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Volker Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur Neumann<br />

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190<br />

B u c h r e z e n s i o n<br />

Volker Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur.<br />

Zur Ausübung hoheitlicher Gewalt durch Staatsanwaltschaft<br />

und erkennendes Gericht im deutschen Strafverfahren,<br />

Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2008, 508 S., € 109,-<br />

Die Struktur des heutigen deutschen Strafverfahrens ist mit<br />

der Verfassung der Bundesrepublik nicht vereinbar – das ist<br />

die provozierende These der Tübinger Habilitationsschrift<br />

von Volker Haas. Verantwortlich für den Verfassungsverstoß<br />

sind nach Haas Strukturelemente, die dem Gericht eine aktiv<br />

strafverfolgende Rolle zuweisen, wie insbesondere der Untersuchungsgrundsatz<br />

(Inquisitionsmaxime, § 244 Abs. 2 StPO).<br />

In Hinblick auf die darin und in anderen Elementen des geltenden<br />

Strafverfahrensrechts zum Ausdruck kommende Aufgabe<br />

der Strafverfolgung müsse die Tätigkeit des Strafrichters<br />

im System der Gewaltenteilung (nicht der Judikative,<br />

sondern) der Exekutive zugeordnet werden. Es handle sich<br />

also nicht um Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG.<br />

Darin liege zwar kein Verstoß gegen Art. 92 GG, dem zufolge<br />

die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut ist.<br />

Wohl aber sei Art 19 Abs. 4 GG verletzt, der dem Betroffenen<br />

bei Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt den<br />

Rechtsweg garantiert. Denn unabhängig von der umstrittenen<br />

Frage, ob Art. 19 Abs. 4 GG Rechtsschutz grundsätzlich auch<br />

gegen richterliche Akte garantiere: Jedenfalls dann, wenn die<br />

Tätigkeit des Richters materiell eine Maßnahme der Exekutive<br />

darstelle, müsse der Weg zu einem Gericht eröffnet sein,<br />

dessen Tätigkeit Rechtsprechung im materiellen Sinne darstelle.<br />

Das aber sei bei den Strafgerichten (auch der höheren<br />

Instanzen) nicht der Fall – siehe oben.<br />

Die zentrale These lautet also, dass nach der gegenwärtigen<br />

Struktur des deutschen Strafverfahrens das Strafgericht<br />

nicht Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG ausübe, sondern<br />

als Exekutivorgan tätig werde. Zur Begründung dieser<br />

These ist zweierlei erforderlich. Zum einen müssen die strukturellen<br />

Voraussetzungen herausgearbeitet werden, unter<br />

denen eine gerichtliche Tätigkeit als Ausübung von „Rechtsprechung“<br />

erscheint. Zum andern muss in einer Analyse der<br />

Struktur des deutschen Strafverfahrens gezeigt werden, dass<br />

diese Voraussetzungen nach den gegenwärtig geltenden<br />

strafprozessualen Regeln nicht erfüllt sind. Mit der ersteren<br />

Aufgabe befasst sich Haas zu Beginn des fünften und letzten<br />

Kapitels der Arbeit, wo der von ihm zugrunde gelegte Rechtsprechungsbegriff<br />

