Dokument - WSE
Dokument - WSE
Dokument - WSE
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Kapitel 1<br />
BLITZ LICHT<br />
Profiteur der Stadtflucht<br />
Der Kreis Niederbarnim<br />
existierte mehr als 130 Jahre<br />
von 1818 bis 1952. Er umfasste<br />
beinahe das ganze Umland<br />
Berlins nördlich der Spree.<br />
Bis zur Gründung von<br />
Groß-Berlin am 1. Oktober 1920<br />
gehörten zahlreiche heutige<br />
Stadtteile Berlins zu dieser<br />
Verwaltungseinheit. Sein<br />
Pendant auf der südlichen<br />
Spreeseite war der Kreis Teltow.<br />
Beide profitierten in extremem<br />
Maße von der Suburbanisierung<br />
(Stadtflucht) der in enge Grenzen<br />
eingezwängten Hauptstadt.<br />
Die Gemeinden im Umland<br />
wuchsen in wenigen Jahren von<br />
Dörfern zu Vorstädten mit<br />
fünfstelliger Einwohnerzahl heran.<br />
Die Einwohnerentwicklung<br />
im Kreis Niederbarnim belegt<br />
dies. Lebten im Jahr 1890 exakt<br />
188.297 Menschen hier,<br />
waren es zehn Jahre später<br />
schon 293.025 und gar 445.265<br />
im Jahr 1910. Fünf Jahre nach<br />
der Gründung Groß-Berlins<br />
hatte Niederbarnim noch<br />
138.783 Einwohner.<br />
Der Bau des Kreiswasserwerkes<br />
Niederbarnim mit all seinen<br />
Nebenanlagen (wie dem Hochbehälter<br />
auf den Kranichbergen<br />
in Woltersdorf) markierte die<br />
Geburtsstunde der zentralen<br />
Wasserversorgung in der<br />
Region. Exakte und geradezu<br />
liebevoll gezeichnete Pläne<br />
bildeten dabei die ingenieurtechnische<br />
Grundlage.<br />
„Walle! Walle manche Strecke,<br />
dass zum Zwecke Wasser fl ieße<br />
und mit reichem, vollem Schwalle zu dem Bade sich ergieße.“<br />
Aus „Der Zauberlehrling“ von JOHANN WOLFGANG VON GOETHE (1749–1832), deutscher Dichter<br />
Wie fließendes Wasser<br />
in die Häuser kommt<br />
Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des ersten Weltkrieges<br />
Großstädte wie Paris (1802), London (1808) oder auch Wien (1813) hatten bereits zu Beginn des<br />
19. Jahrhunderts auf Nummer sicher gesetzt – auf eine zentrale Wasserversorgung ihrer Bevölkerung.<br />
In Berlin musste noch einmal ein halbes Jahrhundert vergehen, bis schließlich ab dem 1. Juli 1856<br />
Trinkwasser über ein zentrales Werk am Stralauer Tor in die Leitungen der Häuser floss. Die Diskussion<br />
um den Wasserwerksbau hatte im Vorfeld so manche „Blüte“ hervorgebracht. So schlug beispielsweise<br />
Ökonomierat Albrecht Philipp Thaer im Jahre 1846 vor, das Wasser aus dem in der Nähe von<br />
Hennickendorf gelegenen Stienitzsee zu nutzen. Von dort aus sollte ein Aquädukt bis ins Berliner<br />
Zentrum gebaut werden. Doch weder die Wassermenge noch die Druckverhältnisse hätten den Bedarf<br />
Berlins decken können. Das Projekt wurde verworfen – nicht zuletzt wegen unüberschaubarer<br />
Kosten. Diese Geschichte ist zumindest ein Beleg dafür, dass die Qualität der Gewässer<br />
ein hohes Ansehen genoss. In der Region östlich von Berlin versorgte man sich Mitte des<br />
19. Jahrhunderts noch immer über Brunnen mit dem kostbaren Nass. An dieser Situation<br />
hatte sich auch Jahrzehnte später nicht viel geändert. Dennoch spürte man den Berliner<br />
Fortschritt auch zwischen Strausberg und Erkner deutlich – allerdings sehr zum<br />
Leidwesen des Landrats im Kreis Niederbarnim.<br />
Zwischen 1904 und 1912 wendeten sich die jeweils amtierenden Landräte<br />
regelmäßig schriftlich mit Mahnungen an die Vorsteher der Gemeinden im Kreis.<br />
Darin hieß es unter anderem: „Für verschiedene Gemeinden sind dadurch große<br />
Schädigungen ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse entstanden, dass sie fremden<br />
Gemeinden, insbesondere der Stadt Berlin, ohne jedes Aequivalent und ohne<br />
Zeitbeschränkung das Recht eingeräumt haben, Wasserleitungs-, Kanalisations-,<br />
Gas-Röhren oder ähnliche Leitungen in ihren Strassen zu verlegen. Hierdurch haben<br />
sie sich der freien Verfügung über ihr Strassennetz zu Gunsten anderer Gemeinden<br />
begeben und das Gemeindeeigentum ohne gesetzlichen Grund belastet.“ Der Kreis<br />
Niederbarnim verwies dringend darauf, dass seine Erlaubnis zu derlei Verträgen<br />
unabdingbar sei. Im Jahr 1912 erreichte diese Misslichkeit dann eine neue Stufe.<br />
Einige Orte hatten Versorgungsverträge mit „fremden Werken“ geschlossen, ohne<br />
den Landrat vorher zu informieren. Der zeigte sich vor allem wegen der langen<br />
Bindungsdauer aufgebracht und riet davon ab, „Verträge auf länger als etwa<br />
