tatsache. - Von ihrer Wahrheit kannst du dich leicht überzeugen: Nimm einen<br />

großen Nagel, der unmagnetisch ist. Andere, kleinere Nägel hält er also nicht fest.<br />

Sobald du ihn aber an einen starken Magneten gehängt hast, kann er es: an seinem<br />

anderen, unteren Ende bleiben kleine Stifte jetzt hängen. Er ist selbst Magnet<br />

geworden durch die Nähe des großen Magneten. Berührung ist nicht unbedingt<br />

notwendig; du kannst Seidenpapier dazwischenklemmen. Und es ist nicht so, daß<br />

der große Magnet den kleinen Stift über den großen Weg, auf so großen Abstand<br />

angezogen hätte: entferne nur den mittleren, den überbrückenden Nagel, und der<br />

kleine stürzt ab.<br />

So geht es nicht nur bei Eisen: alles, was ein Magnet bewegen kann, ist nur<br />

dadurch in seiner Gewalt, daß er vorher es selbst zu einem Magneten gemacht hat.<br />

Wenn also Papier, Kupfer, Erde vom Magneten bewegt werden, so heißt das<br />

zugleich, daß sie selbst auch magnetisch werden können. Und damit ist unsere<br />

Frage beantwortet. Nicht nur ist jeder Stoff der magnetischen Kraft unterworfen,<br />

sie kann auch in jedem ihren Wohnsitz aufschlagen.<br />

Das Grundgesetz<br />

Daß also ein Magnet Eisen anzieht, gewöhnliches, unmagnetisches Eisen, das<br />

scheint nur so, das gibt es gar nicht. Ein Magnet kann immer nur auf einen<br />

Magneten wirken, und das Gesetz dieser Wirkung ist das einzige magnetische<br />

Gesetz.<br />

Es lautet nun aber nicht einfach so: daß zwei Magnete sich immer anziehen. Es ist<br />

etwas verwickelter. Wenn du mit zwei<br />

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Magneten und ein paar Nägeln herumprobierst, findest du zweierlei:<br />

1. Jeder Magnet hat zwei Stellen, an denen er am stärksten ist. Sie liegen<br />

einander gegenüber nahe den Enden. Dort bleiben die Nägel am besten hängen.<br />

Man nennt diese zwei Stellen die “Pole”.<br />

2. Wenn du einen Magneten einem anderen gegenüberstellst - den einen frei<br />

beweglich am besten, auf Kork schwimmend zum Beispiel, oder im Schwerpunkt<br />

aufgehängt, oder auf eine spitze Nadel gesetzt wie im Kompaß -, so wirken auch<br />

hier nur die Pole aufeinander, und außerdem merkst du: Jeder Pol des einen<br />

Magneten findet auf dem fremden Magneten einen befreundeten Pol, mit dem er<br />

sich anzieht, und einen feindlichen, den er abweist, wie er auch von ihm<br />

abgewiesen wird. Und was den Pol angeht, mit dem er auf seinem Magneten<br />

zusammengewachsen ist, seinen Bruderpo1, so hat der den entgegengesetzten<br />

Geschmack: er zieht an (und ihn zieht an) was der Bruder abweist; und<br />

umgekehrt. Es sind also ungleiche Brüder. 34.<br />

Dies ist das magnetische Grundgesetz. Und wie verträgt es sich mit ihm, daß ein<br />

Magnet das Eisen immer anzieht? Müßte er es nicht ebenso oft abstoßen, je<br />

nachdem welchen seiner Pole er dem Eisen gerade zuwendet? Das liegt daran,<br />

daß er das Eisen immer auf Anziehung magnetisiert, daß der dem Eisen<br />

zugewandte Pol, dort im Eisen, ihm gegenüber, immer einen freundlichen Pol<br />

hervorruft. Warum und wie er das macht, das ist sein Geheimnis, das wir zuletzt<br />

auch noch aufklären können (S. 87).<br />

Gegenseitigkeit<br />

Jeder, der zusieht, wie der Nagel auf den Magneten zurollt, zweifelt nicht, daß der<br />

Magnet der Tätige, der Urheber, der Nagel aber nur der Folgsame ist. Um es zu<br />

beschreiben, sagt er also: “Der Magnet zieht den Nagel zu sich heran.”<br />

Und doch ist er im Irrtum. Nur für das Vorspiel hat er recht: da ist der Magnet der<br />

Anstifter. Aber nachher sind die beiden gleichberechtigt. Denn jetzt stehen sich<br />

zwei Magnete gegenüber. Jeder zieht am andern; es ist wie ein Tauziehen am<br />

unsichtbaren Tau. - Wenn dir das nicht glaubhaft scheint, so leg den Magneten in<br />

ein Korkschiffchen aufs Wasser, und<br />

34 Doch nicht feindliche, wie man wohl gefühlsmäßig annehmen könnte. Nur das Experiment kann das<br />

entscheiden. Es besteht darin, daß man den Magneten in der Mitte durchschneidet und die beiden Pole einander<br />

gegenüberstellt: sie ziehen sich an.<br />

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du kannst ihn mit einem Nagel fortlocken, wohin du willst. Er folgt dem Nagel!<br />

Wir sind gewohnt, den Magneten in der Hand festzuhalten, deshalb glauben wir,<br />

das Eisen muß laufen und ist sein Knecht. In Wahrheit sind sie beide untertan der<br />

Kraft, die zwischen ihnen wirkt. Legst du jeden, Eisen und Magnet, auf ein<br />

eigenes Schiffchen, so treiben sie aufeinander los, beide bewegen sich. Nicht<br />

einmal das kann man sagen, daß der (ursprüngliche) Magnet hier über die größere<br />

Kraft verfügt. Newton ließ zwei solche Schiffchen zueinander schwimmen (er<br />

nahm verkorkte Glasröhrchen) und sah: sie lagerten sich aneinander und blieben<br />

dann ruhig liegen. Er schloß daraus: Hätte der Magnet stärker am Eisen gezogen,<br />

als das Eisen an ihm, so wäre das Doppelschliff, der Magnet voran, ewig<br />

weitergefahren. - Es ist also ganz wie bei der Gravitation: Erde und Stein treiben<br />

aufeinander los, beide unter dem Zwang derselben einen Kraft. Nur weil die<br />

Erdkugel so ungeheuer träge ist, ist ihre Bewegung niemals merklich groß genug.<br />

Da muß schon ein so großer Stein kommen, wie der Mond einer ist, um sie von<br />

der Stelle zu bringen. - Was aber bei der Gravitation ganz fortfällt, ist das<br />

Vorspiel. Jeder Stoff muß erst magnetisch gemacht werden, die Gravitation aber<br />

hat er von Anbeginn in sich. Sie kann ihm nicht genommen und braucht ihm also<br />

auch nicht gegeben zu werden.<br />

Vergleich mit der Elektrizität<br />

So bleibt also Magnetismus, auch nachdem er sich als etwas so Allgemeines, aller<br />

Materie Zugängliches zu erkennen gegeben hat, doch ganz wesensfremd der<br />

Gravitation. Aber auch der Unterschied gegen die elektrische Kraft bleibt in<br />

großer Schärfe bestehen. Zwar sind da Ähnlichkeiten: Beides, Elektrizität und<br />

Magnetismus, sind Zustände, in die jeder Körper kommen kann, und in jedem<br />

kann er sich erheben unter dem Einfluß eines Nachbarn, der ihn gleichsam<br />

ansteckt.<br />

Trotzdem kommt es nicht in Frage, daß Elektrizität und Magnetismus einfach<br />

dasselbe wären. Das siehst du schon daran, daß die magnetischen Anführer Eisen,<br />

Nickel, Kobalt für die Elektrizität ganz gewöhnliche Metalle sind, die sich nicht<br />

anders verhalten, wie andere auch. - Den elektrischen Zustand kannst du<br />

abwischen wie Staub, der magnetische<br />

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wohnt auch im Innern der Körper, und erst die Glut vertreibt ihn. - Auf Metallen<br />

kann die Elektrizität zerfließen und sich ausbreiten; magnetische Leiter dagegen<br />

gibt es überhaupt nicht. - Elektrizität kannst du einem Ding soviel aufladen wie<br />

du willst (bis sie, wenn es sehr viel wird, ausbricht und in Funken auf die<br />

Umgebung überspringt). Magnetisieren aber kannst du ein Ding nur auf ein<br />

gewisses Maß. Nicht, daß es überliefe: es nimmt nichts mehr auf, es ist satt<br />

davon. Die Gravitation wieder ist jedem Ding im Maße seiner Trägheit gegeben.<br />

Da kann nicht gesteigert und nicht vermindert werden.<br />

Nein, es sind drei ganz verschiedene Kräfte, und dabei kann derselbe Körper<br />

ihnen allen dreien zugleich unterworfen sein. Stelle zwei Eisenstücke einander<br />

gegenüber: sie drängen zueinander vermöge ihrer Gravitation und in dem Maße<br />

ihrer Trägheit. Mache eines von ihnen elektrisch, und es wird auch in dem<br />

anderen den elektrischen Zustand erwecken und sie werden nun außerdem aus<br />

diesem - elektrischen - Grunde zueinander streben. Mache schließlich das eine<br />

noch magnetisch, so wird es schnell aus der Ferne auch das andere magnetisch<br />

anstecken, und es entspannt sich eine dritte Kraft, die wie die beiden anderen, die<br />

zwei Eisenstücke einander näherbringen will. Alle drei wollen in diesem Fall das<br />

gleiche. Und sind doch so verschieden wie Pferd, Esel und Kuh, obwohl sie an<br />

demselben Wagen ziehen.<br />

Noch einen Unterschied muß ich anführen, der bis jetzt noch nicht wichtig war:<br />

Für die Gravitation gibt es nur Anziehung. Und der Zustand, den ein elektrisches<br />

oder magnetisches Ding in seinen Nachbardingen erregt, ist ebenfalls immer so 35 ,<br />

daß er Anziehung wünscht. Wenn du aber ein elektrisches Ding (oder einen<br />

magnetischen Pol) gleichsam sich selbst gegenüberstellst, indem du es in zwei<br />

Stücke schneidest, so stoßen diese beiden Stücke sich ab!<br />

Das heißt, daß die Körper auf zwei Arten elektrisch sein können: Gehen wir von<br />

einem elektrischen Körper aus, so gibt es für ihn erstens solche, die elektrisch<br />

sind in der Art wie er selbst. (Solche, die z. B. durch Teilung aus ihm<br />

hervorgegangen sind, oder auch solche, die genau auf die Art wie er selbst<br />

elektrisiert worden sind: zwei Bernsteinstücke, beide an demselben Stoff<br />

gerieben, werden “gleichartig elektrisch”.) Die stößt er ab. Zweitens aber gibt es<br />

noch einen anderen (aber<br />

35 Ausnahme: Diamagnetismus (Vgl. Anm. 33.)<br />

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ebenfalls elektrischen) Zustand; das ist der, den jeder elektrische Körper in seiner<br />

Nachbarschaft wachruft, besonders stark, wenn er sich an ihr reibt. Zwei solche<br />

Körper ziehen sich an, man nennt sie “ungleichartig elektrisch”.<br />

Ebenso gibt es zwei verschiedene Arten Magnetpole, wie wir ja schon<br />

besprachen. Nur mit dem Unterschied gegen die Elektrizität, daß sie immer nur<br />

paarweise vorkommen, daß immer zwei ungleiche auf demselben Magneten<br />

zusammengewachsen sind.<br />

So zeigt das Elektrische wie das Magnetische jedes zweierlei Strebung<br />

entgegengesetzter Art. Die Gravitation aber ist einfach und kennt nur Anziehung.<br />

Daher kommt es, daß Elektrizität und Magnetismus geheimer sind als die<br />

Gravitation (Schwerkraft). Ihr zwiespältiges Wesen kann es selten zu einer<br />

offenbaren Wirkung im Großen bringen. Die beiden Strebungen wirken<br />

gegeneinander, eine verbirgt die andere.<br />

So verschieden die drei Kräfte voneinander sind, so haben also doch - wenn man<br />

alles zusammenhält - Elektrizität und Magnetismus eine gewisse, wenn auch<br />

beschränkte Ähnlichkeit miteinander. Sie deutet schon an, was ich dir in diesem<br />

Kapitel jetzt noch zeigen will: daß der Magnetismus sich aus der Elektrizität<br />

allein erklären läßt, so daß schließlich nur zwei Urkräfte übrigbleiben werden.<br />

Allerdings wirst du dabei das Elektrische von einer neuen Seite kennenlernen.<br />

Was Magnetismus ist<br />

Denn der Magnetismus wird sich herausstellen als ein besonderer, neuer<br />

Wesenszug des Elektrischen. Nicht des ruhenden elektrischen Zustandes nämlich,<br />

sondern des bewegten.<br />

Du kennst als Wesenszug der ruhenden Elektrizität den anziehenden (S. 57) oder<br />

abstoßenden (S. 78) - Einstellungszwang. Du kennst auch schon einen Wesenszug<br />

der bewegten: daß sie nämlich, ruckartig tanzend, ähnliche Zuckung in der<br />

Umgebung wachruft (S. 61).<br />

Nun kommt ein neues Merkmal hinzu. Das zeigt der elektrische Zustand, wenn er<br />

weder ruht noch ruckt, sondern wenn er gleichmäßig bewegt wird und bewegt<br />

bleibt (immer neu ersetzt), wenn er “strömt”.<br />

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Am deutlichsten, wenn er im Kreis oder in sonst einer geschlossenen Bahn<br />

herumfließt: Nimm ein elektrisiertes Stück Bernstein und bewege es schnell im<br />

Kreis. Noch ruhiger wird dieser Fluß, wenn du einen Bernsteinring (wie ein<br />

Armband) elektrisch machst und ihn in sich selber kreisen läßt wie ein Rad.<br />

Es zeigt sich dann Folgendes, und das ist die große Entdeckung, die den<br />

Magnetismus mit der Elektrizität in Verbindung setzt: Nimmst du ein Stück Eisen<br />

und hältst es vor dieses Rad, so geschieht etwas Unerwartetes: Es wird<br />

hineingezogen wie in einen Strudel! Es strebt in die Öffnung, die der Ringstrom<br />

umkreist, wie die Hand in den Ärmel, wie der Löwe in den Ring springt (Abb. 10, S.<br />

91). Hat es die Mitte des Rades, die Achse, erreicht, so bleibt es dort ruhen. Auch ist<br />

es nun ein Magnet geworden. Kurz: der elektrische Rundstrom wirkt auf das Eisen<br />

(und ebenso auf alles andere!) nicht anders als ein “richtiger” Magnet 36 . Das Eisen<br />

“merkt” gar nicht, daß da nur ein elektrischer Kreisel ist. (Nicht der Bernstein als<br />

Stoff ist wesentlich; es kann auch etwas anderes sein. Wichtig ist nur, daß etwas da<br />

ist, das die Elektrizität mitnimmt.)<br />

Alle Welt kannst du täuschen mit diesem künstlichen Magneten, dieser Nachahmung<br />

eines Magneten. Verstecke den elektrischen Kreisel in eine Pappschachtel - ein<br />

kleiner geräuschloser Motor muß auch hinein -, streiche sie eisengrau an, und sage,<br />

das sei ein Magnet. Ein sehr kurzer, flacher - allerdings. Willst du einen richtigen,<br />

langen Stabmagneten nachmachen, so nimm statt des Ringes eine Röhre. Dann ist<br />

die Täuschung vollkommen. Die Pappschachtel ist von einem richtigen Magneten in<br />

keiner Weise zu unterscheiden. Sie hat zwei Pole: ihre beiden Stirnflächen, die die<br />

Öffnungen der Röhre verbergen. Sie zieht Eisen an und wirkt auch auf alle anderen<br />

