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6 K U L T U R & G E S E L L S C H A F T<br />
SARAH STÄHLI<br />
«sprache ist nicht viel mehr als geräusch»<br />
Ein Gespräch mit dem lettischen Theaterregisseur Alvis Hermanis, der mit<br />
seiner Produktion »Das Eis” am auawirleben-Festival gastiert.<br />
■ Alvis Hermanis aus Riga (Lettland) wird zurzeit aus<br />
allen Ecken der Welt mit dem Label «angesagtester Kult-<br />
Regisseur» versehen. Bei unserem Treffen wirkt er völlig<br />
entspannt, die Ruhe selbst. Am nächsten Tag fi ndet die<br />
Premiere seiner neuesten Produktion «Brennende Finsternis»<br />
am Schauspielhaus Zürich statt. Auf die Frage,<br />
ob er gestresst sei, antwortet er erstaunt «Gestresst?<br />
Nein!». Hermanis hat etwas von einem Zen-Meister, ist<br />
aber weit davon entfernt, esoterisch zu wirken. Ganz in<br />
schwarz gekleidet, nordisch blaue, intelligente, etwas<br />
traurige Augen, ein fast kahl rasierter Schädel. Er hat<br />
ein sicheres aber dezentes Auftreten, eine charismatische<br />
Ausstrahlung, die einen sofort gefangen nimmt<br />
– eine Mischung aus Sanftheit und Beharrlichkeit. Seine<br />
Antworten sind überlegt, er lässt sich ungewohnt<br />
lange Zeit, atmet tief, schliesst die Augen, stösst den<br />
Rauch der Zigarette genüsslich aus, nachdem er höfl ich<br />
gefragt hat, ob er rauchen dürfe. Hermanis wirkt angenehm<br />
bescheiden und gleichzeitig hat man das Gefühl,<br />
einem einzig<strong>art</strong>igen Menschen gegenüber zu sitzen.<br />
Aus der lärmigen Kantine ziehen wir uns ins grosszügige<br />
Foyer der Schiffbauhalle zurück. Dies sei sein Lieblingsort<br />
hier: «Da hat man Platz und Luft zum Atmen.»<br />
«Brennende Finsternis» ist eine fast dreistündige, äusserst<br />
detailreiche Inszenierung, ein Gesamtkunstwerk,<br />
das dem Abo-Publikum des Schauspielhauses viel Geduld<br />
abverlangt. Hermanis liebt die Langsamkeit. «Wir<br />
sind ja nicht in Amerika!» meint er und bezieht dies vor<br />
allem auch auf die unterschiedliche Auffassung von<br />
Theater. «Wenn im englischsprachigen Raum auf der<br />
Bühne für längere Zeit niemand spricht, dann meint das<br />
Publikum bald einmal, etwas stimme nicht. Das Tempo<br />
ist dort sehr viel schneller.» Langsamkeit ist Hermanis<br />
auch in seinem Privatleben wichtig: «Mein Leben ist<br />
langsam. Ich lebe zurückgezogen in der Natur. Ich beeile<br />
mich nicht.»<br />
«Ich bin daran interessiert, Atmosphären,<br />
Bilder zu kreieren.»<br />
Auffallend an «Brennende Finsternis» ist die Diskrepanz<br />
zwischen Text und Inszenierung. Während das<br />
Nachkriegsstück des spanischen Autors Antonio Buero<br />
Vallejo in seiner symbolischen Schwere kaum zu ertragen<br />
ist, kommt Hermanis Inszenierung verspielt, innovativ<br />
daher und bleibt durchgehend spannend. «Der<br />
Text von ist sehr naiv und didaktisch.<br />
Text ist in meinen Produktionen nur eines von<br />
vielen Elementen.» Als Zuschauer wird man von all den<br />
kleinen Dingen, die sich auf der monströsen Bühne ab-<br />
spielen, abgelenkt – das Bühnenbild besteht aus einem<br />
Raum für Raum errichteten Blindenheim; dem Publikum<br />
