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Ramuz_SturzInDieSonne_Leseprobe

Am Anfang steht eine wissenschaftliche Entdeckung: Wegen eines Unfalls im Gravitationssystem stürzt die Erde in die Son­ne zurück. «Es wird immer heisser werden, und schnell wird alles sterben», schreibt C. F. Ramuz lakonisch dazu. Die Men­schen am Ufer des Genfersees wollen das erst nicht glauben und erfreuen sich am schönen Wetter. Aber dann wird klar, dass es vor der Hitze kein Entkommen gibt, die Freude schlägt um in Angst, als die Bäume verdorren, die Gletscher schmelzen und die soziale Ordnung zu zerfallen beginnt. 1922, als der Roman erstmals erschien, wusste C. F. Ramuz noch nichts von der Bedrohung der globalen Erwärmung, der wir heute gegenüberstehen. Doch das düstere Bild, das er in diesem visionären Text in seiner einzigartig verdichteten Sprache zeichnet, liest sich wie eine Prophezeiung.

Am Anfang steht eine wissenschaftliche Entdeckung: Wegen eines Unfalls im Gravitationssystem stürzt die Erde in die Son­ne zurück. «Es wird immer heisser werden, und schnell wird alles sterben», schreibt C. F. Ramuz lakonisch dazu.

Die Men­schen am Ufer des Genfersees wollen das erst nicht glauben und erfreuen sich am schönen Wetter. Aber dann wird klar, dass es vor der Hitze kein Entkommen gibt, die Freude schlägt um in Angst, als die Bäume verdorren, die Gletscher schmelzen und die soziale Ordnung zu zerfallen beginnt.

1922, als der Roman erstmals erschien, wusste C. F. Ramuz noch nichts von der Bedrohung der globalen Erwärmung, der wir heute gegenüberstehen. Doch das düstere Bild, das er in diesem visionären Text in seiner einzigartig verdichteten Sprache zeichnet, liest sich wie eine Prophezeiung.

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schlechte Wetter ankündigt. Das Licht ist noch kein<br />

bisschen weißer, es scheint sogar goldener über diesen<br />

Stimmen, die von unten kommen. Das Blau des<br />

Himmels ist blauer geworden, wenn das überhaupt<br />

möglich ist. Und alles geht seinen gewohnten Gang.<br />

Im Café trinkt man, im Lebensmittelladen wiegt<br />

man den Zucker und in der Bäckerei das Brot (wie<br />

immer). Und vielleicht geht schon ein großes Gerücht<br />

um den Rest der Welt: Hier kommt nur die Straßenbahn<br />

gemächlich angefahren; sie hat vor dem Café<br />

gehalten. Da der Wagen leer ist, gehen die Angestellten<br />

noch einen trinken.<br />

Eine Frau lehnt sich aus dem Fenster: «Haben Sie<br />

es gelesen?»<br />

Die Stimme einer Frau aus dem unteren Stock:<br />

«Nein.»<br />

Im dritten Stock sieht man den oberen Teil der weißen,<br />

nicht richtig zugehakten Bluse der Frau, die die<br />

Frage gestellt hat, aus dem Fenster schauen; sie hält<br />

die Zeitung in der Hand. Sie liest die Nachricht vor.<br />

Die Frau von unten kippt den Kopf nach hinten, zieht<br />

dabei ein kleines Mädchen an sich heran, dem sie die<br />

Haare für die Nacht kämmt, während sie unablässig<br />

mit den Fingern durch die langen blonden Strähnen<br />

streicht.<br />

Und die Frau von oben, die fertig gelesen hat, zeigt<br />

auf die Stelle, wo es abgedruckt ist, aber die andere:<br />

«Was geht mich das an?»<br />

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