Stoffe je nach ihrer Art. Außerdem zeigt sich: Zwei solche elektrische Kreisel<br />

verhalten sich auch zueinander wie Magneten, das heißt nach der Vorschrift, daß<br />

derselbe Pol der einen Rolle zu den beiden Polen der anderen Rolle entgegengesetzte<br />

Strebungen zeigt; den einen zieht er an, den anderen drängt er ab.<br />

Der elektrische Kreisel, Wirbel, oder wie wir es nennen wollen, ist also in seinen<br />

Fähigkeiten von einem Magneten nicht zu unterscheiden! Und wenn wir nicht<br />

gewohnt wären, den Namen “Magnet” immer nur einem ruhenden, massiven,<br />

36 Wer diesen Versuch etwa wirklich in dieser Weise selbst machen will, wird keinen Erfolg sehen, da die<br />

Rotation sehr schnell und das beeinflußte Eisen sehr leicht beweglich aufgehängt sein muß. Aber das Experiment<br />

ist wirklich auszuführen und ausgeführt worden. Man läßt eine elektrisch geladene Scheibe vor einer<br />

empfindlichen Kompaßnadel sehr rasch rotieren. (Vgl. H. W. Pohl, Einführung in die Elektrizitätslehre, 4. Aufl.,<br />

Berlin 1935, S. 68.) - Viel stärker ist der Erfolg bei einer scheinbar ganz andersartigen Anordnung: Verbindet man<br />

die “Pole” einer gewöhnlichen elektrischen Steckdose (“Gleichstrom”) durch einen Metalldraht (Vorsicht,<br />

Kurzschlußgefahr), so hat dieser Drahtkreis auf Eisen dieselbe Wirkung wie der rotierende Ring aus elektrisiertem<br />

Bernstein. Die Wirkung ist nur viel stärker. Sie ist aus vielen technischen Anwendungen allgemein allgemein<br />

bekannt. (Elektromagnet) Da dieser Drahtkreis aber ruht, so muß man annehmen, daß in ihm “die Elektrizität”<br />

strömt, sie allein (Anm. 32), ohne einen gewöhnlichen materiellen Träger, wie das der Bernstein war. Dies ist<br />

einer der wichtigsten Gründe - nicht der einzige -, der uns veranlaßt, zu sagen, das, was in dem Draht geschehe,<br />

sei ein elektrischer “Strom”.<br />

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womöglich eisernen, Ding zu geben, so möchten wir geradezu sagen: der<br />

elektrische Kreisel ist ein Magnet!<br />

Als eine Gewohnheit des Sprechens könnten wir sie leicht annehmen. Wenn wir<br />

aber auch Ernst machen wollen mit dem Sinn dieses Satzes: “Der elektrische<br />

Kreisel ist dasselbe wie ein Magnet”, so dürfen wir nicht davor erschrecken, daß<br />

er dann auch umgekehrt richtig sein müßte. Der Magnet, jeder Magnet, auch der<br />

gewöhnliche, der eiserne, ist ein elektrischer Kreisel!<br />

Kann das sein? Soll das heißen, daß jeder Magnet insgeheim umschlungen ist von<br />

einem elektrischen Strudel, in dem die Elektrizität herumfährt, sie selbst, ohne<br />

körperlichen Träger, und unaufhörlich?<br />

Nicht ganz das kann es bedeuten. Denn man hat gefunden: wenn ein Magnet in<br />

Stücke geschlagen wird, so ist jeder seiner Trümmer wieder ein fertiger kleiner<br />

Magnet. Und alles, was wir sonst beobachten, spricht dafür, daß diese kleinen<br />

Magnete nicht erst durch den Schlag entstehen, sondern vorher schon im großen<br />

Muttermagneten verborgen saßen, alle ordentlich gleichgerichtet, wie die Fahnen<br />

im Wind, wie die Fische im Fluß, so daß sie ihre kleinen Kräfte zusammentaten<br />

und so die große Kraft bildeten, die von dem Muttermagneten ausging.<br />

Wir können also nur dies annehmen, und diesen Schluß müssen wir ziehen: daß<br />

die kleinsten Körnchen, aus denen ein Magnet aufgebaut sein mag, und in die er<br />

zerteilt werden kann, elektrische Kreisel in sich oder um sich haben, alle im<br />

leichen Sinne drehend, alle gleichgerichtet. Wenn du das aufzeichnest, siehst du,<br />

daß im Innern die<br />

Abb. 7<br />

Ströme gegeneinander kreisen und nur außen sich helfen und dort zusammen<br />

soviel wert sind wie ein einziger großer Kreisstrom um den Magneten herum.<br />

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Ergänzungen<br />

So also hängen Elektrizität und Magnetismus zusammen. Und dadurch ist der<br />

Magnetismus aus der Welt geschafft. Er hat seine Selbständigkeit aufgegeben und<br />

ist eine Provinz geworden im Reiche des Elektrischen.<br />

Und wie immer, wenn etwas wegerklärt ist, tut sich ein neuer Ausblick auf. Wir<br />

sind “hinter” den Magnetismus gekommen. Aber, was wir hinter ihm gefunden<br />

haben, ist nicht etwa eine beruhigende Leere, sondern erstaunliche Neuigkeiten<br />

sind zum Vorschein gekommen. Und zwar folgende zwei:<br />

a) Elektrische Kreisel wirken aufeinander, anziehend oder abstoßend. Sie sind in<br />

ihrer Wirkung von Magneten nicht zu unterscheiden.<br />

b) Das Innere eines “wirklichen” Magneten - aus Eisen z. B. - muß erfüllt sein<br />

von unzähligen gleichgeordneten und gleichgerichteten solcher elektrischen<br />

Wirbel. Und eben ihre vereinigte Wirkung ist es, die wir als “magnetische” Kraft<br />

des Ganzen kennen.Nun sind aber diese beiden Einsichten noch nicht ganz klar.<br />

Da ist noch manches, was du fragen könntest, und was ich noch nicht gesagt<br />

habe.<br />

Zu a)<br />

Der dritte Wesenszug des Elektrischen.<br />

Jeder .”künstliche” Magnet hat zwei Pole. Am deutlichsten sind sie - in einem<br />

langen künstlichen Magneten, einer sich drehenden elektrischen Rolle also. Jedes<br />

Ende der Rolle ist ein Pol. Und wenn du zwei solche drehenden Rollen hast, so<br />

siehst du an ihnen Anziehung oder Abstoßung, je nachdem welche Enden, welche<br />

Pole du zusammenbringst. Und was ich nun noch nicht gesagt habe, das ist,<br />

welche Enden sich befreundet zeigen, und welche sich abstoßen. Das ist nun sehr<br />

einfach: Denke dir beide Rollen auf denselben Stock als Achse gesteckt und beide<br />

im gleichen Sinne sich drehend. Dann ziehen sich die Rollen an (ihre einander<br />

zugewandten Enden ziehen sich an). - Nun stecke die eine Rolle um! Sie soll<br />

dabei ruhig weiter kreiseln. Nach dem Umstecken kehrt sie nun das andere Ende<br />

als zuvor der zweiten Rolle zu, das heißt die zwei Rollen drehen sich jetzt in<br />

entgegengesetzter Richtung. Dann stoßen sie sich ab!<br />

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Sind es statt der langen Rollen nur Stromringe, Stromkreise, sind also die<br />

künstlichen Magnete sehr flach, so ändert das nichts und du hast folgendes <strong>Bild</strong>:<br />

Und so, in diesem <strong>Bild</strong>, zeigt sich, wie wir den<br />

Tatbestand am reinsten ausdrücken können, ganz in<br />

der Sprache der Elektrizität (denn von Polen zu reden<br />

ist jetzt nicht mehr nötig). Damit haben wir den<br />

Kernpunkt des ganzen “Magnetismus”: Elektrische<br />

Kreisströme (Wirbel, Kreisel), wenn sie in gleicher<br />

Richtung nebeneinander her fließen, ziehen sich an.<br />

Wenn sie aber gegeneinander laufen, so stoßen sie<br />

sich ab. (Je schneller das Strömen, desto heftiger ist<br />

übrigens die Wirkung.)<br />

Das ist jetzt nur noch eine rein elektrische Angelegenheit. Und fragst du: Warum<br />

ist das so? Warum wollen gleichlaufende elektrische Ströme sich vereinigen, und<br />

warum fliehen sie sich, wenn ihre Richtungen sich widersprechen? Man könnte<br />

sagen: Was einig ist, will ganz einig werden, das Widersprechende ganz sich<br />

trennen. Aber das wäre keine Begründung, sondern nur eine gleichnishafte Form,<br />

es sich zu merken. Der Physiker sucht härtere Begründungen, nachprüfbare; und<br />

er muß dir antworten, daß er keine weiß. Er kann nur sagen: Es ist so! Es ist ein<br />

neuer, dritter Wesenszug des Elektrischen, der sich hier aufgetan hat.<br />

Er ist nicht auf die beiden anderen Wesenszüge zurückzuführen; aber es ist<br />

merkwürdig, wie er sich fügt zu dem ersten, dem Wesenszug der ruhenden<br />

Elektrizität: Denke dir zwei Bernsteinringe, beide elektrisch gemacht [und zwar<br />

beide auf dieselbe Art (S. 78), so daß sie also gleichartig elektrisch sind] und<br />

einander ruhend gegenübergestellt. Sie stoßen sich dann ab, wie irgend zwei<br />

Dinge, die auf gleiche Art elektrisch sind. Fangen nun aber beide an, sich im<br />

gleichen Sinne zu drehen, gleichmäßig und beide gleich schnell, so keimt der<br />

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dritte Wesenszug auf, und, je schneller sie kreisen, desto heftiger entwickelt er<br />

eine Anziehung, die die ursprüngliche Abstoßung vermindern und schließlich<br />

sogar aufheben kann.<br />

Zu b).<br />

Die kleinen elektrischen Kreisel.<br />

Diese vielen elektrischen Kreisel im Innern des Magneten: Kann man daran<br />

glauben? Ist das nicht eine große Zumutung? Wie kommen sie da hinein? Was<br />

soll nicht alles vor sich gehen in dem massiven Innern der Materie, das doch für<br />

unsere unmittelbare Anschauung ein undurchdringliches Dunkel bleibt. Da ist<br />

zuerst die körperliche innere Unruhe, die Wärme, dann die elektrischen<br />

Zuckungen aller Schnelligkeiten, die für unsere Augen das Leuchten sind und die<br />

auch die Wärme über den Raum senden, und nun im Eisen und anderen noch<br />

diese Kreisel.Wenn sich freilich herausstellen würde, daß diese Kreisel nicht als<br />

eine neue, dritte zu den beiden ersten Quellen der Unruhe hinzukäme, sondern mit<br />

ihnen zusammenhänge, dazu paßte, vielleicht sogar ihre notwendige Ergänzung<br />

wäre: dann würde sie nicht eine neue Verwirrung bedeuten, sondern eine Stütze.<br />

Eines würde das andere stützen.<br />

Und so ist es. Die Kreisel und die Zuckungen, beide elektrisch, sie sind nicht<br />

zweierlei, sie sind dasselbe! Das ist so zu verstehen:<br />

Mit “Zuckung” meinten wir eine Hin- und Her-, mit “Kreisel” eine Rundherum-<br />

Bewegung der Elektrizität. Das ist nun zwar nicht ganz dasselbe, aber: fahre mit<br />

der Fingerspitze um den Rand eines Tellers herum und blicke dabei nicht auf das<br />

Tellerrund, sondern sich den Teller von der Seite an, vom Rande her, so daß du<br />

seine Fläche gar nicht siehst, dann ist die Kreisbewegung deines Fingers für dich<br />

ein Hin und Her geworden. Und zwar gleichgültig, von welcher Seite her du den<br />

Rand betrachtest. Von diesem Gesichtspunkt aus ist also das Kreisen zugleich ein<br />

Zucken. Nicht ein Zucken in einer bestimmten Richtung und zurück, sondern ein<br />

Zucken in allen Richtungen nacheinander, die in einer ebenen Fläche liegen.<br />

Wir brauchen also nur anzunehmen, daß die Elektrizität, die in den kleinen<br />

“Sendern” hin und her zuckt, das in der Weise tut, daß sie im Kreis herumfährt.<br />

Dann können wir sie erstens für das Leuchten verantwortlich machen - weil sie<br />

zuckt - und zweitens hat sie auch die sogenannten magnetischen Kräfte auf dem<br />

Gewissen -, weil sie kreiselt.<br />

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Das klingt vielleicht nur wie ein Gedankenspiel. Es ist möglich so, aber ist es<br />

wirklich? Ich kann dir nicht die vielen anderen Beobachtungen auseinandersetzen,<br />

die - alle einmütig zusammen - dem Forscher keine andere Wahl lassen, die ihn<br />

zwingen, sich so etwas wie elektrische Kreisel, Wirbel vorzustellen - wenn er sich<br />

überhaupt etwas vorstellen will. Diese Beobachtungen liegen in sehr verborgenen<br />

Winkeln der Natur. Die sind nur mit vielen Vorbereitungen zu eröffnen, und<br />

deshalb kann ich dich nicht an sie heranführen.<br />

Das Gleichnis des kleinen Brummkreisels (S. 68) war also recht passend. Aber es<br />

müssen bei den meisten Stoffen vielfältige, tausendfältige Kreisel, es müssen sehr<br />

verwickelte Wirbel sein, und für jeden Stoff muß die Verwickelung eine andere<br />

sein. Es ist als hätte ein jeder Wirbel viele elektrische Ringe, als wäre er ein<br />

ganzes Nest von Kreiseln. Jeder dreht sich in einer anderen Tourenzahl. Und alle<br />

zusammen wirken den Lichtakkord, der dem Stoffe eigen ist, der solche Nester<br />

hat.<br />

Einwände und Antworten<br />

Aber haben wir uns nicht zu weit treiben lassen? Müßte dann nicht jeder Magnet<br />

leuchten? Und müßte nicht alles Leuchtende - nicht nur Eisen - auch magnetisch<br />

sein?<br />

Das wäre nicht richtig gedacht:<br />

1. leuchtet ja doch wirklich jeder Magnet immerzu, wenn auch nicht sichtbares<br />

Licht, so doch Wärme. Das tut ja jedes Ding, solange es noch Wärme in sich hat<br />

(S. 69).<br />

2. Die zweite Frage ist schon ernster. Wir wissen ja zwar, daß nicht nur Eisen,<br />

sondern tatsächlich alte Stoffe magnetisch sind. Aber wie kommt es dann, daß sie<br />

es so wenig sind, und Eisen, Nickel, Kobalt so übermäßig?<br />

Das läßt sich so verstehen, daß die Sender, die Brummkreisel, die Wirbelnester<br />

aus ihren einzelnen Ringströmen folgendermaßen aufgebaut sind:<br />

Denke dir Faßreifen gleicher Größe, und stecke sie so ineinander, daß sie das<br />

Gerüst einer Kugel bilden. Und dabei sollen sie sich gleichmäßig auf die Kugel<br />

verteilen, ein Netz machen von annähernd gleichen Lücken; und auch in der<br />

Richtung ihres Fließens soll keine Ordnung und Überein-<br />

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stimmung sein. Wenn man sich auf diese Weise den kleinen elektrischen Sender,<br />

den Brummkreisel, gebaut denkt, dann ist zwar jeder, einzelne seiner Ringe ein<br />

