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Leseprobe_Bletschacher_Minotaurus

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Das Labyrinth des Minotauros


RICHARD BLETSCHACHER<br />

DAS LABYRINTH DES MINOTAUROS<br />

Studien über die bauenden und bildenden Künste


Richard <strong>Bletschacher</strong>: Das Labyrinth des Minotauros.<br />

Studien über die bauenden und bildenden Künste<br />

Hollitzer Verlag, Wien, 2023<br />

Coverbild: © Richard <strong>Bletschacher</strong><br />

Covergestaltung und Satz: Daniela Seiler<br />

Hergestellt in der EU<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

© Hollitzer Verlag, 2023<br />

www.hollitzer.at<br />

ISBN 978-3-99094-165-2


INHALT<br />

Das Labyrinth<br />

7<br />

Der Bau der Pyramiden des Alten Reiches<br />

13<br />

Die bildenden Künste der Etrusker<br />

31<br />

Die Künste des sakralen Bauens und Bildens<br />

in der Epoche der Romanik<br />

37<br />

Die Kunst des Zeichnens<br />

51<br />

Drei Portraits von Albrecht Dürer<br />

77<br />

Giorgio da Castelfranco, genannt Giorgione<br />

85<br />

Zur Baugeschichte der Wiener Hoftheater<br />

129<br />

Putten<br />

139<br />

Amedeo Modigliani und die Frauen<br />

147


Der Maler Georges Rouault<br />

153<br />

Bildende Kunst im Wiener Musiktheater<br />

161<br />

Die Farbe Schwarz<br />

165


DAS LABYRINTH<br />

Eh ich beginne, muss ich eingestehen, dass zwar nicht alles,<br />

aber doch das meiste, was ich im Folgenden schreiben werde,<br />

nicht aus meinem Wissen stammt, sondern aus dem was vor<br />

mir, lange vor mir, schon viele andere niedergeschrieben<br />

haben. Und auch die haben aus uraltem Wissen geschöpft<br />

oder gegraben. Es gibt nicht vieles, das wir aus eigenem<br />

Ahnen oder Erkennen zu wissen meinen. Weitaus das meiste<br />

ist uns aus nicht immer erkannten Quellen und nicht immer<br />

auf erforschliche Weise zugetragen worden. Die alten Buchgelehrten<br />

haben es meist von anderen ihresgleichen durch<br />

Wort oder Schrift erfahren und bei den ältesten Berichten<br />

weiß niemand mehr, wer einst sie erlebt oder erfunden hat.<br />

Ein jeder oder doch die meisten, die je mit den alten<br />

Mythen vertraut gemacht wurden, haben von dem Baumeister<br />

Daidalos gehört, den der alte König Minos von Kreta<br />

mit dem Bau eines Labyrinths betraut habe, um darin die<br />

Schande seiner Familie zu verbergen: den Sohn seiner lüsternen<br />

Gattin Pasiphae. Den habe diese, so heißt es, von einem<br />

Stier empfangen und im Palast geboren. Und er gleiche zu<br />

einem Teile einem Menschen und zum anderen einem Stier.<br />

Minotauros wird er von der Sage genannt. Das Labyrinth,<br />

dessen Eingang bekannt war, sollte in solcher Gestalt gebaut<br />

werden, dass einer, der es betreten habe, den Ausgang nicht<br />

mehr zu finden vermöchte. Dort hinein wurde, nachdem es<br />

vollendet war, der missgestaltete Sohn geführt und darin für<br />

immer den Augen der Welt verborgen gehalten. Um ihn dennoch<br />

nicht durch Hunger sterben zu lassen, wurden ihm von<br />

Zeit zu Zeit junge Menschen zugeführt, die er töten und verschlingen<br />

mochte, da sie ihm nicht entfliehen konnten.<br />

Da sich die Untertanen des kretischen Königs bald über das<br />

Verschwinden ihrer jungen Leute empörten, entschloss sich<br />

der König, die nachbarlichen Mykener zu zwingen, ihm als<br />

Tribut ihrer Unterwerfung alle zehn Jahre zehn Jungfrauen<br />

7


Richard <strong>Bletschacher</strong><br />

und zehn junge Männer zu übergeben, die nun allesamt dem<br />

Minotauros zugeführt wurden zu einem Schicksal, von dem<br />

keiner je mehr erfuhr.<br />

Als einst auch das Los die Athener traf, entschloss sich<br />

der Sohn des Aigeus, Theseus, die Schar der ausgewählten<br />

Opfer anzuführen und das Schiff nach Kreta zu besteigen,<br />

um dort im Dunkel des Labyrinths mit dem Schwert<br />

gegen den Minotauros zu kämpfen und seine Stadt und mit<br />

ihr alle anderen tributpflichtigen griechischen Städte von<br />

der Plage und mit ihr zugleich von der tyrannischen Herrschaft<br />

des Minos zu befreien. In Knossos, dem Wohnsitz<br />

des Minos, angelangt erblickte die Tochter des Königs,<br />

Ariadne, Theseus und empfand Mitleid mit ihm, gab ihm einen<br />

Wollknäuel, den sie ihm riet, am Eingang des Labyrinths<br />

zu befestigen und auf seinem Gang in die unterirdische Tiefe<br />

aufzurollen, bis er auf ihren missgestalteten Halbbruder,<br />

den Minotauros, träfe und ihn mit dem Schwert im Kampfe<br />

besiegte. Danach sollten er und seine Gefährten, durch den<br />

Faden geleitet, wieder zum Eingang zurück und an das Licht<br />

des Tages finden. Dort wolle sie ihn erwarten, um mit ihm<br />

zu entfliehen. Theseus erschlug den Minotauros, befreite<br />

seine Gefährten, kehrte zurück und entfloh gemeinsam mit<br />

Ariadne auf seinem am Ufer zurückgelassenen Schiff.<br />

