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Bildung in einer Vielfalt von Sprachen.

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Hans –Christoph Koller<br />

Clemens Aichmayr<br />

9956863<br />

<strong>Bildung</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>Vielfalt</strong> <strong>von</strong> <strong>Sprachen</strong>.<br />

Zur Aktualität Humboldts für die bildungstheoretische Diskussion unter den<br />

Bed<strong>in</strong>gungen der (Post-) Moderne<br />

Bei diesem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Version e<strong>in</strong>es Referates, das der<br />

Autor im Jahr 1994 <strong>in</strong> Friedrichroda hielt.<br />

Hierbei unternimmt Koller den Versuch, die bildungstheoretischen Texte Wilhelm <strong>von</strong><br />

Humboldts e<strong>in</strong>er kritischen Relektüre zu unterziehen. Er bedient sich dabei e<strong>in</strong>er Perspektive,<br />

die <strong>von</strong> Jean-Francois Lyotard <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Studie über Das postmoderne Wissen (1979) und<br />

se<strong>in</strong>em Buch Der Widerstreit (1983) eröffnet wurde.<br />

Zunächst skizziert Koller kurz die Perspektive Lyotards, für den der Zustand der westlichen<br />

Gesellschaften <strong>in</strong>sofern postmodern ist, als das Vertrauen <strong>in</strong> die e<strong>in</strong>heitsstiftenden<br />

geschichtsphilosophischen Konstruktionen zur Legitimation des Wissens weitgehend<br />

geschwunden ist und e<strong>in</strong>em Bewusstse<strong>in</strong> der radikalen Pluralität und Heterogenität aller<br />

Wissensformen, Sprachspiele oder Diskursarten Platz gemacht hat.<br />

Lyotard versteht Postmoderne jedoch nicht als völligen Bruch mit der Moderne, sondern<br />

vielmehr als Zuspitzung, Radikalisierung und Generalisierung bestimmter Tendenzen der<br />

wissenschaftlichen und künstlerischen Moderne des 20.Jahrhunderts.<br />

Se<strong>in</strong>e These ist, dass der <strong>Bildung</strong>sgedanke bei Humboldt zur Vere<strong>in</strong>heitlichung zweier<br />

differenter Sprachspiele diene: des Sprachspiels der wissenschaftlichen Erkenntnis (<strong>in</strong> dem<br />

es um wahre Aussagen geht) und des Sprachspiels der ethisch-politischen Praxis (<strong>von</strong> dem<br />

gerechte Aussagen erwartet werden)<br />

Die Herausforderung dieser Konzeption für die bildungstheoretische Diskussion sieht Koller<br />

vor allem <strong>in</strong> der Frage, ob angesichts dieser Pluralität und Heterogenität der Diskursarten<br />

überhaupt noch e<strong>in</strong> <strong>Bildung</strong>sbegriff denkbar ist, der zur Legitimation pädagogischen<br />

Handelns dienen könnte.<br />

Dieser Frage nach e<strong>in</strong>er Reformulierung des <strong>Bildung</strong>sbegriffes unter den Bed<strong>in</strong>gungen der<br />

(Post)moderne widmet sich Koller im Folgenden und bezieht sich dabei zunächst auf<br />

Humboldts anthropologische bzw. bildungstheoretische Schriften :<br />

<strong>Bildung</strong> gilt bei Humboldt als die möglichst weitreichende und zugleich möglichst<br />

ausgewogene Entwicklung aller menschlichen Anlagen. Voraussetzung dafür ist die<br />

ihrerseits möglichst umfassende „Wechselwirkung“ des Individuums mit der „Welt“.<br />

In dieser Konzeption kl<strong>in</strong>gt für Koller das postmoderne Thema der Pluralität auf doppelte<br />

Weise an: als „Mannigfaltigkeit“ der Kräfte, die es zu entwickeln gilt, und als<br />

„Mannigfaltigkeit“ der Welt, mit der das Ich <strong>in</strong> Wechselwirkung treten soll.


Humboldt bleibt jedoch nicht bei der Feststellung heterogener <strong>Vielfalt</strong> stehen, sondern zielt<br />

drauf ab, diese <strong>Vielfalt</strong> als Ausdruck e<strong>in</strong>er zu Grunde liegenden E<strong>in</strong>heit zu verstehen<br />

bzw.sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e solche E<strong>in</strong>heit zu überführen. Diese E<strong>in</strong>heit der Kräfte kann und soll durch<br />

<strong>Bildung</strong> bewirkt werden.<br />

In weiterer Folge geht Humboldt <strong>von</strong> der Ebene der <strong>Bildung</strong> des e<strong>in</strong>zelnen Individuums auf<br />

die Ebene der <strong>Bildung</strong> der Menschheit als ganzer über.<br />

Koller beschäftigt sich <strong>in</strong> diesem Zusammenhang mit dessen Werken Das Achtzehnte<br />

Jahrhundert, Theorie der <strong>Bildung</strong> des Menschen sowie Lat<strong>in</strong>um und Hellas und hält fest, dass<br />

