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Zukunft Forschung 02/2023

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

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Ausgabe 2/2<strong>02</strong>3, 15. Jg.<br />

zukunft forschung <strong>02</strong> | 23<br />

zukunft<br />

forschung<br />

FORSCHEN<br />

AM INN<br />

thema: ein fluss im gebirge | open science: offenheit für mehr vertrauen I recht:<br />

digitales demokratie-update I architektur: volumetrisches entwerfen I geologie:<br />

geburt der alpen I zoologie: walforschung in tirol I textilchemie: farben aus der natur<br />

DAS MAGAZIN FÜR WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG DER UNIVERSITÄT INNS BRUCK


v Rider: Sandra Lahnsteiner | Photo: Christoph Oberschneider<br />

hybrid<br />

Steigfelle<br />

Aus dem Herz der Alpen,<br />

auf die Berge der Welt …<br />

… auf contour Steigfellen<br />

mit hybrid Klebertechnologie<br />

#wearebackcountry<br />

contour_skins<br />

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contourskins.com<br />

2 zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Foto: Andreas Friedle


EDITORIAL<br />

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,<br />

In dieser Ausgabe von ZUKUNFT FORSCHUNG möchten<br />

wir Sie auf eine interdisziplinäre <strong>Forschung</strong>sreise entlang des<br />

Inns mitnehmen: Der Inn ist seit jeher die Lebensader unserer<br />

Region und wie auch die Alpen und ihre Gletscher ein sensibles<br />

Ökosystem, in dem sich die Folgen der Klimakrise massiv bemerkbar<br />

machen. Als solches ist er ein wichtiges Freiluftlabor für<br />

unsere Naturwissenschaftler:innen, die Impulse zu drängenden<br />

Klima- und Umweltschutzthemen geben. Der Inn ist aber auch<br />

ein Untersuchungsgegenstand von Geschichts-, Erziehungs- und<br />

Literaturwissenschaftler:innen, die ebenso wertvolle neue Perspektiven<br />

auf die Herausforderungen unserer Zeit eröffnen.<br />

An unserem Schwerpunktthema, aber auch an den weiteren Beiträgen<br />

zeigt sich einmal mehr, welche Bedeutung universitäre<br />

<strong>Forschung</strong> für die Bewältigung großer gesellschaftlicher Herausforderungen<br />

hat. So berichten wir beispielsweise in diesem<br />

Heft auch über die Entwicklung nachhaltiger Druckfarben für<br />

die Industrie, über KI-basierte architektonische Entwurfsmethoden<br />

oder Möglichkeiten, wie Demokratien in Krisen resilienter<br />

werden können.<br />

Stolz sind wir auch auf die zahlreichen Preise und Auszeichnungen,<br />

die unsere Forscher:innen in den letzten Monaten<br />

Minion<br />

erhalten<br />

haben. Ganz besonders freuen wir uns, dass unter den<br />

Ausgezeichneten sehr viele Frauen<br />

DE<br />

sind. Denn eines unserer<br />

großen Anliegen ist die Förderung von Frauen in sämtlichen<br />

Bereichen der Universität.<br />

PEFC zertifiziert<br />

Wir danken Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, für Ihr Interesse<br />

Dieses Produkt<br />

stammt aus<br />

und Ihre Unterstützung und wünschen Ihnen eine interessante<br />

nachhaltig<br />

Lektüre!<br />

bewirtschafteten<br />

Wäldern und<br />

kontrollierten<br />

Quellen<br />

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VERONIKA SEXL, REKTORIN<br />

GREGOR WEIHS, VIZEREKTOR FÜR FORSCHUNG<br />

Myriad<br />

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IMPRESSUM<br />

Herausgeber & Medieninhaber: Leopold-Franzens-Universität Inns bruck, Christoph-Probst-Platz, Innrain 52, 6<strong>02</strong>0 Inns bruck, www.uibk.ac.at<br />

Projektleitung: Büro für Öffentlichkeitsarbeit und Kulturservice – Mag. Uwe Steger (us), Mag. Eva Fessler (ef), Dr. Christian Flatz (cf); publicrelations@uibk.ac.at<br />

Verleger: KULTIG Werbeagentur KG – Corporate Publishing, Sparkassenplatz 2, 6<strong>02</strong>0 Inns bruck, www.kultig.at<br />

Redaktion: Mag. Melanie Bartos (mb), Daniela Feichtner, MA (df) Mag. Andreas Hauser (ah), Mag. Stefan Hohenwarter (sh), Lisa Marchl,<br />

MSc (lm), Fabian Oswald, MA (fo), Mag. Susanne Röck (sr) Lektorat & Anzeigen: Stefanie Steiner, BA Layout & Bildbearbeitung: Mag.<br />

Andreas Hauser, Florian Koch Fotos: Andreas Friedle, Universität Inns bruck Druck: Gutenberg, 4<strong>02</strong>1 Linz<br />

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Foto: Uni Inns bruck<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 3


BILD DER<br />

WISSENSCHAFT


INHALT<br />

TITELTHEMA<br />

8<br />

ÖKOLOGIE. Gabriel Singer plädiert für einen umfassenden Schutz<br />

noch bestehender Naturräume und sieht intakte Bäche und Flüsse<br />

als Versicherung gegen die Folgen der Klimakrise. 8<br />

GESCHICHTE. Der Inn – vom Transportkorridor in der Antike<br />

bis zur kriegsstrategischen Wasserstraße im Mittelalter. 12<br />

WASSERBAU. Einmündungen von Wildbächen in Gebirgsflüsse<br />

gelten als neuralgische Bereiche bei Hochwasserereignissen. Ein<br />

Team um Bernhard Gems hat diese genauer untersucht. 14<br />

UMWELTGESCHICHTE. Mit einer neu geschaffenen Wasserbaubehörde<br />

sollte der Inn im 18. Jahrhundert begradigt werden. 16<br />

PÄDAGOGIK. Die Lernplattform Aqua MOOC will ein anderes<br />

Bewusstsein für Wasser schaffen und junge Menschen motivieren,<br />

Flüsse zu erforschen, zu dokumentieren und neu zu erleben.18<br />

TITELTHEMA. Der Inn ist nicht nur Lebensader einer<br />

Region, sondern auch ein sensibles Ökosystem und<br />

ein jahrhundertealter Transportweg. Und noch vieles<br />

mehr, wie diese interdisziplinäre <strong>Forschung</strong>sreise von<br />

ZUKUNFT FORSCHUNG zeigt.<br />

24<br />

FORSCHUNG<br />

ZOOLOGIE. Bettina Thalinger und Lauren Rodriguez sind Teil des<br />

europäischen Wal- und Biodiversitätsmonitoring-Projekts eWHALE<br />

und bereiten die große Citizen-Science-Kampagne 2<strong>02</strong>4 vor. 26<br />

THIRD MISSION. PEAK ist die neue Kommunikationsplattform der<br />

Universität Inns bruck für die Bereiche Klima und Nachhaltigkeit. 29<br />

ARCHITEKTUR. Stefan Rutzinger und Kristina Schinegger entwickeln<br />

ein zukunftsweisendes Tool, das volumetrisches Entwerfen via KI in<br />

einer responsiven Computer-Umgebung möglich machen soll. 32<br />

STANDORT. Günther Dissertori, Rektor der ETH<br />

Zürich, über sein Physikstudium in Inns bruck,<br />

universitäre Rankings sowie den fehlenden Zugang<br />

der Schweiz zu EU-Programmen.<br />

30<br />

CHEMIE. Auf dem Weg zur Kreislaufwirtschaft entwickelt Judith<br />

Deriu im Labor natürliche Farbpigmente aus Pflanzen und darauf<br />

basierende, nachhaltige Druckfarben für die Industrie. 34<br />

SOZIALWISSENSCHAFT. Felix Holzmeister über Open Science und den<br />

dadurch angestoßenen Kulturwandel im Wissenschaftsbetrieb. 36<br />

RECHT. Das EU-Projekt REGROUP untersucht, wie Europas<br />

Gesellschaften nach der Pandemie resilienter werden können. 42<br />

GEOLOGIE. Um die jüngste Phase in der<br />

Entstehungsgeschichte der Alpen zu erforschen,<br />

analysiert die Geologin Hannah Pomella feine Risse,<br />

die zerfallendes Uran in Kristallen hinterlässt.<br />

RUBRIKEN<br />

EDITORIAL/IMPRESSUM 3 | BILD DER WISSENSCHAFT: UMGEBUNG EINES SCHWARZEN LOCHS 4 | NEUBERUFUNG: PAVEL OZEROV 6 | FUNDGRUBE VER GANGEN HEIT: 100. GEBURTS-<br />

TAG VON WOLFGANG STEGMÜLLER 7 | MELDUNGEN 29 + 41 | WISSENSTRANSFER 38 – 40 | PREISE & AUSZEICHNUNGEN 45 – 47 | ZWISCHENSTOPP: LUCA BARBIERO 48 | SPRUNG-<br />

BRETT INNS BRUCK: PHILIPP KASTNER 49 | ESSAY: WORTSUCHE „INN“ von Christine Riccabona und Anton Unterkircher 50<br />

Die direkte Umgebung des supermassiven schwarzen Lochs Sgr A*<br />

im Zentrum unserer Galaxie beobachtet mit dem James Webb Space<br />

Telescope (JWST) im Infrarotbereich des Lichtspektrums: Die Aufnahme<br />

entstand am 14. September 2<strong>02</strong>3 als Teil eines <strong>Forschung</strong>sprogramms<br />

unter der Leitung von Nadeen B. Sabha (Institut für Astro- und Teilchenphysik),<br />

das die Sternentstehung im Einflussbereich von Sgr A*<br />

und die damit verbundenen extremen Bedingungen untersucht. Das<br />

Bild beruht auf noch unvollständigen Observationen, dennoch sind<br />

bereits Details wie die von den zahlreichen Sternen angestrahlten Gasund<br />

Staubwolken in unübertroffener Qualität zu erkennen.<br />

Fotos: Andreas Friedle (2), ETH Zürich / Markus Bertschi; COVERFOTO: Florian Koch; BILD DER WISSENSCHAFT: ESA / NASA / CSA / Nadeen B<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 5


NEUBERUFUNG<br />

PAVEL OZEROV studierte Sprachwissenschaft<br />

an der Hebräischen Universität in<br />

Jerusalem. Er promovierte 2015 an der La<br />

Trobe University in Melbourne (Australien)<br />

mit einer Studie zur Grammatik des Burmesischen.<br />

Seit der Promotion beschäftigt er<br />

sich insbesondere mit der interaktionalen<br />

Linguistik und der Dokumentation nordostindischer<br />

Sprachen. Er hatte Postdoktoranden-Stellen<br />

der Alexander von Humboldt-<br />

Stiftung an der Universität zu Köln und der<br />

Martin Buber Society an der Hebräischen<br />

Universität in Jerusalem inne. Von 2019<br />

bis 2<strong>02</strong>3 war er Junior-Professor an der<br />

Universität Münster, seit März 2<strong>02</strong>3 ist er<br />

Professor an der Universität Inns bruck.<br />

ÜBER SPRECHEN & SCHREIBEN<br />

Pavel Ozerov befasst sich mit den Unterschieden zwischen gesprochener und<br />

geschriebener Sprache – und er dokumentiert die vielfältigen Sprachen Nordost-Indiens.<br />

Das birmanische Wort für sehen kann<br />

je nach Kontext „Gestern habe ich<br />

dich gesehen“ als auch „Gestern<br />

haben sie den Film gesehen“ bedeuten,<br />

erklärt Pavel Ozerov. Der Linguist ist seit<br />

März 2<strong>02</strong>3 Professor für Allgemeine und<br />

Angewandte Sprachwissenschaft am Institut<br />

für Sprachwissenschaft. Die Amtssprache<br />

Myanmars war die erste Sprache, die<br />

er noch als Student in Jerusalem intensiver<br />

gelernt hat. „Ich war damals für einige<br />

Jahre der einzige Student, der Birmanisch<br />

belegt hat. Die Sprache hat mich fasziniert,<br />

weil sie ganz anders funktioniert als alle<br />

anderen Sprachen, die ich bis dahin kannte“,<br />

erläutert er. Birmanisch kennt zum<br />

Beispiel Wort-Aspekte, die in Form von<br />

kurzen Endungen verwendet werden und<br />

die Dinge wie Absicht, Höflichkeit oder<br />

Stimmung transportieren. „Diese Suffixe<br />

können Nuancen transportieren, die<br />

wir in den meisten westlichen Sprachen<br />

in diesen kurzen Formen praktisch nicht<br />

kennen. Zum Beispiel gibt es Suffixe, die<br />

unerwartetes Handeln ausdrücken, ohne<br />

die Situation zu kontrollieren, oder die die<br />

Aussage als generell höflich, aber zugleich<br />

als zunehmend ungehalten markieren.“<br />

Mimik und Gestik<br />

Über das Birmanische kam Ozerov auf<br />

die tibetobirmanischen Sprachen Nordost-Indiens<br />

– einer der Hotspots ethnolinguistischer<br />

Diversität weltweit: „Wenn Sie<br />

eine halbe Stunde mit dem Auto durch<br />

das Tal, in dem ich hauptsächlich forsche,<br />

fahren, durchqueren Sie elf Dörfer, in<br />

denen sieben unterschiedliche Sprachen<br />

gesprochen werden. Wir wissen bis heute<br />

nicht, wie diese Diversität entstanden<br />

ist.“ Ozerov vergleicht die Unterschiede<br />

zwischen diesen Sprachen etwa mit dem<br />

zwischen süddeutschen Dialekten und<br />

Holländisch: Man hört eine Verwandtschaft,<br />

aber versteht einander nicht ohne<br />

Probleme. „Bei den Beispielen Holländisch<br />

und Bayerisch hat es allerdings<br />

2. 000 Jahre und 1. 000 Kilometer Entfernung<br />

gebraucht, damit sich Aussprache<br />

und Grammatik so auseinanderentwickeln.<br />

In meiner <strong>Forschung</strong> habe ich es<br />

mit Dörfern zu tun, die zwanzig Minuten<br />

zu Fuß voneinander entfernt sind, wo die<br />

Trennung aber genauso klar ist.“ Ozerov<br />

beforscht diese teils nur von wenigen tausend<br />

Menschen verwendeten Sprachen,<br />

ihre Grammatik und Verwandtschaft mit<br />

anderen Sprachen intensiv, katalogisiert<br />

sie und hilft damit bei ihrer Erhaltung.<br />

Neben diesem praktischen Aspekt arbeitet<br />

Ozerov auch theoretisch: Er befasst<br />

sich mit dem Aufbau von gesprochener<br />

Sprache. Und er betont dabei eine Ähnlichkeit<br />

zwischen den Nuancen, die das<br />

Birmanische auch in der Schriftsprache<br />

kennt, und gesprochenem Hebräisch oder<br />

Englisch: „Wir sind so an schriftliche Sprache<br />

gewöhnt, dass uns das beim klassischen<br />

Sprachvergleich gar nicht auffällt:<br />

In mehreren Aspekten hat Birmanisch<br />

Dinge verschriftlicht, die andere Sprachen<br />

durch Mimik und Gestik oder einfach<br />

durch den Kontext des Anwesend-Seins<br />

im gleichen Raum ebenfalls transportieren“,<br />

erläutert der Linguist. Dazu arbeitet<br />

er mit Aufzeichnungen von Alltagsgesprächen<br />

in mehreren Sprachen – wie<br />

Menschen Gedanken zu Sätzen formen,<br />

unterscheidet sich mündlich sehr von der<br />

geschriebenen Kommunikation. „Traditionell<br />

untersuchen Sprachwissenschaftler<br />

komplexe, wohlgeformte und oft künstliche<br />

Sätze, die im Voraus geplant werden<br />

– mit unserer alltäglichen Sprache hat das<br />

allerdings wenig zu tun.“ sh<br />

6 zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Foto: Andreas Friedle


FUNDGRUBE VERGANGENHEIT<br />

ALPBACHER WENDE<br />

Wolfgang Stegmüller war der führende Vertreter der analytischen Wissenschaftstheorie im<br />

deutschsprachigen Raum. Den Grundstein zu seinem Schaffen legte er an der Universität Inns bruck.<br />

Als Wolfgang Stegmüller im Sommer<br />

1948 die Alpbacher Hochschulwochen<br />

besucht, hat er seine der traditionellen<br />

Schulphilosophie verpflichtete<br />

Dissertation hinter sich und die ähnlich<br />

gelagerte Habilitationsschrift schon abgabebereit<br />

in der Schublade. Doch Alpbach<br />

wird eine Wende in sein Schaffen bringen,<br />

denn für ihn gänzlich Neues wird dort mit<br />

Karl Popper diskutiert. „In den ersten drei<br />

Jahren meiner Tätigkeit als wissenschaftliche<br />

Hilfskraft war mir der Wiener Kreis<br />

nicht einmal vom Hörensagen bekannt“,<br />

bekennt Stegmüller Jahre später.<br />

Der Wiener Kreis war eine Gruppe Intellektueller,<br />

die sich ab Mitte der 1920er-<br />

Jahre rund um den Physiker und Philosophen<br />

Moritz Schlick bildete. Die Wissenschaftler<br />

fühlten sich – so wie jene der<br />

Berliner Gruppe und des Prager Zirkels<br />

– dem Logischen Empirismus (auch Logischer<br />

Positivismus oder Neopositivismus)<br />

verpflichtet, trotz unterschiedlicher<br />

philosophischer Positionen verband sie<br />

der Versuch, so Stegmüller, „antimetaphysische<br />

Tatsachenforschungen zu betreiben,<br />

die zu einer wissenschaftlichen<br />

Weltauffassung führen sollten.“ Doch<br />

dieses Denken war dem Austrofaschismus<br />

und später den Nationalsozialisten<br />

ein Dorn im Auge, fast alle Wissenschaftler<br />

wurden vom Hochschulbetrieb ausgesperrt<br />

und mussten emigrieren. Nach<br />

dem Krieg kehrte keiner von ihnen auf<br />

Dauer zurück, Empirismus und wissenschaftlich<br />

ausgerichtete Philosophie fand<br />

daher kein Gehör an österreichischen<br />

(und deutschen) Universitäten.<br />

Initialzündung in Alpbach<br />

So müssen nach 1945 außeruniversitäre<br />

Institutionen wie Alpbach in die Bresche<br />

springen. Dort kommt Stegmüller<br />

1948 über Popper erstmals mit dessen<br />

kritischem Rationalismus und dem logischen<br />

Positivismus in Berührung. Ein<br />

Jahr später argumentiert er in Alpbach<br />

schon mit der „Schlickschen Theorie“,<br />

ab 1951 macht sich sein philosophischer<br />

WOLFGANG STEGMÜLLER kam vor<br />

100 Jahren, am 3. Juni 1923, in Natters<br />

bei Inns bruck zur Welt. Er studierte in<br />

Innsbruck Wirtschaftswissenschaften<br />

(Promotion 1945) sowie Philosophie (Promotion<br />

1947) und habilitierte sich 1949<br />

mit dem Thema Sein, Wahrheit und Wert<br />

in der Gegenwartsphilosophie. Ein <strong>Forschung</strong>sstipendium<br />

brachte ihn 1953/54<br />

an die University of Oxford. 1958 wurde<br />

er Professor für Philosophie, Logik und<br />

Wissenschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität<br />

München. Stegmüller<br />

war korrespondierendes Mitglied der<br />

Österreichischen Akademie der Wissenschaften,<br />

der Bayerischen Akademie der<br />

Wissenschaften und des Institut International<br />

de Philosophie in Paris. 1989 wurde<br />

der renommierte Philosoph zum Ehrendoktor<br />

der Universität Inns bruck ernannt.<br />

Stegmüller starb 1991 in München.<br />

Richtungswechsel hin zur Erkenntnisund<br />

Wissenschaftstheorie sowie zur analytischen<br />

Philosophie bemerkbar. 1952,<br />

als 29-Jähriger, veröffentlicht Stegmüller<br />

seine Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie,<br />

im Prinzip seine Habilitation,<br />

allerdings ergänzt um ein Kapitel zum<br />

Logischen Positivismus.<br />

Während seines <strong>Forschung</strong>sjahrs in<br />

Oxford erscheint 1954 Metaphysik, Wissenschaft,<br />

Skepsis. Diese radikale Infragestellung<br />

der Metaphysik ruft an der Universität<br />

Inns bruck heftige Kritik hervor.<br />

Emerich Coreth, Theologe und Philosoph,<br />

wirft Stegmüller „vollendeten Skeptizismus“<br />

vor, der „folgerichtig im Irrationalismus<br />

– und schließlich im Nihilismus“<br />

endet. Der akademische Streit hat Folgen:<br />

1954 ist der streng katholische Heinrich<br />

Drimmel Unterrichtsminister. Der ÖVP-<br />

Politiker attestiert dem Positivismus eine<br />

„zerstörende Wirkung“ und Nähe zum<br />

Bolschewismus und will in seiner Amtszeit<br />

dafür sorgen, dass „in Österreich<br />

kein Positivist Professor“ wird. Folglich<br />

übergeht er 1956 bei der Besetzung einer<br />

Philosophie-Professur in Inns bruck den<br />

erstgereihten Stegmüller.<br />

In Deutschland hat man weniger Berührungsängste.<br />

Stegmüller wird Gastprofessor<br />

in Kiel und Bonn, erhält Rufe<br />

an die Unis in Bonn, Hannover und München.<br />

In München sagt er 1958 zu. Von<br />

dort übt er, wie die Gesellschaft für analytische<br />

Philosophie im Jahr 2001 festhalten<br />

wird, „einen entscheidenden Einfluss bei<br />

der Wiedergeburt der analytischen Philosophie<br />

und der mit logischen Methoden<br />

arbeitenden Wissenschaftstheorie im<br />

deutschen Sprachraum nach der ‚dunklen<br />

Zeit‘ des Nationalsozialismus und der unmittelbaren<br />

Nachkriegszeit“ aus.<br />

Die Universität Inns bruck sollte noch<br />

einmal ins Blickfeld des renommierten<br />

Philosophen rücken. 1964 wird er für eine<br />

neue Philosophie-Professur wieder erstgereiht.<br />

Stegmüller wäre willens gewesen,<br />

doch die Verhandlungen mit dem Ministerium<br />

scheiterten. <br />

ah<br />

Foto: <strong>Forschung</strong>sinstitut Brenner-Archiv / Nachlass Wolfgang Stegmüller / Sig. 033-123-005<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 7


DIE RESTWILDNIS<br />

ERHALTEN<br />

Vom kleinen Gletscherbach bis zum mächtigen Fluss: Komplexe<br />

Gewässer-Netzwerke stehen im Mittelpunkt des Interesses von Gabriel Singer<br />

vom Institut für Ökologie. Der Gewässerökologe plädiert für einen umfassenden<br />