Magnet, das ganze Nest aber nicht (oder fast nicht), denn die einzelnen Ringe<br />

unterstützen sich nicht, sie widersprechen sich, das ganze kugelige Knäuel hat<br />

keine “Pole” mehr. Ein Stoff, der solche kugelig abgeschlossenen Wirbelnester in<br />

sich hat, kann nicht magnetisch sein.<br />

Ist aber die Ordnung nicht mehr so kugelrund, liegen die Ringe mehr flach<br />

ineinander (wie die Topfringe auf dem Herd), bilden sie mehr eine Scheibe als<br />

eine Kugel, und stimmen auch die Stromrichtungen zusammen, so ist auch das<br />

Ganze ein Magnet, weil er eine Hauptebene hat. Und der Stoff, der solche Sender<br />

hat, der müßte darin zum Magnetismus fähig sein. Zwischen Kugel und Scheibe<br />

gibt es viele Übergänge, so daß wir uns vorstellen können, wie es kommt, daß<br />

manche Stoffe wenig, manche stark magnetisch werden können 37 .<br />

Dies alles sind <strong>Bild</strong>er. Sehen kann das niemand. Aber wenn wir uns überhaupt<br />

etwas vorstellen wollen 38 , so sind wir durch die Natur gezwungen, uns ein solches<br />

<strong>Bild</strong> zu machen.<br />

Was ist “Magnetisch Machen”?<br />

Aber nun ist noch etwas nicht in Ordnung. Etwas ganz Einfaches, Anfängliches<br />

ist noch nicht geklärt: es gibt gewöhnliches Eisen, und es gibt magnetisches. Was<br />

ist der Unterschied? Was geht vor im Eisen, wenn es “magnetisiert” wird?<br />

Du erinnerst dich (S. 81), daß in einem magnetischen Stück Eisen die kleinen<br />

Magnete (die Sender, die Brummkreisel also) alle schön geordnet liegen müssen,<br />

wie die Fahnen im Wind, alle ausgerichtet, wie die Teller im Schrank. Diese<br />

Ordnung herstellen, das muß das “Magnetisieren” sein!<br />

In einem unmagnetischen Stück Eisen müssen also die Brummkreisel alle<br />

durcheinanderliegen. Jeder hält seine Hauptebene anders, wie Haferflocken im<br />

Sack. Und wie ein Menschenhaufe nichts Gemeinsames schaffen kann, wenn<br />

jeder einzelne tut, was er will, so ist auch dieses Stück Eisen im ganzen<br />

wirkungslos. Es hat wohl die magnetischen Kräfte in sich, aber sie zersplittern<br />

und widersprechen sich. - Und nun kommt ein großer fremder Wille, ein<br />

wirklicher Magnet, einer,<br />

37 Das ist eine vereinfachte Darstellung. In Wahrheit ist diese Gestalt den kleinsten Eisenteiletien - wie sie im<br />

Eisendampf locker verteilt zu (lenken sind - nicht eigentümlich, denn Eisendampf wird kaum magnetisch. Sondern<br />

es ist bei Eisen so, daß erst im flüssigen und festen Zustand sich mehrere benachbarte Sender in einer Art<br />

gemeinsamer Verkrampfung zu Gruppen zusammentun, in denen eine Drehebene überwiegt. (Vgl. Pohl, EI.-<br />

Lehre, 4. Aufl., S. 105.)<br />

38 Ob wir freilich verlangen dürfen, daß alles anschaulich sich müsse vorstellen lassen, auch das, was nie wirklich<br />

angeschaut werden kann, das ist eine Frage, über die man immer nachdenklicher geworden ist. (Vgl. Anm. 30 und<br />

S. 101.)<br />

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in dem Ordnung ist, in die Nähe dieses Eisens. Er ist wie ein großer mächtiger Kreisstrom.<br />

Gegenüber, im Eisen, findet er viele kleine, ohnmächtige Kreisströme vor. Auf jeden von ihnen<br />

dringt sein Befehl ein: das dritte Wesensgesetz des Elektrischen. Es verlangt: daß solche<br />

Ströme - oder Stromteile -, die dem fremden, großen Kreisstrom gleichgerichtet sind, sich ihm<br />

nähern, und solche, die entgegengesetzt laufen, sich entfernen. Was geschieht also?<br />

Unter den vielen ungeordneten durcheinanderliegenden Kreiseln des Eisens wird es nur wenige<br />

geben, die zufällig zu dem fremden Kreisstrom gerade genau parallel stehen, also - je nach<br />

ihrer Richtung -, einfach zu ihm hin -, oder von ihm weggezogen werden. Wir brauchen uns um<br />

sie nicht zu kümmern, auch deshalb nicht, weil sie diesem Zug oder Druck ja nicht folgen<br />

können. Sie sind ja eingekeilt zwischen die anderen und können nicht wandern. Sie hätten<br />

höchstens die Freiheit, sich zu drehen. Dazu haben sie aber keine Veranlassung.<br />

Aber die anderen - die meisten also, fast alle -, die mehr oder weniger quer zu dem fremden<br />

Kreisstrom stehen -, was spüren die von dem Befehl? - Wir müssen dazu eine Skizze machen.<br />

Ich habe den deutlichsten Fall gezeichnet, daß nämlich ein kleiner Kreisel im Eisen, abcd, so<br />

quer wie möglich steht, ganz senkrecht also, zu dem fremden großen Kreisstrom ABCD.<br />

Dann erhält, wie du gleich sehen<br />

wirst, abcd von ABCD keinen<br />

einheitlichen Befehl. Die Gegend<br />

um a spürt z. B.gar nichts, denn<br />

sie ist zu keiner Stelle des<br />

Stromes ABCD gleich- und auch<br />

zu keiner entgegengerichtet. B<br />

dagegen hat Gleichstrom mit B<br />

und Gegenstrom zu D,wird also<br />

zu B hin- und zu-gleich von D<br />

weggetrieben. Beide Antriebe<br />

zusammen werden - in unserer<br />

Figur -<br />

b nach vorn bewegen. Wenn du entsprechend für d überlegst, so findest du, daß es von B und D<br />

gemeinsam nach hinten<br />

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gedrängt wird. b und d sind also darin einig, ihren kleinen Kreisel abcd zu drehen,<br />

zu kippen, und zwar um die Achse ac.<br />

Das Ergebnis dieser Drehung ist, daß nun der Strom überall gleichgerichtet ist.<br />

Und du kannst dich leicht davon überzeugen, daß das zuletzt immer so<br />

herauskommt, auch dann, wenn der Strom in abcd oder in ABCD anders herum<br />

fließt als in der Figur gezeichnet ist. – Und auch dann, wenn er zu Anfang nicht<br />

genau senkrecht zu ABCD stand.<br />

So geht also ein Ruck durch all die kleinen Brummkreisel im Eisen, wenn der<br />

große Magnet in die Nähe kommt. Sie drehen sich alle solange, bis die<br />

Elektrizität in ihnen in demselben Sinne kreist, wie in dem fremden Kreisstrom.<br />

Das kostet Mühe, es ist nicht leicht, sich im Gedränge umzudrehen, und man hat<br />

auch ein feines Geräusch dabei aus dem Eisen kommen hören. Aber wenn es allen<br />

gelungen ist, so ist das Eisen nun auch ein Magnet geworden, so viel wert wie ein<br />

großer Kreisstrom. Der fremde Wille hat die kleinen Kreisel zur Einigkeit<br />

gezwungen. Dem Erwecker steht nun ein Ebenbürtiger gegenüber. Gegenseitig<br />

ziehen sie sich an. Warum? – Weil gleichlaufende Stöme zueinander müssen.<br />

“Magnetismus” sagten die Menschen, bevor sie das wußten.<br />

Der Verlust des Magnetismus<br />

Mancherlei verstehen wir nun: daß das Magnetisieren einmal ein Ende hat (S. 78)<br />

– wenn nämlich alle Kreisel gedreht sind -, daß das Eisen ein wenig warm wird<br />

beim Magnetisieren; und noch etwas, eine sehr merkwürdige Erscheinung, die<br />

fast alles verbindet, was wir über die verschiedenen Naturkräfte erfahren haben:<br />

Einen Nagel mache magnetisch und dann laß ihn liegen, allein weit weg von allen<br />

Magneten. Dann schwindet ihm seine Kraft! Er wird allmählich wieder ganz<br />

gewöhnliches, ohnmächtiges Eisen.<br />

Das bedeutet doch, daß die kleinen Sendekreisel wieder in Unordnung kommen,<br />

daß es aus ist mit der gemeinsamen Ausrichtung, sobald der zwingende Befehl<br />

von außen nicht mehr gegenwärtig ist. Wie bei einer Schulklasse, wenn der<br />

Lehrer fortgegangen ist.<br />

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Wir verstehen es also ganz gut. Aber seltsam bleibt, daß die Auflösung der<br />

Ordnung von selbst geschieht. Man könnte ja einsehen, daß die Ordnung sich<br />

lockerte, wenn an ihr, an dem Stück Eisen gerüttelt würde. Aber es liegt ganz still<br />

da, die innere Ausrichtung wird, wie es scheint, durch nichts beansprucht, gar<br />

nicht auf die Probe gestellt. Daß die führerlosen Sendewirbel jetzt leicht zu stören<br />

sind, ist klar; aber was stört sie und bringt sie durcheinander? Sind sie wie die<br />

Schulknaben, geht es ihnen gegen die Natur, stille zu halten, haben sie Lust<br />

umherzuspringen?<br />

Allerdings müssen sie springen! Und das ist uns nicht einmal etwas Neues. Wir<br />

kennen ja die innere Unruhe, die immerwährende, die Brownsche, die<br />

Wärmebewegung. Sie ist ein Feind aller Ordnung, sie muß die Kreisel wirr<br />

durcheinander werfen. Sie muß schuld sein am Erlöschen der magnetischen Kraft,<br />

und so finden wir hier aufs Neue ihre Spur und Bestätigung.<br />

Aber du zögerst vielleicht und meinst: dann müßte ja jeder Magnet eiskalt sein,<br />

innerlich festgelegt und kaltgestellt? Und das ist er ja nicht -. Aber sieh dir die<br />

Köpfe einer Schulklasse an, einer nicht besonders braven, aber wenn der Lehrer<br />

da ist. Dann halten sie die Gesichter zwar alle ziemlich nach vorn, und doch sind<br />

sie unruhig. Sie sehen vorne hin und her, welche sehen zur Decke, andere nach<br />

unten, mancher zum Fenster hinaus, und einige drehen sich sogar für kurze Zeit<br />

einmal um. So ist die Wärmebewegung im Magnete. Die Sendekreisel zittern<br />

zwar, aber sie schwanken um immer dieselbe mittlere Lage, und die ist allen<br />

gemeinsam. Es ist eine geordnete Unruhe im Magnete, mühsam geordnet und<br />

immer bereit, überzugehen in die ganz ungeordnete des gewöhnlichen Eisens.-<br />

Wir können die Probe darauf machen, ob es richtig ist, daß die innere<br />

Wärmebewegung schuld ist am Verfall der magnetichen Kraft. Dadurch, daß wir<br />

künstlich nachhelfen, durch Hitze. Tue das: halte den Magneten ins Feuer, und du<br />

wirst sehen, daß er seine Macht in der Glut sofort und ganz verloren hat!<br />

So stimmen also zusammen: die Vorstellungen, die wir uns vom Magneten<br />

machen mußten, mit denen, die wir früher für das Wesen der Wärme als<br />

notwendig erkannten. Beide Vorstellungen sind unabhängig voneinander<br />

entstanden aber so<br />

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zeigt nun etwas, wozu sie beide passen. Eine stützt die andere. In unserer Brücke:<br />

Bewegung - Wärme - Licht - Elektrizität - Magnetismus zeigt sich eine<br />

Querversteifung, die sie noch sicherer und tragfähiger macht. Solche<br />

Verbindungen gibt es viele, aber wenige sind so leicht zu sehen wie diese.<br />

So strömen angesichts dieses bescheidenen Vorgangs, wenn wir uns nur<br />

Gedanken über ihn machen, fast alle <strong>Bild</strong>er in uns herbei und zusammen, die wir<br />

uns vorstellen mußten, um ein Band zu finden, das die ganze Natur<br />

zusammenhält. Es ist ein kleines, ein armseliges Experiment. Aber das Ganze<br />

unserer Naturanschauung steht hinter ihm und um es herum, und gibt ihm Halt<br />

und seinen Ort im Ganzen. Kann man deutlicher einsetzen, daß dem<br />

Naturforscher die Welt nicht stumm wird, nicht grau und leer, sondern, im<br />

Gegenteil, reicher und erfüllter?<br />

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Abbildung 10. Elektrizität und Magnetismus<br />

Der Mann führt ein Stück geriebenen, also elektrisierten Bernsteins schnell im<br />

Kreise herum. Ein Stück gewöhnliches Eisen wird dann in diesen Wirbel<br />

hineingesaugt: ein elektrischer Kreisstrom ist das gleiche wie ein<br />

Magnet. (S. 80.)<br />

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Die Brücke<br />

Rückblick<br />

Die Brücke, die wir bauen wollten, steht nun fertig da 39 .<br />

Seßhafte Wärmestrahlung<br />

Wärme χ Lichtstrahlung<br />

Töne Magnetismus<br />

Schwere Elektrizität<br />

träge Materie in<br />

in Bewegung χ Bewegung<br />

Sie ist fertig, denn nun verbindet sie alle großen Naturkräfte. Du könntest noch fragen<br />

nach dem, was die scharfen Bauten der Kristalle formt, und nach den chemischen<br />

Kräften, die, wie Liebe und Haß, die Stoffe zueinander oder voneinander treiben. Diese<br />

Kräfte gehören zum Reich des Elektrischen, das überall in der Materie verborgen sitzt.<br />

Ich begründe das nicht, ich berichte es nur. Denn ich will in diesem Buche nicht noch<br />

tiefer ins Innere und Kleinste der Materie eingehen, als unser Weg dich schon führen<br />

mußte.<br />

Als Letztes bleibt nun, daß wir sehen, ob die Brücke trägt. Wie ihre Fundamente sind,<br />

und ob sie ohne Lücken ist und ohne Risse.<br />

Sie steht auf zwei Pfeilern.<br />

Links der Pfeiler Materie. Wir kennen sie, wir glauben sie zu kennen, die Mutter alles<br />

Wahrnehmbaren, durch alle Sinne zu uns sprechend, von allein was die Welt uns bietet,<br />

das Begreiflichste”. Fester Boden für diese Brücke. Und doch geheimnisvoll gerade in<br />

der Eigenschaft, die sie kennzeichnet, dem rätselhaften Zwilling Trägheit-Gravitation.<br />

Gegenüber: die Elektrizität. Nicht vertraut, nicht faßbar, durch Jahrtausende den<br />

Menschen nur im Blitz sich ankündend, bis man das Licht als von ihrer Art erkannte<br />

und sie selbst überall verborgen entdeckte. Wir wissen nicht, was sie<br />

39 Wer die Physik kennt, wird in diesem Buch vielleicht den Begriff der Energie vermissen, zumal durch ihn<br />

ebenfalls eine alle Naturkräfte verbindende Brücke gebaut ist. Ich habe mich nach einigem Schwanken<br />

entschlossen, ihn hier nicht aufzunehmen. Die Art des Zusammhangs, die durch das Energieprinzip ausgedrückt<br />

ist, ,;scheint mir eine andere zu sein als diejenige, die in diesem Buche dargestellt wird. Das Prinzip sagt aus, daß<br />

alle Kräfte Massenbewegende sind, und daß in dieser ihrer Raum und Zeit bewältigenden Wirkung eine<br />

unveränderliche Größe - ursprünglich Kraft mal Weg regelnd auftritt. Sie stellt dadurch einen quantitativen, aber<br />

gleichsam anonymen und leeren Zusammenhang her, der das Wesen der verschiedenen Naturkräfte umgeht. (Die<br />