40 Jahre abzuschließen.“<br />
Ein holpriger Start. Jedenfalls war die Zeit ab 1900 gerade für die<br />
Daseinsvorsorge von entscheidender Bedeutung. Das fließende Wasser<br />
kam in die Häuser und machte das Leben (ein wenig) einfacher.<br />
Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des ersten Weltkrieges | KAPITEL 1<br />
Neuenhagen: Anschluss gesucht – und gefunden<br />
Was die zentrale Trinkwasserver- und Abwasserentsorgung<br />
anging, wurde beispielsweise die<br />
Gemeinde Neuenhagen ab 1911 massiv umworben.<br />
Die Verkehrsanbindung an Berlin ab dem Jahr 1867<br />
und der sich parallel entwickelnde Pferdesport ließ<br />
die Einwohnerzahl schnell ansteigen. Lebten im Jahre<br />
1885 noch 748 Menschen in Neuenhagen, erhöhte<br />
sich die Zahl innerhalb von 20 Jahren um beinahe<br />
das Dreifache auf exakt 2.209. Eine lohnende<br />
Investition für die Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke<br />
der Stadt Lichtenberg (heute ein Berliner Bezirk),<br />
die die komplette Wasser- und Gasversorgung<br />
der Gemeinde sowie der Villenkolonie Hoppegarten<br />
übernehmen wollten. Sie stellten einen dreijährigen<br />
Vertrag mit Lichtenberger Versorgungspreisen sowie<br />
die Übernahme der Kosten für die Rohrverlegung in<br />
Aussicht. Ein entsprechendes Schreiben schließt mit<br />
den Worten: „... wir empfehlen, sich diese Gelegenheit<br />
nicht entgehen zu lassen.“<br />
Die Offerte beeindruckte die Neuenhagener allerdings<br />
wenig. Ein jahrelanges Kopf-an-Kopf-Rennen<br />
um die Trinkwasserversorgung entspann sich dort<br />
zwischen zwei anderen Parteien. Zum einen bot ein<br />
Darmstädter Ingenieur namens Heyd – der später übrigens<br />
auch für die Projektierung der zentralen Kanalisation<br />
in Altlandsberg zuständig war – die Möglich-<br />
keit an, für die Gemeinde den Aufbau eines eigenen<br />
Wasser- und Abwassersystems inklusive örtlichem<br />
Wasserwerk zu planen und auszuführen. Zum anderen<br />
wollte der Kreis Niederbarnim ein eigenes Wasserwerk<br />
errichten, das auch Neuenhagen mitversorgen<br />
sollte.<br />
In einem Schreiben vom 22. Mai 1911 an den Gemeindevorstand<br />
stellte sich Ingenieur Heyd erstmals<br />
vor und nannte eine Summe von 3.500 Mark allein<br />
für die Projektierung des Vorhabens. Er wies darauf<br />
hin, dass er bereits viele Gemeinden beim Entwerfen<br />
und Realisieren von Kanalisations- und Wasserleitungsprojekten<br />
beraten hatte und auf Empfehlungen<br />
verweisen könne, unter anderem von der königlichen<br />
Regierung. Nach einem Besuch in Neuenhagen<br />
reichte er am 1. Juli desselben Jahres ein offizielles<br />
Angebot ein. Es enthielt Pläne, Berechnungen,<br />
Erläuterungen und Einzelzeichnungen zum Bau von<br />
Wasserleitungen, Wasserwerk und Kanalisation, Entwürfe<br />
für eine Gebührenordnung, eine Polizeiverordnung<br />
und ein Statut für Hausentwässerungsanlagen.<br />
Für die veranschlagten 3.500 Mark wollte er obendrein<br />
die Genehmigung des Projekts durch die Regierung<br />
erwirken. Anderthalb Monate später verkündete<br />
der Vorsteher von Neuenhagen, dass die Gemeinde<br />
ein Projekt für Wasserleitung und Kanalisation an-<br />
14 15<br />
Eine rund 50 Jahre alte<br />
Postkarte zeigt die schönsten<br />
Seiten Neuenhagens – der<br />
Wasserturm (oben rechts)<br />
gehört auch dazu.<br />
ZEIT ZEUGE<br />
Pionier für moderne Zeiten<br />
Felix Busch (1871–1938)<br />
war ein preußischer Beamter.<br />
Er besuchte von 1885 bis 1890<br />
die Königliche Landesschule im<br />
sachsen-anhaltinischen Pforta,<br />
die er mit dem Abitur abschloss.<br />
Danach folgte das Studium der<br />
Rechtswissenschaften. Im Jahr<br />
1893 legte Busch in Heidelberg<br />
sein juristisches Doktorexamen<br />
ab. Am 7. Dezember 1911 wurde<br />
er als Geheimer Oberregierungsrat<br />
zum Landrat von Niederbarnim<br />
berufen. In dieser Funktion<br />
bekämpfte er vehement das<br />
Groß-Berlin-Gesetz und förderte<br />
auf der anderen Seite die<br />
Verbesserung der Gas-, Wasser-<br />
und Energieversorgung.<br />
Eine wahre Pionierleistung für<br />
diese Region zur damaligen Zeit.<br />
Infolge seiner monarchistischen<br />
Einstellung wurde er am<br />
16. April 1920 wegen Illoyalität<br />
in den einstweiligen Ruhestand<br />
versetzt. Busch erkrankte<br />
an einer Gehirnsklerose und<br />
nahm sich am 16. August 1938<br />
durch einen Sprung aus einem<br />
fahrenden Zug das Leben.<br />
Felix Busch