FN-Ausgabe-November 2023-Alles
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
musiktipps<br />
till lindemann<br />
Zunge<br />
Motor<br />
sufjan stevens<br />
Javelin<br />
Asthmatic Kitty (Cargo)<br />
Schon seit im September <strong>2023</strong> Lindemanns<br />
Single „Zunge“ erschien, samt einem erneut<br />
kontrovers diskutierten Videoclip – ohne<br />
Skandal und Provokation geht´s nun mal<br />
nicht –, war bei Streaming-Anbietern nichts<br />
mehr von Universal Music zu lesen, eigentlich<br />
langjähriges Plattenlabel von Rammstein.<br />
Till Lindemann agiert jetzt zweigleisig,<br />
solistisch und mit Rammstein (zwei Touren<br />
in Planung). Am 3. <strong>November</strong> erscheint das<br />
neue Soloalbum im Eigenvertrieb, natürlich<br />
auch auf CD und Vinyl samt limitierter<br />
Fanbox. Nach dem Machwerk „Ich hasse<br />
Kinder“ und heftigen Missbrauchsvorwürfen<br />
badet sich der Berliner sichtlich genüsslich<br />
im Skandalsumpf. <strong>Alles</strong> passt bei<br />
anhaltendem Megaerfolg in unsere Zeit:<br />
Mit faschistoid anmutender Inszenierung,<br />
garniert mit Gewaltfantasien, ungebremster<br />
Lust an Tabubrüchen und infernalischer<br />
Selbstdarstellung führt Lindemann brachial<br />
eine kaputte Welt vor Augen und Ohren.<br />
Wer am 14. <strong>November</strong> Lindemann in Bamberg<br />
mit eigener Metal-Band live erleben<br />
will, muss beim Eintritt in die Brose Arena<br />
seinen Ausweis bereithalten: Zugang nur ab<br />
18 Jahren! Helmut Ölschlegel<br />
Ein zwingendes Narrativ ist in der Lage, den bloßen<br />
musikalischen Wert eines Albums zu sublimieren. Dessen<br />
eingedenk mühen sich Künstler*innen regelmäßig<br />
und oft mit dem wenig kreativen Verweis auf ihre<br />
frisch diagnostizierte „anxiety“ um die Konstruktion<br />
eines ebensolchen. Dass Sufjan Stevens, ohnehin einer<br />
der gefeiertsten Singer-Songwriter der Gegenwart,<br />
derlei nicht nötig hat, offenbart sich in der Beiläufigkeit<br />
der Mitteilungen, sein zehntes Album sei seinem<br />
im Frühjahr verstorbenen Partner gewidmet und er<br />
selbst aufgrund einer Erkrankung wahrscheinlich das<br />
nächste Jahr an den Rollstuhl gefesselt. Wenn auch<br />
nicht als Promo gedacht, potenziert sich mit diesem<br />
Wissen geradezu die emotionale Wucht von „Javelin“<br />
im Ohr des Rezipienten, wie schon bei der Verarbeitung<br />
des Todes der Mutter auf „Carrie & Lowell“ von<br />
2015. Setzte jenes Meisterwerk musikalisch noch auf<br />
brutal intime Reduktion, konterkariert „Javelin“ seine<br />
todtraurigen Lyrics und schlichten Gitarrenpickings<br />
mit erhebenden Twee-Chören und orchestralen<br />
Ausbrüchen. Damit gerät es nicht nur zum gefühlten<br />
Triumph über den Tod, sondern auch zur karriereumspannenden<br />
Destillation von Stevens’ Sound, welche<br />
den überbordenden Größenwahn seines Frühwerks<br />
zum songdienlichen Stilmittel domestiziert und dieses<br />
Album zum perfekten Einstieg in eine beeindruckende<br />
Diskografie geraten lässt. Maximilian Beer<br />
wilhelmine<br />
Wind<br />
Warner<br />
the view<br />
Exorcism Of Youth<br />
Cooking Vinyl<br />
Endlich wieder guter, neuer Deutsch-<br />
Pop, der weit weg von Schlager ist. Man<br />
könnte schreiben, Wilhelmine bringt<br />
„frischen Wind“ in den Musikmarkt, so<br />
langweilige Metaphern werden hier aber<br />
nicht verwendet. Wilhelmine ist vielleicht<br />
die neue Judith Holofernes, ein bisschen<br />
Mainstream, aber nicht zu sehr. Vielleicht<br />
ist sie auch das neue Rosenstolz, ein bisschen<br />
Mainstream, aber auch sehr queer.<br />
Ihre Songs haben viel Gefühl, die Texte<br />
sind zart, aber nicht kitschig und ihre<br />
Stimme „verkauft“, was sie singt. Man hört<br />
sofort, dass Wilhelmine bisher nur Singles<br />
und EPs gedroppt hat – und das im<br />
positiven Sinn: Jeder Song auf ihrem Debüt<br />