Diese Erzählung ist der Gründungsmythos von Athen,<br />

denn es wird berichtet, dass, als Theseus siegreich heimgekehrt<br />

war, verabsäumt hatte, die dunklen Segel gegen weiße<br />

zu tauschen und dass sein Vater Aigeus, von der Spitze eines<br />

attischen Felsen dies für ein schlimmes Omen erkannte und<br />

sich hinab in die Fluten stürzte. Seinen Namen trägt seither<br />

das aigaiische Meer. Theseus aber, zum König erwählt, gilt<br />

als der Retter und Gründer der Stadt. Was unterwegs auf der<br />

Insel Naxos der mutigen Ariadne widerfuhr, ist eine schmerzensreiche<br />

und am Ende doch versöhnliche Geschichte, die<br />

hier nicht erzählt werden soll. Auch soll nicht berichtet werden,<br />

was weiter in Knossos geschah, als man was geschehen<br />

war entdeckte. Immerhin gehört es noch zu der Erzählung<br />

8


Das Labyrinth<br />

vom Labyrinth, dass sein Erbauer, vielleicht weil er den<br />

Zorn des alten Minos fürchtete, zwei Paare von kunstvollen<br />

Flügeln gestaltete, mit denen er gemeinsam mit seinem<br />

Sohn Ikaros sich in die Lüfte schwang und über das Meer<br />

hinfliegend entfloh. Der einst an goldenen Schätzen so reiche<br />

und ringsum im Meer so mächtige König Minos aber wurde<br />

nach seinem Tod im Hades zu einem der drei Richter der<br />

Toten bestellt, um so seine im eigenen Leben auf sich geladene<br />

Schuld mit der der nach ihm Gestorbenen zu vergleichen<br />

und zu bemessen.<br />

Wo seither das unerforschte Labyrinth des Daidalos geblieben<br />

ist, weiß niemand mehr zu sagen. Man hat oft danach<br />

gesucht, zuletzt nach der Wiederentdeckung des verschütteten<br />

Palastes im vergangenen Jahrhundert. Zu Zeiten hat man<br />

gemeint, Spuren davon in dessen unterirdischen Gängen zu<br />

finden. Aber in Wahrheit ist es verschollen, zerstört oder hat<br />

nirgendwo anders bestanden als in den Sagen eines untergegangenen<br />

Volkes. Dort ist es besser aufbewahrt als in allem<br />

Wissen der Forscher. Denn nichts ist so gegen das Vergessen<br />

geschützt wie die uralten Mythen, die den Ahnungen und<br />

Hoffnungen der menschlichen Seele entstammen.<br />

Mit dem Mythos von Daidalos und seinem Labyrinth hat<br />

die alte Erzählung nur einen ersten Namen erhalten, nicht<br />

aber einen Anfang genommen. Die Geheimnisse um die verborgenen<br />

Gänge im Innern der Erde reichen zurück bis jenseits<br />

allen geschichtlichen Wissens. Es gab sie, die geheimen<br />

Gänge in den ägyptischen Pyramiden und in den Gebirgen<br />

am Nil. Man hat im Lande der Maya unterirdische Gänge<br />

und Hallen gefunden, die von Menschen geschaffen wurden,<br />

von denen man heute nichts mehr weiß. Man hat Könige und<br />

Kaiser in Gebirgen wohnen lassen, um sie wieder hervortreten<br />

zu lassen, wenn die Zeit gekommen sein wird. Man hat<br />

Schätze verborgen und nach Schätzen gegraben in allen Ländern<br />

der Erde. Man hat heimliche Zeremonien gefeiert an<br />

Orten, die kein Licht je erreicht. Man hat die Unterwelt und<br />

die Hölle tief im Innern der Erde vermutet. So sehr wie man<br />

9


Richard <strong>Bletschacher</strong><br />

am Himmel nach Zeichen und Wegweisungen gesucht hat,<br />

so hat man sie auch unter den sichtbaren Oberflächen von<br />

Ländern und Meeren gesucht. Und die Seelenforschung sucht<br />

heute noch in einem Bereich, von dem unsere Hirne nichts<br />

wissen: im Labyrinth der Brust.<br />

Was nun die Sage vom Labyrinth des Daidalos betrifft, so<br />

kann man mit Recht vermuten, dass sie auf der Insel Kreta,<br />

in Knossos ihren Schauplatz hat, jedoch nicht dort entstanden<br />

ist, sondern auf dem nördlich benachbarten Festland,<br />

das zu jener Zeit sich Hellas nannte. Man weiß, dass sich die<br />

hellenische Kultur, die heute als die mykenische nach ihrem<br />

berühmtesten Herrschaftssitz Mykene auf der Peloponnes<br />

bekannt ist, offenbar mit Waffengewalt gegen die Macht<br />

der minoischen zur Wehr setzte und die Oberhand für lange<br />

Zeit behielt. Kretische Kriegsbeute, die man in Gräbern in<br />

Mykene und Pylos gefunden hat, haben erst in jüngster Zeit<br />

diese These bestätigt.<br />

Der alte Mythos hat aber nicht allein den Bau des Labyrinths<br />

zum Inhalt, sondern auch die Erzählung von einem Stier, der<br />

sich einer menschlichen Frau vermählte. Der Stier war fast<br />

im ganzen Vorderen Orient und in den Ländern um das Mittelmeer<br />

von alters her ein Symbol übermenschlicher Macht.<br />

Vom Apisstier sprechen die ägyptischen Hieroglyphen, vom<br />

Himmelsstier die Keilschrifttafeln der Sumerer und Babylonier.<br />

Zeus, der Herr des griechischen Olymp hat sich selbst<br />

in einen Stier verwandelt, um die phönikische Königstochter<br />

Europa zu entführen, und hat mit ihr auf Kreta eine Nachkommenschaft<br />

gezeugt, die sich heute nach dem Namen ihrer<br />

Mutter Europäer nennt. Im restaurierten Palast von Knossos<br />

kann man die Wandbilder von athletischen Stierspringern<br />