Schutz noch bestehender Naturräume und sieht intakte Bäche und Flüsse als<br />

Versicherung gegen die Folgen der Klimakrise.<br />

8 zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Foto: Andreas Friedle


Foto: Andreas Friedle<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 9


TITELTHEMA<br />

GABRIEL SINGER (*1976) ist<br />

seit 2019 Universitätsprofessor<br />

für Aquatische Biogeochemie<br />

am Institut für Ökologie und<br />

leitet die dortige Arbeitsgruppe<br />

für Fließgewässer-Ökosystem-Ökologie.<br />

Singer studierte<br />

in Wien und war ab 2013<br />

Arbeitsgruppenleiter am Leibniz-Institut<br />

für Gewässerökologie<br />

und Binnenfischerei (IGB)<br />

in Berlin. Seine Arbeit wurde<br />

mehrfach ausgezeichnet,<br />

unter anderem mit einem ERC<br />

Starting Grant. Mit seinem<br />

zehnköpfigen Team erforscht<br />

er Ökosystemfunktionen in<br />

Flussnetzwerken.<br />

ZUKUNFT: Sie betrachten in Ihrer <strong>Forschung</strong><br />

Flüsse und Bäche als Netzwerke. Wie vernetzt<br />

sind unsere Fließgewässer denn noch?<br />

GABRIEL SINGER: Unseren Untersuchungen<br />

liegt die räumliche Struktur unserer Fließgewässer<br />

zu Grunde. Flüsse und Bäche bilden<br />

komplexe Netzwerke mit verschiedenen<br />

Lebensräumen. Ein Bach kann nie isoliert<br />

betrachtet werden, sondern er ist Teil eines<br />

Fließgewässernetzwerkes. Das mag vielleicht<br />

banal klingen, ist es aber ganz und gar nicht.<br />

Viele Prozesse in den verzweigten Fließgewässersystemen<br />

sind bis heute nicht gänzlich<br />

verstanden. Aus zahlreichen Zubringern<br />

zusammengesetzt bietet ein Flussnetzwerk<br />

einen kontinuierlichen Lebensraum für eine<br />

Vielzahl von Organismen. In vielen Regionen<br />

der Erde besitzen aber nur noch die wenigsten<br />

Flüsse und Bäche einen natürlichen Lauf,<br />

unveränderten Wasserhaushalt oder intakten<br />

Sedimenttransport. Das betrifft auch Tirols<br />

größten Fluss, den Inn. Das Abflussregime,<br />

der natürlicherweise oft variable Wasserstand,<br />

ist häufig stark durch menschliche Beeinflussung<br />

verändert. Die Gewässer bleiben<br />

wohl vernetzt, Wasser bewegt sich am Ende<br />

ja „durch“ die Landschaft, aber der Mensch<br />

greift massiv in die Art und Weise ein – was<br />

wiederum Auswirkungen auf die Resilienz<br />

gegenüber Störungen in diesem Wassersystem<br />

hat.<br />

ZUKUNFT: Was ist unter „Störung“ zu verstehen?<br />

SINGER: Unter Störung verstehen wir zum Beispiel<br />

Flutereignisse oder auch das Trockenfallen<br />

von Fließgewässern. Das ist zunächst ganz<br />

normal, ja sogar wichtig für das Zusammenspiel<br />

dieser Lebensräume. Die natürlichen<br />

Schwankungen im Wasserstand von Flüssen,<br />

die zu saisonalen Hoch- und Niedrigwassern<br />

führen, sind für ökologische Vielfalt und<br />

Funktionen wie Selbstreinigung essenziell.<br />

Jedoch verändern menschliche Eingriffe wie<br />

Uferverbauungen, Flussbegradigungen, Entnahmen<br />

für Bewässerung und der Betrieb<br />

von Wasserkraftwerken diese Dynamiken oft<br />

negativ. Diese Eingriffe führen zu einer Fragmentierung<br />

der Flusslandschaften, was weitreichende<br />

Folgen für die Biodiversität und<br />

Ökosysteme hat. In Österreich beispielsweise<br />

ist die längste ungestörte Flussstrecke nur<br />

etwa 60 Kilometer lang, nur 15 Prozent der<br />

Flüsse gelten als ökologisch intakt, und mehr<br />

als die Hälfte der einheimischen Fischarten ist<br />

in ihrem Bestand gefährdet.<br />

ZUKUNFT: Wir leben in Zeiten der Klimakrise,<br />

aber auch der Biodiversitätskrise. Wie ist die<br />

Situation in Bezug auf Fließgewässer zu bewerten?<br />

SINGER: Die Klimakrise befeuert den bereits<br />

durch andere Treiber verursachten Verlust<br />

der Biodiversität. Eine wichtige Ursache für<br />

10 zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Foto: Andreas Friedle


TITELTHEMA<br />

das massive Artensterben, das wir auch in<br />

Bächen und Flüssen sehen, ist der Habitatsverlust.<br />

Wir nehmen uns einfach zu viel Lebensraum.<br />

Die Folgen der menschgemachten<br />

Klimakrise zeigen sich aber auch zunehmend<br />

als Ursache für Biodiversitätsverlust und<br />

Artensterben. Fließgewässer werden durch<br />

steigende Temperaturen wärmer mit entsprechenden<br />

Folgen für viele Lebewesen, aber<br />

die noch viel wichtigere Konsequenz ist die<br />

damit verbundene Veränderung der Abflussregime.<br />

Wir wissen, dass Extremereignisse<br />

zunehmen werden. Diese Ereignisse nehmen<br />

Einfluss auf die Störungsdynamik, aber auch<br />

auf die Dynamik, mit der ein gerade gestörter<br />

Lebensraum durch Organismen aus der<br />

Umgebung wiederbesiedelt werden kann: In<br />

fragmentierten Gewässernetzwerken können<br />

sich Habitate nach Extremereignissen nur<br />

noch schlecht oder gar nicht mehr erholen.<br />

Das heißt, Lebewesen sterben an einer Stelle<br />

ab, aber durch die fehlende Konnektivität zu<br />

Quellpopulationen – sofern diese nicht ohnehin<br />

auch in Mitleidenschaft gezogen wurden<br />

– kommt kein neues Leben nach.<br />

ZUKUNFT: Welche Folgen haben diese Veränderungen?<br />

SINGER: Wenn das Abflussregime eines Flusses<br />

umgestaltet wird, treten die Auswirkungen<br />

nicht nur an der Stelle des Eingriffs auf,<br />

sondern erstrecken sich über große Bereiche<br />

des Netzwerkes. Das liegt daran, dass der<br />

Austausch von Arten wie auch der Transport<br />

von Ressourcen beeinträchtigt werden.<br />

Die besondere Struktur der Verbindungen<br />

zwischen den verschiedenen Lebensräumen<br />

ist es, die Flussökosysteme zu solch artenreichen<br />

Umgebungen macht. Wir messen in<br />

Fließgewässern, korrekterweise in Binnengewässern<br />

– gemeinsam mit Seen – eine höhere<br />

Artendichte, also mehr Arten pro Fläche, als<br />

in terrestrischen und marinen Lebensräumen.<br />

Wir beobachten in Binnengewässern<br />

aber auch das schnellste Artensterben. Das<br />

liegt einerseits am Lebensraumverlust und<br />

andererseits an der Verringerung der Vielfalt<br />

der Lebensräume in Fließgewässern durch<br />

ihre „Zähmung“. Teilweise vermuten wir,<br />

dass die derzeit bereits bestehende Fragmentierung<br />

von Flussnetzwerken eine sogenannte<br />

Aussterbensschuld bedingt. Das heißt, wir<br />

rechnen auch bei Aufrechterhaltung des Status<br />

quo mit einem weiteren Verlust an Arten<br />

in der nahen <strong>Zukunft</strong>. Biologische Systeme<br />

reagieren zeitverzögert.<br />

ZUKUNFT: Sie sprechen von vielen bereits unumkehrbaren<br />

Konsequenzen. Welche Schutzmöglichkeiten<br />

gibt es dann noch?<br />

SINGER: Die Biodiversitätskrise und damit<br />

verbunden die Klimakrise werden andere<br />

Ökosysteme und Landschaften schaffen, aber<br />

nicht „keine“. Insofern lässt sich daraus keine<br />

Billigung von Naturzerstörung ableiten.<br />

Unsere Abhängigkeit von funktionierenden<br />

Ökosystemen und Biodiversität wird nicht<br />

verschwinden, wenn der Klimawandel seine<br />

Spur der Zerstörung zieht. Wir sind gut beraten,<br />

Ökosysteme so gut es geht in einem natürlichen<br />

Zustand zu bewahren, weil dieser<br />

„Die Bemühungen rund um Renaturierungen von Fließgewässern<br />

sind inzwischen an vielen Orten zu beobachten und natürlich zu<br />

begrüßen. Aber ich glaube dennoch, dass es wichtig wäre zu<br />

verstehen, dass Systeme, die jetzt noch intakt sind, intakt bleiben<br />

müssen. Wenn also an Ort A etwas demoliert wird und dafür an<br />

Ort B renaturiert, gleicht das diese Eingriffe in die Natur nicht aus.“<br />

<br />

Gabriel Singer, Institut für Ökologie<br />

Zustand die größtmögliche Resilienz bedeutet.<br />

Aus einem Gletscherbach wird ein nicht<br />

minder wichtiger Bergbach werden. Anpassungsfähigkeit<br />

ist in Zeiten des Klimawandels<br />

ein sehr hohes Gut. Daher ist es wichtig<br />

die bestehende Restwildnis an Lebensräumen<br />

im Wasser und an Land möglichst zu erhalten.<br />

Der Erhalt der Biodiversität ist unsere<br />

Versicherung, da intakte Systeme mit diesen<br />

Konsequenzen besser umgehen können. Ich<br />

kann als Ökologe nur immer wieder betonen,<br />

dass unser Überleben als Menschen davon abhängt,<br />

die Biodiversität zu erhalten.<br />

ZUKUNFT: Es werden zunehmend Renaturierungsmaßnahmen<br />

im Bereich von Flüssen<br />

und Bächen durchgeführt oder sind geplant,<br />

auch in Tirol. Ist das der richtige Weg?<br />

SINGER: Die Bemühungen rund um Renaturierungen<br />

von Fließgewässern sind inzwischen<br />

an vielen Orten zu beobachten und natürlich<br />

zu begrüßen. Und den Studierenden<br />

sage ich auch gerne, dass wir ohnehin in das<br />

Zeitalter der Renaturierung eintreten müssen,<br />

um dem Artensterben zu begegnen, sie sich<br />

also auch über ihre beruflichen Aussichten keine<br />

Sorgen machen sollten. Aber ich glaube<br />

dennoch, dass es wichtig wäre, zu verstehen,<br />

dass Systeme, die jetzt noch intakt sind, intakt<br />

bleiben müssen. Wenn also an Ort A etwas demoliert<br />

wird und dafür an Ort B renaturiert,<br />

gleicht das diese Eingriffe in die Natur nicht<br />

aus. Das ist aus ökologischer Sicht nicht möglich.<br />

Aus dem Artenschutz wissen wir, dass es<br />

sehr viel einfacher ist, ein intaktes System zu<br />

schützen als ein kaputtes zu reparieren. Der<br />

erste Schritt sollte künftig immer sein, intakte<br />

Systeme in Frieden zu lassen. mb<br />

PODCAST<br />

Gabriel Singer, Universitätsprofessor<br />

für Aquatische<br />

Biogeochemie, war zu Gast im<br />

Podcast der Universität Innsbruck,<br />

„Zeit für Wissenschaft“:<br />

Im ausführlichen Gespräch erzählt<br />

er mehr über seine Arbeit<br />

in der Natur und im Labor, die<br />

Bedeutung von Wissenschaftskommunikation<br />

und Engagement<br />

im Umweltschutz – und<br />

was vom Kajakfahren<br />

für die <strong>Forschung</strong> gelernt<br />

werden kann.<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 11


TITELTHEMA<br />

BEI DER RÜCKEROBERUNG der Stadt Kufstein durch Kaiser Maximilian I. im Jahr 1504 spielte der Inn eine zentrale Rolle.<br />

EIN FLUSS MIT GESCHICHTE<br />

Der Inn: ein Fluss, drei Länder und unzählige Geschichten. Florian Messner, Archäologe an der<br />

Universität Inns bruck, hat sich mit der Geschichte des Gebirgsflusses vom Transportkorridor in der<br />

Antike bis zur kriegsstrategischen Wasserstraße im Mittelalter beschäftigt.<br />

Betrachtet man den Inn heute, ist es<br />

kaum überraschend, dass er für<br />

den Waren- und Truppentransport<br />

genutzt wurde, zieht er sich doch vom<br />

Schweizer Engadin durch Tirol nach Passau.<br />

Der heutige Inn – breit, relativ gerade<br />

verlaufend und tief – hat jedoch wenig<br />

mit dem historischen Fluss gemeinsam.<br />

„Bis ins 19. Jahrhundert prägten zahlreiche<br />

Mäander und Biegungen das Bild<br />

dieses Flusses. Doch auch wenn es viel<br />

schwieriger war als heute, wurde der Inn<br />

im Laufe seiner Geschichte immer wieder<br />

als Wasserstraße genutzt“, erklärt Florian<br />

Messner vom Institut für Archäologien<br />

der Universität Inns bruck.<br />

Im Rahmen seiner <strong>Forschung</strong>sarbeit zur<br />

Belagerung Kufsteins durch den späteren<br />

Kaiser Maximilian I. im Jahr 1504 hat sich<br />

Messner näher mit der historischen Rolle<br />

des Inns als Transportweg auseinandergesetzt.<br />

Archäologische und historische<br />

Belege für den Beginn der Schifffahrt<br />

auf dem Inn fehlen zwar, doch es existieren<br />

starke Hinweise darauf, dass der<br />

Fluss schon in der Ur- und Frühgeschichte<br />

genutzt wurde. „In Schwaz, bekannt<br />

für seine reichen Kupfervorkommen,<br />

wurden sicherlich Waren über den Fluss<br />

transportiert, lange bevor schriftliche<br />

Aufzeichnungen existierten“, ist Florian<br />

Messner überzeugt. Die Römer nutzten<br />

von Veldidena aus, dem heutigen Wilten<br />

12 zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Fotos: Institut für Archäologien, Topographia Germaniae, privat


TITELTHEMA<br />

in Inns bruck, mit Sicherheit den Inn, um<br />

Truppen und Waren zu transportieren.<br />

„Sehr wahrscheinlich haben die Römer<br />

auch bereits damals Truppen von Innsbruck<br />

nach Passau – dort war das nächste<br />

Castell – befördert“, erklärt Florian Messner.<br />

Für Truppentransporte wurde der<br />

Inn laut Messner meist nur flussabwärts<br />

genutzt. „Es gab zwar die Möglichkeit,<br />

Transporte mit Hilfe von Zugtieren auch<br />

flussaufwärts durchzuführen, dies wurde<br />

laut meinen Quellenrecherchen aber nur<br />

für Warentransporte genutzt, da der Inn<br />

mit einem Gefälle von rund einem Promille<br />

doch ein recht steiler Fluss ist und<br />

somit flussaufwärts nur sehr schwer beschiffbar<br />

war. Militärische Truppen kamen<br />

hier zu Fuß viel schneller voran“,<br />

erläutert Messner.<br />

Ein einschneidendes Ereignis für die<br />

Nutzung des Inns war die Errichtung<br />

der Saline in Hall im Hochmittelalter.<br />

Um den enormen Holzbedarf für den Betrieb<br />

der Saline zu decken, wurde quer<br />

über den Inn eine Rechenanlage errichtet.<br />

„Diese Konstruktion diente dazu, das im<br />

Oberinntal und im Engadin geschlagene<br />

Holz, das flussabwärts getriftet wurde,<br />

aufzufangen“, erläutert Messner. Diese<br />

Rechenanlage führte dazu, dass der Inn<br />

bis Hall nicht mehr befahrbar war. „Eine<br />

Schleusenanlage war zwar vorhanden,<br />

diese war aber nahezu ausschließlich<br />

dem Landesfürsten vorbehalten“, fügt<br />

Messner hinzu. Hall entwickelte sich dadurch<br />

zu einer Art Frachthafen für Transporte<br />

auf dem Inn. Das dafür verantwortliche<br />

Salzmeieramt koordinierte hier die<br />

Lagerung und den Weitertransport der<br />

Waren von Hall nach Passau.<br />

Militärischer Vorteil<br />

Eine besondere militärische Rolle spielte<br />

der Inn im Jahr 1504 während der Belagerung<br />

Kufsteins. Im Landshuter Erbfolgekrieg<br />

wurde die Stadt im Kampf<br />

um die Nachfolge des Herzogs von Bayern-Landshut<br />

von den pfälzischen Wittelsbachern<br />

erobert. „Tirols Landesfürst<br />

Maximilian verfügte über die größten<br />

und besten Kanonen dieser Zeit. Diese<br />

im Zeughaus in Inns bruck stationierten<br />

Kanonen sollten zur Rückeroberung Kufsteins<br />

natürlich zum Einsatz kommen“,<br />

erklärt Florian Messner. Dank der Wasserstraße<br />

des Inns konnten die Kanonen<br />

schnell und effektiv innerhalb eines Tages<br />

nach Kufstein transportiert werden und<br />

DER KUPFERSTICH von 1679 zeigt den Schiffsverkehr am Inn vor Hall in Tirol.<br />

sorgten so für eine rasche Rückeroberung<br />

der Stadt. Ein Beweis dafür, wie der Inn<br />

nicht nur als Handelsweg, sondern auch<br />

als strategischer Vorteil in Kriegszeiten<br />

genutzt wurde.<br />

Truppentransporte<br />

Auch im Kontext des Dreißigjährigen<br />

Krieges wurde der Inn zu einem strategischen<br />

Transportweg für die Kriegsführung.<br />

„Obwohl Tirol von den direkten<br />

Kriegshandlungen weitgehend verschont<br />

blieb, zogen dennoch Verstärkungstruppen<br />

aus Italien durch das Land“, erläutert<br />

Florian Messner. Die logistischen<br />

Herausforderungen dieser Zeit waren<br />

enorm, denn die Versorgung der Soldaten<br />

war problematisch und die Versorgungsstationen<br />

rar. „Es kam daher häufig<br />

vor, dass die Truppen auf ihrem Weg die<br />

Dörfer plünderten“, beschreibt Messner.<br />

Um die Bevölkerung zu schützen und<br />

FLORIAN MESSNER (*1985) studierte<br />

Geschichte und Archäologie an der Universität<br />

Inns bruck und ist wissenschaftlicher<br />

Projektmitarbeiter an der Universität<br />

Inns bruck. Seine <strong>Forschung</strong>sinteressen<br />

liegen unter anderem in der Blankwaffenund<br />

Rüstungskunde in Mittelalter und<br />

Früher Neuzeit sowie in der Geschichte<br />

der mittelalterlichen Kriegsführung.<br />

die Ordnung aufrechtzuerhalten, wurden<br />

die Soldaten ab Hall möglichst rasch<br />

auf Schiffen durch das Land befördert.<br />

„Diese Maßnahme sollte die Interaktion<br />

zwischen den durchziehenden Truppen<br />

und der lokalen Bevölkerung minimieren<br />

und so Plünderungen verhindern“, fügt<br />

Messner hinzu. Im Jahr 1557 wurde zudem<br />

eine Versorgungsordnung erlassen,<br />

welche die Städte entlang des Inns – Hall,<br />

Kufstein, Rosenheim und Wasserburg –<br />

in die Pflicht nahm, für die Verpflegung<br />

der Soldaten zu sorgen.<br />

Auch die Türkenkriege, die vor allem<br />

im Mittelmeer geführt wurden, haben indirekt<br />

mit dem Inn zu tun. „Für die Galeeren,<br />

die die Kämpfe am Mittelmeer<br />

ausfochten, wurden zahlreiche Ruderer<br />

benötigt. Deshalb hat man in der frühen<br />

Neuzeit begonnen, Todesstrafen in sogenannte<br />

Galeerenstrafen umzuwandeln.<br />

Die Gefangenen wurden also als Ruderer<br />

auf den Galeeren eingesetzt“, erklärt Florian<br />

Messner. Zuerst wurden nur italienische<br />

Strafgefangene dafür eingesetzt,<br />

doch nach und nach begann auch das<br />

Heilige Römische Reich, seine Strafgefangenen<br />

zu verkaufen. „Um diese Hundertschaften<br />

an Gefangenen möglichst<br />

schnell zu transportieren, wurden sie<br />

über den Inn aufwärts bis Hall geschifft<br />

und dann zu Fuß über den Brenner in die<br />

Adriahäfen gebracht, wo sie auf die Galeeren<br />

verfrachtet wurden“, so Messner,<br />

der davon überzeugt ist, dass Flüsse<br />

mehr als Landschaftsmerkmale sind.<br />

„Der Inn zeigt durch seine vielfältige<br />

Nutzung, dass Flüsse dynamische Akteure<br />

sein können, die die Geschichte ihrer<br />

Region mitgestalten“, so der Archäologe<br />

abschließend.<br />

sr<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 13


TITELTHEMA<br />

GEFAHREN-HOTSPOTS<br />

Einmündungen von Wildbächen in Gebirgsflüsse gelten als neuralgische Bereiche bei<br />

Hochwasserereignissen. Ein Team um Bernhard Gems vom Arbeitsbereich Wasserbau der<br />

Universität Inns bruck hat diese genauer untersucht.<br />

Hochwasser sind in den Alpen<br />

keine Seltenheit. Erst im August<br />

2<strong>02</strong>3 erreichte der Inn im Tiroler<br />

Oberland seinen 100-jährlichen Scheitelabfluss,<br />

und es wurde aufgrund zahlreicher<br />

kleinräumiger Hochwasser- und<br />

Murenereignisse in vielen Orten Österreichs<br />

Zivilschutzalarm ausgelöst. „Die<br />

topografischen Gegebenheiten im Gebirge<br />

beeinflussen die Eigenschaften der<br />

Prozesse in den Gewässern und somit<br />

auch mögliche Hochwasserereignisse<br />

maßgeblich“, erklärt Bernhard Gems,<br />

assoziierter Professor am Arbeitsbereich<br />

Wasserbau am Institut für Infrastruktur<br />

der Uni Inns bruck. In dem gemeinsam<br />

mit der Freien Universität Bozen durchgeführten<br />

Projekt ECOSED_TT hat er sich<br />

näher mit der Verlagerung von Feststoffen<br />

bei Hochwasserprozessen in alpinen<br />

Gewässern beschäftigt.<br />

Neuralgische Punkte für die Entstehung<br />

von Schäden im Zuge von Hochwasserereignissen<br />

sind oftmals die Schnittstellen<br />

zwischen zwei Gewässern, etwa zwischen<br />

kleinen Seitenzubringern aus Wildbacheinzugsgebieten<br />

und Gebirgsflüssen. „Die<br />

Stellen, an denen steile Wildbäche auf Gebirgsflüsse<br />

treffen, sind ein Hotspot für<br />

die Entstehung von Schäden im Zuge von<br />

Naturgefahrenprozessen“, erklärt Bernhard<br />

Gems.<br />

Zurückzuführen ist dies häufig auf die<br />

enormen Feststoffeinträge aus den Wildbacheinzugsgebieten<br />

und die entsprechend<br />

unzureichenden Abfuhrkapazitäten<br />

der Vorfluter in den Einmündungsbereichen.<br />

Bei Starkregen im Gebirge<br />

können in den Wildbächen Abflussprozesse<br />

mit sehr großen Intensitäten und<br />

entsprechendem Gefahrenpotenzial entstehen<br />

und sich in Form von fluviatilem<br />

oder murartigem Prozessverhalten talwärts<br />

verlagern. Dort münden sie in den<br />

jeweiligen Vorfluter und geben das viele<br />

Wasser, den mittransportierten Sand,<br />

Steine und Geröll sowie Wildholz an den<br />

großen Fluss weiter. An dieser Stelle wird<br />

der Wildbach abgebremst, und es treten<br />

schnell Ablagerungen der eingetragenen<br />

Sedimente auf, die flussaufwärts einen<br />

Rückstau verursachen und dort liegende<br />

Siedlungsgebiete gefährden können.<br />

Diese Prozesse in den Gewässern<br />

umfassen verschiedene Typen von Verlagerungsprozessen<br />

wie Muren, murartige<br />

Einträge oder fluviatile Prozesse.<br />

Letztere werden im Allgemeinen oft als<br />

Hochwasser bezeichnet. „Von fluviatilen<br />

Verlagerungsprozessen spricht man<br />

streng genommen nur bei Anteilen an<br />

Feststoffen am Abflussgemisch bis etwa<br />

20 Prozent, Prozesse mit höheren Feststoffkonzentrationen<br />

werden als murartige<br />

Ereignisse bezeichnet“, verdeutlicht<br />

der Wissenschaftler. Welcher Prozesstyp<br />

an welcher Stelle entlang der Gewässer<br />

eintritt, hängt dabei von zahlreichen Faktoren<br />

ab. So spielen neben dem Niederschlagsereignis<br />

an sich auch die Reliefenergie<br />

des Einzugsgebietes und damit<br />

auch die Neigung der Gewässer sowie<br />

1 2<br />

14 zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Fotos: Bernhard Gems (2), Andreas Friedle (1)


TITELTHEMA<br />

die Menge der vorhandenen Sedimente<br />

im Einflussbereich der Gewässer und deren<br />

Zusammensetzung eine Rolle.<br />

Alpine Gegebenheiten<br />

Bestehende Modelle und Untersuchungen<br />

zu Naturgefahrenprozessen im Nahbereich<br />

von Zusammenflüssen zweier<br />

Fließgewässer beschränken sich bis dato<br />

überwiegend auf große Talflüssen beziehungsweise<br />

Voralpenflüsse, die nicht unmittelbar<br />

den topografischen Verhältnissen<br />

von alpinen Wildbächen und Gebirgsflüssen<br />

entsprechen. „Unser Ziel beim<br />

Projekt ECOSED_TT war es, bestehende<br />

Erkenntnisse und Modelle um Daten für<br />

die in alpinen Einzugsgebieten typischerweise<br />

vorherrschenden steilen Gerinne zu<br />

erweitern“, erklärt Bernhard Gems.<br />

Um die Ausprägungen der Gefahrenprozesse<br />

an diesen neuralgischen Punkten<br />

genauer untersuchen zu können, haben<br />

die Wissenschaftler:innen um Gems<br />

einen groß angelegten, adaptierbaren<br />

physikalischen Modellversuch im Wasserbaulabor<br />

der Universität Inns bruck<br />

geplant und errichtet. Anhand des Modells<br />

können Einmündungssituationen<br />

mit verschiedenen Gerinne-Neigungen<br />

und Einmündungswinkeln sowie mit<br />

unterschiedlichen Prozesseigenschaften<br />

und -intensitäten untersucht werden. „In<br />

unserem Modellversuch haben wir zahlreiche<br />

mögliche Szenarien nachgestellt,<br />

wie Einmündungen aussehen können.<br />

Durch die Variation der einzelnen Prozesseigenschaften<br />

sehen wir, wie sich einzelne<br />

Faktoren im Einmündungsbereich<br />

im Sinne räumlich variabler Ablagerungsund<br />

Ero sionsdynamiken auswirken“, beschreibt<br />

Bernhard Gems.<br />

Geländestudien<br />

Um ihre Modelle und Experimente mit<br />

entsprechenden Daten aus der Natur zu<br />

hinterlegen, haben die Wissenschaftler:innen<br />

um Gems auch Erhebungen im Gelände<br />

durchgeführt. „Wir haben anhand<br />

von Ereignis-Chroniken über 135 neuralgische<br />

Einmündungsbereiche in Tirol und<br />

Südtirol ausgewählt, dort die topografischen<br />

Gegebenheiten dokumentiert und<br />

auch Proben entnommen, um detaillierte<br />

Informationen über die Kornverteilungen<br />

der Sedimente zu erhalten“, so Gems.<br />

Daneben kamen auch Daten aus GIS-<br />

Kartierungen zum Einsatz, um genaue<br />

Informationen über die topografischen<br />

Gegebenheiten im Umfeld der Gewässer<br />

miteinzubeziehen. Zusätzlich führten die<br />

Wissenschaftler:innen im Rahmen des<br />

Projektes auch Befliegungen von zwei Gewässerabschnitten<br />

in Nord- und Südtirol<br />

durch. „Herkömmliche Laserscan-Daten,<br />

die uns in der GIS-Datenbank zur Verfügung<br />

stehen, bilden zwar das Umfeld<br />

der Gewässer sehr gut ab, die Gewässer<br />

selbst werden hier aber nur oberflächlich<br />

gescannt“, erklärt Gems. Um auch Daten<br />

über die topografische Beschaffenheit<br />

der Gerinne miteinbeziehen zu können,<br />

griffen die Wissenschaftler:innen auf das<br />

Know-how von Airborne Hydro Mapping<br />

– einem Spin-Off der Universität<br />

Inns bruck – zurück.<br />

„Mithilfe eines sogenannten grünen Lasers,<br />

der anders als herkömmliche Laser<br />

die Wasseroberfläche durchdringen kann,<br />

haben wir so detaillierte Daten über die<br />

Beschaffenheit der Gerinne über insgesamt<br />

zehn Kilometer entlang der Passer in<br />

Südtirol und der Rosanna im Tiroler Oberinntal<br />

erhalten“, erklärt Gems. Wichtige<br />

Daten, die auch in die Verbesserung bestehender<br />

numerischer Modelle einfließen.<br />

„Wir verwenden alle von uns gesammelten<br />

Daten und in der Folge auch unsere<br />

Laborversuche als Benchmark, um numerische<br />

Modelle zu kalibrieren und auf<br />

ihre Qualität zu überprüfen“, verdeutlicht<br />

Bernhard Gems. „Diese numerischen Berechnungen<br />

haben im Vergleich zu den<br />

Experimenten im Wasserbau-Labor den<br />

Vorteil, dass sie mögliche Ereignisse und<br />

deren Folgen auf einer räumlich viel größeren<br />

Skala abbilden können, als es im<br />

Labor möglich ist“, so Gems. „Erkenntnisse,<br />

die einerseits das grundlegende Verständnis<br />

fluviatiler Prozesse erweitern<br />

und andererseits auch wichtige Informationen<br />

beispielsweise für die Gefahrenzonenplanung<br />

darstellen.“ sr<br />

3<br />

DAS VON DER Autonomen Provinz Bozen –<br />

Südtirol finanzierte Projekt ECOSED_TT untersuchte<br />

die Verlagerung von Feststoffen bei<br />

Hochwasserprozessen in alpinen Gewässern<br />

– etwa beim Schnanner Bach, der im Stanzertal<br />

in die Rosanna mündet. ECOSED_TT<br />

wurde von Bernhard Gems (re.) vom Arbeitsbereich<br />

Wasserbau an der Uni Inns bruck in<br />

Kooperation mit der Freien Universität Bozen<br />

geleitet. Im Rahmen des Projekts wurden<br />

zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten erstellt,<br />

so wird Thèo St. Pierre Ostrander (li.) in Kürze<br />

seine Dissertation abschließen.<br />

1 Schnanner Bach: Massiver murartiger<br />

Feststoffeintrag in Folge eines Starkregenereignisses<br />

im August 2018. 2 Einmündung<br />

unter normalen Bedingungen. 3 Am<br />

konfigurierbaren Modell im Wasserbau-Labor<br />

der Uni Inns bruck lässt sich nachstellen, wie<br />

sich einzelne Faktoren im Einmündungsbereich<br />

auswirken.<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 15


TITELTHEMA<br />

DIE VERARCHUNG DES INNS<br />

Mit einer neu geschaffenen Wasserbaubehörde sollte der Inn in der zweiten Hälfte des<br />

18. Jahrhunderts gebändigt und begradigt werden. Das Vorhaben dauerte länger als geplant.<br />

Das Amt, das Franz Anton Rangger,<br />

seines Zeichens Ingenieur-Leutnant,<br />

am 22. November 1745 antrat,<br />

war ein neues, vor allem aber kein<br />

leichtes. Die Oberarcheninspektion, so<br />

der Name der frisch geschaffenen Ein-<br />

Mann-Behörde, sollte die Flussverbauungen<br />

am Tiroler Inn nicht nur verbessern,<br />

sondern auch erweitern. Acht Tage benötigte<br />

damals ein Schiffszug von Kufstein<br />

nach Hall, 50 bis 60 Zugpferde brauchte es<br />

dafür. Das Ziel war, diese Transportdauer<br />

auf fünf Tage – und somit die Kosten um<br />

300 Gulden – zu verringern. Erreichen<br />

wollte Rangger dies durch gezielte „Verarchung“:<br />

Mit „Archen“, so der damals in<br />

Tirol geläufige Begriff für Flussverbauungen,<br />

sollte der Inn gebändigt, begradigt,<br />

ja kultiviert werden, um die Schifffahrt zu<br />

optimieren, um neue landwirtschaftliche<br />

Nutzfläche zu gewinnen und Gemeinden<br />

vor Hochwasser zu schützen.<br />

„Diese Überlegungen, dieser ordnende<br />

Blick auf die Natur, entsprechen dem<br />

damaligen Denken des aufgeklärten Absolutismus<br />

bzw. der ökonomischen Aufklärung“,<br />

erläutert Reinhard Nießner<br />

vom Institut für Geschichtswissenschaften<br />

und Europäische Ethnologie. Weitläufige<br />

mäandrierende Schleifen – wie<br />

heute noch bei Kirchbichl – wurden als<br />

Unordnung, ja als Chaos angesehen, es<br />

bedurfte an diesen Passagen einer Verbesserung<br />

der Natur, einer Melioration<br />

– und das vor allem im Dienste der Menschen.<br />

In seinem Dissertationsprojekt<br />

untersucht der gebürtige Oberbayer die<br />

Flusslandschaft des Tiroler Inns als eine<br />

Umweltgeschichte von 1745 bis 1792.<br />

Für seine Arbeit kann er auf einen ergiebigen<br />

Quellenbestand zurückgreifen.<br />

Aus Ranggers Amtszeit (1745–1774) sind<br />

die Berichte seiner „Visitationsreisen“<br />

im Tiroler Landesarchiv dokumentiert,<br />

ebenso jene seines Nachfolgers Gottlieb<br />

Samuel Besser. Sie erlauben nicht nur<br />

eine Rekonstruktion der damaligen Innverbauung,<br />

sondern auch einen Einblick<br />

in den ambivalenten Umgang mit dieser<br />

umfassenden Infrastrukturmaßnahme.<br />

Ambitionierte Pläne<br />

Im 18. Jahrhundert war ein Großteil der<br />

Fläche im Inntal eine weitläufige Flusslandschaft,<br />

an vielen Stellen bis zu dreioder<br />

viermal so breit wie heute. Andernorts<br />

suchte sich der Inn immer wieder<br />

neue Wege. Was in einem Jahr der Hauptstrom<br />

war, war im nächsten ein Seitenarm,<br />

in einem anderen sogar trocken.<br />

Denkbar ungünstig also für die Nutzung<br />

des Inns als Transportweg.<br />

„Der ambitionierte Plan war, den Inn<br />

in vier Jahren zu begradigen“, berichtet<br />

Nießner. Ein Plan, der sich nicht umsetzen<br />

ließ, auch weil häufig die Gemeinden<br />

die Arbeit und Kosten zu schultern hatten.<br />

„Die Gemeinden mussten das Baumaterial<br />

und die Arbeitskräfte stellen“,<br />

weiß Nießner. Ziel der landesfürstlichen<br />

Behörde war in erster Linie die Verbesserung<br />

der Schifffahrt, den Gemeinden<br />

16 zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Karten: TLA / Baudirektion / Fasz.9-66_ProfileBesser_1783, TLA / KuP 427_Grenze 1746; Foto: Andreas Friedle