herausgearbeitet wird. Einer detaillierten,<br />

die historische Entwicklung mit einbeziehenden Strukturanalyse<br />

des deutschen Strafverfahrens sind die ersten vier Kapitel<br />

der Arbeit gewidmet, deren Ergebnisse im zweiten Teil<br />

des fünften Kapitels aufgenommen und zur These der Verfassungswidrigkeit<br />

des gegenwärtigen Strafverfahrens verdichtet<br />

werden. Dabei steht bei der Analyse des Strafverfahrens<br />

durchgehend der Gesichtspunkt im Hintergrund, dass die<br />

aktive, inquirierende Funktion des Strafgerichts nicht mit der<br />

Ausübung von „Rechtsprechung“ vereinbar sei, die nach der<br />

Ansicht von Haas einen als unbeteiligter Dritter urteilenden,<br />

einem „Passivitätsgebot“ unterliegenden Richter voraussetzt.<br />

<strong>ZIS</strong> 4/2009<br />

Diese Voraussetzung eines als unbeteiligter Dritter agierenden<br />

Richters wird idealtypisch im System des strafprozessualen<br />

Parteiprozesses verwirklicht, in dem der Richter nicht<br />

über den Angeklagten, sondern über die Berechtigung der<br />

Anklage zu urteilen hat und das Beweismaterial nicht sammelt,<br />

sondern lediglich bewertet. Im Mittelpunkt des ersten<br />

Kapitels steht deshalb die Frage, ob sich das deutsche Strafverfahren<br />

angesichts seiner Ausgestaltung als Anklageprozess<br />

als Parteiprozess einordnen lässt, in dem die Staatsanwaltschaft<br />

als Partei dem Angeklagten bzw. der Verteidigung<br />

als der anderen Partei gegenüber steht. Die Frage wird in<br />

Hinblick auf die Aufgabenverteilung zwischen Gericht und<br />

Staatsanwaltschaft verneint. Maßgeblich ist für Haas insofern,<br />

dass die Verfahrensherrschaft mit Beginn des Hauptverfahrens<br />

auf das Gericht übergeht, dass dem Gericht die Aufklärung<br />

des Sachverhalts obliegt (§ 244 Abs. 2 StPO) und<br />

dass das Gericht nicht an den Strafantrag des Staatsanwalts<br />

gebunden ist (zusammenfassend S. 63).<br />

Weiter ausgeführt und historisch vertieft wird diese Analyse<br />

im zweiten Kapitel, das sich mit dem Einfluss des<br />

Staatsverständnisses auf die Ausgestaltung des reformierten<br />

deutschen Strafverfahrens befasst. Die Halbherzigkeit der<br />

Reform, die das Inquisitionsprinzip zwar als Prinzip der Einleitung<br />

des Verfahrens durch den Anklagegrundsatz (und die<br />

Einrichtung einer zur Anklageerhebung berufenen Staatsanwaltschaft)<br />

ersetzte, aber als Untersuchungsgrundsatz (Instruktionsmaxime)<br />

beibehielt, wird überzeugend in einen<br />

Zusammenhang mit der „inneren Widersprüchlichkeit der<br />

konstitutionellen Monarchie“ (S. 65) gestellt, in der die<br />

Strafgerichte einerseits unabhängig urteilen, andererseits aber<br />

doch die Strafgerichtsbarkeit im Namen des Monarchen ausüben<br />

sollten. Der aktiven Stellung des Gerichts in diesem<br />

Verfahrensmodell entspricht, dass die Staatsanwaltschaft<br />

zwar die Anklage erhebt, diese aber nach Eröffnung des<br />

Hauptverfahrens nicht mehr zurücknehmen kann (§ 156<br />

StPO). Der Anklagegrundsatz ist insofern nur formell verwirklicht,<br />

er ist als Anklageform, nicht aber als Anklageprinzip<br />

ausgestaltet (zu dieser Unterscheidung mit Verweis auf<br />

die zeitgenössische Diskussion näher S. 107 ff.).<br />

Haas sieht die Instruktionsmaxime des geltenden Strafverfahrensrechts<br />

aber nicht nur in der Staatstheorie der konstitutionellen<br />

Monarchie, sondern auch in der „absoluten“<br />

Straftheorie des deutschen Idealismus verwurzelt. Diesem<br />

Zusammenhang geht das dritte Kapitel nach, das dem „Einfluss<br />

des Strafbegriffs auf die Ausgestaltung des deutschen<br />

Strafverfahrens“ gewidmet ist. Haas bezieht sich hier auf die<br />

Renaissance absoluter Straftheorien Ende des 18. und Anfang<br />

des 19. Jahrhunderts, für die insbesondere Kant und Hegel<br />

stehen. Entgegen neueren Kant-Deutungen, die versuchen,<br />

Kant in erster Linie als Anhänger einer relativen Straftheorie<br />

zu erweisen, besteht Haas mit Recht darauf, dass sich zentrale<br />

Texte von Kant zur Notwendigkeit staatlichen Strafens nur<br />

unter der Voraussetzung eines primär präventiv orientierten<br />

Strafverständnisses sinnvoll interpretieren lassen (vgl. etwa<br />

S. 191 zum Insel-Beispiel). Das schließt freilich die Annahme<br />

präventiver Elemente im Strafverständnis von Kant<br />

(S. 191) ebenso wenig aus wie in der Straftheorie Hegels,<br />

deren „absolute“ Ausrichtung Haas gleichfalls akzentuiert.

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