bewundern. Und um die Götter gnädig zu stimmen, wurden<br />

Stiere, oft hundert an der Zahl, geopfert. Weh kam über die<br />

Gefährten des Odysseus, die – vom Hunger getrieben – dem<br />

Sonnengott Helios geweihte Stiere schlachteten gegen des<br />

Odysseus Befehl. Der Stier war den Etruskern und den Iberern<br />

ein Objekt der Verehrung ob seiner männlichen Kraft. Man<br />

10


Das Labyrinth<br />

kann heute noch immer im Stierkampf, der Tauromachie,<br />

in Spanien und im südlichen Frankreich die Spur davon finden.<br />

Die geschmähte Pasiphae, die Weitblickende, wie ihr<br />

Name lautet, war wohl nicht die erste, die sich dem Stier<br />

unterwarf. Der Stier war das Wappen tier und das Symbol des<br />

Südens der damals bekannten Welt, wie es im Norden der<br />

Hirsch und die Hirschkuh waren.<br />

Um nach diesem kleinen, aber bedeutsamen Umweg<br />

zurück zum Labyrinth zu finden, sei nun berichtet von dem<br />

Fortdauern der Labyrinthe in späteren Zeiten und ferneren<br />

Ländern. Die Sage von den geheimen Gängen im Erdinneren<br />

und von den darin verborgenen Schrecknissen oder Schätzen<br />

ist zu keiner Zeit mehr verschwunden. Sie ist zu allen<br />

Zeiten und in allen Ländern immer wieder einmal ans Licht<br />

gekommen, oft ohne dass man erraten konnte woher. In den<br />

Jahrhunderten des erwachenden wissenschaftlichen Denkens<br />

hat man oft versucht, ein Gebilde ähnlich dem einst erbauten<br />

oder ersonnenen wieder erstehen zu lassen. Man hat phantasiereiche<br />

Nachbildungen zu erbauen gesucht, zuerst in Bauten,<br />

dann auch in Pflanzungen. Man hat Irrgänge unter der<br />

Erde gesucht oder Irrgärten in Parkanlagen errichtet. Man hat<br />

Versteckspiele oder geheime Versammlungen in ihnen abgehalten.<br />

Man hat ganze Städte mit geheimen Kellern und Gängen<br />

untergraben, so dass man etwa in der Stadt, in der ich dieses<br />

schreibe, in Wien, von einem Ende der einst ummauerten<br />

Inneren Stadt ans andere gelangen kann, ohne das Licht der<br />

Sonne zu sehen. Man sage nicht, dass dies überall nur geschah,<br />

um Wein oder Pulverfässer zu lagern. Man wühlte sich oft<br />

auch in die Erde, um endlich Geborgenheit zu finden oder um<br />

Dingen zu begegnen, von denen unsere Schulweisheit sich<br />

nichts träumen ließ. Und man hat endlich auch gefunden oder<br />

zu finden gemeint, dass die Natur dem Menschen mit ihren<br />

Geheimnissen sich nie ganz eröffnen will.<br />

Ob all die Berichte, die in späteren Zeiten von Irrgängen<br />

im Inneren der Erde Nachricht geben, den einen Ursprung<br />

haben oder aus weit voneinander entfernten Quellen fließen,<br />

11


Richard <strong>Bletschacher</strong><br />

wer wüsste das zu sagen? Doch will ich einige davon nennen,<br />

denn unsere Literatur ist voll von ihnen. So etwa die<br />

Sage von dem im Inneren des Südtiroler Rosengartengebirges<br />

wohnenden König Laurin, der dort wunderbare Schätze<br />

gehortet haben soll. Oder die Sage des schottischen Sängers<br />

Thomas Rhymour, der von einer Elfenkönigin entführt<br />

wurde in ihr Land unter den Hügeln. Und die nordischen<br />

Sagen von den Höhlen der Trolle, zu denen Henrik Ibsen<br />

seinen von der eigenen Phantasie verfolgten Helden Peer<br />

Gynt hat reisen lassen. Von den Autoren, deren Namen uns<br />

bekannt sind, ist zunächst Dante Alighieri zu nennen, der<br />

von seinem großen Vorbild, dem Römer Vergil, in die finsteren<br />

Schächte der Unterwelt geleitet sein wollte. Dergleichen<br />

Schrecken, wie er dort schaute, hat der Sancho Pansa<br />

des Miguel Cervantes nicht erleben müssen, als er mit seinem<br />

Maultier in ein Erdloch gestürzt und in unterirdischen<br />

Gängen lange Tage fortritt, ehe er, von seinem Herrn Don<br />

Quijote freudig begrüßt, wieder an die Erdoberfläche kam.<br />

Während ich dieses schreibe, erinnere ich mich, dass ich<br />

vor vielen Jahren selbst zwei Erzählungen verfasst habe, die<br />

von verworrenen Labyrinthen berichten.<br />

So wie die Geschichte vom Labyrinth wohl aus vielen Quellen<br />

stammt und doch alle gemeinsam aus dem Heimweh<br />

unserer Seele nach dem Schoß unserer Erde, und so wie sie<br />

keinen erkennbaren Anfang hat, so wird sie wohl auch kein<br />

Ende je finden. Denn sie ist eine Geschichte vom ewigen Forschen<br />

des Menschen, das so wie es den hellen Himmel durchstreift<br />

und ihn mit Wundern und Zeichen belebt, auch nicht<br />

ablassen kann davon, sich in das Innerste der bewohnten Erde<br />

zu wenden.<br />

12


DER BAU DER PYRAMIDEN<br />

DES ALTEN REICHES<br />

Es gibt kaum eine Betrachtung in der Geschichte der Baukunst,<br />

die öfter und von so unterschiedlichen Seiten angestellt<br />

wurde, wie die Frage der Errichtung der ägyptischen<br />

Pyramiden. Dazu ist so Unterschiedliches und oft so wenig<br />

Kompetentes gesagt und geschrieben worden, dass ein Autor,<br />