TITELTHEMA<br />

GRENZFLUSS: Auf Basis dieser Karte sollten<br />

die Archen- und Territorialkonflikte zwischen<br />

Bayern und Tirol geschlichtet und ein Verbauungsplan<br />

entworfen werden. Der ideale,<br />

begradigte Verlauf des Inns ist mit gelber<br />

Farbe vorweggenommen (Oberarcheninspektor<br />

Franz Anton Rangger, 1746).<br />

ging es in erster Linie um Hochwasserschutz,<br />

weiters um Anbauflächen. Diese<br />

Interessen kollidierten: Die Schifffahrt<br />

benötigte eine „geradlinige“ Verbauung,<br />

die Gemeinden favorisierten sogenannte<br />

„Wurfarchen“. Quer in den Fluss hineingebaute<br />

Dämme, welche die eigene Uferseite<br />

vor Überschwemmung schützten,<br />

weil sie das Flusswasser auf die andere<br />

Uferseite „warfen“. Verständlich, dass<br />

davon betroffene Gemeinden auf der<br />

anderen Flussseite ähnlich agierten. „Archenkriege“<br />

dieser Art gab es nicht nur<br />

zwischen Gemeinden – etwa zwischen<br />

Kolsass, Weer und Terfens – sondern<br />

auch zwischen Tirol und Bayern. „Seit<br />

1504 war ab Kufstein der Inn die Grenze.<br />

Schon wenige Jahre später begannen<br />

Konflikte, da sich der Verlauf des Inns<br />

immer wieder veränderte. Einmal leitete<br />

diese Seite, einmal die andere den Fluss<br />

um“, schildert Nießner. „Der Bau von<br />

Wurfarchen war den Gemeinden zwar<br />

verboten, fand aber statt. Und waren sie<br />

einmal gebaut, hatten sie große Auswirkungen<br />

und waren nicht so leicht rückzubauen“,<br />

erklärt der Historiker. Insofern,<br />

so Nießner, war der Inn schon zu<br />

Ranggers Zeiten nicht mehr durchgehend<br />

naturbelassen: „Wurfarchen trugen zum<br />

Mäandern des Inns bei. Auch bei Brücken<br />

musste das Flussbett verengt werden.“<br />

Stellen hingegen, an denen Wildbäche<br />

in den Inn mündeten und viel Geschiebe<br />

einbrachten, mussten immer wieder verbreitert<br />

werden. „Dort, wo der Vomper<br />

Bach und der Pillbach in den Inn fließen,<br />

halbierte sich die Flussbreite durch das<br />

Geschiebe, was die Fließgeschwindigkeit<br />

erhöhte und für die Schifffahrt problematisch<br />

war“, erzählt Nießner.<br />

Überschwemmungen<br />

Doch Oberarcheninspektor Rangger<br />

hatte nicht nur die Schifffahrt im Auge.<br />

Auf den 120 Flusskilometern zwischen<br />

Pettnau und Bayern wollte er 450 Hektar<br />

„öder Gründe“ in landwirtschaftlich<br />

nutzbare Fläche verwandeln. „Die Steigerung<br />

des Anbaus war ein zentrales Motiv“,<br />

sagt Nießner, war Tirol, das sich aufgrund<br />

klimatischer und geografischer Bedingungen<br />

nicht selbst versorgen konnte,<br />

doch auf Importe angewiesen. Weiters<br />

erhoffte sich die Wasserbaubehörde von<br />

der Eindämmung des Inns einen verbesserten<br />

Schutz gegen Hochwasser. Wobei<br />

ein Blick auf die Hochwasserereignisse<br />

der damaligen Zeit zeigt, dass viele erst<br />

durch die Nutzung des Flusses, durch<br />

gebaute Infrastrukturen und intensiven<br />

Holzschlag zur Katastrophe führten. In<br />

Inns bruck kam es 1749, 1762, 1772, 1776<br />

und 1789 zu schweren Überschwemmungen<br />

mit zahlreichen Toten. Der Inn führte<br />

zu dieser Zeit dermaßen viel Wasser, dass<br />

er den „ärarischen Holzplatz“ (wo sich<br />

heute die Universitätsgebäude am Innrain<br />

befinden) überschwemmte und das<br />

dort gelagerte Bau- und Brennholz mit<br />

sich riss. Das Holz verkeilte sich an der<br />

Innbrücke, als Folge stand die Innenstadt<br />

unter Wasser.<br />

Anteil an Hochwasserereignissen hatten<br />

aber auch Wildbäche. Diese führten,<br />

so der Eindruck der Zeitgenossen, immer<br />

mehr Geschiebe in den Inn, was zu einer<br />

Erhöhung des Flussbetts und daher zu<br />

Überschwemmungen führte. Dass dies<br />

auch mit menschlichen Handlungen zu<br />

tun hatte, wusste bereits Rangger sehr<br />

genau. Wegen des Holzschlags an steilen<br />

Berghängen in den Seitentälern kam<br />

es vermehrt zu Muren und Geschiebe,<br />

PROFIL einer frei im Wasser stehenden<br />

Arche „ohne Rücken“, d. h. ohne Uferböschung<br />

(Oberarcheninspektor Gottlieb<br />

Samuel Besser, 1783).<br />

das über die Wildbäche schließlich im<br />

Inn landete. Als Lösung für dieses Problem<br />

sah Rangger die Begradigung des<br />

Flusses. Denn durch die erhöhte Fließgeschwindigkeit<br />

hätte der Inn mehr Sediment<br />

abtransportieren können.<br />

Franz Anton Rangger sollte die Melioration<br />

des Inns nicht mehr erleben – die<br />

weitgehende Begradigung erfolgte erst<br />

im Laufe des 19. Jahrhunderts. Doch als<br />

der Inn endlich durchgehend schifffahrtstauglich<br />

war, eroberte die Eisenbahn Tirol.<br />

Für ihre Streckenführung waren weitere<br />

Flussregulierungen und -verbauungen<br />

notwendig. So wie für jene der Inntalautobahn<br />

im 20. Jahrhundert. Der heutige<br />

Verlauf des Inns ist folglich ein Abbild<br />

von Infrastruktur- und Transportprojekten<br />

dreier Jahrhunderte. ah<br />

REINHARD NIESSNER (*1988) studierte<br />

Geschichte sowie Kunst- und Kulturgeschichte<br />

an den Universitäten Augsburg,<br />

Salamanca und Montpellier. Seit 2017<br />

ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am<br />

Institut für Geschichtswissenschaften und<br />

Europäische Ethnologie an der Universität<br />

Inns bruck.<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 17


TITELTHEMA<br />

FLÜSSEN EINE<br />

STIMME GEBEN<br />

Die Lernplattform Aqua MOOC will ein anderes Bewusstsein für Wasser schaffen und<br />

junge Menschen motivieren, Flüsse zu erforschen, zu dokumentieren und neu zu erleben.<br />

AQUA MOOC vermittelt Wissen über das biosoziale, adaptive System Fluss, in dem alles mit<br />

allem zusammenhängt (im Bild Schüler:innen in der Marzoller Au / Saalach / Bad Reichenhall).<br />

Der Legende nach verließ der Mount<br />

Taranaki, ein spitzkegeliger Vulkan,<br />

einst nach einem Streit seine<br />

Heimat im heutigen Tongariro National<br />

Park und zog in den Westen der Nordinsel<br />

Neuseelands. Auf dem Weg dorthin grub<br />

er eine tiefe Furche in das Land, die sich<br />

bald mit klarem Wasser füllte – der Whanganui.<br />

Der 320 Kilometer lange Fluss, der<br />

relativ naturbelassen durch zwei Nationalparks<br />

fließt, erhielt 2017 aufgrund<br />

seiner kulturellen Bedeutung für die indigene<br />

Bevölkerung den Status einer juristischen<br />

Person – als erster Fluss weltweit.<br />

Zwei eigens eingesetzte Vertreter können<br />

seither beispielsweise den Fluss bei Gerichtsverfahren<br />

vertreten: Sie geben dem<br />

Whanganui eine Stimme.<br />

„Dieses Verständnis von Flüssen – zum<br />

Beispiel als Ahne – ist ein anderer Umgang<br />

mit Wasser als bei uns. Unserer ist<br />

von einem modernen, europäischen und<br />

funktionalistischen Denken geprägt“,<br />

sagt Reingard Spannring, Soziologin am<br />

Institut für Erziehungswissenschaft der<br />

Universität Inns bruck. Europäische Flüsse<br />

– wie zum Beispiel der Inn – wurden<br />

in den letzten Jahrhunderten reguliert,<br />

um sie schiffbar zu machen, um Ufergebiete<br />

landwirtschaftlich zu nutzen,<br />

um mit ihrer Hilfe Energie zu gewinnen.<br />

„Wir können hier eine Art Generation Gap<br />

beobachten. Eine ältere Generation hat<br />

an Flüssen etwas verändert, die nachfolgende<br />

Generation nimmt dies aber nicht<br />

als Veränderung wahr, sondern erlebt sie<br />

als Umwelt oder Natur“, erklärt Spannring.<br />

Doch können wir Natur, können<br />

wir Wasser auch anders, nicht anthropozentrisch,<br />

als biosozialen Raum, den sich<br />

Menschen, Tiere und Pflanzen teilen, sehen?<br />

Mit dieser Frage hat sich, auf Anregung<br />

der australischen Nachhaltigkeitsforscherin<br />

Shé Hawke, das Projekt Überleben<br />

im Anthropozän auseinandergesetzt,<br />

18 zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Fotos: Reingard Spannring, Andreas Friedle


TITELTHEMA<br />

ein Ergebnis der grenzüberschreitenden<br />

<strong>Forschung</strong>sarbeit ist Aqua MOOC, ein kollaborativer<br />

Onlinekurs für Schüler:innen<br />

und Studierende.<br />

AQUA MOOC ist Teil des internationalen<br />

<strong>Forschung</strong>sprojekts Überleben im<br />

Anthropozän und wurde vom Österreichischen<br />

Wissenschaftsfonds FWF und<br />

von der Slowenischen <strong>Forschung</strong>sagentur<br />

ARRS gefördert. Die Lernplattform ist seit<br />

März 2<strong>02</strong>2 online und steht<br />

allen Nutzer:innen gratis zur<br />

Verfügung.<br />

Wissen zu und über Wasser<br />

Ausgangspunkt für das Projekt war<br />

Hawkes Idee, dass junge Menschen mit<br />

Hilfe einer App einen Fluss in ihrer Umgebung<br />

erforschen und dokumentieren<br />

können. Hawke war als Gastforscherin<br />

am slowenischen Science and Research<br />

Centre of Koper, über eine langjährige<br />

Zusammenarbeit mit einem slowenischen<br />

Philosophen kam Spannring ins<br />

Spiel, da Critical Animal Studies und<br />

Umweltbildung zu ihren <strong>Forschung</strong>sbereichen<br />

zählen. „Unser Part war zum<br />

einen inhaltlicher Natur, nämlich die<br />

Literaturrecherche zu Water Literacy,<br />

zu wasserbezogenem Wissen, und die<br />

Überlegung, was Kinder, was Jugendliche,<br />

ja was Menschen über Wasser<br />

lernen sollen“, berichtet Spannring. Die<br />

<strong>Forschung</strong>slandschaft sei von naturwissenschaftlichen<br />

sowie „westlichen“<br />

Zugängen geprägt und lege vor allem<br />

auf die Bedürfnisse der Menschen Wert.<br />

Posthumanistische Ansätze in der Umweltbildungsforschung<br />

hingegen rücken<br />

Fragen nach der Ko-Existenz mit nichtmenschlichen<br />

Anderen, die Verflochtenheit<br />

der unterschiedlichen Lebenswelten<br />

und die gemeinsam geteilte Vulnerabilität<br />

in den Vordergrund. „Mit Hilfe des<br />

Know-hows von Shé Hawke haben wir<br />

versucht, diese Aspekte zu betonen“,<br />

schildert die Inns brucker Forscherin.<br />

„Unser zweiter Part war die digitale<br />

Umsetzung des Projekts“, erläutert<br />

Spannring: „In Zusammenarbeit mit der<br />

Abteilung für digitales Lernen an der<br />

Universität Inns bruck ist aus der App<br />

allerdings etwas größeres und elaborierteres<br />

geworden – nämlich Aqua MOOC.“<br />

Die Abkürzung steht für Massive Open<br />

Online Course – der kollaborative Onlinekurs<br />

enthält in Form von Skripten,<br />

Filmen und Cartoons Unterrichtsmaterial<br />

für Schulen und Universitäten. Aqua<br />

MOOC ist in Modulen aufgebaut und soll<br />

biosoziale Zusammenhänge zwischen<br />

Natur und Kultur vermitteln und die<br />

Teilnehmer:innen dazu anregen, eigene<br />

Erlebnisse an einem Fluss in Form von<br />

Fotos, Texten, Audiomitschnitten oder<br />

Videos zu teilen.<br />

Andere Wahrnehmung<br />

So widmet sich ein Modul dem Einfluss<br />

des Menschen auf den Fluss und zeigt,<br />

warum auch scheinbar kleine Aktivitäten<br />

das System verändern können. Zusammengearbeitet<br />

wurde dabei mit einem<br />

Ökologen und einem Biologen, „um das<br />

zu sehen, was wir Sozialwissenschaftler:innen<br />

nicht sehen“. Was bedeutet<br />

etwa das Laternenlicht an Uferpromenaden<br />

für am/im Wasser lebende Tiere, was<br />

der Lärm von Partys am Fluss, was das<br />

Waschen von Besteck und Geschirr nach<br />

dem Grillen?<br />

In einem anderen Modul wird die <strong>Forschung</strong>smethode<br />

Multispezies-Ethnografie<br />

erklärt, die hilft, das Zusammenleben<br />

des Menschen mit anderen Lebewesen<br />

und dem Fluss zu dokumentieren und<br />

zu verstehen. Für dieses Modul sammelte<br />

Reingard Spannring Erfahrungen mit<br />

zwei Schulklassen. Mit Inns brucker Jugendlichen<br />

besuchte sie die Sillschlucht,<br />

ein Naherholungsgebiet am südlichen<br />

Stadtrand von Inns bruck. „Die 15- bis<br />

16-Jährigen waren mehr mit gruppendynamischen<br />

Fragen beschäftigt als mit dem<br />

Fluss. Einige sagten auch, dass sie Natur<br />

nicht interessiere“, berichtet Spannring.<br />

REINGARD SPANNRING (*1967)<br />

studierte nach der Matura in Bludenz<br />

Soziologie an der Universität Wien und<br />

der University of Sussex. Spannring war in<br />

Wien am Institut für Höhere Studien (IHS)<br />

sowie am Österreichischen Institut für Jugendforschung<br />

tätig. 2006 wechselte sie<br />

an das Institut für Erziehungswissenschaft<br />

der Universität Inns bruck, wo sie begann,<br />

sich auch mit kritischen Tierstudien,<br />

Umweltbildungsforschung, Bildungsphilosophie<br />

und Lehr-Lern-Theorien zu<br />

beschäftigen. Das Mensch-Natur- und<br />

das Mensch-Tier-Verhältnis nehmen in<br />

ihrer Arbeit eine zentrale Stelle ein.<br />

Dafür fand sie die „präzisen Beobachtungen“<br />

der Schüler:innen über den sozialen<br />

Raum Sillschlucht spannend: „Sie berichteten<br />

über die Schlafplätze von Obdachlosen,<br />

über die Orte, wo Partys stattfinden,<br />

wo sich Drogensüchtige aufhalten.“Anders<br />

war das Erlebnis mit Schüler:innen<br />

in Bad Reichenhall. „Sie waren an der<br />

Saalach – in der Marzoller Au – mit allerlei<br />

Messinstrumenten unterwegs. Auf<br />

meine Frage, was sie damit herausfinden<br />

wollen, wussten sie allerdings keine<br />

Antwort“, erinnert sich Spannring: „Das<br />

entspricht der Literatur. Kinder werden<br />

auf das Messen von Daten getrimmt, der<br />

Transfer in ihr Leben, auf Problematiken<br />

in der Natur fehlt allerdings.“<br />

Aqua MOOC soll nun helfen, dies möglich<br />

zu machen, Flüsse, so Spannring, anders<br />

wahrzunehmen, sie als biosoziale<br />

Systeme, dem Menschen, Tiere und Pflanzen<br />

angehören, zu denken. Systeme, denen<br />

man durchaus – auch bei uns – eine<br />

Stimme geben könnte.<br />

ah<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 19


TITELTHEMA<br />

LEBENSADER INN<br />

Mit einem Aktionsplan Artenschutz, der federführend von der<br />

Universität Inns bruck erarbeitet wurde, soll der größte Fluss der<br />

Alpen – der Inn – wieder naturnaher gestaltet werden. „Der<br />

Aktionsplan basiert auf einer umfangreichen Analyse der Flusslandschaft<br />

und enthält rund 350 konkrete Maßnahmen für<br />

einen besseren Schutz von Arten und Lebensräumen entlang<br />

der gesamten Innstrecke – von der Quelle in der Schweiz bis zur<br />

Mündung in die Donau“, sagt Leopold Füreder vom Institut für<br />

Ökologie an der Universität Inns bruck. „Jetzt gilt es, den Aktionsplan<br />

zügig umzusetzen und in einem gemeinsamen Monitoring<br />

sicherzustellen, dass die Arten und Ökosysteme am Inn auch tatsächlich<br />

von unserer Arbeit profitieren.“<br />

Der Inn ist einer der wichtigsten Alpenflüsse mit einer großen<br />

ökologischen Bedeutung. Auf 517 Kilometer von seiner Quelle bis<br />

zur Mündung in die Donau durchfließt er drei Alpenländer und<br />

zahlreiche Staustufen, weist aber auch zwischen Imst und Kirchbichl<br />

die längste freie Fließstrecke aller österreichischen Flüsse auf.<br />

Von 2019 bis 2<strong>02</strong>2 erarbeiteten Vertreter:innen aus Wirtschaft,<br />

Wissenschaft und Verwaltung im Rahmen des EU-Interreg-Projekts<br />

INNsieme ein Gesamtkonzept für die Bewahrung<br />

und Wiederherstellung der Artenvielfalt am Inn. Erste Maßnahmen<br />

konnten bereits umgesetzt werden, darunter der Rückbau<br />

von 600 Metern Ufer an der Mattig, die Revitalisierung eines<br />

Feuchtgebiets in Neuötting, die Renaturierung des Schlitterer<br />

Gießen, ein Modellversuch zur Konfliktlösung mit dem Biber am<br />

Völser Gießen, Maßnahmen zum Schutz des Flussuferläufers und<br />

ein erfolgreiches Pilotprojekt zur Wiederansiedlung des Zwergrohrkolbens<br />

mit fast 900 Stecklingen an zwei verschiedenen<br />

Standorten.<br />

Mehr über den Aktionsplan Artenschutz für den Inn<br />

erfahren Sie auf www.innsieme.org/aktionsplan<br />

REVITALISIERUNG VON SEITENBÄCHEN<br />

Im Inn gibt es zahlreiche Fischarten, die zum<br />

Laichen in die Nebenflüsse wandern. Jedoch<br />

haben Hochwasserschutzmaßnahmen viele<br />

dieser Gewässer verändert. In Tirol sind, nach<br />

aktuellen Untersuchungen, lediglich etwa<br />

ein Drittel der Nebenflüsse für Fische erreichbar.<br />

Nur ein Drittel dieser Gewässer bietet<br />

passende Laichplätze. Die von Kraftwerken<br />

verursachten Wasserschwankungen machen<br />

den Inn aber für den Fischnachwuchs ungeeignet.<br />

Dies unterstreicht die Dringlichkeit,<br />

die Nebenflüsse zu revitalisieren, nicht nur<br />

für die Fischpopulation, sondern auch für das<br />

gesamte Ökosystem des Inns.<br />

Fotos: AdobeStock / vladim_ka (1), WWF / Anton Vorauer (3), Kurt Stüber / CC BY-SA 3.0 Deed (1),<br />

Felix Lassacher(1)<br />

ZIELKONFLIKT MIT DEM BIBER<br />

In Tirol erfreut sich der Biber wieder eines stabilen Bestandes.<br />

Allerdings gibt es Bedenken, dass Biberdämme die Wanderung<br />

bestimmter Fischarten behindern. Dies hat zu Diskussionen<br />

darüber geführt, wie verschiedene Tierarten gleichzeitig geschützt<br />

werden können. Fachleute aus drei Ländern haben im<br />

Rahmen des Projekts gemeinsam Lösungen entwickelt, die die<br />

unterschiedlichen Schutzinteressen und die rechtlichen Rahmenbedingungen<br />

berücksichtigen. An ausgewählten Standorten<br />

werden diese Maßnahmen getestet, um ein harmonisches<br />

Miteinander von Bibern und Fischen zu fördern.<br />

20<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23


TITELTHEMA<br />

DURCHGÄNGIGKEIT WIEDERHERSTELLEN<br />

Wehranlagen, Abstürze und Wasserkraftanlagen sind markante Eingriffe in<br />

den natürlichen Flusslauf. Während sie wichtige Funktionen für Energiegewinnung<br />

und Wasserregulierung erfüllen, behindern sie die Wanderung von<br />

Fischen und Amphibien. Beim österreichisch-bayerischen Inn-Kraftwerk Ering-<br />

Frauenstein hat der Verbund ein naturähnliches Umgehungsgerinne gebaut.<br />

Dieses Gerinne macht nicht nur die Staumauer für Fische passierbar, sondern<br />

bietet auch Lebensräume, die im Bereich von Staumauern sonst fehlen. So<br />

findet dort heute auch die Flussseeschwalbe wieder Brutmöglichkeiten.<br />

WIEDERANSIEDLUNGSPROJEKTE<br />

Mit einer Höhe von 30 bis 80 Zentimetern<br />

unterscheidet sich der Zwerg-Rohrkolben<br />

von anderen Arten seiner Familie.<br />

Dort, wo diese Pflanzen vorkommen, ist<br />

die Flusslandschaft noch intakt. Denn die<br />

Sumpfpflanzen mit den fast kugelrunden<br />

Fruchtständen benötigen zum Überleben<br />

natürliches Fließgewässer, das vegetationsfreie<br />

Bereiche schafft, in denen sie gedeihen<br />

können. Trotz ihrer Bedeutung für<br />

das Ökosystem ist diese Art am Inn bereits<br />

ausgestorben. Ein Wiederansiedlungsprojekt<br />

wurde 2019 gestartet, um die Pflanze<br />

in das Gebiet zurückzubringen.<br />

SCHUTZMASSNAHMEN FÜR SELTENE ARTEN<br />

Der Flussuferläufer, ein Vogel von der Größe einer Amsel<br />

mit weißem Unterleib und olivfarbener Oberseite, war einst<br />

an den meisten großen Flüssen Europas verbreitet. Heute<br />

sind seine Brutgebiete, vornehmlich lockere Kiesbänke in<br />

den Flussauen der Alpen und Voralpen, durch Umweltveränderungen<br />

stark bedroht. Solche Kiesgebiete sind am Inn<br />

heute rar geworden. 2<strong>02</strong>0 wurden in Tirol lediglich neun<br />

brütende Paare dieser Art gezählt. Um die Brutstätten des<br />

Flussuferläufers zu schützen, sollten Menschen die Kiesbänke<br />

am Inn von April bis Juli meiden.<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 21


KURZMELDUNGEN<br />

VERSCHÜTTETE<br />

SENSATION<br />

In Tel Shimron im Norden Israels wurde kürzlich ein 3. 800 Jahre<br />

altes Kraggewölbe aus Lehmziegeln entdeckt.<br />

RÖMISCHE ORDEN boten Schutz vor<br />

Nazi-Verfolgung (im Bild der Petersplatz).<br />

KIRCHLICHE HÄUSER<br />

IN ROM BOTEN ZUFLUCHT<br />

Eine Liste von Personen, die 1943 in<br />

kirchlichen Einrichtungen Roms vor der<br />

Nazi-Verfolgung Zuflucht fanden, wurde<br />

kürzlich entdeckt. Im Archiv des Päpstlichen<br />

Bibelinstituts in Rom wurde eine unpublizierte<br />

Namensliste von Personen wiedergefunden,<br />

die in kirchlichen Häusern Roms<br />

vor der nationalsozialistischen Verfolgung<br />

Zuflucht suchten – vor allem Jüdinnen und<br />

Juden. An der Wiederentdeckung und<br />

Untersuchung der Dokumente beteiligt war<br />

der Inns brucker Theologe Dominik Markl.<br />

Die zusammenfassende Liste der Schutz<br />

gewährenden Ordensgemeinschaften – 100<br />

Frauen- und 55 Männerorden – wurde mit<br />

der Anzahl der jeweils beherbergten Personen<br />

schon 1961 durch den Historiker Renzo<br />

de Felice publiziert, doch galt die komplette<br />

Dokumentation bisher als verschollen. Die<br />

nun wieder entdeckten Listen beziehen<br />

sich auf über 4.300 Personen, von denen<br />

3.600 namentlich genannt sind. Aus dem<br />

Vergleich mit den am Archiv der Jüdischen<br />

Gemeinde von Rom aufbewahrten Dokumente<br />

geht hervor, dass ca. 3.200 dieser<br />

Menschen mit Sicherheit Juden waren.<br />

Die kanaanitische Stadt Tel Shimron<br />

wird erst seit 2017 von einem internationalen<br />

Grabungsteam unter<br />

der Co-Leitung von Mario Martin vom<br />

Institut für Alte Geschichte und Altorientalistik<br />

wissenschaftlich bearbeitet. Erst<br />

kürzlich wurde dabei eine eigentlich unmögliche<br />

Entdeckung gemacht: „Wir haben<br />

das erste noch vollständig erhaltene<br />

Kraggewölbe aus Lehmziegeln gefunden.<br />

Dabei handelt es sich um eine Vorform des<br />

Gewölbebaus in der südlichen Levante“,<br />

erläutert Martin, den insbesondere der<br />

außergewöhnliche Erhaltungszustand<br />

überrascht. Da an der Luft getrocknete<br />

Lehmziegel extrem witterungsempfindlich<br />

GRABUNGSAREAL auf der Akropolis von Tel Shimron.<br />

sind, kann er sich den unvergleichlichen<br />

Erhaltungszustand nur dadurch erklären,<br />

dass das Gewölbe und der angrenzende<br />

Gang nur sehr kurz von den Menschen in<br />

Tel Shimron genutzt wurde. „Sprechen wir<br />

von Grabungen in der Levante von vor<br />

4. 000 Jahren, dann finden wir meist nur<br />

die unterste Lage der Gebäudefundamente.<br />

Wie das Gebäude ausgesehen hat, welche<br />

Höhe, Form und Funktion es erfüllte,<br />

das können wir nur gedanklich rekonstruieren“,<br />

so der Archäologe. Umso mehr<br />

freut er sich über das gefundene, aus tausenden<br />

perfekt erhaltenen Schlammziegeln<br />

gebaute Monument, das sich auf der<br />

Akropolis von Tel Shimron befindet.<br />

IN NORDTIROL stark gefährdet ist z. B.<br />

Sparganium natans (Zwerg-Igelkolben).<br />

ROTE LISTE FÜR TIROL<br />

Ein Vierteljahrhundert nach Erscheinen der ersten Tirol-spezifischen Roten Liste für<br />