Gleichung 427 mkg = 1 Cal ist nicht ausreichend, das Wesen der Wärme als einer Molekularbewegung zu<br />

erkennen.)<br />

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ist, sonst wäre sie nicht Fundament, sondern unter ihr läge noch ein anderes<br />

zugrunde, das, woraus sie zu verstehen wäre.<br />

Die schwer-träge Materie kann nicht ruhen. Im Großen nicht, und auch im Innern<br />

lebt, unmittelbar nur als Wärme empfindbar, sonst unsichtbar, ein geheimes,<br />

ewiges Zittern, Rest und Zuflucht ehemals grober Bewegung. Diese<br />

Wärmeunruhe greift durch Stoß aufs Kältere über, wo es unmittelbar angrenzt.<br />

Daß es auch den leeren Raum überwindet, liegt daran, daß überall im Innern der<br />

Materie die Elektrizität wohnt, und zwar in sehr geregelter, schneller, zuckender<br />

Bewegung. Die Wärmebewegung der Materie ist ein unfehlbarer Antreiber dieser<br />

Schwingungen. Nun hat nach dem zweiten Wesensgesetz der Elektrizität jeder<br />

elektrische Tanz die Kraft, auch jenseits des leeren Raumes auf alle andere<br />

Elektrizität ansteckend zu wirken. Wird hier der Tanz wilder, so auch drüben, und<br />

dort bringt er wieder seinen materiellen Träger, in dem er wohnt, in verstärkte<br />

Unruhe, so daß er wärmer wird. Auf diesem Wege greift die materielle Unruhe<br />

über den leeren Raum, mit Hilfe der elektrischen Zustände, die sie schwingend<br />

bevölkern. - Daß diese elektrischen Schwingungen - die uns Wärmestrahlung<br />

und, von einer gewissen Schnelligkeit an, unseren Augen Licht senden - in<br />

Kreisen (Wirbeln) vor sich gehen, dafür zeugt die an manchen Stoffen<br />

hervortretende, in allen schwach bereite Eigenschaft des Magnetismus, in dem ein<br />

anderes Wesensgesetz (S. 83) des Elektrischen sich äußert.<br />

Ich habe dich noch einmal über die Brücke geführt, damit du prüfen kannst, wie<br />

sie trägt. Wenn du es genauer bedenkst, wirst du mir wohl zustimmen, daß sie<br />

zwei schwache Stellen hat. Auf Seite 92 sind sie durch x bezeichnet.<br />

Materie und Elektrizität<br />

Eine schwache Stelle liegt nicht auf dem Brückenbogen selbst, sondern unten,<br />

zwischen den Fundamenten. Da - wie wir gesehen haben - die Elektrizität aufs<br />

engste in die Materie eingebaut und mit ihr verbunden ist, so fragt es sich, ob die<br />

beiden Fundamente, so weit sie auch in unserem <strong>Bild</strong>e auseinanderstehen, nicht<br />

noch eine - gleichsam unterirdische Verbindung haben. In welcher Art sind sie<br />

ihrem Wesen nach und auch im Raum miteinander verbunden?<br />

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Das Merkwürdige ist, daß das Innere der Materie so anders sein muß, als es<br />

unserer unmittelbaren Anschauung erscheint: Nicht still und dicht und ruhig,<br />

sondern fiebernd, rastlos durchzuckt von ewiger Bewegung. Merkwürdig, daß wir<br />

dies alles zwar unmittelbar keinesfalls jemals werden sehen oder fühlen können,<br />

daß wir aber doch gezwungen sind, es uns auszudenken und daran zu glauben,<br />

wenn wir uns nur folgerichtig unsere Gedanken machen über das, was wir<br />

allerdings mit Augen sehen und was für unsere Sinne offenbar ist. Mit<br />

Notwendigkeit führt uns das Denken fort aus dem Offenbaren ins Geheime.<br />

Wir haben in der Materie ein doppeltes Innenleben aufgespürt. Einmal das<br />

zitternde, gleitende oder stürmende, in jedem Fall aber völlig regellose Treiben,<br />

das die Wärme ist, und von dem uns die B r o w n sche Bewegung eine<br />

Andeutung gibt, - zweitens, in diesem Getriebe gleichsam schwimmend, die<br />

kleinen elektrischen Wirbelnester, die “Brummkreisel”, Sender des Lichts und<br />

Träger des Magnetismus, Vermittler der Wärmebewegung durch den leeren<br />

Raum. So wirr das Getriebe, an dem sie teilnehmen, so regelhaft und geordnet ist<br />

jedes einzelne solche Wirbelnest, in sich so kunstvoll gebaut wie ein Uhrwerk<br />

oder wie eine Blüte. Denn jedes ist gebildet aus vielen ineinandergefügten<br />

elektrischen Kreiseln von verschiedener Schnelligkeit und Lage. Dabei sind alle<br />

Nester eines Stoffes unter sich gleich, in verschiedenen Stoffen sind sie<br />

verschieden; ihr Bau bestimmt die Eigenart des Stoffes.<br />

Und es fragt sich nun: Welche Beziehung haben diese Wirbel zu dem materiellen<br />

Treiben, in das sie eingelassen erscheinen?<br />

Nach dem, was du bis jetzt weißt - und wenn wir bei dem Vergleich der Blüten<br />

bleiben -, könntest du dir das so vorstellen wie: tosendes Wasser, in dem Blüten<br />

mit umhergerissen werden. Das Wasser: die träge, schwere, von der<br />

Wärmebewegung durchschüttelte eigentliche Materie; die Blüten: die darin<br />

treibenden Wirbel der Elektrizität. Sind die “Blüten” Zustände des Wassers oder<br />

sind sie etwas für sich? Haben wir zwei getrennte Dinge vor uns, aber ineinander<br />

gemischt?<br />

Wenn es so wäre, so müßte es gelingen, beide voneinander zu trennen, die Blüten<br />

auszusieben, abzuschöpfen vom Wasser, die elektrischen Wirbel von der Materie.<br />

Soweit man aber einen Körper zerteilt und zerstäubt - und man hat heute<br />

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Mittel zu feinster und äußerster Zerstäubung -, nie ist man dahin gekommen, daß<br />

man sagen könnte: hier, auf der einen Seite, ist das Träge und Schwere, die<br />

Materie, und dort ist “die Elektrizität” mit ihren drei Wesenszügen. Im kleinsten<br />

Stäubchen sitzen sie immer noch beide, im engsten Raum sind sie noch verkettet.<br />

Ja man hat es zuletzt sogar soweit gebracht, die Wirbel selbst zu stören und<br />

einzelne zu sprengen: auch ihre Trümmer sind noch beides. Im kleinsten Splitter<br />

Materie wohnt noch Elektrizität, und das geringste Maß des Elektrischen hat noch<br />

etwas Materielles an sich. 40<br />

Es gibt also nichts zwischen den Wirbeln, das nicht selbst Wirbel wäre. Die<br />

Wirbel bilden die Materie. Es sind nicht Blüten im Wasser, es ist ein tosendes<br />

Blütenmeer. - Und die Wirbel sind nicht rein elektrische Gebilde, sie sind auch<br />

träge und schwer.<br />

Es sind also die beiden Pfeiler unserer Brücke ganz eng aneinander gewachsen,<br />

wie die Wurzeln zweier benachbarter Bäume.<br />

Damit ist aber die Frage noch nicht entschieden, ob diese Wurzeln sich nur sehr<br />

nahe kommen, oder ob sie schließlich miteinander verwachsen, so daß die Brücke<br />

sich zu einem Ringe schließt. Verwachsen wären sie dann, wenn die<br />

Eigenschaften der Materie - Trägheit und Gravitation - abgeleitet und verstanden<br />

werden könnten aus den drei Wesenszügen der Elektrizität, oder - was ebenso gut<br />

wäre - umgekehrt. Kann es aus den Wesenszügen der Elektrizität verstanden<br />

werden, daß Erde und Mond sich anziehen? daß jeder Körper träge ist? Oder kann<br />

daraus verstanden werden, daß jeder Körper aus elektrischen Wirbeln gemacht<br />

ist?<br />

Weder über diese begriffliche Beziehung der beiden Grundkräfte, noch über die<br />

Art ihrer räumlichen Durchdringung und Verwachsung im Innem der Wirbel<br />

wissen wir heute etwas Abgeschlossenes und Endgültiges. Aber man hat in den<br />

letzten Jahren Vieles und Überraschendes darüber entdeckt.<br />

Aber darüber will ich in diesem Buche nichts sagen. Denn ich habe mir ja<br />

vorgenommen, möglichst bei dem zu bleiben, was offenbar, oder doch aus dem<br />

Offenbaren leicht zu schließen ist. Als du mich fragtest: wie hängen Elektrizität<br />

und Magnetismus zusammen?, da konnte ich dir sagen: führe ein ge-<br />

40 Vgl. Anm. 32. Eine Ausnahme machen vielleicht die vor wenigen Jahren entdeckten “Neutronen”. Es ist aber<br />

noch die Frage, ob es sich hier um einen wesentlich unelektrischen Urbestandteil der reinen Materie handelt, oder<br />

ob er aus der Vereinigung zweier ursprünglich elektrischer Trümmer entsteht.<br />

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riebenes Bernsteinstück im Kreise, und das Eisen springt in den Kreis hinein. Und<br />

wenn du es auch nicht wirklich dahin bringen kannst, schnell genug zu wirbeln,<br />

weil dein Arm zu träge dazu ist, so ist es doch wahr, einfach und offenbar. Aber<br />

bei den Untersuchungen über den Zusammenhang von Elektrizität und Materie,<br />

von dem ich eben sprach, ist es ganz anders. Ich müßte dir kunstvolle Apparate<br />

beschreiben, die viele Kenntnisse verlangen, und mit denen man die Natur<br />

gleichsam umstellt, daß sie nicht ausweichen kann und Antwort geben muß. Aber<br />

ihre Antworten werden dann oft vieldeutig und dunkel. Der Forscher denkt dann<br />

nach und stellt eine neue Frage, oft von anderer Richtung her. Und die Natur zieht<br />

sich nun, wie du ja schon bemerken konntest, immer mehr ins Kleine und<br />

Kleinste zurück. Da können wir mit unseren groben Sinnen nicht mehr folgen.<br />

Was unsere Sinne, gesteigert durch diese Apparate, wahrnehmen, das sind nur<br />

mittelbare Signale aus dieser kleinen Welt, wie Wetterleuchten und dumpfer<br />

Klang. Wir müssen uns daraus zusammenreimen, was sie ankündigen könnten. So<br />

entsteht ein Gerüst aus vielen Stockwerken und Schichten:. Beobachtetes,<br />

Gedachtes, wieder Beobachtetes und wieder Gedeutetes. Und das Ergebnis ist<br />

nicht mehr etwas, das ich mit wenigen Worten vor deine Anschauung stellen<br />

könnte, ohne mir wie ein Fälscher vorzukommen. Es ist nichts, was man vom<br />

Gerüst aus sehen kann, es ist das Gerüst selbst, und sein Bau! Du müßtest das<br />

Handwerk selbst erlernen, mit dem man ein solches Gerüst errichtet.<br />

Dazu kommt, daß das Gebäude noch nicht fertig ist. Zwar hat man vieles<br />

gefunden, aber es ist noch kein Ende abzusehen. Die Linien werden noch nicht<br />

einfacher, sie zielen noch nicht auf einen Punkt. Ja manchmal ist es, als<br />

verknoteten sie sich in neuen und unerwarteten Verwirrungen.<br />

Deshalb lasse ich noch die Materie als das eine und die Elektrizität als das andere<br />

Fundament der Brücke stehen. Vielleicht gelingt es noch einmal, die Brücke zu<br />

einem Ring zu schließen, so daß alle Naturkräfte aus einer einzigen abstammen,<br />

auseinanderströmen und sich wieder schließen wie ein Springbrunnen, der aus<br />

einer Quelle aufsteigt, sich teilt und zurückkehrt. Aber vielleicht haben wir<br />

Unrecht, darauf zu hoffen. Ist die Welt nicht allzu vielfältig, um aus einer Wurzel<br />

zu stammen?<br />

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Der leere Raum<br />

Die zweite schwache Stelle liegt an der höchsten, der luftigsten Stelle der Brücke,<br />

da wo sie von der Wärme zum Licht führt. Was ist Licht?, das “Licht unterwegs”?<br />

Ein elektrischer “Befehl”, Wechselbefehl sagten wir. Die Elektrizität “spürt” ihn,<br />

jenseits der Leere. Wie spürt sie das? Wer bringt den Befehl durch die Einöde?<br />

Dieselbe Frage hätten wir schon bei der Gravitation stellen können: Zwei Körper<br />

schweben sich gegenüber im leeren Raum. Nimm an, sie seien eben gerade<br />

hingesetzt, hingezaubert. Da beginnen sie zueinander hinzutreiben. Woher “weiß”<br />

es jeder von ihnen, daß der andere da ist, wohin er seinen Flug zu lenken hat, wo<br />

er den anderen findet? Er kaum ihn ja nicht sehen oder hören oder greifen.<br />

Dasselbe ist es zwischen Bernstein und Papier, zwischen Magnet und Eisen,<br />

zwischen den Elektrizitäten, von denen die eine die andere mit ihren<br />

Schwingungen ansteckt.<br />

Was uns als unklar auffiel an der obersten Stelle der Brücke, das findet sich also<br />

auch anderswo. Nur ist es dort kein Bindeglied der Brücke. Es ist immer dasselbe:<br />

das Rätsel des Raumes, der leer ist und doch Befehle weitergibt.<br />

Aber vielleicht wird gar nicht “gegeben”, vielleicht ist es anders als wir dachten,<br />

und der Raum spielt gar nicht mit? Vielleicht springt der Befehl, oder besser: er<br />

ist einfach dort, Ursache und Wirkung zugleich, so wie ein Stempel das ganze<br />

Wort auf einmal aufs Papier preßt, das Ende nicht später als den Anfang?<br />

Man hat das erwogen. Aber es gibt etwas, das dazu nicht paßt: der Befehl braucht<br />

Zeit, bis er ankommt.! Zwei Magnete, “jetzt” einander gegenübergestellt,<br />

beginnen nicht “sofort”, sich einander zu nähern. Es dauert eine kleine Zeit, bis<br />

sie sich gemerkt haben; und je größer der Zwischenraum, desto länger ist diese<br />

Zeit. Ebenso ist es mit Bernstein und Papier, wahrscheinlich auch mit Erde und<br />

Mond oder irgend zwei Dingen, und schließlich mit dem Licht, dem elektrischen<br />

Wechselbefehl (S. 63). Und bringst du die zwei Körper in die doppelte<br />

Entfernung voneinander, so dauert es doppelt so lange, bis der Befehl drüben<br />

ankommt. Wo ist er in der Zwischenzeit? Sieht<br />

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es nicht aus, als wäre Etwas “unterwegs”, als flöge Etwas hinüber.<br />

Noch etwas spricht dafür, daß der Befehl nicht einfach “springt”, hier fort ist, und<br />

dann drüben anwesend, ohne daß der Zwischenraum mit im Bunde wäre: Der<br />

Befehl wird um so schwächer, je größer der Abstand ist. Er verdünnt sich, er<br />

nimmt ab, und zwar, das ist das Wichtigste: in genau demselben Maße, wie die<br />

Kugelflächen wachsen, die du um den Ausgangspunkt des Befehls spannen<br />

kannst, in der doppelten, der dreifachen, der vierfachen Entfernung. Das sieht<br />

ganz so aus, als verschwendete er sich gleichmäßig in den ganzen Raum, und<br />

gäbe einem Körper nur soviel ab, wie der – seiner Größe entsprechend –<br />

auffangen kann. Wir kennen das vom Licht, wir sehen es an den Schatten, und<br />

genau so ist es bei allen anderen Befehlen.<br />

Dies alles deutet auf seinen Boten, der den Befehl durch den Raum hindurch<br />

allseitig sprühend auseinanderträgt.<br />

Man hat diesen Boten unterwegs niemals fangen und fassen können. Nur Abgang<br />

und Ankunft bei einem Körper läßt sich feststellen. (Jede Ankunft ist ja ein<br />