der es ernst meint mit seiner Arbeit, sich doch eigentlich<br />

hüten sollte, sich in diesen kakophonischen Chor einzumischen.<br />

Nun habe ich allerdings, nun schon vor einigen Jahrzehnten,<br />

für mich selbst einige Überlegungen angestellt und<br />

nach längerem Zögern auch niedergeschrieben, die in manchem<br />

von den vorgetragenen Vermutungen und Behauptungen<br />

abweichen. Darum habe ich mich entschlossen, sie<br />

doch in diesen Band einzufügen, auch wenn sie wahrscheinlich,<br />

ebenso wie fast alles andere bisher Veröffentlichte, vor<br />

der wahren technischen Erfindungsgabe der alten Ägypter<br />

zurückbleiben müssen.<br />

Ehe ich aber beginne, meine Gedanken zu diesem so umstrittenen<br />

Thema darzulegen, will ich bekennen, dass ich<br />

mich keineswegs unter die Ägyptologen oder Archäologen<br />

zählen möchte, auch wenn mich wie manchen anderen nachdenklichen<br />

Menschen diese beiden Gebiete der Forschung<br />

der Menschheitsgeschichte stets angezogen und zuweilen<br />

sogar längerhin gefesselt haben. Und so habe ich mich nebenbei<br />

auch immer wieder einmal in die darauf sich beziehende<br />

Sach- und Fachliteratur versenkt, ohne darum den Anspruch<br />

auf akademisch gegründetes Wissen zu erheben. Diese Wissenschaften,<br />

die sich den ältesten historischen Gegenständen<br />

widmen, sind selbst nicht ebenso alt. Mit den ersten Ausgrabungen<br />

von Pompeji und mit Napoleons Feldzug nach<br />

Ägypten hat alles erst begonnen und man hat sich nach den<br />

ersten zeichnerischen Messungen bald auch daran gemacht,<br />

die Schriften der Alten zu prüfen, um Nachrichten aus<br />

13


Richard <strong>Bletschacher</strong><br />

früherer Zeit über die alten Kulturen zu entdecken. Danach<br />

setzte man den Spaten an nicht nur im Tale des Nil, sondern<br />

auch im Zwischenstromland und in anderen Ländern. Vieles<br />

überaus Staunenswerte hat man seither entdeckt. Manches<br />

ist uns ein Rätsel geblieben. Einige der Fragen, die in weiteren<br />

Kreisen immer wieder aufgeworfen wurden, haben<br />

auch mich beschäftigt. Im Vertrauen darauf, dass die Zeiten<br />

vorüber sind, in denen einem, der die Lösung eines Rätsels<br />

verfehlte, der Kopf vor die Füße gelegt wurde, soll im Folgenden<br />

der Versuch einer Antwort unternommen werden von<br />

einem, der nicht viel mehr als ein wenig Menschenverstand<br />

und ebenso viel Phantasie für sich in Anspruch nehmen kann.<br />

Bauingenieure, Statiker, Religionsforscher, Ethnologen, Historiker<br />

und Astronomen mögen es sich gefallen lassen, einer<br />

Stimme aus dem Abseits vorurteilsfrei solange zuzuhören, bis<br />

sie Argumente zur Entkräftung seiner Hypothese formuliert<br />

haben. Im Vorhinein sei jedoch darauf verwiesen, dass religiöse<br />

Beweggründe für den gewaltigen Bau ebenso wenig wie<br />

davon nicht immer abzugrenzende astrologische Ausrichtungen<br />

Gegenstand der Untersuchung sein können. Es soll genug<br />

damit sein, das Augenscheinliche und Handgreifliche dieser<br />

ungeheuerlichen Unternehmung nachprüfbar darzulegen.<br />

Begonnen sei mit der Behauptung, dass bisher die meisten<br />

Versuche einer Erklärung von einer Kenntnis von Technologien<br />

ausgegangen sind, die aus späteren Epochen stammen,<br />

und dennoch – oder gerade deswegen – zu keinem befriedigenden<br />

Ergebnis führten. Man suchte vor allen anderen die<br />

Frage zu beantworten, wie die riesigen Steinblöcke, die zum<br />

Bau der Jahrtausende überdauernden Werke dienten, in die<br />

Höhe gehievt und fugenlos an die ihnen zugedachten Orte<br />

gestellt werden konnten. Einige gingen dabei von der Überzeugung<br />

aus, dass sie zuerst senkrecht von unten nach oben<br />

gehoben oder gestemmt und danach seitlich verschoben worden<br />

sein mussten. Und man machte sich in der Folge Gedanken<br />

über die technischen Hilfsmittel, mit welchen diese<br />

Steine bewegt werden konnten, von denen die leichteren<br />

14


Der Bau der Pyramiden des alten Reiches<br />

auf ein Gewicht von etwa 2,5 Tonnen, die schwersten aber<br />

auf eines von 40 Tonnen geschätzt werden. Damit scheiterten<br />

solche Überlegungen schon im Ansatz, da dergleichen<br />

Gewichte nur von Hebekränen und Seilen aus einem gehärteten<br />

Metall, vergleichbar unserem Stahl, gehoben werden<br />

können, einem Metall, das in einer Epoche, die wir in Mitteleuropa<br />

noch zur Steinzeit rechnen, auch in dem weit gegen<br />

die Bronzezeit fortgeschrittenen Ägypten nicht zur Verfügung<br />

stand. Auf die untauglichen Versuche der jüngst vergangenen<br />

Jahre, die im besten Falle zeigten, dass mit Kränen<br />

oder Wippen aus Holz und Stricken nur Steinblöcke von weit<br />

geringerem Gewicht und Umfang unversehrt auf eine Ebene<br />

von nur wenigen Metern befördert werden konnten, soll hier<br />

nicht eingegangen werden. Sie mögen für arrangierte Dokumentationen<br />