Gefäßpflanzen liegt nun eine völlig neu konzipierte Rote Liste der Farn- und Blütenpflanzen<br />

Nord- und Osttirols vor: Erstellt wurde sie unter wissenschaftlicher Leitung des<br />

Instituts für Botanik in Zusammenarbeit mit den Tiroler Landesmuseen und dem Land Tirol.<br />

Das umfangreiche Verzeichnis enthält über 3. 000 Pflanzenarten und fasst das Wissen aus<br />

zehn Jahren <strong>Forschung</strong>sarbeit auf 300 Seiten – von A wie Abies alba (Weißtanne) bis Z wie<br />

Ziziphora acinos (Gewöhnlicher Steinquendel) – zusammen. „Was wir heute in Händen<br />

halten, ist das Resultat langjähriger Arbeit von zahlreichen Expertinnen und Experten“, so<br />

der wissenschaftliche Leiter Konrad Pagitz bei der Präsentation. Das Werk dient als wichtige<br />

Grundlage für Naturschutzprojekte und naturschutzrechtliche Verfahren in der Region.<br />

22<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Fotos: pexels / Aliona & Pasha, Andrew Wright / Tel Shimron excavations, Cäcilia Lechner-Pagitz


ZAHLEN<br />

UNIVERSITÄT<br />

INNSBRUCK<br />

International vernetzt:<br />

70 Prozent<br />

der wissenschaftlichen<br />

Publikationen entstehen<br />

gemeinsam mit internationalen<br />

Co-Autor:innen.<br />

Top <strong>Forschung</strong> beim<br />

renommierten Shanghai-Ranking in<br />

17 Fachbereichen<br />

Spitzenforschung in den <strong>Forschung</strong>sschwerpunkten<br />

Alpiner Raum und Physik.<br />

Über<br />

4200 Abschlüsse im<br />

Studienjahr 2<strong>02</strong>1/22 Bachelor,<br />

Master, Diplom und Doktorat.<br />

Rang 1<br />

unter den beliebtesten<br />

Arbeitgebern in Tirol<br />

Dank spannender<br />

Arbeitsinhalte,<br />

familienfreundlicher<br />

Arbeitsbedingungen und<br />

einem internationalen<br />

Arbeitsumfeld.<br />

Kooperation mit 9 europäischen Universitäten<br />

von Reykjavik bis Neapel in der Aurora European<br />

Universities Allianz. Von dieser Zusammenarbeit<br />

profitieren Studierende, Wissenschaftler:innen<br />

und Verwaltungsmitarbeiter:innen.<br />

Beteiligung an<br />

3 FWF-Exzellenzclustern<br />

Die Universität Innsbruck koordiniert den<br />

Exzellenzcluster für Quantenwissenschaften und ist an<br />

zwei Exzellenzclustern zu politischen, sozialen und<br />

kulturellen Entwicklungen Eurasiens und zu Materialien<br />

für Energiekonversion und Speicherung beteiligt.<br />

Beste Spin-off-Strategie:<br />

Österreichweit führend mit aktuell<br />

21 Unternehmensbeteiligungen<br />

durch die 2008 gegründete<br />

Beteiligungsholding der Universität.<br />

51,5 Millionen Euro<br />

öffentlicher <strong>Forschung</strong>smittel<br />

national und international<br />

eingeworben.<br />

Mehr als 25 Prozent Steigerung<br />

in 5 Jahren.<br />

© BfÖ 2<strong>02</strong>3<br />

Wir arbeiten vernetzt.<br />

Seit 1669<br />

/uniinnsbruck<br />

www.uibk.ac.at


STANDORT<br />

VON INNS BRUCK PROFITIERT<br />

Günther Dissertori, Rektor der ETH Zürich, über sein Physikstudium in Inns bruck,<br />

universitäre Rankings, den fehlenden Zugang der Schweiz zu EU-Programmen sowie die<br />

Brücke von Higgs-Teilchen zur Alzheimer-Früherkennung.<br />

ZUKUNFT: Warum haben Sie sich 1988 für<br />

ein Studium an der Universität Inns bruck<br />

entschieden?<br />

GÜNTHER DISSERTORI: Dazu gibt es mehrere<br />

Antworten: Ich wollte auf Deutsch<br />

studieren, also kamen in erster Linie Österreich<br />

oder Deutschland in Frage. Für<br />

mich als Südtiroler war Inns bruck die<br />

Heimuniversität und auch nahe – ich<br />

wollte am Anfang nicht zu weit weg. Ein<br />

Jahr vor der Matura kamen Studierende<br />

der Uni Inns bruck zur Studienberatung<br />

nach Meran an unsere Schule – da habe<br />

ich gespürt, dass Inns bruck passt.<br />

ZUKUNFT: Und wie kam es zur Physik?<br />

DISSERTORI: Ich war naturwissenschaftlich<br />

interessiert, vor allem an Gentechnologie.<br />

Auf meine Frage, was ich denn dafür<br />

in Inns bruck studieren müsste, hieß es<br />

Biologie. Ein Blick ins Biologie-Programm<br />

hat mir gezeigt, dass ich da auch Botanik<br />

machen müsste – auf das Auswendiglernen<br />

von Blumen und Blättern, so meine<br />

damalige Vorstellung, hatte ich aber keine<br />

Lust. Ein Blick ins Programm für Physik<br />

hat mich dann getriggert, Physik zu wählen<br />

– obwohl ich dachte, dass das nur<br />

Nerds studieren und auch schaffen würden.<br />

Bereut habe ich es nie. Ich hatte an<br />

der Universität Inns bruck eine sehr gute<br />

Ausbildung in Physik, von der ich immer<br />

profitiert habe.<br />

ZUKUNFT: Sie studierten quasi in der Vorbereitungsphase<br />

der erfolgreichen quantenphysikalischen<br />

Versuche, die ab den<br />

späten 1990er-, frühen 2000er-Jahren in<br />

Inns bruck durchgeführt wurden. Haben<br />

Sie das als Aufbruchstimmung wahrgenommen?<br />

DISSERTORI: Das Thema Quantenphysik,<br />

diese Entwicklung, dass sich hier<br />

etwas aufbaut, hat man auch als Student<br />

gespürt. Anton Zeilinger war noch in<br />

Inns bruck, als ich begonnen habe. Dann<br />

kamen Peter Zoller und Ignacio Cirac<br />

oder auch Helmut Ritsch. Mich selbst hat<br />

allerdings die Teilchenphysik mehr interessiert.<br />

In der Gruppe von Dietmar Kuhn<br />

war ich sehr gut aufgehoben, er hat mir<br />

sehr früh ermöglicht, ein Sommerpraktikum<br />

am CERN zu machen. Das war für<br />

meine Karriere sicherlich entscheidend.<br />

Genossen habe ich auch die Ausbildung<br />

in Theoretischer Physik bei Josef Rothleitner<br />

und Gebhard Grübl, vor allem Rothleitner<br />

hat mich sehr geprägt.<br />

ZUKUNFT: Wie sehen Sie die Universität<br />

Innsbruck heute?<br />

DISSERTORI: Von der Universität Innsbruck<br />

habe ich zwei Bilder. Einerseits die<br />

europaregionale Universität, die diesbezüglich<br />

eine wichtige Rolle spielt, da sie<br />

an der Schnittstelle von Kulturen liegt.<br />

Andererseits ist sie in gewissen Punkten<br />

„Was macht schlussendlich die<br />

Qualität universitärer Bildung<br />

und <strong>Forschung</strong> aus? Am Ende<br />

sind es die Menschen.“<br />

absolut weltführend. Das finde ich beeindruckend,<br />

dass man sich das erarbeitet<br />

und – etwa auf dem Gebiet der Quantenphysik<br />

– einen Namen geschaffen hat.<br />

Das ist nicht selbstverständlich, darauf<br />

kann man stolz sein.<br />

ZUKUNFT: In Ihrer <strong>Forschung</strong> schlagen Sie<br />

eine Brücke von der Detektion von Higgs-<br />

Teilchen zur Alzheimer-Früherkennung.<br />

Können Sie diese Brücke kurz beschreiben?<br />

DISSERTORI: Zur Detektion von Higgs-<br />

Teilchen wurden spezielle Detektoren<br />

gebaut. Sie können sehr genau hochenergetische<br />

Lichtteilchen, die vom<br />

Zerfall des Higgs-Teilchens stammen,<br />

vermessen. Unsere Gruppe an der ETH<br />

Zürich war massiv in den Bau des Detektors<br />

involviert. Von der Technologie<br />

her praktisch idente Detektoren gibt es<br />

in der medizinischen Bildgebung, in der<br />

Positronen-Emissions-Tomografie, kurz<br />

PET. Dabei kommen kleine Detektoren<br />

rund um den Körper oder Kopf zum<br />

Einsatz. Den nächsten Aspekt lieferten<br />

Forscher:innen an der Medizinischen<br />

Fakultät der Universität Zürich: Für Alzheimer-Früherkennung,<br />

zur Darstellung<br />

von Plaque-Ablagerungen im Gehirn, ist<br />

PET der Goldstandard. Die Vision der<br />

Medizinkolleg:innen war der Bau kleiner<br />

und billiger Scanner, um die Bevölkerung<br />

z. B. ab 50 systematisch zu scannen<br />

und Risikopatient:innen weiter zu untersuchen<br />

bzw. schon früh zu behandeln,<br />

wenn möglicherweise Medikamente auf<br />

den Markt kommen. Das ist die Brücke<br />

vom Higgs-Teilchen zur Alzheimer-Früherkennung.<br />

Wir haben das Projekt durchgezogen,<br />

irgendwann kam die Idee auf,<br />

dies zu kommerzialisieren. Es wurde ein<br />

Startup gegründet, die Firma steht knapp<br />

davor, den ersten Scanner zu verkaufen.<br />

ZUKUNFT: Egal wie man zu Uni-Rankings<br />

steht, Schweizer Universitäten schneiden<br />

in sämtlichen besser ab als österreichische.<br />

Was machen die Schweizer besser?<br />

DISSERTORI: Eine gute Frage. Was macht<br />

schlussendlich die Qualität universitärer<br />

Bildung und <strong>Forschung</strong> aus? Am Ende<br />

sind es die Menschen. Das heißt, in jeder<br />

Organisation, ob es eine Universität oder<br />

ein Unternehmen ist, muss es das Ziel sein,<br />

die allerbesten Leute zu holen. Das muss<br />

das oberste Gebot sein. An der ETH verfolgen<br />

wir das seit über 150 Jahren sehr<br />

systematisch, das wirkt sich mittel- und<br />

langfristig aus. Hat man diese guten Leute,<br />

wird es leichter, andere gute Leute anzuziehen.<br />

Wichtig ist dabei, dass man bei<br />

der Berufung dieser Leute größtmögliche<br />

Autonomie besitzt, dass nicht zu viele<br />

mitreden, da sonst eventuell zu viele Interessen<br />

zusammenkommen und die Exzellenz<br />

leidet. An der ETH besitzen wir diese<br />

Autonomie in einem sehr großen Ausmaß.<br />

Das gesamte Interview finden Sie auf<br />

der Homepage der Uni Inns bruck unter:<br />

www.uibk.ac.at/forschung/magazin<br />

24 zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Foto: ETH Zürich / Markus Bertschi


STANDORT<br />

Wir haben intern sehr viele Freiheiten, zu<br />

bestimmen, welche Professuren geschaffen<br />

werden und wie wir sie besetzen. Größtmögliche<br />

Autonomie und Unabhängigkeit<br />

der Institution sind daher zentrale Aspekte<br />

– und die ETH hat in dieser Beziehung<br />

einen gewissen Vorteil gegenüber einer<br />

typischen österreichischen Universität.<br />

ZUKUNFT: Und die finanziellen Mittel?<br />

DISSERTORI: Am Ende kommt man natürlich<br />

nicht ums Geld herum. Denn wie<br />

ziehe ich die besten Leute an? Indem ich<br />

gute Bedingungen offeriere. Gute Bedingungen<br />

heißt auch gute Gehälter, den<br />

wirklichen Top-Leuten geht es aber um die<br />

gute Infrastruktur. Das heißt, Geld muss<br />

in gute Infrastruktur fließen. Da sind wir<br />

in der glücklichen Lage, dass die Grundfinanzierung<br />

der Schweizer Universitäten<br />

und speziell der ETH Zürich schon sehr,<br />

sehr gut ist. Vor allem in Hinblick auf die<br />

Grundfinanzierung: Jede Professorin, jeder<br />

Professor wird von Anfang an sehr<br />

gut ausgestattet und muss nicht jedes Jahr<br />

neu um Ressourcen anfragen. Gut dotierte<br />

Professuren erlauben, Dinge zu verfolgen,<br />

die unmöglich erscheinen und dauern.<br />

An scheinbar verrückten Ansätzen über<br />

Jahre zu forschen, liefert manchmal aber<br />

auch Durchbrüche. Ich möchte aber nochmals<br />

betonen: Ich hatte an der Universität<br />

Inns bruck eine Top-Ausbildung, man sieht<br />

also, dass Top-Ausbildung nicht immer<br />

direkt mit Rankings korreliert. Es sind die<br />

Menschen.<br />

ZUKUNFT: Die Schweiz ist nicht Teil großer<br />

EU-Programme wie Horizon Europe. Wie<br />

sehr schmerzt dieser fehlende Zugang?<br />

DISSERTORI: Es schmerzt aus verschiedensten<br />

Gründen. Es geht nicht nur allein<br />

um Geld, da gibt es Notlösungen – man<br />

kann etwa beim Schweizer Nationalfonds<br />

ähnliche Projekte einreichen. Dieser Wettbewerb<br />

ist allerdings ein anderer, er ist<br />

national, nicht international – den hohen<br />

Level eines ERC Grants kann man innerhalb<br />

eines Landes nicht erreichen. Es<br />

schmerzt auch wegen großer Kooperationsprojekte<br />

in Europa, unter anderem<br />

hatten ETH-Forscherinnen und -Forscher<br />

bei gewissen Projekten die Führung und<br />

mussten diese abgeben. Was das bedeutet,<br />

ist klar. Wenn man Projekte nicht mehr leitet,<br />

kann man sie nicht mehr entsprechend<br />

prägen. Es schmerzt auch, weil immer die<br />

Gefahr besteht, dass auf lange Sicht die<br />

besten Leute nicht mehr in die Schweiz<br />

kommen. Diesen Effekt spüren wir aktuell<br />

noch nicht sehr stark, man darf ihn aber<br />

nicht vernachlässigen. Die Politik unterschätzt<br />

bei Bildung und <strong>Forschung</strong> immer,<br />

wie langfristig die Wertschöpfungsketten<br />

sind – Auswirkungen sieht man nicht in<br />

ein, zwei Jahren, sondern in zehn. Sieht<br />

man sie dann, ist es schon zu spät, denn<br />

es braucht dann wieder zehn Jahre, um zu<br />

GÜNTHER DISSERTORI (*1969 in Meran)<br />

studierte an der Uni Inns bruck Physik.<br />

Für sein Doktorat ging er in die Schweiz<br />

ans CERN und dissertierte über den ALEPH-<br />

Detektor. Am CERN half Dissertori mit, das<br />

CMS-​Experiment am großen Teilchenbeschleuniger<br />

aufzubauen, eines jener beiden<br />

Experimente, mit denen es gelang, das<br />

Higgs-​Teilchen nachzuweisen. 2001 wurde<br />

er Assistenzprofessor an der ETH Zürich,<br />

2007 ordentlicher Professor. Seit Februar<br />

2<strong>02</strong>2 ist Dissertori Rektor der ETH Zürich<br />

und zeichnet damit für die Lehre an der<br />

Schweizer Hochschule verantwortlich.<br />

korrigieren. Diese systematische Erosion<br />

macht uns große Sorgen.<br />

ZUKUNFT: Gibt es dennoch Kooperationen<br />

mit europäischen Universitäten?<br />

DISSERTORI: Ja, die ETH Zürich ist z. B. als<br />

Mitglied einer der European University<br />

Alliances eingeladen worden und ist<br />

ENHANCE, dem Zusammenschluss von<br />

weiteren neun technischen Universitäten,<br />

beigetreten. Bezüglich der Fördermittel<br />

sind wir assoziiertes Mitglied, bezüglich<br />

der Zusammenarbeit sind wir aber vollkommen<br />

anerkannt – das ist sehr positiv.<br />

Wir sind ENHANCE auch beigetreten, um<br />

der Schweizer Politik zu zeigen, dass wir<br />

nicht am Spielfeldrand stehen, sondern<br />

mitspielen wollen. Schauen wir, wie lange<br />

uns dieses Thema noch beschäftigt.ah<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 25


ZOOLOGIE<br />

DER FLUKE HINTERHER<br />

Bettina Thalinger und Lauren Rodriguez vom Institut für Zoologie waren im Sommer unterwegs, um<br />

Wasserproben für das europäische Wal- und Biodiversitätsmonitoring-Projekt eWHALE zu entnehmen<br />

und die große Citizen-Science-Kampagne 2<strong>02</strong>4 vorzubereiten.<br />

26 zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Fotos: Bettina Thalinger, Lauren Rodriguez


ZOOLOGIE<br />

Lauren Rodriguez erinnert sich gerne<br />

an den vergangenen Juli, den<br />

sie größtenteils in einem großen,<br />

schaukelnden Schlauchboot rund um<br />

die Azoren-Inseln Pico und Faial verbracht<br />

hat. Ausgerüstet mit Kübel und<br />

Pumpe hat sie nach jeder Walsichtung<br />

zwei Mal Wasser entnommen: einmal<br />

aus dem „frischen“ Fluken-Abdruck –<br />

jener spiegelglatten Wasserfläche, die<br />

die Schwanzflosse eines Wals hinterlässt<br />

– und ein weiteres Mal rund zwanzig<br />

Minuten später. Die aus den USA stammende<br />

Nachwuchswissenschaftlerin ist<br />

PhD-Studentin im Biodiversa+-Projekt<br />

eWHALE, in dem unter Inns brucker Leitung<br />

eine neue Strategie für ein weitreichendes,<br />

nicht-invasives Walmonitoring<br />

mittels Umwelt-DNA entwickelt wird.<br />

In Zusammenarbeit mit der Walbeobachtungsagentur<br />

CW Azores und einem<br />

wissenschaftlichen Team von der Universidade<br />

dos Açores sammelte Rodriguez<br />

im Juli über 80 Wasserproben und testete<br />

dabei verschiedene Filter und Pumpen<br />

sowie die Rahmenbedingungen für die<br />

Probenentnahme an Bord. Für sie und<br />

ihre Projekt-Kolleg:innen aus Portugal,<br />

Frankreich, Italien, Irland, Norwegen<br />

und Island, vor allem aber für Projektleiterin<br />

Bettina Thalinger, Senior Scientist<br />

am Institut für Zoologie, war der vergangene<br />

Sommer sozusagen die Generalprobe<br />

für die kommende Saison. Es galt,<br />

das richtige Timing und die geeigneten<br />

Geräte für die Entnahme und Filterung<br />

des Wassers zu finden, denn 2<strong>02</strong>4 muss<br />

alles nach Plan laufen, um zusammen<br />

mit freiwilligen Helfer:innen möglichst<br />

viele Proben mit hohem Wal-DNA-Gehalt<br />

in den Meeren rund um Europa zu<br />

sammeln.<br />

Proben-Vergleich<br />

„Einmal, als ich mit dem Uni-Team unterwegs<br />

war, hatten wir besonderes Glück:<br />

Wir konnten Delfine und ihre Jungen und<br />

sogar ein Pottwal-Neugeborenes beobachten,<br />

was sehr selten ist. Am selben Tag<br />

haben wir außerdem noch Nördliche Entenwale<br />

gesehen und konnten nicht nur<br />

Wasser-, sondern auch Gewebeproben<br />

entnehmen“, erzählt Lauren Rodriguez<br />

von einem besonderen Feldforschungstag.<br />

Die Fahrten mit dem Team der Universidade<br />

dos Açores dienten vor allem<br />

der gleichzeitigen Entnahme von Gewebe-<br />

und Wasserproben. Rodriguez wird<br />

in ihrer Doktorarbeit unter anderem die<br />

Qualität der populationsgenomischen Informationen<br />

aus beiden Probenvarianten<br />

vergleichen und hat dabei Unterstützung<br />

von gleich drei wissenschaftlichen Betreuer:innen:<br />

Monica Silva von der Universidade<br />

dos Açores sowie Michael Traugott<br />

und Bettina Thalinger von der Universität<br />

Inns bruck. „Wir haben hier an der Universität<br />

Inns bruck langjährige Erfahrung<br />

in der Auswertung von Umwelt-DNA<br />

und eine hervorragende Laborinfrastruktur“,<br />

sagt Michael Traugott, Leiter<br />

der Abteilung für Angewandte Tierökologie,<br />

nicht ohne Stolz und beantwortet<br />

damit die Frage, warum eigentlich gerade<br />

eine österreichische Universität mitten in<br />

den Bergen Walforschung betreibt. „Das<br />

musste ich bei den Walbeobachtungstouren<br />

auch öfter erklären“, ergänzt Lauren<br />

Rodriguez lachend.<br />

Umweltproben als Alternative<br />

Als Umwelt-DNA (englisch: „environmental<br />

DNA“, kurz: eDNA) bezeichnet<br />

man kleinste Mengen Erbgut, die von Organismen<br />

an ihre Umgebung abgegeben<br />

werden. Das große wissenschaftliche Ziel<br />

von eWHALE ist, anhand der im Wasser<br />

enthaltenen Umwelt-DNA solide Daten<br />

zum Populationsbestand zahlreicher,<br />

teils bedrohter Wal- und Hai-Arten zu<br />

schaffen. „Bei manchen Walarten lassen<br />

sich Individuen anhand von äußerlichen<br />

Merkmalen nicht voneinander<br />

unterscheiden. Gewebeproben dürfen<br />

nur unter strengen Auflagen von <strong>Forschung</strong>steams<br />

entnommen werden, sind<br />

schwierig zu bekommen und nicht ganz<br />

unumstritten. Daher eignen sie sich nicht<br />

für ein weitreichendes Monitoring unter<br />

Einbeziehung von Walbeobachtungsanbietern<br />

und Citizen-Scientists“, erklärt<br />

Bettina Thalinger den Grund dafür. Als<br />

Expertin mit langjähriger Erfahrung in<br />

der Analyse von Umwelt-DNA mithilfe<br />

molekularer Methoden ist sie überzeugt,<br />

dass die aus dem Wasser gefilterte Wal-<br />

DNA ausreichend populationsgenomi-<br />

LAUREN RODRIGUEZ bei der Probenentnahme<br />

auf den Azoren.<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 27


ZOOLOGIE<br />

DAS INNS BRUCKER eWHALE-Konsortium: Michael Traugott, Bettina Thalinger, Lauren Rodriguez<br />

sche Informationen enthält, um zukünftig<br />

ein nicht-invasives Monitoring zu<br />

implementieren. – Bestätigen soll sich<br />

diese Annahme in den nächsten Wochen<br />

im Labor. Dass die Proben, die Lauren<br />

Rodriguez von den Azoren mitgebracht<br />

hat, auch tatsächlich genügend Wal-DNA<br />

beinhalten, steht bereits nach den allerersten<br />

Auswertungen fest. „Wir waren<br />

natürlich sehr neugierig und haben mit<br />

einem neu entwickelten Primerpaar bereits<br />

Pottwal-DNA nachgewiesen“, freut<br />

sich Thalinger und erklärt: „Ein Primerpaar<br />

ist eine Kombination aus zwei molekularen<br />

Sonden, mit der gezielt ein<br />

kurzes Fragment DNA einer Art – zum<br />

Beispiel Pottwal – in einer Umwelt-Probe<br />

nachgewiesen werden kann.“<br />

Bettina Thalinger selbst war im Sommer<br />

übrigens in Italien und Island, um<br />

dort PhD- und Masterstudierende zu<br />

schulen, die im nächsten Jahr die Probenentnahme<br />

in diesen Ländern begleiten<br />

und die Citizen Scientists anleiten werden.<br />

Gemeinsam mit den Tour-Anbietern<br />

soll so nicht nur eine hohe Anzahl an Proben<br />

im Atlantik und dem Mittelmeer entnommen,<br />

sondern auch mehr Bewusstsein<br />

für den Schutz mariner Lebensräume<br />

geschaffen werden. Bis dahin gibt es aber<br />

noch einiges zu tun: In den kommenden<br />

Wintermonaten werden nicht nur Proben<br />

analysiert, sondern auch Leitfäden für die<br />

Arbeit mit den Citizen Scientists erstellt.<br />

„Wir hatten bereits einen Online-Erfahrungstausch<br />

mit dem ganzen Team. Dabei<br />

hat sich gezeigt, dass die unterschiedlichen<br />

Projektpartner unterschiedliche Entnahme-<br />

und Filtermethoden bevorzugen“,<br />

berichtet Thalinger. „Was funktioniert,<br />

hängt stark vom Land und den<br />

örtlichen Gegebenheiten ab. Der italienische<br />

Anbieter macht die Touren mit einer<br />

Segelyacht und ist eine Woche unterwegs,<br />

der isländische unternimmt kurze, dreistündige<br />

Touren mit einem großen, alten<br />

Segelboot. Die Unterschiedlichkeit der<br />

Projektpartner in eWHALE ist Herausforderung<br />

und Stärke zugleich.“ In einem ist<br />

sich das Innsbrucker eWHALE-Team jedenfalls<br />

einig: „Es ist in jedem Fall äußerst<br />

spannend und bereichernd mit so<br />

einem diversen, internationalen Team zusammenzuarbeiten.“<br />

ef<br />

CITIZEN SCIENTISTS und Whalewatching-Agenturen sind stark in das Projekt einbezogen<br />

(Im Bild das Schiff Opal der beteiligten Walbeobachtungsagentur North Sailing in Island).<br />

BIODIVERSA+ ist eine seit 1. Oktober<br />

2<strong>02</strong>1 laufende Förderinitiative der<br />

Europäischen Kommission. Als Teil<br />

der Biodiversitätsstrategie 2030 der<br />

Europäischen Union will Biodiversa+ eine<br />

Brücke zwischen Wissenschaft, Politik<br />

und Praxis schlagen und Erkenntnisse für<br />

ihre Planung und Umsetzung liefern. Das<br />

Biodiversa+-Projekt eWHALE wird vom<br />

österreichischen Wissenschaftsfonds FWF<br />

sowie von weiteren Fördergremien der<br />

beteiligten Staaten finanziert.<br />

28<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Fotos: Andreas Friedle, Ales Mucha


THIRD MISSION<br />

FOKUS AUF KLIMA<br />

UND NACHHALTIGKEIT<br />

PEAK ist eine neu geschaffene Kommunikationsplattform, auf der<br />

die Universität Inns bruck ihre breit gefächerte wissenschaftliche Expertise<br />

in den Bereichen Klima und Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt rückt.<br />

DIE ABBILDUNG wurde mit der Künstlichen Intelligenz Midjourney erstellt, die sie aus dem Projekttitel PEAK (Perspectives on Engagement,<br />