Humboldt immer wieder betont, es komme bei der <strong>Bildung</strong> des Menschen darauf an, die<br />

besondere Eigentümlichkeit des Individuums zu bedenken.<br />

Zum Problem wird die Pluralität menschlicher Individualitäten für Humboldt durch das<br />

Spannungsverhältnis, <strong>in</strong> dem die Forderung nach Berücksichtigung <strong>in</strong>dividueller<br />

Eigentümlichkeit zu e<strong>in</strong>er anderen zentralen Orientierungskategorie des <strong>Bildung</strong>sprozesses<br />

steht: dem Ideal menschlicher Vollkommenheit.<br />

Es kann also zu e<strong>in</strong>em Konflikt zwischen diesem idealen Maßstab und der erforderlichen<br />

Rücksicht auf Individualität kommen.<br />

Humboldts Lösung dieses Problems ist für Koller „e<strong>in</strong>fach und bestechend zugleich“. Sie<br />

beruht auf dem Pr<strong>in</strong>zip der gesellschaftlichen Darstellung des Ideals:<br />

„Was der e<strong>in</strong>zelne Mensch für sich nicht vermag, das kann durch die Vere<strong>in</strong>igung aller<br />

gesellschaftlich bewirkt werden“, zitiert Koller aus dem Werk „Das Achtzehnte<br />

Jahrhundert“.<br />

Für ihn ist diese Lösung aus postmoderner Perspektive <strong>in</strong>teressant, weil sie nachdrücklich auf<br />

der Pluralität und Heterogenität der Charaktere beharrt. So ist das Ideal menschlicher<br />

Vollkommenheit als unerreichbares, aber anzustrebendes Ziel <strong>von</strong> <strong>Bildung</strong>sprozessen<br />

nicht als Vere<strong>in</strong>heitlichung differenter Elemente, sondern vielmehr als deren<br />

Zusammenwirken unter ausdrücklicher Anerkennung ihrer Verschiedenheit zu denken.<br />

Resümierend hält Koller fest, dass Humboldt e<strong>in</strong>erseits die Pluralität und Heterogenität<br />

sowohl der verschiedenen Kräfte <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Menschen als auch der <strong>in</strong>dividuellen<br />

Charaktere <strong>in</strong>nerhalb der Menschheit hervorhebt und die Wahrung dieser Verschiedenheit<br />

als unverzichtbar für die <strong>Bildung</strong> des e<strong>in</strong>zelnen Menschen wie des gesamten<br />

Menschengeschlechts erklärt, andererseits jedoch diese Pluralität stets an e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit<br />

oder Ganzheit b<strong>in</strong>det, die zwar nur unter Anerkennung der jeweiligen Besonderheit aller<br />

verschiedenen Elemente möglich ist, aber dennoch jeden unauflöslichen Gegensatz<br />

ausschließt.<br />

Danach widmet sich Koller Humboldts sprachwissenschaftlichem bzw.<br />

sprachphilosophischem Werk und hält zunächst fest, dass Humboldts Ause<strong>in</strong>andersetzung mit<br />

Sprache genau dort ansetzt, wo auch der Kern se<strong>in</strong>er bildungstheoretischen Arbeiten liegt:<br />

bei der Frage nach der Funktion <strong>von</strong> Sprache für die bildende Wechselwirkung des<br />

Menschen mit der Welt.<br />

Den Kern <strong>von</strong> Humboldts Sprachphilosophie sieht Koller <strong>in</strong> dessen Auffassung der Sprache<br />

als e<strong>in</strong>er selbständigen Welt, die sowohl zwischen der <strong>in</strong>neren Welt des Menschen und der<br />

Welt der äußeren Gegenstände als auch zwischen Ich und Du vermittelt.


Sprache dient nicht nur zum Ausdruck der Gedanken, sondern ist an deren Entstehung auf<br />

entscheidende Weise beteiligt, weshalb Sprache mehr als nur e<strong>in</strong> Mittel zum Zweck der<br />

Verständigung ist, nämlich e<strong>in</strong>e Weltansicht, die <strong>von</strong> Sprache zu Sprache verschieden<br />

ist.<br />

Humboldt zu Folge verb<strong>in</strong>det die Sprache den Menschen jedoch nicht nur mit der Welt,<br />

sondern auch mit anderen Menschen. Die Angewiesenheit des Menschen auf andere ist es, die<br />

neben der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der Welt Sprache notwendig macht und zugleich deren<br />

Struktur prägt.<br />

Sprache hat für Humboldt dialogischen Charakter, weil jedes Ich nicht nur körperlich oder<br />

gefühlsmäßig, sondern auch <strong>in</strong>tellektuell auf e<strong>in</strong> Du angewiesen ist, das als Prüfste<strong>in</strong> für die<br />