des Fernsehens recht unterhaltsam sein, können<br />

aber nichts weiter als die Hilflosigkeit der Televisionäre<br />

erweisen. Der zweite Versuch einer Antwort lautet, dass die<br />

Steinblöcke weder gehoben noch gestemmt wurden, sondern<br />

geschoben und gezogen. Aber einerseits konnte weder durch<br />

Schieben noch durch Ziehen eine Verfugung erreicht werden,<br />

die an manchen Stellen – nicht an allen – so eng ist, dass<br />

sie es keinem Grashalm erlaubt, sich zwischen die Ritzen zu<br />

drängen. Andererseits waren die Seitenwände der Quader<br />

nicht groß genug, um Zugriff für die vielen Hände, und die<br />

Standflächen auf den unteren Blöcken nicht breit genug, um<br />

Raum für die vielen Füße zu gewähren, die nötig gewesen<br />

wären, um menschliche Muskelkraft zur Verschiebung der<br />

Kuben einzusetzen. Die Steine konnten bestenfalls, wenn<br />

sie von allen Seiten frei zugänglich waren, mit Menschenoder<br />

Tierkräften, mit Stricken und Rollen auf gleitender<br />

Fläche in sehr geringer Steigung aufwärts bewegt werden.<br />

Diese Bewegungsfreiheit aber war an dem ihnen bestimmten<br />

Standort in unmittelbarer Nachbarschaft anderer Quader<br />

nicht mehr gegeben. Die Steine konnten also am Ende ihres<br />

Weges nicht mehr geschoben oder gezogen werden. Wie aber<br />

wurden sie dann an ihre Stelle gebracht?<br />

15


Richard <strong>Bletschacher</strong><br />

Die erste Überlegung zu dieser Frage führt zu der Behauptung,<br />

dass die Blöcke weder von unten noch von der Seite,<br />

sondern allein von oben auf den Millimeter genau an den<br />

richtigen Platz gefügt werden konnten. Von oben, das will<br />

heißen: Sie mussten von oben nach unten herabgesenkt und<br />

durften danach nicht weiter verschoben werden. Ein unwilliges<br />

Kopfschütteln ist hier zu erwarten. Und es klingt ja auch<br />

irritierend, wenn da einer in der Überzeugung auftritt, dass<br />

jedes Gewicht, um auf eine höhere Ebene gesenkt zu werden,<br />

erst noch um einiges höher gehoben werden muss, um<br />

danach zielgenau abgesenkt zu werden. Die Aufgabe scheint<br />

auf den ersten Blick durch eine solche Manipulation eher<br />

erschwert als erleichtert. Auf den zweiten Blick jedoch lässt<br />

sich erkennen, dass die fugenlose Einsetzung des Steinblockes<br />

auf diese – und nur auf diese Weise – ohne nachträgliche<br />

Rückungen erfolgen kann. Während ein auf dem Boden aufruhender<br />

Stein nur durch seitlich eingesetzte Riesenkräfte<br />

bewegt werden könnte, ist ein schwebender Stein mit dem<br />

kleinen Finger zu lenken. Die Schwerkraft war die stärkste<br />

der Kräfte, die beim Bau der Pyramiden eingesetzt werden<br />

konnten. Dazu musste sie jedoch zuerst überwunden werden.<br />

Wie also wurden die Steine an den höher gelegenen Ort<br />

gebracht, um sie abzusenken?<br />

Man wird sich mit der Antwort darauf ein wenig gedulden<br />

und uns gestatten müssen, noch einmal zurück zu treten,<br />

um die Bedingungen des Landes und der Zeit darzulegen,<br />

unter welchen das Werk bewältigt wurde. Vorab ist dabei<br />

eine Überlegung anzustellen die Werkzeuge, die Baumaterialien<br />

und die Bewegungskräfte betreffend, die den Menschen<br />

dieser Epoche vor etwa viertausendsiebenhundert Jahren zur<br />

Verfügung standen. (Dass die Erbauung der Pyramiden gar<br />

vor sieben- oder mehr tausend Jahren geschehen sein soll,<br />

wie einige phantasievolle Theoretiker neuerdings vermuten,<br />

die sich mehr an astronomischen Kombinationen als an historischen<br />

Erkenntnissen orientieren, wollen wir beiseitelassen.)<br />

Die Epoche, mit der wir uns hier zu befassen haben, ist das<br />

16


Der Bau der Pyramiden des alten Reiches<br />

so genannte Alte Reich der Ägypter, das von ungefähr 2880<br />

bis 2220 währte und danach vermutlich durch einen Wandel<br />

des Klimas und nachfolgende Revolutionen in einer chaotischen<br />

Wirrnis und Zersplitterung endete, die man später als<br />

erste Zwischenzeit bezeichnet hat. Einzig in der Epoche des<br />

Alten Reiches wurden Pyramiden unterschiedlicher Form<br />

und Größe erbaut. Unser Augenmerk richtet sich jedoch<br />

nicht auf die älteren und wesentlich kleineren Stufenpyramiden<br />

und die Bauten des südlichen Sakkara, sondern allein<br />

auf die Werke der vierten Dynastie und hier vor allem auf die<br />

erste und größte der Pyramiden von Gizeh am Unterlauf des<br />

Nils, dem damaligen Zentrum des Reiches. Setzen wir nun<br />

aber einmal mit der klassischen Ägyptologie voraus, dass die<br />

älteste der drei Pyramiden von Gizeh, die des Cheops – auf<br />

ägyptisch nannte er sich Chufu – während der Jahre 2700<br />

bis 2630 vor unserer Zeitrechnung gebaut wurde, so befinden<br />

wir uns noch in einer vorbronzezeitlichen Epoche. Die<br />

einzig vorhandenen metallenen Werkzeuge, Hämmer, Beile,<br />

Winkelmaße und Meißel, waren aus dem weicheren Kupfer<br />