Accountability and Knowledge) angefertigt hat.<br />

Wissenschaftler:innen der Universität<br />

Inns bruck arbeiten zu<br />

zahlreichen Facetten in den Bereichen<br />

Klima, Biodiversität und Nachhaltigkeit.<br />

Um Daten und Fakten, grundlegende<br />

Prozesse, vor allem aber Wege<br />

aus der Klima- und Biodiversitätskrise<br />

besser sicht- beziehungsweise begehbar<br />

zu machen, setzt die Universität Innsbruck<br />

in ihrer Wissenschaftskommunikation<br />

künftig einen noch stärkeren Fokus<br />

auf klimarelevante Themen. Sie nimmt<br />

damit als öffentliche Bildungsinstitution<br />

ihre gesellschaftliche Verantwortung im<br />

Sinne ihrer Third Mission wahr.<br />

„Es geht dabei nicht nur um eine intensivere,<br />

strukturierte und wirksamere<br />

Kommunikation nach außen, sondern<br />

auch darum, unsere Forscher:innen für<br />

Klimakommunikation zu sensibilisieren<br />

und die fächerübergreifende Vernetzung<br />

zu fördern“, verdeutlicht Melanie Bartos<br />

vom Kommunikationsteam der Universität<br />

Inns bruck. Im Rahmen der Tage der<br />

Biodiversität an der Universität für Bodenkultur<br />

in Wien durfte sie am 10. November<br />

2<strong>02</strong>3 das Projekt PEAK offiziell<br />

aus der Taufe heben und präsentieren.<br />

Das Akronym PEAK steht für Perspectives<br />

on Engagement, Accountability and<br />

Knowledge. PEAK versteht sich aber auch<br />

als Hinweis auf einen <strong>Forschung</strong>sschwerpunkt,<br />

der sich aus der einzigartigen Lage<br />

der Universität Inns bruck inmitten der<br />

Berge ergibt: Den alpinen Raum, der von<br />

den Folgen der Klimakrise besonders betroffen<br />

ist und als fakultätsübergreifender<br />

<strong>Forschung</strong>sschwerpunkt bereits seit vielen<br />

Jahren an der Universität verankert<br />

ist. Neben der naturwissenschaftlichen<br />

Perspektive spielen hier Sozial- und Geisteswissenschaften<br />

ebenso eine große Rolle<br />

und thematisieren den gesellschaftlichen<br />

Wandel, zum Beispiel die <strong>Zukunft</strong> bestimmter<br />

Wirtschaftszweige, Verteilungsfragen<br />

oder Konsumgewohnheiten.<br />

Website mit Expert:innen<br />

In einem ersten Schritt entstand als<br />

Kernstück von PEAK eine Website, auf<br />

der klimarelevante Berichte gesammelt<br />

zu finden sind; ebenso integriert sie eine<br />

noch wachsende Liste mit einschlägigen<br />

Expert:innen aus verschiedensten Disziplinen,<br />

die Medienvertreter:innen als<br />

zuverlässige Ansprechpartner:innen in<br />

definierten Themengebieten zur Verfügung<br />

stehen.<br />

„Die PEAK-Seite ist nicht nur als nationale,<br />

sondern auch als internationale<br />

Wirkungsplattform gedacht und deshalb<br />

zweisprachig“, erklärt Melanie Bartos.<br />

So will die Universität langfristig als<br />

Zentrum exzellenter <strong>Forschung</strong> in den<br />

Bereichen Klimaentwicklung und Nachhaltigkeit<br />

auftreten. Aber auch Aus- und<br />

Weiterbildungsformate und Vernetzungsinitiativen<br />

sollen in den kommenden<br />

Jahren im Rahmen von PEAK entstehen.<br />

ef<br />

Mehr Infos zu PEAK – Perspectives on<br />

Engagement, Accountability and Knowledge<br />

auf www.uibk.ac.at/de/peak/<br />

Grafik: Universität Inns bruck<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 29


GEOLOGIE<br />

ALS DIE ALPEN AUS<br />

DEM MEER KAMEN<br />

Die Geologin Hannah Pomella erforscht die jüngste Phase in der Entstehungsgeschichte der Alpen.<br />

Dafür verwenden sie und ihre Dissertant:innen unter anderem Sandkastenmodelle und analysieren<br />

feine Risse, die zerfallendes Uran in Kristallen hinterlässt.<br />

GUT GESCHICHTETE KALKSTEINE der ca. 140 bis 130 Millionen Jahre alten Maiolica-Formation in den Bellunesischen Dolomiten. Die<br />

auffälligen Spitzfalten entstanden in einer späteren Phase der Gebirgsbildung vor ca. 13 bis fünf Millionen Jahren.<br />

Auf dem Labortisch steht etwas, das<br />

auf den ersten Blick wie ein bunter<br />

Sandkasten aussieht. Auf Knopfdruck<br />

fängt ein Ende des Kastens an, sich<br />

zu bewegen und schiebt sich langsam auf<br />

das andere Ende zu. Der dazwischenliegende,<br />

sorgsam aufgebaute Stapel aus<br />

verschiedenfarbigen Sandschichten wird<br />

zusammengedrückt. Die Schichten schieben<br />

sich übereinander, dabei entstehen<br />

Falten und Brüche, im Querschnitt des<br />

Sandmodells gut zu erkennen. Was diese<br />

analoge Laborsimulation im Schnelldurchlauf<br />

zeigt, ist das Aufeinanderprallen<br />

der Europäischen und der Afrikanischen<br />

Kontinentalplatten, das über mehrere<br />

Millionen Jahre hinweg zur Entstehung<br />

der Alpen geführt hat.<br />

Die Vergangenheit dieser Berge ist kompliziert.<br />

Das zeigt sich bereits an der enormen<br />

Vielfalt der Gesteine, aus denen die<br />

Alpen bestehen – und daran, dass sie aus<br />

geologischer Sicht sogar als zwei Gebirge<br />

verstanden werden müssen. Da die Bewegung<br />

der Platten andauert, bewegen und<br />

verformen sich die Alpen auch heute noch.<br />

Hier setzt auch das <strong>Forschung</strong>sprojekt der<br />

Strukturgeologin Hannah Pomella an. Die<br />

Assistenzprofessorin am Institut für Geologie<br />

ist bereits seit ihrem Studium an der<br />

Universität Inns bruck tätig und arbeitete<br />

unter anderem an den Vorerkundungen<br />

zum Bau des Brenner Basistunnels mit.<br />

Die Alpen haben in Pomellas wissenschaftlicher<br />

Laufbahn immer eine zentrale<br />

Rolle gespielt – so auch im aktuellen <strong>Forschung</strong>sprojekt<br />

Thermotektonische Entwicklung<br />

des Dolomiten-Indenters.<br />

Steife Berge<br />

Die Geschichte der Alpen beginnt vor etwa<br />

100 Millionen Jahren, als sich Adria<br />

– ein Sporn der Afrikanischen Kontinentalplatte<br />

– und die Europäische Kontinentalplatte<br />

langsam aufeinander zubewegen<br />

und dabei in einer ersten Phase das<br />

Tethysmeer geschlossen wird. Dadurch<br />

entsteht ein erstes Gebirge. Unmengen<br />

an Muscheln, Korallen und andere Meeresorganismen<br />

bilden die Kalk- und Dolomit-Gesteine,<br />

aus denen die heutigen<br />

Nördlichen Kalkalpen oder auch die Dolomiten<br />

der östlichen Südalpen aufgebaut<br />

sind. In der zweiten wichtigen Phase der<br />

Alpenbildung, vor ungefähr 30 Millionen<br />

Jahren, bewegt sich die Afrikanische Kontinentalplatte<br />

nach Norden und schließt<br />

den Penninischen Ozean, ein Seitenarm<br />

des heutigen Atlantiks. Durch diese<br />

Schließung prallen die Europäische und<br />

die Adriatische Kontinentalplatte gegeneinander.<br />

Dabei wird die Europäische<br />

Platte unter die Adriatische gedrückt und<br />

tief in den Erdmantel geschoben, wo sie<br />

mit der Zeit aufgeschmolzen wird. Andere<br />

Teile der Europäischen Platte werden bei<br />

der Kollision abgehobelt, gemeinsam mit<br />

der darüberliegenden Adriatischen Platte<br />

verfaltet und in die Höhe gedrückt – es<br />

wachsen die Alpen, wie wir sie kennen.<br />

Diese Gebirgsbildung hält bis heute an,<br />

denn die Afrikanische Platte schiebt sich<br />

30 zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Fotos: Thomas Klotz (2), Andreas Friedle (1),


GEOLOGIE<br />

nach wie vor weiter nach Norden. Das<br />

Südalpin, ein bisher kaum an der Gebirgsbildung<br />

beteiligter und deshalb steifer Teil<br />

der Adriatischen Platte, drückt sich dabei<br />

in die relativ weichen nördlichen Alpen.<br />

Vor allem der östliche Teil des Südalpins,<br />

die Dolomiten, übernehmen die Rolle des<br />

Indenters, des „Eindrückers“.<br />

Um diesen jüngsten Teil der Alpengeschichte<br />

zu erforschen, wendet Pomellas<br />

Arbeitsgruppe eine Kombination aus verschiedenen<br />

Methoden an. An erster Stelle<br />

steht, wie in der Geologie üblich, die<br />

Auf Spaltspuren<br />

Die gesammelten Proben werden in aufwendigen<br />

Schritten im Labor aufbereitet,<br />

um darin eingeschlossene Kristalle zu<br />

gewinnen. Vor allem die Kristalle Zirkon<br />

und Apatit sind für die Spaltspurmethode<br />

interessant, an der der Dissertant Thomas<br />

Klotz arbeitet.<br />

Wie in vielen natürlichen Kristallen<br />

ist in Zirkon und Apatit Uran enthalten.<br />

Dieses zerfällt im Laufe der Zeit und bildet<br />

Alphateilchen, die mit hoher Energie<br />

durch den Kristall schießen. Dadurch<br />

wird der Kristall beschädigt und es entsteht<br />

ein winziger Riss, eine sogenannte<br />

Spaltspur. Wenn der Kristall entsprechend<br />

aufbereitet wurde, können diese Risse<br />

unter dem Mikroskop beobachtet und gezählt<br />

werden. Dadurch lässt sich ableiten,<br />

wie viele Uranatome im Kristall seit seiner<br />

Schließtemperatur bereits zerfallen sind.<br />

„Ab einer gewissen Temperatur gilt ein<br />

Kristall als geschlossen. Das heißt, dass<br />

seine Struktur dann fest und der Kristall<br />

nicht mehr in der Lage ist, die Spaltspuren<br />

zu verheilen“, erklärt Pomella. „Mit der<br />

Methode lässt sich bestimmen, vor wie<br />

viel Zeit er seine Schließtemperatur unterschritten<br />

hat. Bei Zirkon liegt diese bei<br />

ungefähr 200 °C, bei Apatit sind es 100 °C.<br />

Anhand einer weiteren Methode messen<br />

wir, wie Helium aus Apatit-Kristallen diffundiert.<br />

Hier liegt die Schließtemperatur<br />

bei 60 °C.“<br />

Durch diese drei Temperaturen lässt<br />

sich nachverfolgen, in welcher Tiefe sich<br />

der jeweilige Kristall zu einer bestimmten<br />

Zeit in der Erdkruste befand – dank<br />

des geothermischen Gradienten. Unter<br />

der Erdoberfläche nimmt die Temperatur<br />

konstant zu, ungefähr 30 °C pro Kilometer.<br />

Für eine im Gebirge gesammelte Gesteinsprobe,<br />

die Zirkon und Apatit enthält, kann<br />

also ein Pfad durch die Erdkruste bis an<br />

die Oberfläche modelliert werden, da<br />

nachverfolgt werden kann, wann die Umgebungstemperatur<br />

200, 100 oder 60 °C<br />

betragen hat. Werden Gesteinsproben von<br />

beiden Seiten einer Verwerfungszone genommen,<br />

also genau dort, wo sich Platten<br />

oder Gesteinspakete übereinander schieben,<br />

so lässt sich die Hebung von Gesteinen<br />

im Verhältnis zueinander beobachten.<br />

IM SPALTSPURLABOR werden die vorbereiteten Kristalle unter dem Mikroskop bei<br />

1.000-facher Vergrößerung begutachtet und die Spaltspuren ausgewertet.<br />

HANNAH POMELLAS wissenschaftlicher<br />

Blick gilt den Alpen.<br />

Exkursion ins Feld und die Suche nach<br />

geeigneten Gesteinsproben in den Bergen.<br />

Dabei geht es oftmals in eher unerforschtes<br />

und abgelegenes Gelände, denn<br />

es wurde lange davon ausgegangen, dass<br />

eine Untersuchung der internen Verformung<br />

des Dolomiten-Indenters nicht viel<br />

zum Verständnis der Alpenbildung beitragen<br />

kann.<br />

Modelle zusammenschieben<br />

Zu den gewonnenen Abkühldaten kommen<br />

Analogmodelle wie der bereits erwähnte<br />

Sandkasten hinzu, an dem die<br />

Dissertantin Anna-Katharina Sieberer arbeitet.<br />

Bei den analogen Experimenten mit<br />

Sand und Silikon stellen verschieden farbige<br />

Sandlagen verschiedene Gesteine der<br />

Erdkruste dar, die, penibel auf den Labormaßstab<br />

skaliert, im offenen Kasten verteilt<br />

werden. Die Verformung der Schichten<br />

modellieren die Forscher:innen durch<br />

mehrere Phasen des Auseinanderziehens<br />

und Zusammenschiebens in unterschiedliche<br />

Richtungen und vergleichen diese<br />

mit tatsächlich in den Alpen beobachteten<br />

tektonischen Prozessen. Daraus können sie<br />

ableiten, wie das Zusammenschieben der<br />

Platten zeitlich und räumlich verlaufen<br />

sein könnte. „Diese zwei Methoden werden<br />

kombiniert“, sagt Pomella. „Was wir<br />

im analogen Experiment modelliert haben,<br />

können wir gemeinsam mit den Abkühldaten<br />

auf die Natur übertragen. Warum,<br />

wo und in welche Richtung sich ein Stein<br />

hebt, das beantworten die Analogmodelle<br />

und die Arbeit im Gelände. Wann, in welcher<br />

Höhe und in welcher Reihenfolge das<br />

geschieht, schließen wir aus unseren Abkühldaten.<br />

Aus den verschiedenen Abkühlpfaden<br />

und den Analogmodellen eine<br />

geologische Geschichte auszulesen – an<br />

dieser Aufgabe sitzen wir gerade. Und sie<br />

erfordert ordentlich Hirnschmalz.“ fo<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 31


ARCHITEKTUR<br />

NEUE DIMENSIONEN<br />

DES ENTWERFENS<br />

Stefan Rutzinger und Kristina Schinegger entwickeln ein zukunftsweisendes Tool, das<br />

volumetrisches Entwerfen via KI in einer responsiven Computer-Umgebung möglich machen soll.<br />

KRISTINA SCHINEGGER und Stefan Rutzinger leiten die <strong>Forschung</strong>sgruppe Konstruktion und Gestaltung (i.sd – Structure and<br />

Design) und teilen sich die gleichnamige Professur an der Fakultät für Architektur. Am Foto sind sie mit zwei Demonstrationsobjekte<br />

aus dem Projekt Computational Immediacy zu sehen. Mehr Informationen: www.structureanddesign.at/<br />

32<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23


ARCHITEKTUR<br />

„Das Werkzeug unterstützt beim<br />

Experimentieren mit komplexen<br />

Materialien und Formen.“ <br />

<br />

Stefan Rutzinger<br />

Volumetrisches Entwerfen erlaubt<br />

es, die architektonische Form<br />

gleichzeitig mit ihrer inneren Materialverteilung<br />

bereits in frühen Phasen<br />

der Ideenfindung zu entwickeln.<br />

Einer der Pioniere auf diesem Gebiet des<br />

„Raumplans“ war der österreichische<br />

Architekt Adolf Loos (1870–1933), der es<br />

strikt ablehnte, seine Bauten zweidimensional<br />

zu entwerfen. Diese Denkweise bildete<br />

die Grundlage für seinen charakteristischen,<br />

in sich verschachtelten Baustil.<br />

Bis heute gilt seine Herangehensweise als<br />

wichtiger Weg der Formfindung in der<br />

Architektur. Zwar bieten leistungsstarke<br />

Computer Architekt:innen rund 100<br />

Jahre später ganz andere technologische<br />

Möglichkeiten, als sie Loos zur Verfügung<br />

standen, doch werden diese aktuell noch<br />

nicht so umfassend genutzt, wie man<br />

meinen möchte: „Im Vergleich zu den<br />

meisten anderen Branchen hat die Baubranche<br />

einen vergleichsweise niedrigen<br />

Digitalisierungsindex“, berichten Stefan<br />

Rutzinger und Kristina Schinegger vom<br />

Institut für Gestaltung an der Fakultät für<br />

Architektur.<br />

In ihrem <strong>Forschung</strong>sprojekt Computational<br />

Immediacy möchten die beiden nun<br />

die Entwicklung einer volumetrischen<br />

Entwurfsmethode vorantreiben, die das<br />

volle Potenzial computergestützter Technologien<br />

schon in frühen Entwurfsphasen<br />

nutzt. Eingebunden sind sie dabei<br />

in dem am Zentrum für Geometrie und<br />

Computational Design (GCD) der Technischen<br />

Universität Wien angesiedelten<br />

FWF-Spezialforschungsbereich (SFB)<br />

Advanced Computational Design, der das<br />

Wissen von Projektpartner:innen aus verschiedensten<br />

Disziplinen wie Mathematik,<br />

Bauingenieurwissenschaften, Computergrafik<br />

oder eben Architektur vereint.<br />

schaffen will. Es soll vage Vorstellungen<br />

und Formen, aber auch die Eigenschaften<br />

innovativer Materialien in hoher räumlicher<br />

Tiefe abbilden. Mithilfe von 3D-<br />

Punktwolken-Modellierungen werden Ergebnisse<br />

am Computer unmittelbar sichtund<br />

bearbeitbar. Aber auch Rückmeldungen<br />

zu Materialaufwand, CO 2 -Bilanz und<br />

weiteren Faktoren sind bereits in dieser<br />

frühen Entwurfsphase durch die Anwendung<br />

möglich. „Das Werkzeug unterstützt<br />

beim Experimentieren mit komplexen Materialien<br />

und Formen“, weist Rutzinger auf<br />

das Anwendungsgebiet hin, „und erlaubt<br />

es Architekten, gestalterisch anspruchsvolle<br />

und nachhaltige Gebäudekonzepte<br />

zu entwerfen.“<br />

Kanonische Gebäude<br />

Ein wichtiges Feature, mit dem das Werkzeug<br />

Entwerfer:innen außerdem unterstützen<br />

soll, ist eine Autocomplete-Funktion.<br />

Diese kann man sich ähnlich wie<br />

einen auf Künstlicher Intelligenz basierenden<br />

Textgenerator vorstellen, der aus<br />

ein paar wenigen Informationen einen<br />

Text formuliert: Mit einfachen Inputs –<br />

zum Beispiel einer physisch modellierten<br />

Grundform – errechnet das Entwurfswerkzeug<br />

ein hochaufgelöstes Modell<br />

mit vielen Details und macht so eine Idee<br />

räumlich erkundbar. Dazu braucht es im<br />

Hintergrund Algorithmen, welche die<br />

räumliche Struktur, die architektonischen<br />

Elemente und weitere für die Darstellung<br />

relevante Faktoren abbilden, aber auch<br />

eine solide Datengrundlage. Derzeit besteht<br />

diese aus über 200 nach Material und<br />

Bauteilen differenzierten Referenzmodellen<br />

kanonischer Gebäude, aus denen die<br />

Künstliche Intelligenz ihr Wissen über<br />

Architektur beziehen kann. Ein Teil dieser<br />

Referenzmodelle wurde im Rahmen von<br />

Lehrveranstaltungen aufbereitet. „Unsere<br />

Studierenden haben sich in Seminaren mit<br />

diesen kanonischen Bauten auseinandergesetzt<br />

und schließlich in Kleingruppen<br />

Modelle davon erstellt“, erzählt Schinegger.<br />

„So erwerben sie sich grundlegendes<br />

Architekturverständnis, können aber auch<br />

an einem innovativen <strong>Forschung</strong>sprozess<br />

teilhaben“, erklärt sie den Ansatz forschungsgeleiteter<br />

Lehre, wie er am Institut<br />

gelebt wird.<br />

Erste Anwendungen liefern bereits gute<br />

Ergebnisse: Schinegger und Rutzinger zeigen<br />

dazu – wie am Foto auf der linken<br />

Seite – ein von Studierenden aus einfachen<br />

Holzwürfeln angefertigtes Modell<br />

und als Vergleichsobjekt das mithilfe der<br />

Autocomplete-Funktion vom Computer<br />

erzeugte, wesentlich detailreichere Modell,<br />

das auch als 3D-Ausdruck gut funktioniert.<br />

„Der Machine-Learning-Workflow<br />

muss allerdings noch mit zusätzlichen<br />

Referenzmodellen weiter trainiert<br />

werden“, berichten Stefan Rutzinger und<br />

Kristina Schinegger, die gerade das Hearing<br />

für die Verlängerung des SFB-Projektes<br />

absolviert haben.<br />

ef<br />

Raum für frische Ideen<br />

„In frühen Phasen des Entwerfens arbeiten<br />

Architekt:innen und Designer:innen noch<br />

sehr intuitiv und auf Basis ihres impliziten<br />

Wissens. Was entstehen kann, ist oft noch<br />

schwer greifbar“, beschreibt Schinegger<br />

jenes Entwurfsstadium, für welches das<br />

neue Entwurfswerkzeug einen Raum<br />

ERSTE FORSCHUNGSERGEBNISSE wurden als hybride Modellierungsumgebung in<br />

einer öffentlichen Installation im aut (Ausstellung Potenziale 3 im Adambräu) mit dem Titel<br />

Clouder vorgestellt und mit einem Laienpublikum getestet: Die Besucher:innen der Ausstellung<br />

konnten auf einem Tisch mit farbigen Blöcken eine Konstruktion bauen. Mit dem eingescannten,<br />

als Punktwolke dargestellten Ergebnis konnten sie in einem zweiten Schritt weiter<br />

experimentieren. – Die Installation bestand im Wesentlichen aus Bauklötzen, zwei MS-Kinect<br />

Scannern, Ringlichtern, einem Bildschirm, einer Arduino Steuerkonsole und einem Computer.<br />

Fotos: Andreas Friedle, Schinegger / Rutzinger<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 33


TEXTILCHEMIE<br />

DRUCKFARBEN<br />

AUS PFLANZEN<br />

Auf dem Weg zur Kreislaufwirtschaft entwickelt Judith Deriu im Labor<br />

natürliche Farbpigmente aus Pflanzen und darauf basierende, nachhaltige<br />

Druckfarben für die Industrie.<br />

DIE NATURFARBEN werden aus Pflanzen oder Reststoffen der Forst- und Landwirtschaft sowie der Lebensmittelindustrie gewonnen.<br />

Farbstoffe aus der Natur werden vom<br />

Menschen schon seit Jahrhunderten verwendet.<br />

Indigo, Karmin, Purpur und Ultramarin<br />

waren bereits in der Antike bekannt<br />

und wurden erst während der industriellen<br />

Revolution von synthetischen Farbstoffen verdrängt.<br />

Am <strong>Forschung</strong>sinstitut für Textilchemie<br />

und Textilphysik in Dornbirn wird seit über 25<br />

Jahren an Farbstoffen aus der Natur geforscht.<br />

Trotz eines Trends hin zu ökologischen Rohstoffen<br />

konnten sich Naturfarbstoffe in der<br />

Textilindustrie bisher noch nicht durchsetzen.<br />

Sie verlieren beim Waschen und im Sonnenlicht<br />

rascher an Farbstärke und sind in der Produktion<br />

teurer als ihre synthetische Konkurrenz.<br />

Das Interesse der Industrie an nachhaltigen<br />

Produkten wächst jedoch stark. Das liegt<br />

einerseits an der verschärften Gesetzgebung<br />

im Bereich Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft,<br />

andererseits wachsen Umweltbewusstsein<br />

und die Bereitschaft der Konsumentinnen<br />

und Konsumenten, mehr Geld<br />

für ökologische und nachhaltige Produkte<br />

auszugeben. In der Lebensmittel- und Kosmetikindustrie<br />

werden Naturfarbstoffe und<br />

natürliche Pigmente bereits erfolgreich eingesetzt.<br />

Judith Deriu arbeitet seit 2016 am Institut<br />

für Textilchemie und Textilphysik und<br />

möchte mit ihren <strong>Forschung</strong>en einen Beitrag<br />

zur Entwicklung der Kreislaufwirtschaft im<br />

Textilsektor leisten. Sie führt die Tradition<br />

des Instituts weiter und nutzt ein uraltes<br />

Verfahren, mit dem aus Pflanzenfarbstoffen<br />

Pigmente hergestellt werden können. „Hier<br />

ist leider viel Wissen verloren gegangen“,<br />

sagt die Chemikerin. „Im Labor versuche ich,<br />

34<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Fotos: Universität Inns bruck (4), privat (1)


TEXTILCHEMIE<br />

dieses Verfahren so weit zu optimieren, dass<br />

die Industriepartner die Pigmente für unterschiedliche<br />

Anwendungen in der Praxis testen<br />

können.“<br />

IM RAHMEN des von der österreichischen<br />

<strong>Forschung</strong>sförderungsgesellschaft (FFG) geförderten<br />

Projekts PiColor arbeitet Judith Deriu<br />

mit den Industriepartnern AGRANA Research<br />

& Innovation Center, Buntwerk Textildruck,<br />

Kelheim Fibres, Offsetdruckerei Schwarzach,<br />

RUEFF Textil, Sun Chemical Group und Verpackungszentrum<br />

Graz zusammen. Ziel ist die<br />

Entwicklung von Pflanzenpigmenten als nachhaltige<br />

und biologisch abbaubare Farbmittel<br />

zur Kolorierung von Textil und Papier.<br />

Farben der Natur<br />

Judith Deriu ist vor allem auf der Suche nach<br />

roten und blauen Farbtönen, denn diese<br />

fehlen bisher weitgehend in der auf Naturfarbstoffen<br />

basierenden Farbpalette. „Daran<br />

arbeiten wir noch, denn diese Pigmente sind<br />

chemisch sehr instabil“, erzählt die Forscherin.<br />

Für Gelb, Ocker, Olivgrün, Braun, Beige<br />

und Schwarz gibt es hingegen bereits Rezepturen,<br />

die für einen industriellen Einsatz interessant<br />

sind. Als Basis für die Pigmente dienen<br />

Reststoffe aus der Forst- und Landwirtschaft<br />

und der Lebensmittelindustrie sowie weitere<br />

Pflanzen, die nicht als Nahrungsmittel dienen.<br />

Schwarz lässt sich etwa aus Holzabfällen<br />

von Sägewerken gewinnen, Olivgrün aus<br />

Zwiebelschalen, Blau aus Heidelbeeren und<br />

Blaualgen und Rot aus Trauben und Beeren.<br />

Indigo und Färbekrapp werden bewusst nicht<br />

verwendet, weil diese in Mitteleuropa nicht<br />

effizient produziert werden können. Wegen<br />

der langen Transportwege und der damit<br />

verbundenen CO 2 -Emissionen vermeidet Judith<br />

Deriu pflanzliche Rohstoffe aus fernen<br />

Ländern.<br />

Aber nicht nur die Farbpigmente basieren<br />

auf nachwachsenden Rohstoffen, auch die<br />

für die Herstellung der Druckfarben notwendigen<br />

Bindemittel und die Trägerfasern sollen<br />

umgestellt werden. Hier ist Judith Deriu<br />

auf der Suche nach natürlichen Alternativen<br />

zu den aus Erdöl produzierten Industrieprodukten.<br />

„Materialien aus fossilen Rohstoffen<br />

belasten die Natur in hohem Ausmaß“, sagt<br />

die Chemikerin. „Aus synthetischen Textilien<br />

lösen sich Mikrofasern, die nicht abgebaut<br />

werden können, und von den auf Textilien gedruckten<br />

Motiven gelangen künstliche Bindemittel<br />

mit Pigmenten als Mikroplastik in die<br />

Umwelt.“ Die Dornbirner Wissenschaftler:innen<br />

kolorieren mit ihrer Pflanzenpigmenten<br />

zum Beispiel biobasierte Zellulosefasern, die<br />

über ein industrielles Verfahren aus Holz hergestellt<br />

werden. Für den Druck auf Textil und<br />

Papier testet Deriu nachhaltige Bindemittel<br />

auf Basis biologisch abbaubarer Polysaccharide,<br />

um die Entstehung von Mikroplastik zu<br />

vermeiden.<br />

Vermarktbare Produkte<br />

Durch Zusammenarbeit mit Industriepartnern<br />

werden verschiedene Druckfarben entwickelt.<br />

Papierdruckfarben für den Offsetdruck aus<br />

„Materialien aus fossilen Rohstoffen belasten die Natur in hohem<br />

Ausmaß. Aus synthetischen Textilien lösen sich Mikrofasern,<br />

die nicht abgebaut werden können, und von den auf<br />

Textilien gedruckten Motiven gelangen künstliche Bindemittel<br />

mit Pigmenten als Mikroplastik in die Umwelt.“ <br />

Judith Deriu<br />

nachhaltigen pflanzlichen Ölen und Harzen<br />

können mit den Pflanzenpigmenten vollständig<br />

nachhaltig gemacht werden. „Unsere<br />

Pigmentpartikel sind für den Papierdruck jedoch<br />

noch zu groß, dafür müssen sie kleiner<br />

als drei Mikrometer werden“, sagt die Chemikerin.<br />

Sehr vielversprechend sind hingegen<br />

die Ergebnisse im Textildruck. „Hier sind wir<br />

gemeinsam mit unseren Partnern aktuell auf<br />

der Suche nach Produkten, die sich vermarkten<br />

lassen.“ In Frage kommen dafür zum<br />

Beispiel Einkaufsbeutel oder Event-T-Shirts.<br />

Im Papierbereich sind Geschenkpapier, Verpackungsmaterialien<br />

und Papiertaschen mögliche<br />

Einsatzgebiete der neuen Farbpigmente<br />

und Druckfarben. Für Kleidung müssen die<br />

Farben noch deutlich weiterentwickelt werden,<br />

damit sie dem häufigen Waschen standhalten<br />

können.<br />

Die Zusammenarbeit mit der Industrie<br />

schafft auch die Basis für ein Netzwerk aus<br />

Wissenschaft, Wirtschaft und allen Beteiligten<br />

entlang der Wertschöpfungskette. Mit im Projektteam<br />

von Judith Deriu sind zum Beispiel<br />

die Textildrucker Buntwerk aus Vorarlberg,<br />

Kelheim Fibres, der weltweit führende Hersteller<br />

von Viskose-Spezialfasern, Sun Chemical,<br />

der wichtigste Hersteller von Druckfarben,<br />

und das Verpackungszentrum Graz, der österreichische<br />

Spezialist für ökologische Verpackungen.<br />

„Um wirklich eine Kreislaufwirtschaft<br />

in der Textil- und Druckindustrie zu<br />

etablieren, müssen alle Beteiligten zusammenarbeiten:<br />

Wissenschaft, Industrie und Konsument:innen.<br />

Meine <strong>Forschung</strong> ist ein kleines<br />

Puzzleteilchen in diesem gemeinsamen Bemühen“,<br />

sagt Judith Deriu. <br />

cf<br />

JUDITH DERIU (*1986)<br />

wurde in der Schweiz geboren<br />

und hat in Amsterdam Biomedizin<br />

und Pharmazeutische<br />

Toxikologie studiert. 2016 kam<br />

sie für ein Doktoratsstudium<br />

an das <strong>Forschung</strong>sinstitut für<br />

Textilchemie und Textilphysik<br />

der Universität Inns bruck und<br />

forscht hier seit der Promotion<br />

als Postdoc. Sie ist Leiterin<br />

eines FFG-Projekts zu Pflanzenpigmenten<br />

als nachhaltige<br />

und biologisch abbaubare<br />

Farbmittel zur Kolorierung von<br />

Textil und Papier (PiColor).<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 35