ist so eingängig, dass er für sich stehen<br />
könnte. Und die Lieder rattern einmal<br />
durch alle Gefühlslagen: „Schwarzer<br />
Renault“ zeigt eine Wut, die wohl jede/r<br />
kennt, das Auto der/des Ex scheint überall<br />
zu sein. Und dann gibt es natürlich<br />
den obligatorischen Selbstfindungssong,<br />
der bei dieser Art von Pop nicht fehlen<br />
darf: „Ich gehör wieder mir“. Hoffentlich<br />
bleibt dieser kleine Stern noch lange am<br />
Pop-Himmel.<br />
Sabine Mahler<br />
Irgendwie konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren,<br />
das Comeback der 2017 aufgelösten The<br />
View sei vielleicht doch keine so gute Idee gewesen.<br />
Kaum wiedervereint, kamen sich Sänger Kyle Falconer<br />
und Bassist Kieren Webster bei einem Konzert in<br />
Manchester über die Frage, wer das nächste Lied singen<br />
darf, derart in die Haare, dass der Gig nach einer<br />
schlagzeilenträchtigen Bühnenprügelei abgebrochen<br />
wurde. <strong>Alles</strong> nicht so schlimm, beteuerten die Streithähne<br />
später, „wir hatten einen brüderlichen Krach,<br />
der zu weit ging“. Und ohne Folgen blieb, zumindest<br />
lässt das sechste Album „Exorcism Of Youth“ keine<br />
tieferen Gräben erahnen. So schütteln die Schotten<br />
mal eben wieder zwölf View-typische Singalongs<br />
zwischen Britpop und Pubrock aus dem Ärmel, die<br />
mit all den Handclaps, hymnischen Refrains und<br />
catchy Melodien bisweilen zwar nahe dran sind am<br />
Guilty Pleasure, aber dann doch viel zu mitreißend,<br />
als dass man ihnen widerstehen möchte. Potenzielle<br />
Hits wie „Feels Like“, „Woman Of The Year“, „Neon<br />
Lights“ oder „Arctic Sun“ sind jedenfalls sichere<br />
Floorfiller in jeder Indie-Disco. Zudem schenkt uns<br />
das Trio eine wertvolle Lebensweisheit, die man<br />
sich als Wandtattoo übers Bett hängen möchte:<br />
„If you‘re allergic to mornings, wake up in the afternoon.“<br />
Vielleicht sind sie in Manchester ja einfach<br />
nur etwas zu früh aufgestanden. Uli Digmayer<br />
KURZ & GUT<br />
Der Kreis schließt sich: Schon als Pampers-Rocker<br />
konnten Hannes und Andi<br />
Teichmann unter den Tischen im Kneitinger<br />
Jazzclub ihres Vaters krabbelnd<br />
miterleben, wie es sich anfühlt, wenn<br />
man die Kontrolle aufgibt und die Musik<br />
fließen lässt. Inzwischen haben sich<br />
die Gebrüder zu den einflussreichsten<br />
Elektronik-Künstlern des Landes entwickelt.<br />
Und Papa Uli? Aus seinem Saxophon<br />
flutet weiter der freie Geist des<br />
Freejazz. Zum 80. Geburtstag jetzt wieder<br />
gemeinsam mit den Pampersrockern:<br />
Teichmann + Soehne: „Flows“. Absolut<br />
hörenswert. cro<br />
Den meisten Menschen ist Glen Hansard<br />
noch als leicht verplanter Staubsauger-Mechaniker<br />
und Straßenmusiker<br />
im irischen Überraschungserfolg „Once“<br />
ein Begriff. Fast 20 Jahre ist das her. Und<br />
jeder, der jetzt denkt „ach schon?“, dürfte<br />
zum Zielpublikum von Hansards neuen<br />
Albums „All That Was East Is West of<br />
Me Now“ zählen. Er sei zur Erkenntnis<br />
gekommen, dass jetzt mehr hinter ihm<br />
läge als vor ihm, erklärt der angegraute<br />
Ire den Albumtitel. Ein wenig<br />
nostalgisch erscheint der folkig-erdige<br />
Indierock mithin. Wunderschön ist das<br />
trotzdem. cro<br />
DJ-Toplist > <strong>November</strong><br />
Hallo Spencer Jazz Explosion<br />
1. John Coltrane - Ascension<br />
2. Jaimie Branch - Prayer for Amerikkka<br />
3. Eric Dolphy - Something Sweet, Something Tender<br />
4. Hiroshi Suzuki - Kuro To Shiro<br />
5. Ornette Coleman Trio - Faces and Places<br />
6. Lee Morgan - Boy, What A Night<br />
7. Jeff Parker - 2019-05-19<br />
8. Black Monument Ensemble - The Colors that you bring<br />
9. Matana Roberts - Pov Piti<br />
10. Sun Ra - Tapestry from an Asteroid<br />
44 www.fraenkische-nacht.de