geschmiedet. Daneben dienten den Erbauern Pflöcke und<br />

Balken aus Zedernholz, aus Pflanzenfasern gewundene Stricke<br />

und Seile sowie geschärfte und geschliffene Feuersteine<br />

als Hilfsmittel. Die gebräuchlichen Baumaterialien waren,<br />

wie auch heute noch vor Ort zu überprüfen ist, Steine, Sand<br />

und Wasser, die in großen Mengen verfügbar waren, und<br />

das teure Holz, das vor allem aus dem Libanon eingeführt<br />

werden musste. Die Kräfte, die zur Bewegung dieser Materialien<br />

eingesetzt werden konnten, waren zunächst einmal die<br />

zahlloser durch Befehl gedrungener oder durch Versprechungen<br />

gedungener Arbeiter, die, um den Göttern oder<br />

dem Pharao zu dienen, sich mit ihren Familien in großen,<br />

aus Nilschlammziegeln gemauerten Siedlungen niederließen<br />

und oft ihr ganzes Leben am Bau verbrachten. Denn die<br />

durchschnittliche Lebenserwartung eines ägyptischen Handwerkers<br />

oder Bauern zu jener Zeit wird auf nicht mehr als<br />

dreißig bis fünfunddreißig Jahre geschätzt, Pharaonen und<br />

17


Richard <strong>Bletschacher</strong><br />

Hofbeamte dagegen wurden oft sehr viel älter. Die Erbauer<br />

der Pyramiden waren freie Ägypter, nicht fremde Helfer<br />

oder unterworfene Kriegsgefangene.<br />

Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht von Interesse,<br />

die bereits in der Frühzeit dokumentierten Handwerksberufe<br />

anzuführen. Neben den Töpfern, Webern und Korbflechtern<br />

waren dies vor allem die Werkzeugmacher, Schmiede und<br />

Steinmetze. Alles, was mit der Nahrungsbeschaffung und<br />

-zubereitung verbunden war, wurde vermutlich im Verband<br />

der Familien oder Sippen geleistet. Während der vier Monate,<br />

etwa von Mitte Juni bis Anfang Oktober, in welchen der Nil<br />

das Tal überschwemmte, konnten die Bauern auf den Feldern<br />

nicht arbeiten. Um zu pflügen, zu sähen und zu pflanzen,<br />

mussten sie das Abfließen der Gewässer abwarten. Sie konnten<br />

also in dieser Zeit für die Arbeiten am Bau eingesetzt werden,<br />

zumal auch andererseits durch den hohen Wasserstand<br />

des Nil der Transport der Steine auf Booten oder Flößen erst<br />

ermöglicht wurde. Die angeworbenen Arbeiter, seien es nun<br />

Bauern, Flussschiffer oder Handwerker, wurden in Gruppen<br />

eingeteilt, die untereinander wetteiferten. Man schätzt, dass<br />

es sich dabei um fünf durch eigene Namen unterschiedene<br />

Gruppen zu jeweils etwa tausend Männern handelte. Offenbar<br />

scheint es gelungen zu sein, sie vom Sinn dessen, was sie<br />

taten, zu überzeugen. Die Sklaverei war während der Dynastien<br />

des Alten Reiches unbekannt. Erst etwa neunhundert<br />

Jahre später, in der 12. Dynastie unter Pharao Sesotris, begann<br />

man Kriegsgefangene als Arbeitskräfte beim Bau von Bewässerungskanälen<br />

einzusetzen. Aus den in den ausgegrabenen<br />

Siedlungen gefundenen Essensresten konnte man schließen,<br />

dass die Ernährung der Arbeiter keinesfalls mangelhaft war.<br />

Größere Kräfte aber und längere Ausdauer als von Menschen<br />

konnte man von Tieren erwarten, vornehmlich Ochsen,<br />

Eseln und Büffeln. Pferde, und Maultiere wurden erst ab etwa<br />

l700 in Ägypten von den östlichen Kriegsvölkern übernommen.<br />

Diese menschlichen und tierischen Kräfte jedoch waren<br />

nicht die entscheidenden. Als weitaus stärkste aller am Bau<br />

18


Der Bau der Pyramiden des alten Reiches<br />

wirkenden Kräfte wurde – wir haben es schon gesagt – die<br />

Schwerkraft genutzt, die Anziehungskraft der Erde.<br />

Diese genannten und keine anderen Baumaterialien und<br />

Bewegungskräfte bestimmten die Dauer der Arbeit und die<br />

äußere Form des zu schaffenden Werkes. Die Gestalt der<br />

Pyramiden erscheint uns heute so ungewöhnlich, wie sie<br />

damals wohl selbstverständlich erschien. Etwas Vergleichbares<br />

zu schaffen wären wir heute mit den uns gebräuchlichen<br />

Werkstoffen und Bewegungskräften kaum mehr imstande.<br />

Damals aber, vor fast fünftausend Jahren, hätte kein anderes<br />

Gebäude von ähnlichen Ausmaßen entstehen können als<br />

eben dieses in vier Seitenflächen gleichförmig nach oben sich<br />

verjüngende wundersame Gebilde der Grabmäler der Pharaonen.<br />

Und hinzugefügt sei, dass ohne die Nachbarschaft des<br />

Nilstromes, als Träger der schwersten Gewichte, und ohne<br />

die erstaunliche frühzeitige Technik der Wasserkraftnutzung<br />

der Plan eines solch monumentalen Baus gar nicht hätte<br />

gefasst werden können.<br />

Der überwiegende Teil der zu verbauenden Steine wurde<br />

in unmittelbarer Nähe der Pyramiden am Westufer gewonnen,<br />

wie durch petrographische Untersuchungen festgestellt<br />

werden konnte. Die Tatsache aber, dass der feine Kalkstein<br />

für die äußere Verkleidung der Pyramiden in den etwa fünfzehn<br />

Kilometer weit entfernten Steinbrüchen auf dem Ostufer<br />

des Nil gebrochen werden musste, führt unabweisbar<br />