Objektivierung des eigenen Denkens benötigt ; daher ist Sprache immer „Wechselrede“,<br />

d.h. auf Erwiderung h<strong>in</strong> angelegt.<br />

In dieser dialogischen Auffassung der Sprache als Vermittler<strong>in</strong> zwischen Ich und Du zeigt<br />

sich für Koller erneut die charakteristische Spannung zwischen E<strong>in</strong>heit und Pluralität<br />

bzw. Heterogenität. So ist für Humboldt die Verb<strong>in</strong>dung der <strong>von</strong>e<strong>in</strong>ander getrennten<br />

Individuen nur möglich, weil jedes e<strong>in</strong>zelne bereits das Bedürfnis nach „Vervollständigung“<br />

und Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>er Ganzheit <strong>in</strong> sich trägt. Auf der anderen Seite betont Humboldt,<br />

dass die Sprache, gerade <strong>in</strong>dem sie jeweils e<strong>in</strong>e besondere Weltansicht darstellt,<br />

notwendigerweise die Verschiedenheit solcher Weltansichten mit sich br<strong>in</strong>gt.<br />

Den Höhepunkt dieses Spannungsverhältnisses sieht Koller <strong>in</strong> Humboldts<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der Verschiedenheit nationaler E<strong>in</strong>zelsprachen, die e<strong>in</strong>en<br />

Schwerpunkt <strong>in</strong> dessen sprachwissenschaftlichen Studien bildet:<br />

Humboldt tendiert e<strong>in</strong>erseits dazu, die Verschiedenheit der <strong>Sprachen</strong> auf e<strong>in</strong>e ursprüngliche<br />

E<strong>in</strong>heit aller Menschen zurückzuführen, die den Ausgangspunkt der <strong>Sprachen</strong>twicklung<br />

darstellt. Auf der anderen Seite ist er überzeugt, dass man sich dem Wesen der Sprache nur<br />

auf dem Weg des genauen Studiums der E<strong>in</strong>zelsprachen nähern könne.<br />

So wie die e<strong>in</strong>zelnen Individuen das Ideal menschlicher Vollkommenheit nur gesellschaftlich<br />

darstellen können, können auch die verschiedenen E<strong>in</strong>zelsprachen dem Ideal e<strong>in</strong>er<br />

vollkommenen Sprache nur geme<strong>in</strong>sam näher kommen, <strong>in</strong>dem jede ihre besondere<br />

Eigentümlichkeit ausprägt und weiterentwickelt.<br />

Humboldt betont jedoch nicht nur die pr<strong>in</strong>zipielle Gleichrangigkeit der <strong>Sprachen</strong>, sondern<br />

weist auch auf die unüberw<strong>in</strong>dlichen Differenzen h<strong>in</strong>, die zwischen den e<strong>in</strong>zelnen<br />

<strong>Sprachen</strong> bestehen; so gleicht für ihn ke<strong>in</strong> Wort e<strong>in</strong>er Sprache vollkommen e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

anderen Sprache, darüber h<strong>in</strong>aus s<strong>in</strong>d Wörter nicht nur Zeichen, sondern stehen auch<br />

untere<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> komplexen Beziehungen, weshalb stets e<strong>in</strong>e unüberw<strong>in</strong>dliche Kluft bestehen<br />

bleibt, die die <strong>Sprachen</strong> <strong>von</strong>e<strong>in</strong>ander trennt.<br />

In bildungstheoretischer H<strong>in</strong>sicht gilt die Verschiedenheit der <strong>Sprachen</strong> für Humboldt als<br />

„<strong>Bildung</strong>smittel der Nationen“, <strong>in</strong>dem sie e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung unterschiedlicher Nationen<br />

unter wechselseitiger Anerkennung ihrer jeweiligen Individualität ermöglicht.<br />

Da jede Sprache e<strong>in</strong>e besondere Weltansicht darstellt, bereichert die Verschiedenheit der<br />

<strong>Sprachen</strong> auch die bildende Ause<strong>in</strong>andersetzung des Menschen mit der Welt und sich selbst.<br />

E<strong>in</strong>e fremde Sprache zu erlernen bedeutet daher für Humboldt e<strong>in</strong>en neuen Standpunkt <strong>in</strong> der<br />

bisherigen Weltansicht zu gew<strong>in</strong>nen.


In genau diesem „Sich-h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>-sp<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e fremde Weltansicht“ – wie er Humboldt<br />

zitiert – sieht Koller dessen Aktualität für die bildungstheoretische Diskussion und erkennt<br />

e<strong>in</strong>e Parallele zu Lyotards Forderung nach dem F<strong>in</strong>den oder Erf<strong>in</strong>den neuer Diskursarten – e<strong>in</strong><br />

Prozess, der für Koller als <strong>Bildung</strong> bezeichnet werden könnte.<br />

Der <strong>in</strong>novative Charakter sprachlicher Differenz bzw. Alterität stellt für ihn jene Tendenz <strong>in</strong><br />

Humboldts Werk dar, an die e<strong>in</strong> Versuch der Reformulierung des <strong>Bildung</strong>sbegriffes unter den<br />

Bed<strong>in</strong>gungen der (Post)-Moderne anknüpfen könnte.

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