Abfangen.)<br />

Es gibt nichts Schnelleres in der Welt als diesen Boten. Der elektrische<br />

Wechselbefehl, dessen Ankunft wir als Licht empfinden, macht in der Sekunde<br />

einen Weg, der sich siebenmal um die Erde legen ließe. Ebenso schnell fliegen<br />

alle elektrischen und magnetischen Wirkungen, und, wie es scheint, auch die<br />

Gravitation. Es ist, als wenn sie alle denselben Boten hätten.<br />

Was für ein Bote könnte das sein?<br />

Wenn du mir etwa zurufst, so stößt du die Luft an mit deinem Sprechen; Stöße<br />

und Rucke laufen durch sie hin zu mir, wie Windwogen durchs Ährenfeld, von<br />

Schicht zu Schicht. In derselben Art meldet der Stein, der in den stillen Teich<br />

gefallen ist, dem Ufer seine Ankunft: er stößt das Wasser, dies das nächste, das<br />

ihn rings umgibt: so verteilt sich der Stoß, und läuft als Wellenring davon und<br />

auseinander. Das Blatt, das auf dem Wasser schwimmt, zeigt seinen Durchgang<br />

an durch ein schnelles Auf und Ab. – Das wäre die eine Art, einen Befehl<br />

weiterzugeben.<br />

Es gibt noch eine andere. Sie ist gröber und sicherer, denn sie braucht keinen<br />

Vermittler. Wenn einer das Rufen nicht<br />

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hört, so wirft man ihn mit einem kleinen Steinchen. Das ginge auch im leeren<br />

Raum. Materie fliegt hin zu ihm. Das ist der Unterschied zwischen den beiden<br />

Arten der Übermittlung: im zweiten Fall fliegt die Materie selbst hinüber. Im<br />

ersten gibt Materie nur einen Zustand weiter: den Ruck, oder sosnt etwas.<br />

Diese beiden Arten der Befehlsübermittelung kennen wir also aus unserem<br />

täglichen Leben.<br />

Und welche von beiden ist nun das beste Vorbild und Gleichnis für die<br />

Naturkräfte, die den leeren Raum durchdringen? Es scheint doch: nur die zweite,<br />

das Werfen, das Schießen. Eben weil es durch den leeren Raum nicht aufgehalten<br />

werden kann. Wärend die erste Art etwas verlangt, das den Raum erfüllt und den<br />

Befehl als irgendeinen Zustand trägt, der in ihm um sich greift, und den er also<br />

weitergibt. Und da ein solcher Füllstoff im Weltenraum nicht da ist – sonst würde<br />

er den Mond bremsen im Lauf der Jahrtausende und den Monat immer länger<br />

machen -, und da trotzdem das Meer den Befehl des aufsteigenden Mondes spürt<br />

und sich zur Flut erhebt, trotzdem der Sonnenschein hier bei uns ankommt,<br />

trotzdem magnetische Stürme auf der Sonne unseren Kompaß unruhig machen, so<br />

müssen wir wohl annehmen, daß alles dies, und auch das Licht herüberkommt als<br />

ein Haagel feinster und schnellster Geschosse. Daß jeder Körper feinste<br />

Stäubchen sprüht, die jenseits in die anderen Dinge einschlagen und ihnen<br />

melden, wo der andere ist.<br />

Und doch gibt es beim Licht – das man am besten prüfen kann – Erscheinungnen,<br />

die dazu nicht passen, und ganz und gar für die andere Art der Übermittlung<br />

sprechen, für das Wandern eines Zustandes im erfüllten Raum: Es ist schon sehr<br />

auffallend, daß Lichtstrahlen sich begegnen und durchdringen können, ohne sich<br />

zu stören, daß also “eine Fackel die andere beleuchten kann” 41 . Das erinnert an<br />

Wasserwellen, die sich ungehindert durchkreuzen. Geschosse halten sich auf und<br />

stören sich, wenn sie zusammentreffen. – Noch zwingender ist aber eine andere<br />

Erscheinung. Ich kann sie dir nicht genau darstellen, aber andeuten: Sie hängt<br />

damit zusammen, daß Licht ein Wechselbefehl ist, eine Aufforderung zu<br />

schwingen, etwa: links-rechts, links-rechts.... Man lenkt zwei Lichtstrahlen<br />

41 Vgl. Huygens Abhandlung über das Licht. Ostwalds Klassiker, Bd. 20, S. 11 u. 25<br />

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auf dieselbe Bahn, so daß sie eng nebeneinander, ja ineinander herlaufen, aber so,<br />

daß der eine hinter dem anderen etwas herhinkt, so daß ihre Befehle, da wo sie<br />

eintreffen, sich immer gerade widersprechen. So daß also der eine Lichtstrahl<br />

immer gerade “links!” sagt, wenn der andere “rechts!” verlangt, und gleich<br />

danach beide umgekehrt. Dann geschieht auf dieser Lichtbahn natürlich gar<br />

nichts. Es ist als käme gar kein Licht, und dabei kommt es doppelt! Das kann mit<br />

dem Gleichnis des Geschoßhagels nicht erfaßt werden. Denn daß ein Stoß nach<br />

rechts von einem Stoß nach links gerade aufgehoben, zunichte gemacht wird, das<br />

siehst du sofort. Daß aber ein Geschoßhagel am Ziel unschädlich wird dadurch,<br />

daß noch ein zweiter solcher Hagel dazu kommt, das kann niemandem<br />

einleuchten.<br />

So kam man in eine seltsame Lage. Der Weltraum ist leer, denn der Mond kreist<br />

ungehindert. Aber zugleich darf er nicht leer sein, denn es muß ihn etwas erfüllen,<br />

das das Licht und alle anderen Kräfte - trägt; denn das Licht ist kein Geschoß. So<br />

muß also ein Stoff dort sein, nur ein äußerst feiner, anders als alle anderen?<br />

Nun suchte man nach ihm, wollte ihn fassen, irgend etwas sonst von ihm merken,<br />

als daß er die Kräfte trägt. Aber das war merkwürdigerweise ganz vergeblich. Er<br />

ließ immer nur das merken, wegen dessen man ihn erfunden hatte; mit nichts<br />

anderem kam er freiwillig zu Hilfe, um uns von seinem wirklichen Dasein zu<br />

überzeugen.<br />

Dann kam es aber noch schlimmer. Am Licht, das Dinge tut, die nie ein<br />

Geschoßhagel ausrichten kann, an demselben Licht entdeckte man neue andere<br />

Fähigkeiten, bei denen es sich ganz so verhielt, wie ein Schwarm einzelner,<br />

feinster Nadeln. Es erscheint also bei bestimmten Gelegenheiten wie ein Hagel,<br />

bei bestimmten anderen wie ein Wellenring auf dem Wasser. Es hat zwei Masken,<br />

die sich widersprechen. Wie ist sein wahres Gesicht? -<br />

Ich kann dich nicht in diese Kämpfe führen. Sie sind nicht entschieden. Ich wollte<br />

dir nur zeigen, daß die schwachen Stellen unserer Brücke dieselben sind, an<br />

denen die Physiker der ganzen Welt heute mit aller Leidenschaft einen Ausweg<br />

suchen (und auch schon Anfänge dazu gefunden haben), mit den feinsten Waffen<br />

des Geistes und der Technik. -<br />

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Bei dieser Arbeit ist eine Nachdenklichkeit über sie gekommen. Manche werden<br />

still, halten eine Weile ein, und denken über ihre Arbeit nach, über die Art ihrer<br />

Arbeit.<br />

Besinnung<br />

Was tun wir? Wir sind in der Natur ein Glied von ihr. Wir sehen und hören sie,<br />

durch viele Sinne redet sie zu uns, bunt tönend, in vielen Sprachen. So ist sie uns<br />

etwas Vielfältiges. Und da es immer Menschen gibt, die die Einheit in der<br />

Vielheit suchen, die Brücke, den Grund, so entsteht die Physik 42 . Die Physiker<br />

fragen und die Natur antwortet. Sie antwortet nie falsch, aber sie flüchtet vor dem<br />

Zudringlichen. Und zwar in zweierlei Richtung: ins Kleine und ins Leere. Das<br />

fing schon bei der geheimen Wärmebewegung und den kleinen Sendekreiseln an,<br />

und an den schwachen Stellen der Brücke wurde es noch deutlicher. Auf dieser<br />

Flucht führt sie die Lösung ihrer Rätsel hinaus aus der Welt unserer menschlichen<br />

Körper. Denn unsere Welt ist erfüllt von dem Stoff, der uns nährt, und wir leben<br />

in den großen Maßen unseres Körpers, seiner Sinne und seiner Werkzeuge. -<br />

Diese Flucht ist nicht verwunderlich: da in unserer großen, erfüllten Welt die<br />

Brücke sich nicht schlagen läßt, so muß die Natur uns nach draußen locken. Von<br />

dort gibt sie uns dunkle Signale; wir deuten sie und machen uns danach<br />

Vorstellungen und <strong>Bild</strong>er von dem, was im Unsichtbaren, im Kleinen und Leeren<br />

wirkt. Sie sollen uns Grund und Erklärung geben für unsere große, erfüllte<br />

sinnliche Welt.<br />

Aber alle unsere Worte, alle unsere Vorstellungen und <strong>Bild</strong>er sind genommen aus<br />

dieser großen und groben Welt. Können nicht anderswoher genommen sein.<br />

Andere sind uns nicht gegeben. Die tragen wir hinein ins Kleine und Leere, wir<br />

richten es damit ein, wie eine fremde neue Wohnung mit altem vertrautem Gerät.<br />

- Das <strong>Bild</strong> des stillen Teiches, auf dem der Stein seine Wellenringe treibt, wirkt in<br />

uns, wenn wir darüber grübeln, wie das Licht im Leeren unterwegs ist; oder wir<br />

sehen dabei den Pfeil blitzend vor dem Himmel fahren und hören seinen<br />

Einschlag. Das ewige Schwanken in den Wipfeln der Waldbäume ist uns ein<br />

Gleichnis für die innere Wärmebewegung in den festen Körpern, und<br />

Kinderkreisel haben wir im Sinn, wenn wir uns in den Magneten versetzen 43 .<br />

42<br />

Damit soll nicht gesagt sein, daß die Denkweise der Physik der einzige oder der beste Weg wäre, dieses Ziel zu<br />

suchen<br />

43<br />

Nicht nur wenn wir bewußt in Gleichnissen sprechen, wenn wir nur überhaupt Worte redend oder denkend<br />

gebrauchen, binden wir uns an die große und erfüllte Welt.<br />

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Anders können wir nicht, und doch werden wir bedenklich, ob wir es dürfen?<br />

Dürfen wir die Gleichnisse - und die Begriffe, denen man das Gleichnis gar nicht<br />

mehr ansieht - aus der großen, erfüllten Welt hineintragen ins Kleine und Leere,<br />

das uns dann wieder das Große erklären und in sich verbinden soll? Ist das nicht<br />

wie ein Gehen im Kreis? Vielleicht ist es kein Wunder, daß wir nicht mehr recht<br />

weiter kommen mit diesen Gleichnissen. Fast scheint es nach den neuesten<br />

Erfahrungen, daß selbst, wenn wir sagen. “hin und her” oder ,”im Kreis herum”,<br />

daß das schon zuviel ist, daß auch das nur Gleichnisse sind, die in die kleine Welt<br />

nicht mehr passen, daß sie ganz andere Begriffe verlangt, als uns die große geben<br />

kann. Und nun erst die leere Welt! Wir müssen vielleicht verzichten lernen, uns<br />

von allem ein “<strong>Bild</strong>” zu machen. Und vielleicht werden wir in diesem Sinne<br />

niemals eine Brücke ohne Sprünge und Lücken bauen können. –<br />

Und doch ist unser Bauen nicht ganz vergeblich gewesen. Fertig sind wir nicht<br />

geworden. Aber du weißt doch nun mehr als zuvor, und ich denke, du glaubst<br />

auch daran. Und wenn du auch die innere Unruhe, die in den Dingen ist, niemals<br />

selbst wirst, und noch weniger die kleinen elektrischen Wirbel, so sind es doch<br />

Gleichnisse, die etwas Wahres andeuten, einen wahren und wirklichen<br />

Zusammenhang der Natur, der uns unmittelbar nicht offen steht.<br />

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Zusammenfassungen<br />

Trägheit und Gravitation<br />

Zwei Eigenschaften sind aller Materie zutiefst eingeboren und können ihr nicht<br />

genommen werden:<br />

1. Jeder Körper ist träge, das heißt: er zeigt einen Widerstand dagegen, schneller<br />

oder langsamer oder in anderer Richtung bewegt zu werden, als er gerade bewegt<br />

ist.<br />

2. Alle Körper drängen zueinander (Gravitation).<br />

Merkwürdigerweise zeigen beide Eigenschaften einen strengen Zusammenhang<br />

miteinander: In genau demselben Maße, in dem ein Körper träger ist als ein<br />

anderer, ist auch die Kraft größer, mit der seine Vereinigung mit anderen Körpern<br />

sich anbahnnt.<br />

So erklärt es sich, daß (im leeren Raum) alle Körper gleich schnell fallen. Denn<br />

die Schwerkraft ist nichts anderes als die Gravitationswirkung zwischen der<br />

Erdkugel und dem Körper, der lastet oder fällt.<br />

Ebenso wird die Flut des Meeres erzeugt durch ihre Anziehung zwischen der<br />

Mondkugel und der Erde mit ihren Meeren.<br />

Daß es der Gravitation nicht gelingt, alle Körper der Welt wirklich zusammenzudrängen,<br />

liegt an dem Schwung ihrer uranfänglichen Bewegung, die im leeren<br />

Weltraum nicht gehemmt wird, und darum - infolge der Trägheit - unvergänglich<br />

ist.<br />

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28. Januar 2000<br />

{104}<br />

Wärme und Bewegung<br />

Aller Stoff ist innerlich erregt von einer unaufhörlichen, äußerst feinen, wirren<br />

Bewegung. Im Festen ist sie zitternd, im Flüssigen gleitend, im Luftartigen<br />

stürmend.<br />

Selbst unsichtbar, verrät sie sich doch dem Auge, wenn sie in der Flüssigkeit oder<br />

dem Gas kleine, durch ein stark vergrößerndes Mikroskop eben noch sichtbare<br />

Stäubchen vorfindet, auf die sie ihre wimmelnde Unruhe überträgt.<br />

Sie steigert sich in der Wärme, sie erlahmt im Abkühlen und erstarrt bei der<br />

tiefsten erreichbaren Kälte.<br />

Sie ist die Wärme. Und was die berührende Hand spürt, ist das Mehr und Weniger<br />

ihrer eigenen inneren Bewegung im Vergleich zu der des Körpers, den sie anfühlt.<br />

Diese Vorstellung der Wärme als einer Art der Bewegung erklärt alle<br />

Wärmeerscheinungen mit Ausnahme der den leeren Raum durchdringenden<br />

Wärmestrahlung, die nur im Zusammenhang mit dem Licht verstanden werden<br />

kann.<br />

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28. Januar 2000<br />

{105}<br />

Wärme und Licht<br />

Es ist Etwas in der Welt, - besser: es geht, es fliegt Etwas durch die Welt, auch<br />

durch den leeren Raum. Dies Etwas “ist” nicht Wärme und “ist” nicht Licht. Es<br />

ist Eines, wir wissen nicht, wie wirs nennen sollen einstweilen. Aber für unsere<br />

Haut ist sein Eintreffen Wärme, für das Auge seine Ankunft Licht. Und zwar, da<br />

es einer Steigerung fähig ist: im gelinden Zustand ist es nur Wärme, im<br />

gesteigerten auch Licht. Nicht immer, doch meist, entspringt es der “inneren<br />