zu der Schlussfolgerung, dass deren Verladung allein auf<br />

dem Wasser geschehen konnte. Während das Brechen und<br />

Behauen der Steine das ganze Jahr über geschehen konnte,<br />

wurde eine Verschiffung vermutlich am besten zu den Zeiten<br />

der alljährlich wiederkehrenden Überschwemmungen<br />

bewerkstelligt, wobei möglicherweise durch Aushebung<br />

von – später wieder zugeschütteten – Kanälen eine größere<br />

Annäherung an die vorgesehenen Baustellen erreicht wurde.<br />

Dies mag auch für die Bausteine der westlichen Steinbrüche<br />

gelten, nachdem man einmal erkannt hatte, dass ihre Fortbewegung<br />

auf dem Wasser leichter zu bewältigen war als auf<br />

19


Richard <strong>Bletschacher</strong><br />

dem Lande. Dieser Gedanke ist keineswegs neu, zumal man<br />

auch an anderen Orten im Ägypten des Alten Reiches die<br />

verblüffenden Kenntnisse des Kanalbaues immer schon sehr<br />

wohl studieren konnte. Für den Transport auf dem Wasser<br />

benutzte man vermutlich Flöße aus starken, runden Holzstämmen,<br />

die man bei der späteren Beförderung der Blöcke<br />

recht gut als Rollen wiederverwenden konnte.<br />

Nach beträchtlichen Mühen war man nun also mit den ersten<br />

Bausteinen am Ort des Geschehens angelangt. Dort hatte<br />

man den Grundriss der geplanten Bauten auf den gewachsenen<br />

Felsboden geritzt oder gezeichnet und ihn nach den Sternbildern<br />

des Nachthimmels ausgerichtet, in einer Weise, die von<br />

den Archäoastronomen auch heute noch bestaunt wird. Im<br />

Messen und Peilen waren die alten Ägypter die unnachahmlichen<br />

Meister. Es war ihnen gelungen, die Ausrichtung der<br />

Seitenwände der Pyramiden nach den Zirkumpolarsternen<br />

des Nordhimmels und die Stellung der drei ältesten Pyramiden<br />

zueinander nach dem Sternbild des Orion mit einer<br />

Genauigkeit zu bestimmen, die uns auch heute noch in staunende<br />

Bewunderung versetzt. Auf diesen Aspekt, der für die<br />

Ägypter von höchster Bedeutung war, und in weiterer Folge<br />

auch die Ausrichtung der Grabkammern und Lichtschächte<br />

bestimmte, soll hier nicht weiter eingegangen werden. Die<br />

Theorien hierüber füllen zahlreiche Bücher. Festgehalten<br />

jedoch muss werden, dass die ägyptischen Gelehrten nicht<br />

nur was die Gestirne betrifft große Meister der Vermessung<br />

waren. Die alljährlichen Überschwemmungen des Nil hatten<br />

zur Folge, dass alle Grundstücke innerhalb des fruchtbaren<br />

Landes Jahr für Jahr neu zu vermessen waren und aller<br />

Besitz neu zugeteilt werden musste. Dies konnte nur durch<br />

Peilung von wenigen festen Bezugspunkten aus geschehen.<br />

Und wenn die Messungen und Rechnungen, die dem Bau der<br />

Pyramiden voraus gingen, großes Wissen, große Geduld und<br />

Sorgfalt erforderten, so gaben die Monumente nach ihrer<br />

Fertigstellung allem Messen und Rechnen ein neues Richtmaß<br />

für spätere Zeiten.<br />

20


Der Bau der Pyramiden des alten Reiches<br />

Hatte man nun auf dem Plateau von Gizeh die Fundamente<br />

des felsigen Bodens für alles Weitere vorbereitet und<br />

sie durch die Anlegung einer Wasserrinne aufs Genaueste<br />

waagrecht ausgerichtet, so rückte man die erste Schicht der<br />

Grundsteine an ihren Platz: immer von innen nach außen<br />

bauend, die inneren Steine zuerst und die Ecksteine zuletzt.<br />

Bevor wir aber zu erklären versuchen, auf welche Weise<br />

die mehr als zwei Millionen gewaltigen Steine von Stufe<br />

zu Stufe immer höher gelangten, wollen wir noch einmal<br />

festhalten, dass nicht allein die Ausrichtung des Grundrisses<br />

und die Neigung der Seitenflächen der Pyramide im Vorhinein<br />

festgelegt, sondern dass auch das verwinkelte System<br />

der inneren Gänge und die Lage der Grabkammern genau<br />

bestimmt werden mussten. Es ist nicht auszudenken, welche<br />

Arbeit zu bewältigen gewesen wäre, wenn eine Aushöhlung<br />

dieser Räume bei steter Einsturzgefahr erst im Nachhinein<br />

mit Hämmern und Meißeln hätte geschehen müssen. Ein<br />

jeder Hohlraum musste durch einen tragenden Stein überdeckt<br />

werden, der seitlich so gut abgestützt war, dass er<br />

weder verrücken noch einbrechen konnte unter der gewaltigen<br />

Last, die nach und nach auf ihn geschichtet wurde.<br />

Statiker haben hieran gewiss auch heute noch einiges zu<br />

bestaunen. Zur Abdeckung der Grabkammer des Königs<br />

etwa wurden die gewaltigsten Blöcke mit einem geschätzten<br />

Gewicht von jeweils 40 Tonnen eingefügt. Dass vor<br />

allem an dieser Stelle die viel bewunderte fugenlose Maßarbeit<br />

durch genaue Vorausberechnung der Position der von<br />

oben abzusenkenden Steine gewahrt wurde, erkennen wir<br />

noch heute, wenn wir die glatten, unverputzten Wände und<br />

Decken der Gänge und Kammern betrachten. Mit welcher<br />

Präzision dabei gearbeitet wurde, lässt uns ein Bericht des<br />