SOZIALWISSENSCHAFT<br />

OPEN SCIENCE: Felix Holzmeister forscht unter anderem zur Wiederholbarkeit wissenschaftlicher Studien.<br />

OFFENHEIT FÜR<br />

MEHR VERTRAUEN<br />

Open Science setzt sich immer weiter durch – warum der dadurch angestoßene Kulturwandel im<br />

Wissenschaftsbetrieb dringend nötig ist, erklärt Ökonom Felix Holzmeister im Interview.<br />

Wie aussagekräftig sind wissenschaftliche<br />

Ergebnisse? Spätestens seit<br />

über 250 Forscher:innen 2015 in<br />

einer Publikation in „Science“ versucht haben,<br />

100 psychologische Experimente zu wiederholen,<br />

um deren Ergebnisse zu verifizieren,<br />

ist das Thema der Replizierbarkeit sozialwissenschaftlicher<br />

Studien breit auf dem Tapet.<br />

Das Ergebnis war nämlich ernüchternd: Nur<br />

36 Prozent der wiederholten Studien erzielten<br />

signifikante Ergebnisse (im Gegensatz<br />

zu 97 Prozent der Originalstudien). Felix<br />

Holzmeister, Ökonom am Institut für Wirtschaftstheorie,<br />

-politik und -geschichte, forscht<br />

zu Replizierbarkeit von wissenschaftlichen Ergebnissen<br />

und erklärt im Interview, warum<br />

Transparenz und Offenheit die Hauptzutaten<br />

für vertrauenswürdige Wissenschaft sind.<br />

ZUKUNFT: Hat sich das Vertrauen in Wissenschaft<br />

als gesamtes in Ihren Augen in<br />

den vergangenen Jahren geändert?<br />

FELIX HOLZMEISTER: Durch groß angelegte<br />

Replikationsstudien und empirische<br />

Belege, die zeigen, dass in der Wissenschaft<br />

so manches falsch laufen kann,<br />

hat sich vermehrt ein Bewusstsein dafür<br />

entwickelt, dass es Probleme gibt, die es<br />

zu adressieren gilt, wenn man Vertrauen<br />

in wissenschaftliche Resultate haben<br />

will. Die Wissenschaft war sich dessen<br />

seit jeher bewusst, aber viele Probleme<br />

wurden schlichtweg verdrängt. Angestoßen<br />

durch empirische Belege, etwa<br />

die Replikationen von 100 Ergebnissen in<br />

der Psychologie, hat sich ein breiter Diskurs<br />

ergeben, um Wege zu finden, wie<br />

man die Situation verbessern kann. Seit<br />

der 2015 erschienenen Studie wurde die<br />

Replizierbarkeit von wissenschaftlichen<br />

Ergebnissen in diversen Fachbereichen<br />

durch systematische Wiederholung von<br />

Studien untersucht. Die Conclusio ist<br />

immer ähnlich: Im Durchschnitt liegt die<br />

Replikationsrate bei circa 50 Prozent – das<br />

entspricht einem Münzwurf. Eine Studie<br />

zu lesen und das Gefühl zu haben, das<br />

Ergebnis eines Münzwurfs entscheidet,<br />

ob dem Resultat vertraut werden kann<br />

und ob es sich bestätigen ließe, wenn die<br />

Studie eins zu eins wiederholt würde, ist,<br />

glaube ich, nicht das, was sich Menschen<br />

unter valider, vertrauenswürdiger <strong>Forschung</strong><br />

vorstellen. Und genau deshalb<br />

gilt es, Replikationsraten zu erhöhen.<br />

36<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Fotos: Andreas Friedle


SOZIALWISSENSCHAFT<br />

FELIX HOLZMEISTER ist Assistenzprofessor<br />

für Experimentelle Verhaltensökonomik<br />

am Institut für Wirtschaftstheorie,<br />

-politik und -geschichte der Universität<br />

Inns bruck. Nach seiner Promotion 2018<br />

in Inns bruck war er für zwei Jahre als<br />

Postdoc am Spezialforschungsbereich<br />

Credence Goods, Incentives and Behavior<br />

tätig. Im Zentrum seiner <strong>Forschung</strong> stehen<br />

zum einen die Entscheidungsfindung<br />

unter Risiko sowie Märkte für Vertrauensgüter<br />

und zum anderen die Replizierbarkeit<br />

wissenschaftlicher Ergebnisse in den<br />

Verhaltenswissenschaften, Erkenntnistheorie<br />

und Open Science.<br />

ZUKUNFT: Woran liegt das?<br />

HOLZMEISTER: Die Ursachen sind sehr<br />

vielfältig. Einerseits liegt es an statistischen<br />

Grundkonzepten, die verwendet<br />

werden – die frequentistische Statistik<br />

definiert Fehlerraten, die toleriert werden<br />

müssen. Ein weiterer Aspekt ist<br />

Heterogenität: Die Variation über Stichproben,<br />

Studiendesigns und analytische<br />

Methoden hinweg bringt Unsicherheit<br />

mit sich, die häufig ignoriert wird. Diese<br />

Faktoren wirken sich unmittelbar auf<br />

Replikationsraten aus. Ein mindestens<br />

ebenso großes Problem sind aber alle<br />

Arten von fragwürdigen wissenschaftlichen<br />

Praktiken bis hin zu Betrug. Erst<br />

kürzlich war Francesca Gino, eine Professorin<br />

der Harvard Business School,<br />

breit in den Medien: Gino wird vorgeworfen,<br />

systematisch Daten manipuliert<br />

zu haben, um die Ergebnisse zu erzielen,<br />

die man eben gerne hätte und die entsprechend<br />

leichter zu publizieren sind.<br />

Alldem zugrunde liegt das Anreizsystem<br />

in der Wissenschaft: Wir haben es mit einem<br />

sehr stark wettbewerbsgetriebenen<br />

System zu tun, in dem sich alles um Impactfaktoren,<br />

Journalrankings, Zitationszahlen<br />

etc. dreht. Wissenschaftler:innen<br />

arbeiten unter dem Druck, immer das<br />

„Bestmögliche“ aus Studien herauszuholen,<br />

um <strong>Forschung</strong>sgelder zu lukrieren,<br />

auf eine Professur berufen zu werden<br />

etc. Das Problem dabei ist: Es gibt viele,<br />

viele Möglichkeiten, den Prozess vom<br />

Studiendesign bis zum letztendlichen Ergebnis<br />

zu schönen und zu beeinflussen.<br />

Zum Beispiel, indem man 100 verschiedene<br />

Tests durchführt, aber nur den Vorteilhaftesten<br />

publiziert und die anderen<br />

99 Ergebnisse unerwähnt lässt. Die Literatur<br />

besteht zu rund 90 Prozent aus signifikanten<br />

Ergebnissen. Nullergebnisse<br />

werden kaum publiziert. Daraus ergibt<br />

sich ein verzerrtes Bild in der Literatur<br />

und das wirkt sich auch unmittelbar auf<br />

die Replizierbarkeit aus. Das Bestmögliche<br />

ist vor dem Hintergrund des Anreizsystems<br />

leider nicht immer das richtige,<br />

sondern viel mehr das überzeugendste,<br />

überraschendste oder signifikanteste Ergebnis.<br />

ZUKUNFT: Wie lässt sich das beheben? Das<br />

klingt danach, als wäre ein Systemwandel<br />

nötig.<br />

HOLZMEISTER: Ja, und der ist zu einem<br />

großen Teil schon angestoßen. In den<br />

vergangenen Jahren hat sich eine große<br />

Community im Bereich Open Science<br />

etabliert, die stark für Transparenz und<br />

Offenheit plädiert, um den gesamten <strong>Forschung</strong>sprozess<br />

für andere nachvollziehbar<br />

zu machen. Dabei werden alle Daten<br />

und Materialien offen zur Verfügung<br />

gestellt und damit auch nachnutzbar<br />

gemacht. Ein weiterer zentraler Aspekt<br />

des Systemwandels ist der Weg hin zu<br />

Confirmatory Research Practices: Die Idee<br />

dahinter ist, dass man den gesamten <strong>Forschung</strong>sprozess<br />

– von Hypothesen und<br />

dem Studiendesign bis hin zu Datenerhebung<br />

und Analyse – festhält und vor<br />

der Durchführung der Studie in einem<br />

öffentlich zugänglichen Repositorium<br />

ablegt. Diese Präregistrierung wird mit<br />

einem Zeitstempel versehen und ist ab<br />

dem Zeitpunkt der Ablage unveränderbar.<br />

So ist nachvollziehbar, was im Vorfeld<br />

geplant war und was im Nachgang<br />

tatsächlich passiert ist. Einen Schritt<br />

weiter gehen sogenannte Registered Reports:<br />

Dabei wird eine Präregistrierung<br />

bei einem Journal eingereicht und begutachtet.<br />

Bei einem positiven Ergebnis des<br />

Reviewprozesses erfolgt dann eine vorläufige<br />

Publikationszusage. Erst im Anschluss<br />

werden die Daten erhoben und<br />

wie geplant analysiert. Abschließend<br />

erfolgt eine Prüfung, ob die Präregistrierung<br />

eingehalten wurde bzw. Abweichungen<br />

transparent dargestellt werden.<br />

Damit entfernt man auch den Anreiz, signifikante<br />

Ergebnisse zu generieren, weil<br />

man den Publikationserfolg schon in der<br />

Tasche hat, unabhängig davon, was die<br />

Daten dann tatsächlich aufzeigen. Die<br />

Qualität von <strong>Forschung</strong> wird also anhand<br />

der Methodik gemessen und nicht<br />

an den Ergebnissen.<br />

ZUKUNFT: Wird dieses Format schon breiter<br />

angewandt?<br />

HOLZMEISTER: Es wird immer mehr. Die<br />

Präregistrierung hat sich mittlerweile in<br />

weiten Teilen der Sozialwissenschaften<br />

schon als Standard etabliert, da es kein<br />

unmittelbares Mitwirken von Journalen<br />

erfordert. Das ist ein beeindruckender<br />

Wandel, weil es innerhalb von sehr kurzer<br />

Zeit passiert ist – in weniger als zehn<br />

Jahren hat es einen deutlichen Umbruch<br />

in den Standards und in der Publikationskultur<br />

gegeben. Das Format der Registered<br />

Reports gibt es auch immer häufiger,<br />

aber das Angebot ist noch sehr stark<br />

von der Disziplin abhängig. Im Bereich<br />

der Psychologie gibt es mittlerweile zum<br />

Beispiel viele Journale, die Registered-Report-Tracks<br />

anbieten, in den Wirtschaftswissenschaften<br />

ist die Nachfrage klar gewachsen<br />

– vieles ist im Entstehen.<br />

ZUKUNFT: Sie tragen auch selbst zu diesem<br />

Kulturwandel bei und schulen junge<br />

Wissenschaftler:innen im Rahmen einer<br />

Summer School.<br />

HOLZMEISTER: Ich versuche meinen Teil<br />

dazu beizutragen, weil ich der Überzeugung<br />

bin, dass es ein Umdenken braucht.<br />

Leider ist Open Science bislang noch in relativ<br />

wenigen Studienplänen vertreten.<br />

Eine Summer School, die sich mit diesem<br />

Thema beschäftigt, erschien daher ein<br />

wünschenswertes Format zu sein. In erster<br />

Linie geht es darum, ein Bewusstsein<br />

für die Problematik und eine Akzeptanz<br />

von Lösungsansätzen zu schaffen. Das<br />

Format richtet sich primär an Nachwuchswissenschaftler:innen<br />

am Anfang ihrer<br />

Karriere. Bei der jungen Generation anzusetzen,<br />

ist der erfolgversprechendste Weg,<br />

um systematisch und nachhaltig ein Umdenken<br />

zu bewirken. Die Summer School<br />

wurde im vergangenen Sommer erstmals<br />

angeboten und war ausgebucht. Die<br />

Nachfrage für das Format zeigt eine Bereitschaft<br />

für einen Systemwandel – das<br />

ist eine erfreuliche Grundlage. Im Sommer<br />

2<strong>02</strong>4 startet die zweite Auflage. sh<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 37


WISSENSTRANSFER<br />

DER 3D-DRUCK ermöglicht die Herstellung<br />

komplexer Strukturen in einem<br />

einzigen Prozessschritt. Lorenz Fuchs und<br />

Valerie Goettgens geben ihr Wissen dazu<br />

an Unternehmen weiter: „Gemeinsam<br />

wollen wir neue Methoden entwickeln,<br />

um Produkte mit 3D-Druck effizienter<br />

herzustellen. Diese Techniken wollen wir<br />

dann an die Unternehmen weitergeben,<br />

um ihnen ein nachhaltiges Wachstum zu<br />

ermöglichen.“<br />

3D-DRUCK FÜR ALLE<br />

<strong>Zukunft</strong>sweisende Technologie auch für kleine und mittelständische Unternehmen:<br />

länderübergreifendes Kompetenzzentrum für additive Fertigungsverfahren.<br />

Eine Vielzahl von Innovationen hat<br />

die Industrie in den vergangenen<br />

Jahrzehnten stetig verändert. Doch<br />

nur wenige Technologien haben das Potenzial,<br />

die Grundlagen der Produktion<br />

so tiefgreifend zu transformieren wie die<br />

additiven Verfahren, besser bekannt als<br />

3D-Druck. Diese Technologie ermöglicht<br />

die Herstellung komplexer Strukturen in<br />

einem einzigen Prozessschritt, von individuellen<br />

Prototypen bis zum maßgeschneiderten<br />

Endprodukt. An der Universität<br />

Inns bruck beschäftigt sich die Arbeitsgruppe<br />

Werkstoffwissenschaften rund<br />

um Gerhard Leichtfried mit der additiven<br />

Fertigung von Metallen und Legierungen.<br />

Der Industrieforscher kam 2015 vom Tiroler<br />

Weltmarktführer Plansee an die<br />

Universität Inns bruck. Der Fokus seines<br />

Teams liegt auf der Legierungsentwicklung<br />

und einem tiefen Materialverständnis<br />

bis auf die atomare Ebene.<br />

Ein besonderes Anliegen des Teams<br />

am Institut für Mechatronik ist es, die gewonnenen<br />

Erkenntnisse für den Einsatz<br />

in der Industrie aufzubereiten und das<br />

Know-how auch kleinen und mittleren<br />

Unternehmen zur Verfügung zu stellen.<br />

Gemeinsam mit fünf weiteren <strong>Forschung</strong>seinrichtungen<br />

in Österreich und Bayern<br />

haben die Wissenschaftler:innen nun ein<br />

grenzüberschreitendes Kompetenzzentrum<br />

gegründet, das auch kleinere Unternehmen<br />

bei der additiven Fertigung von<br />

Metallen und Legierungen unterstützt.<br />

Die Universitäten und Fachhochschulen<br />

in Rosenheim, Landshut, Passau, Wels,<br />

Salzburg und Inns bruck haben unterschiedliche<br />

Schwerpunkte und können<br />

so interessierten Unternehmen ein breites<br />

Spektrum an Wissen und Ressourcen zur<br />

Verfügung stellen. Das Netzwerk wird von<br />

der Europäischen Union im Rahmen des<br />

Interreg-Programms finanziell unterstützt.<br />

Zugang zu Know-how<br />

Die am Projekt beteiligten Unternehmen<br />

sind teilweise bereits in der additiven Fertigung<br />

tätig und werden von den Partnern<br />

bei der Entwicklung innovativer Bauteile<br />

unterstützt, in anderen Fällen erleichtert<br />

das Netzwerk den Unternehmen den Einstieg<br />

in die Technologie. „Mit neuen Bauweisen,<br />

die weniger Material verbrauchen,<br />

können wir die Entwicklung hin zu mehr<br />

Nachhaltigkeit in Verkehr, Maschinenbau<br />

und Energie unterstützen“, sagt Valerie<br />

Goettgens vom Inns brucker Team. „Der<br />

3D-Druck macht die Produktion flexibler<br />

und umweltfreundlicher. Leider können<br />

viele kleinere Unternehmen diese Technologie<br />

noch nicht voll nutzen, weil ihnen<br />

entweder die Ressourcen oder das Wissen<br />

fehlen. Unser Ziel ist es, gerade kleinen<br />

und mittleren Unternehmen in der bayerisch-österreichischen<br />

Grenzregion zu helfen,<br />

diese Technologie für sich zu nutzen<br />

oder ihre eigenen Techniken und Produkte<br />

zu verbessern.“ Gemeinsam mit den Partnern<br />

baut das Team um Leichtfried und<br />

Goettgens ein Kompetenzzentrum auf, in<br />

dem Expertinnen und Experten ihr Wissen<br />

austauschen und gemeinsam an neuen<br />

Projekten arbeiten. „So können die Unternehmen<br />

von den neuesten <strong>Forschung</strong>sergebnissen<br />

profitieren“, sind die Wissenschaftler:innen<br />

überzeugt. <br />

Mehr Informationen zu dem grenzüberschreitenden<br />

Kompetenzzentrum und dem<br />

Projekt ReBi finden sie hier:<br />

38 zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Fotos: Bernd Linke Photography(1), Universität Inns bruck (1)


WISSENSTRANSFER<br />

STIFTUNGSPROFESSUR<br />

FÜR EISENBAHNBAU<br />

Der neue <strong>Forschung</strong>sbereich Eisenbahnbau und -betrieb wird sich<br />

auf die Themen Oberbau und Fahrweg konzentrieren.<br />

Als innovatives Unternehmen ist es<br />

uns ein Herzensanliegen, Ausbildung<br />

und <strong>Forschung</strong> im Bereich<br />

Eisenbahnwesen in Westösterreich zu<br />

sichern, um unserem hohen Anspruch<br />

auch in <strong>Zukunft</strong> gerecht zu werden“, sagt<br />

Thomas Gamsjäger, Leiter des Geschäftsbereichs<br />

Bahn der Getzner Werkstoffe<br />

GmbH. Der Vorarlberger Hersteller von<br />

Lösungen zur Schwingungsisolierung<br />

und zum Erschütterungsschutz ist spezialisiert<br />

in den Bereichen Bahn, Bau und<br />

Industrie und entwickelt hierfür zukunftsweisende<br />

Polyurethan-Werkstoffe wie Sylomer®,<br />

Sylodyn® oder Sylodamp®. Als<br />

weltweit führender Spezialist auf dem Gebiet<br />

wird das Unternehmen in den nächsten<br />

fünf Jahren insgesamt knapp 700.000<br />

Euro für die Stiftungsprofessur Eisenbahnbau<br />

und -betrieb an der Universität<br />

Inns bruck zur Verfügung stellen.<br />

„An der Universität Inns bruck wurde<br />

über Jahrzehnte eine herausragende<br />

Kompetenz in der Bewertung und Optimierung<br />

des Gleisoberbaus und seiner<br />

Komponenten aufgebaut. Durch die Stiftung<br />

der Firma Getzner wird es möglich,<br />

diese gemeinsam weiterzuentwickeln<br />

und für unsere Studierenden weiterhin<br />

eine forschungsgeleitete Lehre im zukunftsträchtigen<br />

Eisenbahnwesen sicherzustellen“,<br />

betont Rektorin Veronika Sexl.<br />

Mit dem Schwerpunkt im Bereich Oberbau<br />

und Fahrweg ergänzt sich die Professur<br />

an der Universität Inns bruck mit den<br />

<strong>Forschung</strong>sgruppen an den Universitäten<br />

in Graz und Wien. „Mit Harald Loy<br />

konnten wir einen ausgewiesenen Experten<br />

auf dem Gebiet des Eisenbahnwesens<br />

gewinnen, der über langjährige Erfahrung<br />

in der Industrie verfügt und die<br />

Universität sowie Getzner Werkstoffe<br />

sehr gut kennt“, freut sich Sexl. Loy wird<br />

auch einen Schwerpunkt im Bereich<br />

Nachhaltigkeit setzen, um die Bahn als<br />

„grüne“ Alternative für die Mobilität der<br />

<strong>Zukunft</strong> zu positionieren. <br />

HARALD LOY wird einen Schwerpunkt auf<br />

den Bereich Nachhaltigkeit setzen.<br />

REKTORIN Veronika Sexl und Sabine Herlitschka,<br />

Vorstandsvorsitzende der Infineon<br />

Technologies Austria AG.<br />

PARTNERSCHAFT MIT<br />

INFINEON TECHNOLOGIES<br />

Infineon Austria und die Universität<br />

Inns bruck kooperieren bereits seit rund<br />

zehn Jahren. Die Zusammenarbeit in der<br />

Leistungselektronik und der Quantenforschung<br />

wird nun weiter ausgebaut. Im Juli<br />

haben Rektorin Veronika Sexl und Sabine<br />

Herlitschka, Vorstandsvorsitzende der<br />

Infineon Technologies Austria AG, einen<br />

strategischen Kooperationsvertrag unterzeichnet.<br />

Im Fokus stehen <strong>Forschung</strong>en an<br />

Schlüsseltechnologien für die grüne und<br />

digitale Transformation oder den Life-Science-Bereich,<br />

etwa für die Medizintechnik.<br />

Im September eröffnete Infineon ein neues<br />

System-Kompetenzzentrum in Inns bruck.<br />

Es entwickelt erste Referenz-Systeme etwa<br />

für die Elektromobilität, Life Science, erneuerbare<br />

Energien oder die Robotik, um<br />

innovative Anwendungen noch schneller<br />

zur Marktreife und damit zu den Endkunden<br />

zu bringen. Angesiedelt in der<br />

Südbahnstraße im Zentrum von Inns bruck<br />

dienen die Räumlichkeiten auch als Vernetzungsplattform<br />

mit Bildungspartnern und<br />

Studierenden.<br />

ANTENNEN IN ALLEN FORMEN<br />

Unsere Welt wird von Jahr zu Jahr stärker vernetzt und digitalisiert. Neue Funktechnologien<br />

ermöglichen neue Anwendungen. Für im Funksektor unerfahrene Unternehmen<br />

stellt die Integration eines Funksystems mitsamt Antenne in bestehende Produkte eine<br />

große Herausforderung dar. Besonders die Antenne muss für jedes Produkt individuell entwickelt<br />

werden. Am Institut für Mechatronik hat Dominik Mair eine Software für Antennendesign<br />

entwickelt, mit der Antennen für verschiedenste Produkte optimiert werden können.<br />

Die inzwischen patentierte Technologie ermöglicht auch den Einbau in sehr anspruchsvolle<br />

Materialien wie Beton. Demnächst soll ein Spin-off-Unternehmen gegründet werden. Ziel<br />

ist die Entwicklung eines kommerziellen Sensors, der ohne Batterie und Kabel in Beton<br />

verbaut werden kann. Aktuell arbeitet Dominik Mair gemeinsam mit Michael Renzler daran,<br />

die Langzeitstabilität dieser Sensoren zu überprüfen.<br />

Fotos: Universität Inns bruck (2), Infineon (1)<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 39


WISSENSTRANSFER<br />

INNCUBATOR BAUT<br />

IOT LAB AUS<br />

Mit dem IoT Lab betreibt der InnCubator ein Leuchtturmprojekt im Bereich Digitalisierung. Durch eine<br />

Förderung des Landes Tirol kann dieses Labor für das „Internet der Dinge“ nun ausgebaut werden.<br />

EIN VOLL AUSGESTATTETES Elektroniklabor und Rapid-Prototyping-Maschinen stehen in <strong>Zukunft</strong> zur Verfügung.<br />