Unruhe”. Der Matrie und steigert sich mit ihr. Auch erzeugt es immer die innere<br />

Unruhe dort, wo es, in Materie einschlagend, vergeht. Noch ist damit nichts<br />

darüber gesagt, wie es vergeht und wie es entsteht, und vor allem nicht, was es<br />

unterwegs ist, in der Leere.<br />

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28. Januar 2000<br />

{106}<br />

Licht und Elektrizität<br />

Dieses Etwas ist ein elektrischer Wechselbefehl.<br />

Wenn sich irgendwo der elektrische Zustand schnell hin und her bewegt,<br />

schwingt, so hat das zur Folge, daß in der Ferne der elektrische Zustand in<br />

demselben Takt zu zucken beginnt. Das ist ein letzter Wesenszug des<br />

Elektrischen.<br />

Lichterzeugung ist solches, ungeheuer schnelles, elektrischem Zucken an<br />

unzähligen Stellen des leuchtenden Körpers, immer anregbar durch die innere<br />

Wärmebewegung, aber doch von ihr selbst grundverschieden. Denn dieses<br />

Zucken ist nicht körperlich, sondern elektrisch, es ist nicht wirr, sondern aufs<br />

klarste geordnet - wenigstens dann, wenn der leuchtende Körper im luftartigen<br />

Zustand ist. Denn als Glas leuchtet jeder Stoff ein ganz bestimmtes, nur ihm<br />

eigentümliches Gemisch von Wechselbefehlen (Farben).<br />

Die Fernwirkung dieses Zuckens, der Befehl in die Ferne, worin er auch bestehen<br />

mag, er ist das Etwas, dessen Ankunft für uns Wärme und – an Schnelligkeit des<br />

Wechsels gesteigert – Licht ist.<br />

In jedem Körper erregt diese Ankunft wieder eine elektrische Zuckung. Und so,<br />

wie die befehlende Zuckung immer durch die innere körperliche Wärmeunruhe<br />

anregbar ist, so ist die befohlene, im auffangenden Körper gehorchende,<br />

umgekehrt immer wieder ein Anstifter der inneren Unruhe dort. So wird die<br />

Ausbreitung der inneren Wärmebewegung über den leeren Raum hinaus<br />

vermittelt durch den elektrischen Zustand, der der Materie überall innewohnt.<br />

Das Auge ist ein elektrisches Organ, erregbar durch elektrische Schwingungen<br />

von 4 . 10 14 bis 8 . 10 14 . Wechseln in der Sekunde, und fähig, das, was diese<br />

Wechselbefehle in ihm hervorrufen, als Stufenleiter der Farben (von Rot über<br />

Grün nach Blau) die Seele empfinden zu lassen.<br />

Wie aber der elektrische Befehl den leeren Raum überwindet und worin er<br />

besteht, ist damit nicht gesagt, und ebensowenig, was Elektrizität “ist”.<br />

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28. Januar 2000<br />

{107}<br />

Die Elektrizität zeigt drei Wesenszüge:<br />

Elektrizität und Magnetismus<br />

1. Ruhende Elektrizitäten, vermöge ihrer zweifachen Strebung nach Anziehung<br />

oder Abstoßung, stellen sich aufeinander ein (und rufen einander wach in ihrer<br />

Umgebung). Das zeigt der geriebene Bernstein über dem Papier.<br />

2. Ruckende Elektrizität wirkt durch ihren Tanz ansteckend auf ihresgleichen in<br />

Nähe und Ferne. Zuckung solcher Art ist das Leuchten, und seine Fernwirkung<br />

das Licht.<br />

3. Gleichmäßig bewegte, also strömende Elektrizität, Elektrizitätsflüsse ziehen<br />

sich (mitsamt den Körpern, in denen sie fließen) an, wenn sie in gleicher<br />

Richtung nebeneinanderlaufen, und drängen auseinander, wenn sie in<br />

entgegengesetzter Richtung aneinander vorbeifließen.<br />

Dieser dritte Wesenszug erzeugt das, was wir Magnetismus nennen. Alle Stoffe<br />

sind mehr oder weniger leicht magnetisierbar.<br />

Die überall und immer die Materie durchsetzenden elektrischen Zuckungen (das<br />

Leuchten) geschehen nämlich so, daß Elektrizität in winzigen Kreiseln<br />

herumfährt. Mehrere verschiedener Schnelligkeit und Lage sind immer zu einem<br />

Wirbelnest ineinandergefügt. (Der Bau eines solchen Nestes ist bestimmend für<br />

das Licht, das der Stoff aussendet, der solche Nester enthält.) Je weniger ein<br />

solches Wirbelnest kugelig ist, je flacher also seine einzelnen Kreisel ineinander<br />

sitzen, desto mehr gleicht er als Ganzes einem Kreisstrom, und desto mehr ist der<br />

Stoff, der aus solchen Wirbeln besteht, des Magnetismus fähig:<br />

Im gewöhnlichen (“unmagnetischen”) Zustand liegen nämlich<br />

die flachen Wirbel wirr durcheinander. Magnetisieren heißt: sie ausrichten, so<br />

daß sie alle in parallelen Ebenen und in gleicher Richtung kreiseln. Ein in dieser<br />

Art innerlich geordneter Körper ist ein “Magnet”. - Steht er nämlich einem Stück<br />

magnetisierbarer (das heißt von flachen Wirbeln erfüllter), aber noch<br />

unmagnetisierter (das heißt die Wirbel sind<br />

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28. Januar 2000<br />

{108}<br />

noch nicht ausgerichtet) Materie gegenüber, so wirkt er wie ein einziger großer<br />

Kreisstrom nach Gesetz 3 auf alle die vielen noch wirr durcheinanderliegenden<br />

Wirbel dieses Stückes Materie ausrichtend und macht es dadurch ebenfalls zum<br />

Magneten. Beide Magnete wirken dann, als zwei gleichgerichtete Kreisströme,<br />

nach Gesetz 3 aufeinander anziehend. - Deshalb zieht der Magnet das Eisen an.<br />

Die Brücke<br />

Die Brücke zwischen den Naturkräften ist nicht vollkommen.<br />

Die beiden Fundamente, Materie und Elektrizität, sind aufs engste miteinander<br />

verbunden. Die Materie besteht aus unruhig durcheinander treibenden<br />

Wirbelnestern, in deren kleinsten Teilchen das elektrische und das materielle<br />

Verhalten sich noch mischen. Das kleinste Körnchen Materie ist noch elektrisch,<br />

und das geringste Maß des Elektrischen hat noch etwas Materielles an sich. Die<br />

Forschungen über das innere Verhältnis zwischen Trägheit-Gravitation und den<br />

elektrischen Grundgesetzen, ebenso über ihr räumliches Ineinandergreifen in den<br />

Wirbeln, sind noch nicht am Ziel.<br />

Ebensowenig die Untersuchung der Frage, wie es vorzustellen ist, daß die<br />

Naturkräfte durch den leeren Raum hindurch wirken.<br />

Bei diesen Forschungen hat sich ein Nachdenken darüber erhoben, ob es<br />

überhaupt möglich ist, in der Welt des Kleinen und Leeren - in der die ungelösten<br />

Probleme immer mehr zu suchen sind - mit den Begriffen auszukommen, die wir<br />

unserer großen und erfüllten Welt entnehmen. Und ob es berechtigt ist, zu hoffen,<br />

daß unser Denken einmal einen lückenlosen Ring wird schließen können, der alle<br />

Naturkräfte in einen anschaulichen und einfachen Zusammenhang bringt.<br />

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28. Januar 2000<br />

{109}<br />

Zusammenfassung des Ganzen<br />

Wir sehen die Welt in immerwährender Bewegung. Sterne kreisen, Wolken<br />

ziehen, Bäume schwanken, Regen fällt, Wasser rinnt, Meer wogt, Steine rieseln.<br />

Was diese Bewegungen antreibt, ist die Schwere, die ein Ausfluß ist der<br />

allgemeinen Anziehung der Materie, der Gravitation. Was sie erhält, ist die<br />

Trägheit, das Immer-weiter-Wollen aller Materie. Beide sind geheimnisvoll<br />

verbunden, denn je träger ein Stück Materie altem Anstoß nachhängt, desto<br />

heftiger verfällt es neuem Antrieb.<br />

Wo sich Bewegung nicht erhält, nicht zu erhalten scheint, beim Aufprall etwa des<br />

fallenden Steins, entzieht sie sich nur unserem stumpfen Blick, entweicht ins<br />

Innere der Materie (des Blockes) und lebt dort ewig fort, noch immer Bewegung.<br />

Denn das Wasser auch des gänzlich stillen Teiches, das Innere des Felsens, des<br />

Glases, des Stahls: sie sind nicht starr und still, sondern es ist ein ewiges Fieber<br />

darin, eine schnelle, feine, wirre, uneinige, ewig unsichtbare und ewig anhaltende<br />

Bewegung der Teile gegeneinander, zitternd im Fels, rollend im Wasser, jagend<br />

in Luft.<br />

Und diese Bewegung ist es, deren Mehr oder Weniger wir als wärmer oder kälter<br />

empfinden. Und darum wird der aufprallende Fels warm; darum kann, umgekehrt,<br />

Feuer und Wärme bewegen, die Bewegung kann wieder sichtbar und einig<br />

hervortreten, wie im Felsen-werfenden Vulkan.<br />

Daß aber die Sonnenwärme auf die Erde kommt, daß also die innere Bewegung<br />

auch durch den leeren Raum hindurch dem kälteren sich mitteilt, dies ist das<br />

vermittelnde Werk der Elektrizität. Dieses Wort bezeichnet etwas anderes als die<br />

(träge, schwere) Materie, eine eigene Naturkraft, die im Inneren aller Materie, eng<br />

ihr eingeboren, wohnt, dort ihre Kraftzentren, ihre Quellpunkte hat. Und auch<br />

diese wieder sind bewegt. Nicht, daß sie nur mitgeführt würden von der inneren<br />

Wärmebewegung der Materie wie Blüten vom Bach: Sie bildete schwingenden,<br />

und zwar im Kreise schwingende Elektrizität, kurz: elektrische Wirbel.<br />

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28. Januar 2000<br />

{110}<br />

Und obwohl die materielle Wärmebewegung und diese elektrischen Wirbel<br />

zweierlei sind, so beeinflussen sie einander doch: wird eins von beiden aus<br />

irgendeinem Grunde heftiger, so gibt es dem anderen ab, und so gewinnt auch das<br />

an Gewalt.<br />

Nun ist es eine letzte, weiter nicht erklärbare Eigenschaft der Elektrizität, daß,<br />

wenn irgendwo eine Schwingung des elektrischen Zustandes vor sich geht, dies in<br />

der ganzen Umgebung von der Elektrizität, die dort etwa sitzt, ansteckend<br />

empfunden wird, so daß sie mit zu schwingen beginnt, im gleichen Takt. Und es<br />

ist für diese Fernfühlung der leere Raum kein Hindernis (ebensowenig wie für die<br />

Gravitation), so schwer dies für uns auch vorzustellen ist.<br />

So wird jetzt klarer, wie die Sonnenwärme mit Hilfe dieser elektrischen Wirbel<br />

und ihrer Fernwirkung zur Erde übergehen kann (und so jede andere<br />

Wärmestrahlung durch den leeren Raum): Als eine sehr heiße Glaskugel ist die<br />

Sonnenwärme von einer sehr heftigen inneren Wärmebewegung erfüllt. Deshalb<br />

sind dort auch die elektrischen Wirbel äußerst energisch. So stecken sie,<br />

ungeachtet des großen leeren Zwischenraumes, die elektrischen Wirbel unserer<br />

Erdenmaterie zu heftigerem Tanze an, und dieser Gewinn greift wieder über auf<br />

die Wärmebewegung der Erdenmaterie selbst, in der die elektrischen Wirbel<br />

wohnen. So wird unsere Erde warm.<br />

Es ist also die Wärme, die in den Körpern sitzt, etwas ganz anderes als die Wärme<br />

unterwegs. Unterwegs ist sie elektrischer Tanzbefehl. In der Materie drinnen ist<br />

sie verborgene Bewegung dieser Materie selbst. -<br />

Die elektrischen Wirbel und ihre Befehle sind aber nicht nur die Beauftragten und<br />

Meldegänger der Wärmebewegung. Das sind sie nur nebenbei. Ihr eigenstes<br />

Wesen ist ihr Wirbelspiel und das Ferngefühl, das sie füreinander haben, indem<br />

sie sich den Tanz befehlen und gehorchen.<br />

Wir Menschen sind davon nicht ausgeschlossen. Wir wissen davon nicht nur auf<br />

dem Umweg über das Wärmegefühl. Wir haben ein eigenes, ein elektrisches<br />

Sinnesorgan dafür, das Auge. Es empfindet unmittelbar, wenn ein elektrischer<br />

Schwingungsbefehl von fernsten Wirbeln her in seine Öffnung fällt. Die<br />

Elektrizität nämlich, die - wie überall - im Augenhintergrund wohnt, folgt dem<br />

Befehl, und ihren Tanz spürt unsere Seele auf eigene Art. Sie nennt ihn Licht.<br />

Nicht alle<br />

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Schwingungsbefehle empfindet sie so. Nicht die von langsam kreisenden Wirbeln<br />

(langsam schwingender Elektrizität) herkommen. Erst, wenn ein Wirbel eine<br />

bestimmte, ungeheuer große Zahl von Umdrehungen erreicht, nämlich 400 000<br />

000 000 000 in der Sekunde, glimmt die Empfindung auf. Sie heißt “Rot”. Denn<br />

die Drehzahl des Wirbels, zugleich die Schwingungszahl des Befehls, bestimmt<br />

die Farbe, die wir sehen. Schnellere Schwingungen sehen wir gelb, noch<br />

schnellere grün und blau, und wenn die Drehzahl 800 000 000 000 000 ist,<br />

violett. Für noch schnellere Wechsel ist das Auge wieder blind (Röntgenstrahlen).<br />

Nun sind aber die alle Materie unfaßlich eng erfüllenden elektrischen Wirbel<br />

keine einfachen Gebilde. Das offenbart sich, wenn wir selbstleuchtende (also<br />

meist heiße) Körper ansehen, die außerdem im gasförmigen (also aufgelockerten,<br />

innerlich befreiten) Zustand sind. Wir müssen allerdings ein Prisma vors Auge<br />

setzen, weil es sich sonst von der Farbmischung täuschen läßt. Es leuchtet dann<br />

nämlich jeder Stoff, und noch in kleinster Menge, in mehreren Farben zugleich,<br />

und zwar in ganz bestimmten Farbtönen (während andere fehlen), die nur ihm in<br />

dieser Zusammenstellung eigentümlich sind. Dieses Farbgemisch (das heißt:<br />

Befehlsgemisch) geht also von jedem seiner Wirbel aus. Seine Wirbel können<br />

also nicht einfach, das heißt mit einer bestimmten Drehzahl vorgestellt werden,<br />

wir müssen uns statt eines einfachen Wirbels immer ein ganzes Nest denken, zu<br />

dem sich mehrere einfache Wirbel von verschiedener Drehzahl in einer<br />

bestimmten, für diesen Stoff eigentümlichen Weise zusammentun. Lauter solche<br />

untereinander gleiche Wirbelnester bilden den Stoff. Und was einen Stoff<br />

eigentlich vom anderen verschieden macht, warum Kupfer anders ist als Eisen,<br />

das ist im wesentlichen die Bauweise seiner Wirbelnester.<br />

So wirr und uneinig also die materielle Wärmebewegung ist, so kunstvoll<br />

geordnet ist das Kreisen der Elektrizität in den unzähligen Wirbelnestern, die die<br />