Herodot erahnen, der etwa 2300 Jahre nach Fertigstellung<br />

der Pyramiden Ägypten bereiste. Er will gesehen haben, dass<br />

die Grabkammer des Cheops im Innersten der Pyramide von<br />

einem Wasserteich umgeben war. Da nicht anzunehmen ist,<br />

dass abrinnendes Wasser über all die Jahrhunderte immer<br />

21


Richard <strong>Bletschacher</strong><br />

wieder ersetzt worden ist, muss die Verfugung der Steine<br />

nicht nur vollkommen lückenlos, sondern auch wasserdicht<br />

ausgeführt worden sein.<br />

Die Baumeister und ihre Helfer standen nach Errichtung<br />

des Fundaments nun also vor der entscheidenden Aufgabe,<br />

die zweite und alle folgenden Reihen der Steine an den ihr<br />

vorbestimmten Ort zu bewegen. Die einzige Kraft, die dazu<br />

imstande sein konnte, war – wir haben es schon betont – die<br />

Schwerkraft. Wenn man diesen uns heute so schwer zu fassenden<br />

Gedanken, diesen Rösselsprung der Phantasie, einmal<br />

gewagt hat, sind die danach folgenden Schritte schon<br />

etwas leichter zu erkennen. Und während die Experten weiterhin<br />

die Köpfe schütteln, wagen wir diese Schritte nun und<br />

behaupten: Die bereits gesetzten Steine wurden mit Sand<br />

zugeschüttet, bis sie vollkommen bedeckt waren. Sand war<br />

und ist auch heute noch in unübersehbarer Menge vorhanden.<br />

Und so wurden die nachfolgenden Reihen der Steinquader<br />

sprichwörtlich und tatsächlich in den Sand gesetzt. Nicht<br />

anders als man das auch heute noch mit den um so vieles<br />

kleineren Granitsteinen eines Kopfsteinpflasters zu machen<br />

pflegt. Diese Methode, Straßen zu bauen, ist so lange üblich,<br />

wie es gepflasterte Straßen gibt. Sie ist vielleicht ebenso alt<br />

wie die Pyramiden. Hände für eine solche Arbeit gab es<br />

genug, um den Sand in Körben oder Tüchern aus der Wüste<br />

dorthin zu tragen, wo er dienen sollte. Über das auf solche<br />

Weise aufgeschüttete Polster aus Sand wurden die Steinblöcke<br />

geschoben – und auf der ersten Wegstrecke auch wohl<br />

gezogen – vermutlich auf den Rollen der Baumstämme,<br />

die aus dem Verbund der Flöße gelöst worden waren. Dabei<br />

war darauf zu achten, dass die Steinquader am Bau jeweils<br />

von innen nach außen aufgereiht wurden unter besonderer<br />

Berücksichtigung der auszusparenden Hohlräume für Gänge<br />

und Kammern. Der genaue Zielort der Bausteine wurde von<br />

oben vermessen, vermutlich von Holzgerüsten aus, durch<br />

Lote und genormte Metallstäbe, die in den Sand gesteckt<br />

wurden. Und wenn die senkrechte Ausrichtung und Senkung<br />

22


Der Bau der Pyramiden des alten Reiches<br />

fixiert war, wurde von vielen Händen der Sand neben dem<br />

Steinblock beiseite gekehrt. Er rinnt unter dem Gewicht der<br />

Blöcke hervor. Man braucht dazu nicht unter den Stein zu<br />

greifen. Es genügt, ihn seitlich zu entfernen. Er rinnt und rieselt<br />

durch das Gewicht, das ihn presst, bis auf das letzte Korn.<br />

Wo nicht, dort wurde mit Wasser nachgeholfen, um ihn auszuschwemmen.<br />

Das ist eine Arbeit auch für schwache Hände.<br />

Und es steht zu befürchten, dass die Bauaufseher keine Skrupel<br />

kannten, auch Frauen und Kinder zu diesen Diensten<br />

einzusetzen. Ein jedes Kind hat das Spiel mit dem rieselnden<br />

Sand schon einmal mit leichteren Gewichten im Sandkasten<br />

erprobt. Der Stein senkt sich durch den schwindenden Sand<br />

an seinen vorbestimmten Platz und braucht nicht weiter verschoben<br />

zu werden, wenn zuvor genau gemessen wurde.<br />

Die Ausführung des gewaltigen Werkes erfolgte also,<br />

wenn wir diese Gedanken gelten lassen, nicht in der „Aufrichtung“<br />

der sich nach oben zu verjüngenden Pyramiden<br />

durch senkrechte seitliche Bautürme, sondern gleichsam<br />

von innen heraus durch das Anschleppen und Anhäufen der<br />

Steinblöcke und durch deren Zuschütten mit Sand. Und<br />

die Arbeiten wurden fortgesetzt auf einer dadurch allmählich<br />

sich erhöhenden Ebene der Bautätigkeit. Aus der Ferne<br />

mochte man damals den Eindruck gewinnen, dass ein riesiger,<br />

weit ausgedehnter und flach ansteigender Sandhügel sich<br />

unter den Füßen der Bauleute erhob, einer mächtigen Düne<br />

der nahen Wüste vergleichbar. Und dazu bedurfte es keiner<br />

weiteren Hilfsmittel als der vielen tausend Hände, die den<br />

Sand in kleinen Gefäßen, seien es Weidenkörbe oder Tragtücher<br />

über immer höher wachsende Rampen herbeitrugen.<br />

Diese Rampen wurden vermutlich aus den zum Bau ungeeigneten<br />

Gesteinsbrocken aus den Steinbrüchen erbaut, aus<br />

Bruchstücken, die, von geringerem Ausmaß und Gewicht,<br />

auch von Ochsen und Eseln über die Kanäle herbeigeschafft<br />

und zu Stützmauern verwendet werden konnten, um das<br />

Abrutschen oder Auseinandersickern des aufgehäuften<br />

Sandes zu verhindern. Wenn man nun etwa die Höhe der<br />

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