Der InnCubator ist das Gründer- und<br />

Innovationszentrum von Universität<br />

Inns bruck und Wirtschaftskammer<br />

Tirol. Er sieht sich selbst als Spielwiese<br />

für Geschäfts- und Produktideen. Es geht<br />

darum, schnell die erste Version einer Idee<br />

zu entwerfen, diese direkt bei der Kundschaft<br />

zu testen und das Potenzial zu bewerten.<br />

Projekte im Bereich „Internet der Dinge“<br />

(IoT) werden vom InnCubator seit<br />

einigen Jahren speziell unterstützt. Bereits<br />

2<strong>02</strong>0 wurde mit Hilfe des Förderkreises<br />

1669 der Universität Inns bruck<br />

eine kleine Werkstatt aufgebaut – das<br />

IoT Lab. Nach einer erfolgreichen Pilotphase<br />

wird dieses nun mit Mitteln<br />

aus der Leuchtturmförderung für Digitalisierung<br />

des Landes Tirol wesentlich<br />

ausgebaut. „In <strong>Zukunft</strong> wird es<br />

im InnCubator ein voll ausgestattetes<br />

Elektroniklabor und Rapid-Prototyping-<br />

Maschinen sowie ein Serviceangebot geben“,<br />

berichtet Geschäftsführer Robert<br />

Schimpf.<br />

Das Internet der Dinge gilt als Schlüsseltechnologie<br />

der Digitalisierung und<br />

ermöglicht die Vernetzung von Alltagsgegenständen<br />

bis hin zu industriellen<br />

Maschinen über das Internet. Diese Technologie<br />

bietet enorme Potenziale zur Effizienzsteigerung,<br />

Digitalisierung von Geschäftsmodellen<br />

und Innovation. „Gute<br />

Ideen basieren häufig auf ungewöhnlichen<br />

Kombinationen neuer technologischer Errungenschaften“,<br />

sagt Gregor Weihs, Vizerektor<br />

für <strong>Forschung</strong> der Universität Innsbruck.<br />

„Wir wollen die Teilnehmer:innen<br />

anregen, neue Technologien auszuprobieren.<br />

So entwickeln sich kreative Lösungen<br />

und Prototypen für neue Produkte, Prozesse<br />

oder gar Geschäftsideen.“<br />

Entsprechend wird in Zusammenarbeit<br />

mit der Arbeitsgruppe für Mikroelektronik<br />

der Universität Inns bruck ab dem<br />

Frühjahr 2<strong>02</strong>4 auch eine Hands-on-Fortbildung<br />

angeboten, um Mitarbeiter:innen<br />

von Klein- und Mittelbetrieben und sonstige<br />

Interessierte in den Schlüsseltechnologien<br />

der Digitalisierung zu schulen und<br />

im Anschluss konkrete Projekte für das<br />

Unternehmen, begleitet von Expert:innen,<br />

umzusetzen.<br />

Der InnCubator ist auch Teil der Transferstelle<br />

Wissenschaft – Wirtschaft – Gesellschaft<br />

und formt gemeinsam mit seinen<br />

Partnern eine schlagkräftige Einheit,<br />

um das Thema IoT in Tirol bekannter zu<br />

machen und aktiv voranzutreiben. Als Innovationszentrum<br />

unterstützt der InnCubator<br />

den Austausch zwischen Gründungsinteressierten,<br />

Startups und KMU.<br />

Mit dem IoT Lab kann ein umfangreiches<br />

Angebot bereitgestellt werden, welches<br />

die Unterstützung im Prototypenbau auf<br />

konventionellen Maschinen im Holz- und<br />

Metallbereich von InnCubator und WIFI<br />

Tirol ergänzt. <br />

INNCUBATOR<br />

www.inncubator.at<br />

info@inncubator.at<br />

+43-590-905-7800<br />

Egger-Lienz-Straße 116, Inns bruck<br />

40<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Foto: InnCubator


KURZMELDUNGEN<br />

FRÜHWARNSYSTEM<br />

FÜRS KLIMA<br />

Gletscherwände in Grönland geben Hinweise<br />

auf den Wandel des arktischen Klimas.<br />

Es gibt nur wenige Orte weltweit, an<br />

denen Gletscher an Land in Form<br />

eines Eiskliffs enden. An Land müssen<br />

ganz bestimmte Bedingungen existieren,<br />

um langfristig stabile Eismauern hervorzubringen.<br />

Der überwiegende Teil<br />

läuft in flacher werdenden Gletscherzungen<br />

aus, die beispielsweise auch für die<br />

Alpen typisch sind. Nur am Gipfel des<br />

Kilimandscharo, in den Trockentälern der<br />

Antarktis sowie in Nordwestgrönland<br />

und der kanadischen Arktis gibt es diese<br />

raren Eiskliffe an Land. Die Gletscherforscher<br />

Rainer Prinz von der Universität<br />

Inns bruck und Jakob Abermann von der<br />

Universität Graz wollen in einem vom<br />

Wissenschaftsfonds FWF finanzierten und<br />

vor Kurzem gestarteten Projekt die Eiswände<br />

in Grönland näher untersuchen.<br />

Ihr Ziel sind die bis zu 25 Meter hohen<br />

Red Rock Icecliffs, die Teil der Nunatarssuaq-Eiskappe<br />

im nördlichen Landesteil<br />

Avanersuaq sind. Die Wissenschaftler<br />

wollen die Formationen, die besonders<br />

sensibel auf die Veränderung von Umweltfaktoren<br />

reagieren, als Instrument benutzen,<br />

um das lokale grönländische Klima<br />

im Kontext der globalen Erderwärmung<br />

besser zu verstehen. „Veränderte<br />

Klimasignale wirken sich sehr schnell auf<br />

das Gleichgewicht der Gletscher aus“, erklärt<br />

Prinz. „Wenn wir verstehen, in welcher<br />

Weise das Eis auf Veränderungen der<br />

Umweltfaktoren reagiert, können wir<br />

Rückschlüsse auf eine aktuelle Entwicklung<br />

des lokalen Klimas ziehen.“<br />

WECHSELWIRKENDE<br />

QUASITEILCHEN<br />

Bewegt sich ein Elektron durch einen Festkörper,<br />

erzeugt es aufgrund seiner elektrischen<br />

Ladung in der Umgebung eine Polarisation.<br />

Der russische Physiker Lew etcLandau<br />

hat in seinen theoretischen Überlegungen<br />

die Beschreibung solcher Teilchen um deren<br />

Wechselwirkung mit der Umgebung erweitert<br />

und von Quasiteilchen gesprochen. Vor über<br />

zehn Jahren war es dem Team um Rudolf<br />

Grimm vom Institut für Experimentalphysik<br />

der Universität Inns bruck und vom Institut<br />

für Quantenoptik und Quanteninformation<br />

(IQQOI) der Österreichischen Akademie der<br />

Wissenschaften erstmals gelungen, solche<br />

Quasiteilchen in einem Quantengas sowohl<br />

bei attraktiver als auch repulsiver Wechselwirkung<br />

mit der Umgebung zu erzeugen.<br />

Dazu nutzen die Wissenschaftler:innen ein<br />

ultrakaltes Quantengas aus Lithium- und<br />

Kaliumatomen in einer Vakuumkammer. Mit<br />

Hilfe von magnetischen Feldern kontrollieren<br />

sie die Wechselwirkungen zwischen den Teilchen<br />

und mit Hochfrequenzpulsen drängen<br />

sie die Kaliumatome in einen Zustand, in dem<br />

diese die sie umgebenden Lithiumatome<br />

anziehen oder abstoßen. So simulieren die<br />

Forscher:innen einen komplexen Zustand,<br />

wie er im Festkörper durch ein freies Elektron<br />

erzeugt wird. Nun konnten die Forscher:innen<br />

um Grimm in dem Quantengas mehrere<br />

solche Quasiteilchen gleichzeitig erzeugen<br />

und deren Wechselwirkung untereinander<br />

beobachten.<br />

BIOMARKER FÜR ALTERSBEDINGTE KRANKHEITEN<br />

Objektive biologische Messwerte können helfen, den Alterungsprozess in individuellen Personen<br />

zu messen und das Risiko für altersbedingte Erkrankungen zu identifizieren. Da sich das Altern<br />

jedoch aus vielen verschiedenen Prozessen zusammensetzt, gab es bislang keine Übereinstimmung<br />

unter Expert:innen, wie solche Biomarker am besten zur Anwendung kommen könnten. Ein internationales<br />

Team um Chiara Herzog (im Bild) hat nun weltweit bestehende Rahmenstrukturen zur<br />

Biomarker-Erfassung systematisch angepasst und erweitert, um „Biomarker des Alterns“ und deren<br />

klinische Anwendungen zu definieren. Publiziert haben sie diese in der renommierten Fachzeitschrift<br />

Cell. „Die Alternsforschung hat das Potenzial, uns länger und gesünder leben zu lassen“,<br />

sagt Herzog. „Wir haben in dieser Arbeit erstmals eine Übereinstimmung zwischen internationalen<br />

Expert:innen herbeigeführt, wie wir Biomarker des Alterns untersuchen können.“<br />

Fotos: Rainer Prinz (1), Harald Ritsch(1), Patrick Saringer (1)<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 41


RECHTSWISSENSCHAFT<br />

IM PROJEKT REGROUP werden Handlungsempfehlungen erarbeitet, wie politische Prozesse fit für die <strong>Zukunft</strong> gemacht werden können.<br />

DIGITALES UPDATE<br />

Die COVID-19-Pandemie war für Europa nicht nur eine Gesundheitskrise, sie verursachte auch<br />

juristische und politische Krisen. Wie Europas Gesellschaften nach der Pandemie resilienter werden<br />

können, untersucht – mit Inns brucker Beteiligung – das EU-Projekt REGROUP.<br />

Am Montag, dem 24. Februar 2<strong>02</strong>0,<br />

wandten sich eine 24-jährige Italienerin<br />

und ihr Freund an die<br />

Leitstelle Tirol: Sie seien am Freitag aus<br />

der Lombardei nach Inns bruck zurückgekehrt,<br />

am Wochenende hätten sie erhöhte<br />

Temperatur gehabt, dazu gekommen<br />

seien auch Lungen- und Halsschmerzen.<br />

Am Dienstag, dem 25., herrschte nach<br />

Tests Gewissheit: Das Corona-Virus hatte<br />

auch Österreich erreicht.<br />

Zwei Wochen später wurde als erste<br />

Schutzmaßnahme Passagierflugzeugen<br />

aus bestimmten Regionen die Landung<br />

in Österreich verboten. Danach ging es<br />

Schlag auf Schlag – Absage von Veranstaltungen,<br />

Schul-, Universitäts- und Geschäftsschließungen,<br />

Ausgangsverbote …<br />

Dem ersten bundesweiten Lockdown vom<br />

16. März 2<strong>02</strong>0 folgten drei weitere, der<br />

letzte, 2<strong>02</strong>1, galt für Ungeimpfte länger als<br />

für Geimpfte und Genesene.<br />

So wie in Österreich brachte die CO-<br />

VID-19-Pandemie nicht nur das öffentliche<br />

Gesundheitssystem an den Rande<br />

des Zusammenbruchs und die Wirtschaft<br />

teilweise zum Erliegen, sondern<br />

sie verursachte auch massive rechtliche<br />

und politische Spannungen. „Corona<br />

hat uns vor Augen geführt, dass in<br />

unseren technologischen Gesellschaften<br />

immer noch große Herausforderungen<br />

bestehen, wenn es zu Krisen kommt“,<br />

sagt Matthias Kettemann, Professor für<br />

Theorie und <strong>Zukunft</strong> des Rechts an der<br />

Universität Inns bruck. So stellen Krisen<br />

Gesellschaften vor das Problem, wie Entscheidungen<br />

zu treffen und zu legitimieren<br />

sind. Ein „normales“ Gesetzgebungsverfahren<br />

– Vorschlag, Begutachtung,<br />

Diskussion, Beschluss – ist etwa ob des<br />

Zeitdrucks nicht oder nur schwer möglich.<br />

„Krisen machen aber auch deutlich,<br />

dass in unserer heutigen Gesellschaft die<br />

Kommunikation zwischen Bürger:innen<br />

und Parlament nicht optimal zu laufen<br />

scheint“, sagt Kettemann. Daher stelle<br />

sich die Frage, „wie wir resiliente demokratische<br />

Strukturen schaffen und politische<br />

Prozesse fit für die <strong>Zukunft</strong> machen<br />

können.“ Antworten darauf und daraus<br />

abgeleitete politische Handlungsempfehlungen<br />

will – mit Inns brucker Beteiligung<br />

– das EU-Projekt REGROUP geben,<br />

42 zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Fotos: Parlamentsdirektion / Thomas Topf (1), Andreas Friedle (2)


RECHTSWISSENSCHAFT<br />

MATTHIAS KETTEMANN: „Wir hinterfragen<br />

demokratische Strukturen auf<br />

produktive Art und Weise.“<br />

REGROUP steht für Rebuilding governance<br />

and resilience out of the pandemic<br />

– übersetzt in etwa „Wiederaufbau von<br />

Regierungsfähigkeit und Resilienz nach<br />

der Pandemie“. Das über das Programm<br />

Horizon Europe geförderte EU-Projekt<br />

vereint unter der Führung der Rijksuniversiteit<br />

Groningen (NL) 13 Partner aus elf<br />

Ländern, darunter das Institut für Theorie<br />

und <strong>Zukunft</strong> des Rechts an der Universität<br />

Inns bruck. Die Projektdauer von<br />

REGROUP beträgt drei Jahre, Projektstart<br />

war im September 2<strong>02</strong>2. Die gesamte<br />

Fördersumme für REGROUP beläuft sich<br />

auf rund drei Millionen Euro.<br />

Kettemann und seine Projektmitarbeiterin<br />

Caroline Böck konzentrieren sich in<br />

ihrem Arbeitspaket auf die Nutzung von<br />

digitalen Tools und Plattformen.<br />

„Der erste Teil von REGROUP war eine<br />

Art Bestandsaufnahme in mehreren Ländern“,<br />

berichtet Caroline Böck. Welche<br />

(verfassungs-)rechtlichen Maßnahmen<br />

wurden getroffen, wie kam es zu Entscheidungen,<br />

gab es Machtverschiebungen<br />

zwischen Regierung und Parlament? Dabei<br />

zeigte sich, so Böck, dass Parlamente<br />

aufgrund von Ausgangs- oder Versammlungsbestimmungen<br />

zeitweise gar nicht<br />

arbeitsfähig waren. „Online-Plenarsitzungen<br />

oder -Ausschüsse sind in den Verfassungen<br />

aber nicht vorgesehen“, erläutert<br />

Böck: „Im Fall einer erneuten Gesundheitskrise<br />

mit Ansteckungsgefahr wäre<br />

daher eine juristisch sattelfeste Adaption<br />

notwendig.“ Ein „digitales Update für bestehendes<br />

Recht“ nennt Kettemann daher<br />

einen ersten Schritt, der sicherstellen soll,<br />

dass zukünftige Rechtsetzungsprozesse<br />

digitaler und somit auch resilienter sind.<br />

In einem nächsten Schritt soll bei Entscheidungsfindungen<br />

die Rückbindung an die<br />

Gesellschaft verbessert werden.<br />

„Zu Beginn der Pandemie<br />

waren viele Parlamente gar<br />

nicht arbeitsfähig. Online-<br />

Plenarsitzungen oder Online-Ausschüsse<br />

sind in den<br />

Verfassungen nicht vorgesehen.“<br />

Caroline Böck, Institut für Theorie und <strong>Zukunft</strong> des Rechts<br />

Innovationspotenziale<br />

Neben der Analyse und dem Vergleich<br />

von konkreten Maßnahmen und Entscheidungsfindungen<br />

setzt man bei<br />

REGROUP daher auch auf sogenannte<br />

Mini-Publics, Versammlungen von 20<br />

bis 100 per Los ausgewählten Menschen,<br />

die, erklärt Kettemann, „über politische<br />

Sachverhalte informiert werden, gemeinsam<br />

darüber diskutieren, entscheiden<br />

und die Ergebnisse der Politik als Handlungsempfehlungen<br />

übergeben“. Im Fall<br />

von REGROUP wurde zum Beispiel in<br />

Mini-Publics in Paris, Hamburg, Utrecht,<br />

Florenz und Krakau sowie in einem<br />

transnationalen „Format“ über die Auswirkungen<br />

der COVID-19-Krise und den<br />

Einfluss von Fake News auf das politische<br />

Vertrauen diskutiert. Ziel waren Empfehlungen,<br />

wie Governance und politisches<br />

Vertrauen nach einer durch Fake News<br />

geprägten Pandemie effektiv und demokratisch<br />

verbessert werden können.<br />

„Mini-Publics – ob im echten oder virtuellen<br />

Raum – sind eine Art Demokratielabor,<br />

die es ermöglichen, spannende<br />

Fragen zu stellen“, sagt Kettemann.<br />

Ähnlich interessant sei das Modell der<br />

Beiräte, mit dem in mehreren Ländern –<br />

in Österreich etwa mit dem Klimabeirat<br />

– experimentiert wird, das aber auch auf<br />

digitalen Plattformen wie z. B. mit dem<br />

Oversight Board bei Facebook Anwendung<br />

findet. „Es gibt unterschiedliche<br />

Innovationswege für demokratische Prozesse“,<br />

sind sich Böck und Kettemann einig.<br />

„Unser heutiges Verständnis von repräsentativer<br />

Demokratie beruht auf Annahmen,<br />

die nicht mehr zutreffen“, sind<br />

die Forscher:innen überzeugt. Im Gegensatz<br />

zu früher, als etwa „Abgeordnete in<br />

der weit entfernten Hauptstadt nur mit<br />

großem Zeitaufwand mit den Wähler:innen<br />

zu Hause kommunizieren konnten,<br />

ist heute eine Kommunikation in Echtzeit<br />

möglich.“ Man müsse nur überlegen,<br />

wie. Demokratie-Apps oder die Möglichkeit,<br />

via Smartphone an Entscheidungen<br />

teilzuhaben, wären Modelle, die geprüft<br />

werden. Die Ergebnisse sollen als Policy<br />

Recommendations der EU und ihren Mitgliedstaaten<br />

helfen, digitale Werkzeuge<br />

und Strategien zu entwickeln, um zukünftige<br />

Risiken zu vermeiden bzw. zu<br />

mindern und die gesellschaftliche und<br />

demokratische Widerstandsfähigkeit im<br />

Post-Pandemie-Europa zu verbessern.<br />

„Wir hinterfragen demokratische<br />

Strukturen auf produktive Art und Weise.<br />

Wir haben heute so viele digitale<br />

Möglichkeiten der Kommunikation, mit<br />

denen die demokratische Rückbindung<br />

optimiert werden könnte“, halten Böck<br />

und Kettemann fest. Als Forscher:innen<br />

am 2019 gegründeten Institut für Theorie<br />

und <strong>Zukunft</strong> des Rechts sehen sie es als<br />

ihre Aufgabe, „heute an der Art und Weise,<br />

wie wir Entscheidungen treffen, zu<br />

arbeiten, damit auch nächste Generationen<br />

gute Entscheidungen treffen können<br />

und sich nicht von der Demokratie abwenden.“<br />

ah<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 43


NACHHALTIGE ENERGIEWENDE:<br />

REVITALISIERUNGEN DER TIWAG AM INN<br />

Die TIWAG-Tiroler Wasserkraft AG setzt laufend ökologische Maßnahmen, um die Tiroler Gewässer zu<br />

verbessern – insbesondere am Inn, wie der Blick auf zwei aktuelle Beispiel-Projekte verdeutlicht.<br />

Der Inn weist in Tirol eine lange<br />

freie Fließstrecke auf, wurde aber<br />

im Laufe der Zeit in vielen Bereichen<br />

durch Landnutzung, Eisenbahnoder<br />

Autobahnbau eingeengt, begradigt<br />

und verbaut. Häufig hatte sich dadurch<br />

die Flusssohle eingetieft, ebenso trockneten<br />

viele Au-Bereiche aus – so auch im<br />

Flussabschnitt zwischen Stams und Rietz<br />

im Tiroler Oberland: Als eine der Ausgleichsmaßnahmen,<br />

die im Rahmen des<br />

Kraftwerk-Erweiterungsprojekts Kühtai<br />

durchgeführt werden, revitalisierte<br />

TIWAG zwischen Herbst 2<strong>02</strong>1 und Frühjahr<br />

2<strong>02</strong>3 den Inn in diesem Bereich.<br />

IN LANGKAMPFEN entstand ein über ein<br />

Kilometer langer Seitenarm. Foto: TIWAG/Droneproject<br />

DAS GEWÄSSERBETT DES INN zwischen Stams und Rietz wurde um bis zu 75 Meter aufgeweitet.<br />

<br />

Foto: TIWAG/Droneproject<br />

Vielfältige Lebensräume<br />

und seltene Vögel<br />

Auf einer Länge von rund drei Kilometern<br />

wurden abschnittsweise bestehende Ufersicherungen<br />

entfernt und das Gewässerbett<br />

um bis zu 75 Meter aufgeweitet. Dem<br />

Inn wird damit mehr Platz gegeben, um<br />

wieder eigendynamisch wirken und sich<br />

entwickeln zu können. So entstanden<br />

vielseitige Lebensräume für Gewässerund<br />

Landlebewesen durch Ruhig- und<br />

Flachwasserzonen, Seitenarme, Naturufer,<br />

Schotterflächen und Inseln. Raubäume,<br />

Fischunterstände, Totholz und Steine<br />

bieten Reptilien und Käfern neuen Unterschlupf.<br />

Auch der Zwergrohrkolben, eine<br />

früher für den Inn typische Pflanze, wurde<br />

im Zuge des Projekts wieder angesiedelt.<br />

„Besonders erfreulich und bezeichnend<br />

für die Bedeutung der umgesetzten<br />

Maßnahmen ist, dass sowohl Flussregenpfeifer<br />

als auch Flussuferläufer, zwei<br />

europaweit seltene Vogelarten, sich im<br />

Gebiet der Ausgleichsfläche angesiedelt<br />

haben und an den Uferflächen brüten“,<br />

erklärt TIWAG-Ökologe Martin Schletterer.<br />

Zudem gewährleistet die Dimension<br />

dieser Revitalisierung auch eine positive<br />

Wirkung auf flussauf- und flussabgelegene<br />

Abschnitte und stellt insbesondere in<br />

gewässerökologischer Hinsicht eine bedeutende<br />

Maßnahme als „Trittstein-Biotop“<br />

dar.<br />

Die Wasserbauarbeiten wurden im<br />

Mai 2<strong>02</strong>3 abgeschlossen. In den nächsten<br />

Monaten und Jahren stehen für die ÖkologInnen<br />

der TIWAG noch umfangreiche<br />

begleitende Arbeiten auf dem Programm:<br />

Neben der Bekämpfung von Neophyten<br />

muss sich die Vegetation entsprechend<br />

entwickeln, einige Flächen benötigen<br />

noch Pflege und Nachschau, die im Rahmen<br />

naturkundlicher und gewässerökologischer<br />

Monitoring-Programme erfolgen<br />

werden.<br />

Revitalisierung des<br />

Gießenbaches in Langkampfen<br />

Dass die Nutzung der heimischen Wasserkraft<br />

im Einklang mit der Natur funktioniert,<br />

beweist TIWAG auch in der<br />

Nähe des Laufkraftwerks Langkampfen,<br />

wo in der Niederwasserperiode 2<strong>02</strong>2/23<br />

eine rund drei Hektar große landwirtschaftlich<br />

genutzte Fläche – ebenfalls als<br />

Ausgleichsmaßnahme des Erweiterungsprojekts<br />

Kühtai – aufwendig revitalisiert<br />

wurde. Das Gelände wurde im betroffenen<br />

Bereich abgesenkt und im Mündungsbereich<br />

des Gießenbaches ein mehr<br />

als ein Kilometer langes Seitengewässer<br />

geschaffen. Durch ein Raugerinne ist der<br />

neue Lebensraum auch bei niedrigen<br />

Wasserständen mit dem Inn verbunden.<br />

Zudem bietet der revitalisierte Bereich<br />

bei Hochwasser wichtige Rückzugsräume<br />

für Fische.<br />

Durch das neue Gewässer und die<br />

standortgerechte Bepflanzung kann sich<br />

hier wieder eine Aulandschaft mit ihrem<br />

typischen Ökosystem entwickeln und<br />

damit zu mehr Biodiversität beitragen.<br />

Gefährdete Pflanzenarten wie die Korb-<br />

Weide, Schwarzpappel oder Schwarzerle<br />

sowie seltene Vögel wie der Kleinspecht<br />

finden dort neuen Lebensraum.<br />

Mehr Informationen zu<br />

den vielfältigen Umweltmaßnahmen<br />

der<br />

TIWAG unter<br />

www.tiwag.at/umwelt<br />

– BEZAHLTE ANZEIGE –


PREISE & AUSZEICHNUNGEN<br />

GRENZGÄNGER<br />

Der diesjährige Wittgenstein-Preisträger Hans J. Briegel forscht an der<br />

Schnittstelle von Quanteninformation, maschinellem Lernen und Philosophie.<br />

Hans J. Briegel zählt zu den Pionieren<br />

im Bereich Quanteninformatik und<br />

-technologie. Seine Arbeiten erlauben<br />

Berechnungen, die klassische Computer nicht<br />

leisten können. Seine Erkenntnisse spielen eine<br />

Schlüsselrolle in drei zentralen Bereichen<br />

der Quanteninformatik: die Entdeckung der<br />

messungsbasierten Quanteninformatik als<br />

Herzstück der optisch basierten Quanteninformationsverarbeitung;<br />

die Erfindung des<br />

Quantenrepeaters macht das Quanteninternet<br />

möglich; und seine Entwicklung des Quantenverstärkungslernens<br />

prägt das schnell<br />

wachsende Gebiet der künstlichen Quantenintelligenz.<br />

Mit dem FWF-Wittgenstein-Preis<br />

an Hans J. Briegel ehrt Österreich einen seiner<br />

aktivsten und kreativsten Forschenden in<br />

einem Bereich, in dem Österreich eine führende<br />

Rolle einnimmt“, so die Begründung der<br />

internationalen Jury.<br />

Briegels Arbeitsgruppe erforscht grundlegende<br />

Konzepte der Quantenmechanik und<br />

der statistischen Physik sowie deren Anwendungen<br />

für die Informationsverarbeitung.<br />

Von ihm stammen wegweisende Arbeiten in<br />

den Bereichen Quantencomputer und Quantenkommunikation.<br />

So ist Hans J. Briegel<br />

einer der Erfinder des Einweg-Quantencomputers,<br />

an dessen Realisierung heute mehrere<br />

Unternehmen weltweit arbeiten. Mit der Idee<br />

für Quantenrepeater hat er gemeinsam mit<br />

Kollegen der Universität Inns bruck die Basis<br />

für ein zukünftiges Quanten-Internet gelegt.<br />

Seine aktuellen <strong>Forschung</strong>sinteressen konzentrieren<br />

sich auf das Problem des Lernens und<br />

der Künstlichen Intelligenz in der Quantenphysik<br />

und auf quantenmaschinelles Lernen.<br />

Hans J. Briegel ist Professor und Leiter der<br />

<strong>Forschung</strong>sgruppe Quantum Information and<br />

Computation am Institut für Theoretische<br />

Physik an der Universität Inns bruck. Er studierte<br />

Physik und Philosophie in München<br />

und Edinburgh. Zu den weiteren Stationen<br />

seiner Karriere gehören unter anderem ein<br />

Postdoc-Fellowship an der Harvard University,<br />

eine Gastprofessur an der Universität<br />

Konstanz sowie die langjährige Leitung einer<br />

<strong>Forschung</strong>sgruppe als Wissenschaftlicher Direktor<br />

am Institut für Quantenoptik und<br />

Quanteninformation (IQOQI) der Österreichischen<br />

Akademie der Wissenschaften<br />

(ÖAW) in Inns bruck. 2<strong>02</strong>2 wurde Hans J.<br />

Briegel mit einem ERC Advanced Grant ausgezeichnet.<br />

HANS J. BRIEGEL ist einer<br />

der aktivsten und kreativsten<br />

Forschenden in einem Bereich,<br />

in dem Österreich eine führende<br />

Rolle einnimmt.<br />

Foto: FWF / Dominik Pfeifer<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 45