Materie erfüllen. -<br />

Die Wirbelnester können aus ihren Einzelwirbeln kugelrund zusammengebaut<br />

sein. Es gibt aber auch Stoffe mit flachen Nestern, das heißt solchen, bei denen<br />

die Einzelwirbel fast alle in derselben Ebene liegen und auch fast alle in derselben<br />

Richtung drehen. Solch ein Stoff ist Eisen. Und wenn<br />

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{112}<br />

nun in einem Stück Eisen noch dazu alle diese flachen Nester parallel ausgerichtet<br />

sind, dann sind sie alle untereinander einig und mächtig. Das ganze Stück Eisen<br />

ist dann so viel wert wie ein großer elektrischer Wirbel.<br />

Und dann wird ein anderes elektrisches Urgesetz für uns merklich. Es heißt:<br />

Wenn sich zwei elektrische Wirbel gegenüberstehen und sie drehen in gleicher<br />

Richtung, so ziehen sie einander an, drehen sie gegeneinander, so stoßen sie sich<br />

ab. Auch dieses Gesetz ist unerklärbar, und auch mit der Gravitation hat es, soviel<br />

wir wissen, nichts zu tun.<br />

Das innerlich geordnete Stück Eisen, das einem großen elektrischen Wirbel<br />

gleichwertig ist, muß nach diesem Gesetz handeln, wenn wir ihm ein ebensolches<br />

Stück Eisen gegenüberstellen. Es wird anziehen oder abstoßen, je nachdem<br />

welche Enden wir aufeinander zu richten. Wir nennen Es dann einen Magneten.<br />

Und was uns als magnetische Kraft vertraut ist, sind die Kräfte zwischen zwei<br />

elektrischen Wirbeln.<br />

Bei allen Stoffen ist von diesem Magnetismus etwas zu spüren, wenn auch nicht<br />

so viel wie beim Eisen. –<br />

So sind die kunstvollen elektrischen Wirbelnester nicht nur die Vermittler des<br />

Wärme-Strahlungs-Ausgleiches, sie sind die Quellen des Lichtes und durch die<br />

Kräfte zwischen ihnen die Spender der magnetischen Kraft.<br />

Dunkel ist noch das Verhältnis der Elektrizität zur Trägheit und Gravitation,<br />

unvorstellbar bleibt, wie ein wirklich leerer Raum elektrische- und Gravitations-<br />

Befehle tragen kann; und sehr zweifelhaft wird, ob wir überhaupt hoffen dürfen,<br />

es müsse sich alles anschaulich vorstellen lassen, ja ob wir das Recht haben, die<br />

Begriffe, die aus unserer großen Sinneswelt genommen sind, zur Beschreibung<br />

des winzig Kleinen und des Leeren zu verwenden 44 .<br />

{113}<br />

Anmerkungen<br />

44 Wir hatten uns vorgenommen (Vorwort, S. VI, und S. 2), die Begriffe: Molekül, Atom, Elektron, Äther usw.<br />

nach Möglichkeit zu vermeiden und im “Offenkundige” zu bleiben. Der kundige Leser, der als die Träger der<br />

“inneren Unruhe” die “Moleküle” kennt und die “Wirbelnester” als “Atome” bezeichnet, könnte zweifeln, ob<br />

diese Absicht gelungen sei, wenn er diese “Zusammenfassung des Ganzen” liest. - Man muß hier zweierlei<br />

unterscheiden.- Der “Zusammenhang der Naturkräfte” läßt sich tatsächlich ohne diese Begriffe darstellen. Das<br />

zeigen am deutlichsten die ganzseitigen <strong>Bild</strong>er (3, 4, 5, 6, 10). - Aber diese <strong>Bild</strong>er zeigen Experimente - und<br />

insofern ist der Mensch in ihnen wesentlich -, sie zeigen die reine, aus der Natur herausgefundene und<br />

herausgestellte Gesetzestafel der Zusammenhänge. - Will man aber mehr als dies wissen (und das wäre das<br />

zweite), nämlich: wie die Natur mit Hilfe dieser Gesetzgebung ihren Materiestaat eingerichtet hat, wie also die<br />

Naturkräfte in der Natur selbst, praktisch, miteinander verkettet sind, so muß man notwendig diese Begriffe<br />

bilden.<br />

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1) Wenn man dies unter “Physik” versteht, so ist die “Chemie” ein Teil von ihr.<br />

Aber ein so wichtiger und eigenartiger Teil, daß man ihn meist selbständig neben<br />

die Physik stellt, diesen Begriff also in einem engeren Sinne gebraucht. Die<br />

Chemie untersucht die gleichsam persönliche Eigenart der verschiedenen Stoffe,<br />

aus denen die Dinge gemacht sind. Sie fragt nach dem, was dem Wasser, was der<br />

Erde, was dem Kupfer eigentümlich ist. Jeder Stoff hat seine Eigenart, und von<br />

ihr hängt es ab, wie er sich mit anderen Stoffen verträgt. Die Physik – im engeren<br />

Sinne – dagegen übersieht diese Unterschiede. Sie sieht nur auf das, was alle<br />

Stoffe angeht. Alle Stoffe können z. B. warm werden, oder bewegt sein. Aber nur<br />

ein Stoff kann in allen seinen Eigenschaften so sein wie das Kupfer, eben das<br />

kann in allen seinen Eigenschaften so sein wie das Kupfer, eben das Kupfer<br />

allein. Darum wird das Kupfer in der Chemie, Wärme und Bewegung in der<br />

Physik betrachtet.<br />

2) Die nthüllung dieser Zusammenhänge ist eine Leistung fast auschließlich des<br />

19. Jahrhunderts.<br />

3) Hier ist von der Gravitaion noch abgesehen. Wer das Kapitel zu Ende gelesen<br />

hat, bemerkt, daß der Ball tatsächlich wieder zu dem Körper zurückgezogen wird,<br />

der ihn geworfen hat.<br />

4) Genauer: Jede Messung erfordert Zeit. Um nun den Körper eine Zeitlang<br />

dauernd und immer wieder “aus der Ruhe zu bringen” muß man ihn so vor sich<br />

her schieben, daß die schiebende Hand seine Trägheit als Widerstand ständig in<br />

gleichem Maße spürt. (Es zeigt sich, daß man dann immer schneller und schneller<br />

laufen muß. Man macht mit dem Körper zusammen eine “gleichförmig<br />

beschleunigte Bewegung”.) Nehmen wir an, wir machen das eine Sekunde lang<br />

und wählen die Kraft so, daß der Körper im ganzen einen Meter weit kommt. –<br />

Dieser Behandlung unterwerfen wir nun zwei verschiedene Körper. Wenn dann<br />

an dem einen die schiebende Hand doppelt so stark drücken muß (um ihn in einer<br />

Sekunde einen Meter weit zu schaffen) wie an dem anderen, so sagt man: seine<br />

Trägheit (oder auch seine “Masse”) ist doppelt so groß wie die des anderen.<br />

Entsprechend versteht man eine drei- oder vierfache Trägheit.<br />

5) Genauer: Gegeben sind zwei Körper in bestimmtem Abstand voneinander. Die<br />

Gravitationskraft, die sie zueinander zieht, soll gemessen werden. – Prinzipiell<br />

geschieht das so: Zwischen beide wird eine zusammengedrückte Spiralfeder<br />

gebracht, deren Spannung gerade ausreicht, um eine Annäherung der beiden<br />

einander zu verhindern. Diese Spiralfeder wird dann, entspannt, auf die Erde<br />

gebracht, senkrecht gestellt, und von oben mit einem solchen Gewicht belastet,<br />

daß sie wieder genau so weit zusammengerückt wird, wie es unter der Wirkung<br />

der zu messenden Gravitationskraft geschehen war. Ist dieses<br />

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Gewicht 23 g, so sagt man: Die Gravitationskraft zwischen den beiden Körpern hat die Größe<br />

von 23-g-Gewichten. – Vergleichen wir diese Messung mit der Messung der Trägheit (Anm.<br />

4), so zeigt sich ganz besonders deutlich, daß Trägheit und Gravitation ganz verschiedene<br />

Dinge sind. Denn sie werden auf völlig verschiedene Weise gemessen.<br />

6) Später wird sich zeigen, daß das nicht ganz richtig ist. Das ändert aber nichts an dem Schluß,<br />

daß Gravitation und Magnetismus wesensverschieden sind. Denn die Gravitation nimmt auf die<br />

stoffliche (chemische) Eigenart jedenfalls keine Rücksicht, während der Magnetismus sich von<br />

ihr abhängig zeigt.<br />

7) Wer diese Meinung hat, daß körperliche Gesundheit die Voraussetzung der seelischen ist,<br />

aber auch umgekehrt, daß die Unversehrtheit der Seele die des Körpers mit sich bringt, der<br />

kann sich das so deuten, daß beide, und damit für uns nur durch gleichsam einen Wechsel des<br />

Gesichtspunktes als verschieden zeigen. Für das Paar Gravitation – Trägheit ist dies etwa die<br />

Lehre der “Allgemeinen Relativitätstheorie”: daß nämlich beide in gewissem, sehr abstraktem<br />

Sinne ein und dasselbe sind. Ob aber diese Lehre nur den Rang einer Denkmöglichkeit oder<br />

den einer Wahrheit hat, ist heute noch nicht entschieden.<br />

8) Man könnte vermuten, es wäre die Gravitation, die die Tinte an der Feder hält, die das<br />

Wasser in den Schwamm saugt und zwei Wassertropfen zum Zusammenfließen bringt. Das ist<br />

aber ein Irrtum, wie folgender einfache Versuch zeigt: An einer waagerechten Glasplatte kann<br />

man einen Wassertropfen von einer gewissen Größe anhängen. Wenn dafür die Gavitation<br />

zwischen dem Wassertropfen und der Glasplatte verantwortlich zu machen wäre, so müßte eine<br />

doppelt so dicke Platte einen doppelt so schweren Tropfen tragen können. Das ist aber, wie<br />

jeder weiß, nicht so. Sie kann auch nicht merklich mehr tragen. – Diese Kräfte haben also mit<br />

Gravitation nichts zu tun. (In den Lehrbüchern der Phyik findet man Näheres über sie unter den<br />

Stichworten: Oberflächenspannung, Kapillarität, Molekularkräfte, Kohäsion, Adhäsion.) Sie<br />

sind von großer Wichtigkeit – sie sorgen z. B. dafür, daß die Körper überhaupt<br />

zusammenhalten - , fallen aber nicht sehr auf. Sie sind in diesem Buch nicht besonders<br />

behandelt. Es ist gelungen, sie auf elektrische Kräfte zurückzuführen.<br />

9) Die Figur ist übernommen aus: Sir I s a a c N e w t o n s Mathematische Prinzipien der<br />

Naturlehre, S. 515. Herausgegeben von Ph. Wolters, Berlin 1872. (Das lateinisch geschriebene<br />

Originalwerk Newons erschien 1686,) Einige, hier nicht benutzte, Buchstaben sind<br />

fortgelassen. Hinzugfügt habe ich die Buchstaben H, I, K, L, M und die punktierten Strecken<br />

VH und HM.<br />

10) Der Kampf steht aber nicht so auf des Messers Schneide, wie es nach dieser etwas<br />

übertriebenen Darstellung scheinen könnte. Es ist kein so “labiler” Gleichgewichtszustand wie<br />

etwa das Balancieren eines Stockes auf seiner Spitze. Die geringste Störung, etwa die<br />

Annäherung eines anderen Planeten, müßte ja dann genügen, das Gleichgewicht umzuwerfen<br />

und den Mond zur Flucht oder zum Absturz bringen. – Gegen ein solches haarscharf<br />

abgewogenes Gleichgewicht<br />

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müßte man auch folgenden Einwand machen: es müßte dann, nach unserer Darstellung,<br />

der Mond eine ganz bestimmte, genau abgewogene Geschwindigkeit haben und bei<br />

seiner Entstehung, seiner Ankunft bei der Erde, gehabt haben, wenn die Kreisbahn<br />

entstehen sollte. Wäre das nicht ein höchst unwahrscheinlicher, ja unmöglicher Zufall? -<br />

Die genaue Untersuchung zeigt denn auch, daß dann, wenn die Geschwindigkeit nicht<br />

genau den zur Kreisbahn nötigen Wert hat, nicht gleich die Katastrophe eintritt (Flucht<br />

oder Absturz), sondern daß der Mond dann zwar keinen Kreis macht, aber doch noch<br />

eine beständige, dauerhafte Bahn: er schwingt in einer überhängenden Ellipse um die<br />

Erde herum. Und tatsächlich ist auch die wirkliche Mondbahn (und ebenso die Bahn<br />

jedes Planeten um die Sonne) eine solche Ellipse, allerdings eine nicht sehr längliche,<br />

sondern eine dem Kreis sehr ähnliche. - Erst eine sehr große Anfangsgeschwindigkeit<br />

würde den Mond ganz der Erde entführen, “ganz kleine würde ihn auf die<br />

Erdoberfläche stürzen lassen. - Diese Anmerkung ist auch zum vollen Verständnis des<br />

auf S. 16 nun folgenden Absatzes von Nutzen.<br />

11 ) “Wirklich” heißt hier: Betrachtet vom Welt-Ganzen aus, vom Gerüst der Sternbilder.<br />

12 ) In Wirklichkeit liegt dieser Schwerpunkt sogar noch innerhalb der Erdkugel, etwa<br />

1500 km unter der Oberfläche.<br />

13 ) Vgl. Anm. 7.<br />

Das gilt nur für solche Bewegungen, bei denen der bewegte Körper in (reibender oder<br />

stoßender) Berührung mit anderen Körpern oder mit sich selbst ist. Es gilt also nicht für<br />

die Mondbewegung und ähnliche.<br />

15) Dieser Vergleich findet sich bei R. W. Pohl: Mechanik und Akustik, 2. Auflage,<br />

Berlin 1931, S. 117.<br />

16 ) Dieser Vergleich ist nicht streng richtig. Auch der Schatten der bewegten Hand folgt<br />

ihrer Bewegung nicht gleichzeitig, sondern soviel später, wie das Licht Zeit braucht, um<br />

von der Hand bis zum Schatten zu gelangen.<br />

Hiermit hängt es auch zusammen, daß derselbe Gegenstand der Hand warm erscheint,<br />

wenn diese Hand kalt war, und kalt, wenn die Hand warm war. - Ebenso wird es<br />

dadurch verständlich, daß ein Stück Metall sich kälter anfühlt als ein Stück Holz, auch<br />

wenn das Thermometer für beide gleiche Temperatur nachweist, Das Eisen leitet<br />

nämlich die Wärme der Hand schneller ab als das Holz, so daß der Verlust an Wärme<br />

für die Hand größer ist, wenn sie das Eisen anfaßt.<br />

Auf CD-ROM gefasst von Prof. Dr. Michael Soostmeyer, Essen 2000, Kraneburgstraße 81, D 46240 Bottrop


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selbe geheimnisvolle Art wie die Sonne, ihre innere Bewegung in die Ferne verliert.<br />

20) Vgl. A. S. Eddington, Die Naturwissenchaft und die Welt des Unsichtbaren.<br />

Berlin-Lübars., 1930.<br />

21) Daß das grüne Licht; das ein Blatt zurückwirft, ebenfalls ein Teil ist des weißen<br />

Lichtes, mit dem die Sonne das Blatt bescheint, wird erst später (S. 55) begründet<br />

werden.<br />

22) Mischt man nicht Lichter, sondern Farbstoffe, so geben Blau und Gelb<br />

zusammen grün. Dies ist ein ganz anderer Vorgang. Den Unterschied erklärt jedes<br />