PREISE & AUSZEICHNUNGEN<br />

PRÄVENTIONSFORSCHER<br />

Für seine präventivmedizinischen<br />

Pionierarbeiten<br />

wurde Martin<br />

Widschwendter,<br />

Professor für Krebsprävention<br />

und Screening<br />

an der Uni Inns bruck,<br />

mit einer Folgeförderung<br />

des European Research Council (ERC)<br />

ausgezeichnet. Dieser Proof of Concept<br />

Grant baut auf dem Advanced Grant auf,<br />

der höchsten Auszeichnung des ERC, die<br />

Widschwendter im Jahr 2017 als erster und<br />

bisher einziger österreichischer Onkologe<br />

erhielt. Mit der neuen Förderung soll das gesellschaftliche<br />

Potenzial seiner Arbeiten in der<br />

Krebsvorbeugung ausgeschöpft werden.<br />

MIT MEDAILLE GEWÜRDIGT<br />

Seit mehr als 20 Jahren<br />

setzt sich Roland<br />

Stalder, Professor am<br />

Institut für Mineralogie<br />

und Petrographie, für<br />

die Förderung der<br />

Öffentlichkeitsarbeit in<br />

den Mineralogischen<br />

Wissenschaften ein. Dies wurde von der<br />

Deutschen Mineralogischen Gesellschaft nun<br />

mit der Doris-Schachner-Medaille gewürdigt.<br />

Die Namensgeberin der Auszeichnung ist die<br />

erste deutsche Professorin für Mineralogie.<br />

Doris Schachner wurde 1949 in Aachen zur<br />

ordentlichen Professorin für Mineralogie, Petrographie<br />

und Lagerstättenlehre ernannt.<br />

INNITZER-PREIS<br />

Im November erhielt<br />

Veronika Sexl im Wiener<br />

Erzbischöflichen<br />

Palais aus den Händen<br />

von Kardinal Christoph<br />

Schönborn den<br />

Kardinal-Innitzer-Würdigungspreis<br />

für Naturwissenschaften<br />

2<strong>02</strong>3. Der Wissenschaftspreis,<br />

benannt nach dem Wiener Erzbischof<br />

Kardinal Theodor Innitzer (1875–1955), ist<br />

eine der angesehensten Auszeichnungen<br />

dieser Art in Österreich. Die Rektorin der<br />

Universität Inns bruck wurde für ihre herausragenden<br />

Leistungen auf dem Gebiet der<br />

Krebsforschung ausgezeichnet. Ebenfalls<br />

ausgezeichnet wurde der Theologe Benedikt<br />

Collinet vom Institut für Bibelwissenschaften<br />

und Historische Theologie. Er erhielt einen<br />

Kardinal-Innitzer-Förderungspreis.<br />

WISSENSCHAFTSLANDESRÄTIN Cornelia Hagele, Andreas Bernkop-Schnürch und<br />

Doris Braun bei der Übergabe der Auszeichnungen.<br />

LANDESPREIS FÜR<br />

WISSENSCHAFT<br />

Der mit 14. 000 Euro dotierte Tiroler Landespreis für<br />

Wissenschaft ging in diesem Jahr an den Pharmazeuten<br />

Andreas Bernkop-Schnürch.<br />

Mit seiner wissenschaftlichen<br />

Arbeit trägt Andreas Bernkop-<br />

Schnürch maßgeblich zur internationalen<br />

Reputation und Stärkung<br />

der <strong>Forschung</strong>sarbeit am Institut für<br />

Pharmazie der Universität Inns bruck<br />

bei und gilt als Pionier im Bereich der<br />

Bionanotechnologie“, gratulierte Wissenschaftslandesrätin<br />

Cornelia Hagele<br />

und führte weiter aus: „Neben seiner<br />

universitären Tätigkeit ist Andreas<br />

Bernkop-Schnürch zudem erfolgreich<br />

als Unternehmer im pharmazeutischen<br />

Bereich tätig. Hervorzuheben ist dabei<br />

insbesondere seine gelungene Verbindung<br />

der akademischen <strong>Forschung</strong><br />

mit der praktischen Anwendung der<br />

<strong>Forschung</strong>sergebnisse.“ Der mit 4. 000<br />

Euro dotierte Förderpreis ging an Doris<br />

Braun, die ebenfalls am Institut für<br />

Pharmazie als Dozentin tätig ist. Derzeit<br />

forscht sie als Senior Scientist im Bereich<br />

für Pharmazeutische Technologie. In<br />

ihrer <strong>Forschung</strong> beschäftigt sie sich mit<br />

grundlagenwissenschaftlichen und angewandten<br />

Problemen im Zusammenhang<br />

mit den Materialeigenschaften von<br />

Arzneistoffen und anderen organischen<br />

Molekülen.<br />

Andreas Bernkop-Schnürch ist seit<br />

2003 Professor am Institut für Pharmazie.<br />

Seine <strong>Forschung</strong>sschwerpunkte liegen<br />

in den Bereichen pharmazeutische<br />

Wissenschaften, Wirkstoffabgabe, kontrollierte<br />

Freisetzung, Bionanotechnologie<br />

und Polymertechnik. Er ist Erfinder<br />

verschiedener Technologien im Bereich<br />

der Biotechnologie und Gründer mehrerer<br />

biotechnologischer <strong>Forschung</strong>s- und<br />

Entwicklungsunternehmen. Er zählt zur<br />

Gruppe der Highly cited researchers und<br />

wurde für seine wissenschaftliche Arbeit<br />

bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.<br />

<br />

46 zukunft forschung <strong>02</strong>/23 Fotos: Land Tirol / Anna Krepper (1), Uni Inns bruck (1), EUTOPS (1), Kathpress / Henning Klingen (1)


PREISE & AUSZEICHNUNGEN<br />

AUSGEZEICHNETE<br />

FORSCHERINNEN<br />

Die Quantenphysikerin Francesca Ferlaino und die Informatikerin<br />

Ruth Breu wurden mit Frauenstaatspreisen ausgezeichnet.<br />

REKTORIN VERONIKA SEXL gratulierte den beiden Frauenstaatspreisträgerinnen Ruth<br />

Breu (li.) und Francesca Ferlaino.<br />

Verliehen wurde der Grete Rehor-<br />

Staatspreis Ende November vom<br />

Bundesministerium für Frauen,<br />

Familie, Integration und Medien an<br />

Francesca Ferlaino. Die Experimentalphysikerin<br />

ist eine der erfolgreichsten<br />

Wissenschaftler:innen in Österreich.<br />

Mit ihren <strong>Forschung</strong>en zu den Eigenschaften<br />

von Quantenmaterie sorgt sie<br />

regelmäßig international für Aufsehen.<br />

In ihrem Fach war sie als Frau eine Pionierin<br />

und Vorbild für nachkommende<br />

Generationen von Physikerinnen. Mit<br />

dem von ihr initiierten Projekt Atom*innen<br />

will Francesca Ferlaino einen gemeinsamen<br />

Raum für Wissenschaftlerinnen<br />

in der Physik schaffen, in dem<br />

sich Frauen vernetzen und gegenseitig<br />

unterstützen können und der weibliche<br />

„Role models“ sichtbarer machen soll.<br />

Neben dem Grete Rehor-Staatspreis<br />

wurden acht weitere Grete Rehor-Preise<br />

in den Kategorien Wirtschaft, Bildung,<br />

Wissenschaft und Arbeitswelt, MINT<br />

und Digitalisierung sowie Wirtschaftswissenschaften<br />

vergeben. Der Grete<br />

Rehor-Preis in der Kategorie MINT<br />

und Digitalisierung, gestiftet vom Bundesministerium<br />

für Finanzen, ging an<br />

die Informatikerin Ruth Breu. Mit der<br />

Auszeichnung wurde insbesondere ihr<br />

langjähriges Engagement für Gleichstellung<br />

in den Bereichen Digitalisierung<br />

und Informatik sowie ihr Beitrag zum<br />

Abbau von geschlechterspezifischen<br />

Stereotypen im IT-Bereich gewürdigt.<br />

Breu leitet die <strong>Forschung</strong>sgruppe Quality<br />

Engineering. Ihr Arbeitsgebiet ist die<br />

modellbasierte Erstellung von Softwaresystemen<br />

und deren systematische Qualitätssicherung.<br />

„Mit ihrem Engagement leisten Francesca<br />

Ferlaino und Ruth Breu einen<br />

wichtigen Beitrag, um gesellschaftliche<br />

und geschlechterspezifische Stereotype<br />

im MINT- und Wissenschaftsbereich<br />

aufzubrechen“, freut sich Rektorin Veronika<br />

Sexl, der die Förderung von Frauen<br />

ein besonderes Anliegen ist, über die<br />

beiden Auszeichnungen. <br />

YOUNG ECONOMIST AWARD<br />

Marica Valente vom<br />

Institut für Wirtschaftstheorie,<br />

-politik<br />

und -geschichte<br />

wurde von der Nationalökonomischen<br />

Gesellschaft mit dem<br />

Young Economist<br />

Award 2<strong>02</strong>3 ausgezeichnet. Sie wurde für<br />

eine Arbeit gewürdigt, die sie gemeinsam<br />

mit Melissa Newham von der ETH Zürich<br />

verfasste und in der untersucht wird, wie<br />

sich Zuwendungen von Pharmaunternehmen<br />

an Ärzt:innen – entweder in Form von<br />

Geld- oder Sachleistungen – auf das Verschreibungsverhalten<br />

von Ärzt:innen und<br />

auf die Arzneimittelkosten für Patient:innen<br />

auswirken.<br />

BESTE MASTERARBEIT<br />

Die Absolventin des<br />

Masterstudiums<br />

Nachhaltige Regional-<br />

und Destinationsentwicklung,<br />

Myriam Zollner, wurde<br />

mit dem Young<br />

Researcher Award<br />

des Arbeitskreises Tourismusforschung in<br />

der Deutschen Gesellschaft für Geographie<br />

ausgezeichnet. In ihrer Arbeit hat Zollner<br />

untersucht, inwiefern es möglich ist, über<br />

eine Meta-Analyse die regionalökonomischen<br />

Einkommenseffekte des Tourismus<br />

in Deutschland abzuleiten und ob sich für<br />

einzelne Destinationstypen regionalökonomische<br />

Prognosemodelle erstellen lassen.<br />

L‘OREAL FELLOWSHIP<br />

Die Physikerin Anna<br />

Bychek wurde<br />

Ende November im<br />

Rahmen des Stipendienprogramms<br />

For<br />

Women in Science für<br />

ihre <strong>Forschung</strong> über<br />

ein neuartiges Schema<br />

von aktiven Atomuhren, der sogenannten<br />

Superradiant-Uhr, ausgezeichnet. Mit<br />

den Stipendien wird vielversprechenden<br />

weiblichen Talenten, die zugleich auch Vorbilder<br />

für Mädchen und Frauen mit wissenschaftlichen<br />

Ambitionen sind, das Vorantreiben<br />

ihrer wissenschaftlichen Karrieren<br />

ermöglicht. Die in Russland geborene Wissenschaftlerin<br />

forscht seit 2<strong>02</strong>0 am Institut<br />

für Theoretische Physik in Inns bruck.<br />

Fotos: Uni Inns bruck (1), Paolo Piffer (1), privat (1), L’ORÉAL (1)<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 47


ZWISCHENSTOPP INNS BRUCK<br />

QUANTENWELTEN ERKUNDEN<br />

Luca Barbiero entwickelt neue Ideen, wie Quantenmaterie unter extremen Bedingungen<br />

erforscht werden kann. Im Herbst war er in den Quantenlaboren in Inns bruck zu Gast.<br />

Experimente mit Quantengasen<br />

bieten großartige Einblicke in die<br />

Funktionsweise unserer Welt. Die<br />

Bestandteile der Materie können hier<br />

fast wie durch eine Lupe sehr exakt beobachtet<br />

werden. Es ist vor allem das<br />

Zusammenspiel der Teilchen, das die<br />

Wissenschaftler:innen fasziniert. Denn in<br />

der Quantenwelt sind viele Phänomene<br />

zu beobachten, die in unserem Alltag unmöglich<br />

wären. Francesca Ferlaino untersucht<br />

mit ihrem Team am Institut für Experimentalphysik<br />

solche Phänomene und<br />

konnte erst unlängst erstmals Hinweise<br />

auf suprasolide Zustände in ultrakalten<br />

Quantengasen finden.<br />

Luca Barbiero vom Politecnico di Torino<br />

in Italien arbeitete im Herbst zwei<br />

Monate als Gastwissenschaftler mit dem<br />

Team um Ferlaino. Der Theoretische<br />

Physiker interessiert sich schon lange<br />

für Quantensysteme, in denen die Teilchen<br />

über große Distanzen miteinander<br />

wechselwirken. In den Inns brucker Experimenten<br />

sind es genau diese Wechselwirkungen,<br />

die Phänomene zutage<br />

fördern, die bisher unerforscht sind. Es<br />

sind die magnetischen Eigenschaften der<br />

Erbium- oder Dysprosiumatome in den<br />

Experimenten, die für diese richtungsabhängige,<br />

weitreichende Wechselwirkung<br />

verantwortlich sind. Francesca Ferlaino<br />

war eine der weltweit ersten Wissenschaftler:innen,<br />

die diese Elemente in<br />

ihren Experimenten verwendet hat.<br />

Innsbrucker Anziehungskraft<br />

Auf Barbiero übte die Universität Innsbruck<br />

deshalb große Anziehungskraft<br />

aus: „Die Idee, quantenmechanische Effekte<br />

mit Hilfe ultrakalter atomarer Systeme<br />

zu verstehen und zu simulieren, wurde<br />

hier in Inns bruck mitentwickelt. Seitdem<br />

arbeiten einige der einflussreichsten<br />

Wissenschaftler:innen auf diesem Gebiet<br />

hier oder haben viel Zeit an den Physik-Instituten<br />

der Universität Inns bruck<br />

verbracht. Dies und die Möglichkeit, mit<br />

Francescas Team zusammenzuarbeiten,<br />

LUCA BARBIERO (*1983) ist Theoretischer<br />

Physiker und seit 2<strong>02</strong>1 Assistenzprofessor<br />

am Politecnico di Torino. Er<br />

studierte Physik in Turin und forschte als<br />

Postdoc in Italien, Belgien und Spanien.<br />

Im Oktober und November war er als<br />

Gastprofessor am Institut für Experimentalphysik<br />

der Universität Inns bruck tätig.<br />

waren für mich sehr attraktiv.“ Der italienische<br />

Physiker hat am Politecnico di<br />

Torino promoviert und arbeitete dann<br />

mehrere Jahre als Postdoc in Italien, Belgien<br />

und Spanien. 2<strong>02</strong>1 ist er als Assistenzprofessor<br />

wieder an das Politecnico<br />

di Torino zurückgekehrt.<br />

An der Universität Inns bruck hat Barbiero<br />

mit dem Team um Francesca Ferlaino<br />

neue Ideen und Pläne entwickelt, wie<br />

mit dem einzigartigen Know-how der hiesigen<br />

Experimentalphysik das Verhalten<br />

von Quantenmaterie unter sehr ex tremen<br />

Bedingungen untersucht werden kann.<br />

Sein Wissen gab der Physiker auch an die<br />

Studierenden weiter: „Ich habe versucht,<br />

den Studierenden meine Leidenschaft für<br />

die Quantenmaterie zu vermitteln, indem<br />

ich Beispiele vorgestellt habe, bei denen<br />

die Regeln der Quantenphysik zu sehr<br />

spannenden und kontraintuitiven Effekten<br />

führen“, sagt Barbiero. Um Theorie<br />

und Experiment bereits in der Lehrveranstaltung<br />

zusammenzuführen, hielt er das<br />

Seminar gemeinsam mit Manfred Mark<br />

aus dem Team von Ferlaino. „Manfred ist<br />

ein brillanter Experimentalphysiker. Mit<br />

ihm konnte ich sehr konkrete experimentelle<br />

Details direkt mit meinen theoretischen<br />

Konzepten verbinden.“<br />

Für Luca Barbiero hat sich der Besuch<br />

in Inns bruck jedenfalls gelohnt: „Ich denke,<br />

dass es nur sehr wenige Orte auf der<br />

Welt gibt, an denen man so viele brillante<br />

Teams findet, die theoretische oder experimentelle<br />

<strong>Forschung</strong> auf diesem Gebiet<br />

betreiben.“ <br />

cf<br />

48<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23<br />

Foto: Andreas Friedle


SPRUNGBRETT INNS BRUCK<br />

KANN RECHT LEID<br />

VERMEIDEN?<br />

Den Juristen Philipp Kastner zog es in die Welt, um einen Beitrag<br />

für gerechtere und friedvollere Gesellschaften zu leisten.<br />

Die Verbindung von Recht und<br />

Frieden beschäftigt Philipp Kastner<br />

seit seinem Studium und<br />

aktuell in seiner <strong>Forschung</strong> und Lehre.<br />

„Schon von Beginn an haben mich insbesondere<br />

die politischen Aspekte des Völkerrechts<br />

fasziniert, und so bin ich auch<br />

zur Friedens- und Konfliktforschung gekommen.<br />

Leider gibt es noch immer viel<br />

zu viel vermeidbares Leid und unnötige<br />

Ungerechtigkeit auf der Welt“, so der<br />

Wissenschaftler, der derzeit an der Law<br />

School der University of Western Australia<br />

(UWA) an einem Buch arbeitet, in dem<br />

er Verbindungen von Recht und Frieden<br />

kritisch beleuchtet.<br />

Wie kann das Recht, und insbesondere<br />

das Völkerrecht, effektiver und langfristiger<br />

zum Frieden beitragen? Warum hat<br />

es, trotz vieler Versuche, das Recht noch<br />

immer nicht wirklich geschafft, eine konstruktivere<br />

Rolle zu spielen? „Leider bleibt<br />

das ein aktuelles Thema“, betont Kastner<br />

und fügt hinzu: „Hoffentlich können<br />

theoretische Überlegungen wie die meinen<br />

– nicht nur aus klassisch-westlicher<br />

Sicht, sondern auch unter Einbeziehung<br />

postkolonialer oder queerer Theorien<br />

– neue Lösungsansätze bringen.“ Der<br />

Wissenschaftler möchte seine Studierenden<br />

dazu anregen, mit- und voneinander<br />

zu lernen sowie kritisch und kreativ zu<br />

denken. „Ich unterrichte unter anderem<br />

Völkerstrafrecht und Seerecht im Rahmen<br />

eines Masterstudiums im internationalen<br />

Recht, den ich an der UWA mitaufgebaut<br />

habe. In beiden Fällen versuche ich,<br />

grundlegende politische, historische und<br />

kulturelle Faktoren herauszuarbeiten, die<br />

erklären, warum es auch in diesen Bereichen<br />

frappierende Ungerechtigkeiten gibt<br />

und das Recht paradoxerweise oft eher<br />

den politisch Stärkeren von Nutzen ist“,<br />

erläutert der Rechtsexperte, der sich bereits<br />

in seiner Magisterarbeit an der Uni<br />

Inns bruck mit dem Seerecht beschäftigt<br />

hat. „Auch wenn die Meere für Binnenstaaten<br />

wie Österreich auch eine wichtige<br />

Rolle spielen, ist das im Falle von<br />

Australien freilich sehr viel offensichtlicher.<br />

Noch dazu ist der Campus der UWA<br />

nur ein paar Kilometer vom Ozean entfernt<br />

– eigentlich könnte ich von der Law<br />

School, die direkt am Swan River liegt, in<br />

einem Kajak zum Meer paddeln!“<br />

Music & Law<br />

Durch Zufall und sein musikalisches Talent<br />

ergab sich für den Wissenschaftler<br />

noch eine weitere <strong>Forschung</strong>srichtung –<br />

seit Kurzem bietet er eine Lehrveranstaltung<br />

zum Thema „Music and the Law“<br />

an. Den vielseitigen Rechtsexperten haben<br />

auch die koloniale Vergangenheit und<br />

Gegenwart in Australien geprägt. „Dieser<br />

Kontext hat meine Sensibilität nicht nur<br />

gegenüber indigenen Völkern, sondern<br />

allgemein gegenüber benachteiligten und<br />

diskriminierten Bevölkerungsgruppen geschärft<br />

– insbesondere, wenn es um die<br />

PHILIPP KASTNER studierte in Innsbruck<br />

Rechts- und Politikwissenschaft.<br />

Schon von Beginn an faszinierten ihn die<br />

politischen Aspekte des Völkerrechts, was<br />

ihn zur Friedens- und Konfliktforschung<br />

brachte. Nach Auslandserfahrungen an<br />

der Sciences Po Paris und weiteren Studien<br />

an der McGill University in Montréal<br />

wechselte er an die University of Western<br />

Australia, wo er seit fast zehn Jahren<br />

forscht und lehrt. „Meine Abschlüsse<br />

haben mir international interessante<br />

Möglichkeiten eröffnet. Insofern war die<br />

Uni Inns bruck ein gutes erstes Sprungbrett!“,<br />

freut sich Kastner.<br />

Aufarbeitung oder Beseitigung von Unrecht<br />

geht, das während eines bewaffneten<br />

Konflikts, einer Diktatur oder Kolonialherrschaft<br />

begangen wurde“, sagt Kastner.<br />

Ob es ihn wieder auf andere Erdteile<br />

zieht oder ob er in Australien bleibt, lässt<br />

das „österreichische Känguru“, wie er von<br />

seinen Kolleg:innen scherzhaft genannt<br />

wird, noch offen. <br />

df<br />

Foto: Privat<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23 49


ESSAY<br />

WORTSUCHE „INN“<br />

Eine Recherche in der <strong>Forschung</strong>sdatenbank „Dokumentation<br />

LiteraturTirol“ von Christine Riccabona und Anton Unterkircher.<br />

„Der Inn und seine<br />

Landschaften, die der<br />

Erzähler durchwandert,<br />

werden geradezu zu<br />

einem Synonym für<br />

Tirol.“<br />

CHRISTINE RICCABONA und<br />

ANTON UNTERKIRCHER<br />

sind Mitarbeiter:innen am <strong>Forschung</strong>sinstitut<br />

Brenner-Archiv.<br />

Sie betreiben gemeinsam mit<br />

Kristin Jenny und Sebastian von<br />

Sauter das „Lexikon LiteraturTirol“:<br />

literaturtirol.at/lexikon<br />

Als Motiv, Kulisse, Schauplatz und Thema<br />

ist der „Inn“ so alt wie die Literatur<br />

des Landes, durch das er fließt. Gesetzt<br />

den Fall, jemand wollte systematisch eine ‚Literaturgeschichte<br />

des Inns‘ erarbeiten, würde<br />

er/sie sicherlich von den Leistungen der Digitalisierung<br />

literarischer Bibliotheksbestände<br />

profitieren, und er/sie würde wohl auch die<br />

umfangreiche Datenbank zur Literatur in Tirol<br />

vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart durchforsten.<br />

Das <strong>Forschung</strong>sinstitut Brenner-Archiv<br />

der Universität Inns bruck betreibt ebendiese<br />

seit mehr als 20 Jahren, ist das Institut doch<br />

zugleich auch Tiroler Literaturarchiv und gemeinsam<br />

mit dem Literaturhaus am Inn eine<br />

wichtige Einrichtung der literarischen Öffentlichkeit<br />

Tirols. Als Output aus dieser Datenbank<br />

wurde 2006 das bio-bibliografische Online-Lexikon<br />

„LiteraturTirol“ generiert, in dem<br />

derzeit 1. 100 Autor:innen aus Nord-, Süd- und<br />

Osttirol geführt und Einblicke in deren Leben<br />

und Werk geboten werden. Das illustrierte,<br />

laufend aktualisierte und kommentierte Online-Lexikon<br />

ist Nachschlagewerk, Findbuch<br />

und Ort der Vermittlung gleichermaßen.<br />

Der Suchlauf „Inn“ fördert naturgemäß all jene<br />

Bücher, Gedichte, Erzählungen, Sagen usw.<br />

zutage, die sich schon im Titel auf ihn beziehen,<br />

wobei dieses Ergebnis überraschenderweise<br />

schmal ausfällt. Zum Beispiel gibt es das<br />

Gedicht „(inn)“ des inzwischen renommierten<br />

Theaterautors Händl Klaus mit folgendem<br />

Vers: „innerhalb der satten : matten : ufer : /<br />

böschung : bricht : beständig : mir : / der Inn<br />

: herein.“ Nennenswert ist auch Lilly Sauters<br />

Gedicht „Innbrücke“.<br />

Der „Inn“ fungiert zudem als Namensgeber<br />

für Institutionen wie den Inn-Verlag, in<br />

dem zahlreiche Bücher Tiroler Literat:innen<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg herauskamen,<br />

oder die Literaturzeitschrift „Inn“, die in den<br />

1980er-Jahren erschienen ist und in der viele<br />

bekannte Gegenwartsautor:innen erstmals<br />

publizierten. Und so findet sich etwa auch<br />

eine Anthologie mit dem Titel „Innseits“ aus<br />

dem Jahr 2007, die Aufzählung ließe sich beliebig<br />

fortführen. Darüber hinaus führen biografische<br />

und inhaltliche Kommentierungen<br />

zu den literarischen Texten. Aus diesen rücken<br />

wir nur zwei Beispiele ins Blickfeld: Ein<br />

kleines Stück Kulturgeschichte aus der Zeit<br />

der Inn-Schifffahrt in Tirol, erzählt von Adolf<br />

Pichler in „Zu meiner Zeit. Schattenbilder aus<br />

der Vergangenheit“ (1892). Er schildert darin<br />

anekdotenhaft u. a. seine zehntägige Schiffs-<br />

Reise von Hall nach Wien: Im September 1842<br />

geht er gemeinsam mit einem Freund an Bord<br />

eines Frachtschiffes in Hall. Da die beiden Passagiere<br />

nur zwei Gulden Fahrgeld bezahlen,<br />

müssen sie beim Rudern mithelfen und an den<br />

Ufern Brennholz für die Schiffs-Küche einsammeln.<br />

Dass die Reise per Schiff im 19. Jahrhundert<br />

auch eine Möglichkeit war, „wohlfeiler<br />

zu reisen“, ist vermutlich heute kaum mehr<br />

bekannt.<br />

Franz Gschnitzer (1899–1968), Rektor der Universität<br />

Inns bruck, Jurist, Politiker und Autor<br />

publiziert 1947 unter dem Titel „‚Der Inn‘. Ursprung<br />

– Vereinigung – Hohe Zeit“ eine Eloge<br />

auf den Fluss und seine umliegende Landschaft,<br />

die heute in die Reihe schöngeistiger<br />

Dichtung gehört: Es sind poetisch-kontemplative<br />

Aufzeichnungen einer Wanderung vom<br />

Ursprung des Inns am Maloja-Pass bis zu seinem<br />

Einmünden in die Donau – dabei philosophiert<br />

der Autor über Anfang und Ende als<br />

stetem Kreislauf des Wassers: „Wie sich ein<br />

Tropfen bildet und vergeht oder bestehn<br />

bleibt, ist so sehr dem Zufall preisgegeben –<br />

gleich wie der einzelne Mensch. Als Ganzes<br />

aber ist dies vergänglichste und nachgiebigste<br />

Element das beständigste und unnachgiebigste:<br />

in ständigem Wechsel besteht es sicherer<br />

als unverrückbare Grundfeste und ewige Bewegung<br />

wird ewige Ruhe.“ Der Inn und seine<br />

Landschaften, die der Erzähler durchwandert,<br />

werden geradezu zu einem Synonym für Tirol:<br />

Der Wanderer blickt nicht nur vom Inntal<br />

nach Süden, er wandert auch durch Südtirol<br />

bis an den Gardasee und sinniert über das<br />

„Land im Gebirge, das Nord und Süd verbindet.“<br />

Das scheinbar harmlose Wanderbuch<br />

führt so in seinem poetischen Fluss unterströmig<br />

doch politische Fracht der Tiroler Nachkriegszeit.<br />

50<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/23


BERUFUNG<br />

GEFUNDEN.<br />

Nadine Jasmin Ortner<br />

Universitätsassistentin am Institut für Pharmazie,<br />

Abteilung für Pharmakologie und Toxikologie<br />

Friedrich Vötter<br />

Techniker am Institut für Astro- und<br />

Teilchenphysik<br />

Viele Menschen haben an<br />

der größten Hochschule Westösterreichs ihre Berufung<br />

in <strong>Forschung</strong> und Lehre, aber auch in der Verwaltung gefunden.<br />

Die Molekularbiologin Nadine Jasmin Ortner und der Techniker am<br />

Institut für Astro- und Teilchenphysik Friedrich Vötter sind zwei davon.<br />

Nadine Jasmin Ortner bringt gerne Dinge zu Ende.<br />

Das war schon in ihrem Molekularbiologie-Studium so,<br />

für das die gebürtige Kärntnerin aus ihrem Heimatort<br />

Ossiach nach Wien gezogen ist.<br />

Heute ist sie Universitätsassistentin am Institut für<br />

Pharmazie, in der Abteilung für Pharmakologie und<br />

Toxikologie. Nach einem kurzen Bewerbungskrimi<br />

fand sie hier ihre Traumstelle, wie sie selbst sagt.<br />

Friedrich Vötter ist ein „klassischer Bauernbua“, wie<br />

er sagt. Aufgewachsen auf einem Hof im Wipptal<br />

sahen seine Karrierepläne eigentlich anders aus:<br />

„Ursprünglich bin ich gelernter Karosseriebauer“,<br />

erzählt er.<br />

Mittlerweile ist er seit 22 Jahren an der Universität<br />

Innsbruck tätig und leitet als Techniker die Werkstätte<br />

des Instituts für Astro- und Teilchenphysik.<br />

Wir denken weiter.<br />

Seit 1669<br />

www.uibk.ac.at/karriere<br />

<br />

/uniinnsbruck<br />

© BfÖ 2<strong>02</strong>3


© Mohamad Cheblak/MSF, Libanon 2<strong>02</strong>0<br />

Sekunden mit Bedeutung.<br />

Ärzte ohne Grenzen.<br />

Deine Spende zählt:<br />

Jetzt helfen!<br />

www.aerzte-ohne-grenzen.at<br />

52 zukunft forschung <strong>02</strong>/23 Wir gehen da hin, wo’s weh tut.<br />

Foto: Andreas Friedle

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