Physikbuch (additive und subtraktive Farbenmischung).<br />

23) Alle diese Versuche sind so einfach beschrieben, wie sie im Grunde im Prinzip,<br />

sind. Ihre praktische Durchführung macht mehr oder weniger große technische<br />

Schwierigkeiten und erfordert Vorrichtungen, die den Grundgedanken oft nur<br />

schwer noch erkennen lassen. Wer also die hier so einfach beschriebenen Versuche<br />

in derselben Einfachheit auch wirklich machen sollte, würde meist nichts oder doch<br />

weniger sehen, als er erwartet. Er kann sich aber leicht in einem Lehrbuch der<br />

Physik über die Apparate unterrichten, die – auf dem hier beschriebenen<br />

Grundprinzip aufgebaut – eine feinere und bequemere Beobachtung ermöglichen<br />

(“Spektroskopie”) Spektralanalyse”).<br />

24) Auch Wärme entsteht durch Reibung. Der Unterschied: zum Elektrischmachen<br />

müssen es verschiedene Stoffe sein, und Berührung genügt schon<br />

25) Das gilt nur bei flüchtiger Betrachtung. Genaueres folgt (S. 74).<br />

26) Schneidet man dem Papier mit einem isolierenden Werkzeug die Spitze ab,<br />

solange der Bernstein in der Nähe ist, so zeigt sich diese Spitze elektrisch. So bleibt<br />

es, auch nachdem der Bernstein entfernt ist.<br />

27) Daß die zwei Wesenszüge im Grunde ganz verschieden von einander sind (in<br />

der Sprache der Physik: daß elektrostatische Influenz nicht dasselbe ist wie<br />

elektromagnetische Induktion), zeigt folgendes Experiment: Ein Bernsteinring werde<br />

gleichmäßig elektrisiert und dann, in sich selbst, ruckartig gedreht. Liegt in der Nähe<br />

ein Leiter, so wird in ihm nach dem ersten Gesetz nichts geschehen, weil die<br />

Anordnung des elektrischen Zustandes im Ring und im Raum durch diese Drehung<br />

im ganzen nicht verändert worden ist. Tatsächlich geschieht aber etwas in dem<br />

Leiter: ein elektrischer Ruck, ein “Stromstoß”. Er reagiert also noch auf etwas<br />

anderes als auf veränderte Anordnung, er wird gezwungen, den Bewegungsruck<br />

nachzuahmen. Das ist das zweite Gesetz, - Umgekehrt läßt sich aus dem zweiten<br />

Gesetz nicht ableiten das erste: daß der ruhende elektrisierte Bernstein das ruhende<br />

Papier zu sich hinzieht.<br />

28) In der Praxis sind diese “Metallstücke” komplizierte Apparate. Das hat<br />

verschiedene Gründe: 1. Man kann die Schnelligkeit der alektrischen Schwingung<br />

nicht nur durch die Größe, sondern auch durch die Form des Metallstückes<br />

beeinflussen. 2. Es sind Vorrich-<br />

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tungen nötig, die die elektrischen Schwingungen immer wieder anregen, so wie eine<br />

Glocke vom Klöppel angeschlagen werden muß. 3. Es ist störend, wenn die<br />

Schwingungen zwischen den einzelnen Klöppelschlägen immer wieder erlahmen,<br />

ausklingen wie der Ton einer Glocke auch. Um sie ungedämpft und gleichmäßig in<br />

Gang zu halten, hat man besondere Apparate erfunden. 4. Um große Entfernungen<br />

zu überbrücken, sucht man den Sender besonders stark und den Empfänger durch<br />

“Verstärker” besonders empfindlich zu machen.<br />

29) Dieser Wert ist natürlich nicht direkt gemessen. Man braucht einen<br />

Eisenbahnzug nicht 50 km weit und nicht eine Stunde lang zu verfolgen, um<br />

festzustellen, daß er 50 km in der Stunde macht.<br />

30) Ein Grund, weshalb nicht einfach dieser Abschnitt an Stelle der fünf<br />

vorhergehenden gesetzt wurde, ist folgender: Der Satz, daß in kleinen Bezirken des<br />

leuchtenden Körpers der elektrische Zustand sich “hin und her bewegt”, gibt nach<br />

den Einsichten der neuesten Physik ein zu grobes, zu anschauliches <strong>Bild</strong>. Das hängt<br />

damit zusammen, daß wir einerseits das Große nur aus dem unsichtbar Kleinen<br />

zusammenhängend erklären können (man denke an die innere Wärmebewegung und<br />

an die kleinen Sender), andererseits aber doch nur solche Begriffe und Worte zur<br />

Verfügung haben, die der Welt des großen und der Sinne entnommen sind. Früher<br />

glaubte man, sie wären von nichts abhängig und gälten für alles Denkbare, aber jetzt<br />

ist man darauf gestoßen worden, daß sie nur für den Bereich gelten, aus dem sie<br />

erwachsen sind. So scheint es unter Umständen auch mit dem Begriff “Bewegung”<br />

zu sein. Deshalb ist das, was in den kleinsten Bezirken des Leuchtenden vorgeht,<br />

durch diese Begriffe niemals anschaulich zu beschreiben, sondern es ist nur in leeren<br />

Zahlen symbolisch zu fassen. Wir können nur sagen: Denken wir uns den Bezirk<br />

allmählich größer werdend auf den Vorgang mit ihm, so wird es immer richtiger,<br />

sich darunter eine “Hinundherbewegung” des elektrischen Zustandes vorzustellen.<br />

Dieses <strong>Bild</strong> tritt allmählich anschaulich hervor, wie der Umriß eines Baumes, wenn<br />

der Nebel sich lichtet. (Vgl. Anm. 38 und S. 101).<br />

31) Die Anziehung des Papierblättchens durch den elektrisierten Bernstein<br />

widerspricht dem nicht. (Vgl. Anm. 26)<br />

Der elektrische Zustand läßt sich abwischen wie Staub und sozusagen löffelweise<br />

umfüllen von einem Ding auf das andere. Dies deutet schon an, was durch äußerst<br />

feine Untersuchungen herausgefunden wurde: Der elektrische Zustand ist gebunden<br />

an die Anwesenheit einer besonderen, ungemein leichten – 2000mal leichter als<br />

Wasserstoffgas! -, alle Wände durchdringenden Materie. Dieser Materie sind<br />

Gravitation, Trägheit und elektriche Kraft eingeboren. - Ich gehe auf diese Begriffe<br />

nicht ein. Sie führen allzusehr vom “Offenbaren” ab. Wenn ich weiterhin vom<br />

“elektrischen Zustand” spreche, so widerspricht das nicht der Tatsache einer<br />

elektrischen Substanz. Denn für sie ist die elektrische Kraft eine von Gravitation und<br />

Trägheit zwar räumlich unabtrennbare, aber doch wesentlich verschiedene<br />

Naturkraft. (Vgl. Anm. 40.)<br />

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33) Dabei zeigt sich allerdings: es gibt auch Stoffe, die vom Magneten nicht<br />

angezogen, sondern von ihm fortgetrieben werden. Ich habe über diesen Unterschied<br />

im Text absichtlich hinweggesehen. Da er für den Hauptgedanken dieses Buches<br />

ohne Bedeutung ist, möchte ich aber nicht verschweigen. Näheres in den<br />

physikalischen Lehrbüchern unter “Diamagnetismus”. Die Erklärung des<br />

Diamagnetismus macht keine Schwierigkeiten.<br />

Doch nicht feindliche, wie man wohl gefühlsmäßig annehmen könnte. Nur das<br />

Experiment kann das entscheiden. Es besteht darin, daß man den Magneten in der<br />

Mitte durchschneidet und die beiden Pole einander gegenüberstellt: sie ziehen sich<br />

an.<br />

35) Ausnahme: Diamagnetismus (Vgl. Anm. 33.)<br />

36) Wer diesen Versuch etwa wirklich in dieser Weise selbst machen will, wird<br />

keinen Erfolg sehen, da die Rotation sehr schnell und das beeinflußte Eisen sehr<br />

leicht beweglich aufgehängt sein muß. Aber das Experiment ist wirklich<br />

auszuführen und ausgeführt worden. Man läßt eine elektrisch geladene Scheibe vor<br />

einer empfindlichen Kompaßnadel sehr rasch rotieren. (Vgl. H. W. Pohl, Einführung<br />

in die Elektrizitätslehre, 4. Aufl., Berlin 1935, S. 68.) - Viel stärker ist der Erfolg bei<br />

einer scheinbar ganz andersartigen Anordnung: Verbindet man die “Pole” einer<br />

gewöhnlichen elektrischen Steckdose (“Gleichstrom”) durch einen Metalldraht<br />

(Vorsicht, Kurzschlußgefahr), so hat dieser Drahtkreis auf Eisen dieselbe Wirkung<br />

wie der rotierende Ring aus elektrisiertem Bernstein. Die Wirkung ist nur viel<br />

stärker. Sie ist aus vielen technischen Anwendungen allgemein allgemein bekannt.<br />

(Elektromagnet) Da dieser Drahtkreis aber ruht, so muß man annehmen, daß in ihm<br />

“die Elektrizität” strömt, sie allein (Anm. 32), ohne einen gewöhnlichen materiellen<br />

Träger, wie das der Bernstein war. Dies ist einer der wichtigsten Gründe - nicht der<br />

einzige -, der uns veranlaßt, zu sagen, das, was in dem Draht geschehe, sei ein<br />

elektrischer “Strom”.<br />

37) Das ist eine vereinfachte Darstellung. In Wahrheit ist diese Gestalt den kleinsten<br />

Eisenteiletien - wie sie im Eisendampf locker verteilt zu (lenken sind - nicht<br />

eigentümlich, denn Eisendampf wird kaum magnetisch. Sondern es ist bei Eisen so,<br />

daß erst im flüssigen und festen Zustand sich mehrere benachbarte Sender in einer<br />

Art gemeinsamer Verkrampfung zu Gruppen zusammentun, in denen eine<br />

Drehebene überwiegt. (Vgl. Pohl, EI.-Lehre, 4. Aufl., S. 105.)<br />

38) Ob wir freilich verlangen dürfen, daß alles anschaulich sich müsse vorstellen<br />

lassen, auch das, was nie wirklich angeschaut werden kann, das ist eine Frage, über<br />

die man immer nachdenklicher geworden ist. (Vgl. Anm. 30 und S. 101.)<br />

39) Wer die Physik kennt, wird in diesem Buch vielleicht den Begriff der Energie<br />

vermissen, zumal durch ihn ebenfalls eine alle Naturkräfte verbindende Brücke<br />

gebaut ist. Ich habe mich nach einigem Schwanken entschlossen, ihn hier nicht<br />

aufzunehmen. Die Art des Zusammhangs, die durch das Energieprinzip ausgedrückt<br />

ist, ,;scheint mir eine andere zu sein als diejenige, die in diesem Buche dargestellt<br />

wird. Das Prinzip sagt aus, daß alle Kräfte Massen-<br />

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bewegende sind, und daß in dieser ihrer Raum und Zeit bewältigenden Wirkung<br />

eine unveränderliche Größe - ursprünglich Kraft mal Weg regelnd auftritt. Sie<br />

stellt dadurch einen quantitativen, aber gleichsam anonymen und leeren<br />

Zusammenhang her, der das Wesen der verschiedenen Naturkräfte umgeht. (Die<br />

Gleichung 427 mkg = 1 Cal ist nicht ausreichend, das Wesen der Wärme als einer<br />

Molekularbewegung zu erkennen.)<br />

40) Vgl. Anm. 32. Eine Ausnahme machen vielleicht die vor wenigen Jahren<br />

entdeckten “Neutronen”. Es ist aber noch die Frage, ob es sich hier um einen<br />

wesentlich unelektrischen Urbestandteil der reinen Materie handelt, oder ob er<br />

aus der Vereinigung zweier ursprünglich elektrischer Trümmer entsteht.<br />

41) Vgl. Huygens Abhandlung über das Licht. Ostwalds<br />

Klassiker, Bd. 20, S. 11 u. 25.<br />

42) Damit soll nicht gesagt sein, daß die Denkweise der Physik der einzige oder<br />

der beste Weg wäre, dieses Ziel zu suchen.<br />

43) Nicht nur wenn wir bewußt in Gleichnissen sprechen, wenn wir nur überhaupt<br />

Worte redend oder denkend gebrauchen, binden wir uns an die große und erfüllte<br />

Welt.<br />

44) Wir hatten uns vorgenommen (Vorwort, S. VI, und S. 2), die Begriffe:<br />

Molekül, Atom, Elektron, Äther usw. nach Möglichkeit zu vermeiden und im<br />

“Offenkundige” zu bleiben. Der kundige Leser, der als die Träger der “inneren<br />

Unruhe” die “Moleküle” kennt und die “Wirbelnester” als “Atome” bezeichnet,<br />

könnte zweifeln, ob diese Absicht gelungen sei, wenn er diese<br />

“Zusammenfassung des Ganzen” liest. - Man muß hier zweierlei unterscheiden.-<br />

Der “Zusammenhang der Naturkräfte” läßt sich tatsächlich ohne diese Begriffe<br />

darstellen. Das zeigen am deutlichsten die ganzseitigen <strong>Bild</strong>er (3, 4, 5, 6, 10). -<br />

Aber diese <strong>Bild</strong>er zeigen Experimente - und insofern ist der Mensch in ihnen<br />

wesentlich -, sie zeigen die reine, aus der Natur herausgefundene und<br />

herausgestellte Gesetzestafel der Zusammenhänge. - Will man aber mehr als dies<br />

wissen (und das wäre das zweite), nämlich: wie die Natur mit Hilfe dieser<br />

Gesetzgebung ihren Materiestaat eingerichtet hat, wie also die Naturkräfte in der<br />

Natur selbst, praktisch, miteinander verkettet sind, so muß man notwendig diese<br />

Begriffe bilden.<br />

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Prof. Dr.Michael Soostmeyer<br />

Anmerkungen zur elektronischen Version resp. des Buches <strong>Wagenschein</strong>s aus<br />

dem Jahre 1937<br />

Zusammenhänge der Naturkräfte. Das Gefüge des physikalischen<br />

Naturbildes, Braunschweig: Vieweg 1937<br />

Die in den geschweiften Klammern gesetzten Zahlen kennzeichnen die Seitenzahl<br />

des Originals.<br />

Das Buch aus dem Jahr 1937 besaß den Anmerkungsteil in Form von Endnoten.<br />

Der besonderen Lesbarkeit halber habe ich sie als Fußnoten erfasst, sodass sie<br />

nun jeweils immer unten auf der Seite erscheinen, der sie zugehörig sind.<br />

Unbeschadet dessen habe ich die Endnoten stehen lassen.<br />

Das ganze Buch ist somit erfasst.<br />

Zur Formatierung: Ich habe die Absätze, die im Original einen Einzug hatten,<br />

ohne Einzüge formatiert. Ferner sind an einigen Stellen aus technischen Gründen<br />

Einzüge und Absätze formatiert worden, die im Original nicht enthalten sind.<br />

Leuchten<br />

Kleine Sender<br />

Kunstvolle Sender<br />

Leuchtendes Gas<br />

Gegenprobe<br />

Aus Wärme: Licht<br />

67<br />

67<br />

67<br />

68<br />

68<br />

69<br />

Aufglühen<br />

Immer Strahlung<br />

Aus Licht: Wärme<br />

Aus Licht: Licht<br />

Das elektrische Auge<br />

Die kleinen elektrischen Kreisel<br />

Einwände und Antworten<br />

Die Zeichensetzungen entsprechen denen im Original, die Rechtschreibung ist die<br />

des Originals.<br />

Essen, Freitag, 28. Januar 2000<br />

Auf CD-ROM gefasst von Prof. Dr. Michael Soostmeyer, Essen 2000, Kraneburgstraße 81, D 46240 Bottrop<br />

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