werden Ferngläser verteilt, damit sie die Figuren in ihren<br />
minutiös eingerichteten Zimmern beobachten können<br />
– schliesslich schafft man es, die Dialoge nur noch als<br />
«Hintergrundsgeräusch» wahrzunehmen. Ist dies beabsichtigt?<br />
«Das ist der Punkt meiner Inszenierung. Text,<br />
Sprache an sich ist ein ziemlich primitives und brutales<br />
Werkzeug. Da gibt es andere Werkzeuge, die sehr viel<br />
subtiler sind. Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert,<br />
wo die Menschen Sprache sehr ernst genommen haben.<br />
Sprache ist nicht viel mehr als Geräusch.» Eine Auffassung,<br />
die in einer Kunstgattung, die in erster Linie auf<br />
Sprache aufbaut, wie ein Widerspruch klingt. «Ich bin<br />
mehr daran interessiert, Atmosphären, Bilder zu kreieren,<br />
mit den Körpern der Schauspieler zu arbeiten.»<br />
Auch die Inszenierung, mit der er in Bern gastiert - «Das<br />
Eis» - lässt eine sehr textlastige Produktion vermuten,<br />
sie trägt den Untertitel «Kollektives Lesen eines Buches<br />
mit Hilfe der Imagination in Frankfurt». «Es wird tonnenweise<br />
Text geben! Aber es ist sehr, sehr physisches<br />
Theater‚ ist nur ein Titel, man muss das nicht<br />
so ernst nehmen.»<br />
«Das Eis» nach dem Roman «Ljod» des russischen<br />
Autors Vladimir Sorokin ist eine utopische Geschichte.<br />
«Sie handelt von einer pseudo-religiösen Sekte, die<br />
glaubt, es gebe Menschen, die fähig sind, nicht mit Sprache,<br />
sondern mit dem Herzen zu sprechen. Aus einem<br />
seltsamen Grund sind sie alle blond und blauäugig.»<br />
Aber bekanntlich ist ja der Text für Hermanis nicht von<br />
grosser Bedeutung. Daran, wie er zum Stoff gekommen<br />
ist, kann er sich nicht mehr erinnern. Früher habe er dauernd<br />
gelesen, jetzt lese er nicht mehr so viel. Aber dafür<br />
könne er sich bei jedem dritten Buch, das ihm in die<br />
Finger komme, vorstellen, es auf die Bühne zu bringen.<br />
«Theaterstücke interessieren mich meist weniger.»<br />
Die Frankfurter Produktion von «Das Eis», mit der<br />
das Ensemble in Bern gastiert ist eine von drei Versionen.<br />
Nach Frankfurt wurde «Eis» an der RuhrTriennale,<br />
(Internationales Festival für Musik, Schauspiel und Tanz<br />
im Ruhrgebiet) in einer riesigen Fabrikhalle mit vierzig<br />
deutschen und lettischen Schauspielern zur Aufführung<br />
gebracht, begleitet wurde die Inszenierung ausserdem<br />
von einer grossen Ausstellung, die dem Text gewidmet<br />
war. Die dritte Version wurde in Hermanis’ eigenem<br />
Theater in Riga mit einem lettischen Schauspielensemble<br />
aufgeführt. «Alle Versionen basieren auf demselben<br />
Text, sind jedoch völlig verschieden.» Wichtig<br />
sei der Aufführungsort, der Raum. Er vergleicht den<br />
unterschiedlichen Charakter der Inszenierungen mit<br />
Kameraeinstellungen, die RuhrTriennale-Produktion sei<br />
zum Beispiel wie ein Panorama und die Riga-Version viel<br />
intimer, eher wie ein Close-Up.<br />
Hermanis Inszenierungen sind immer auch visuelle<br />
Kunstwerke. «Die meisten meiner Performances<br />
entstehen in einem Kontext zur bildenden Kunst. So<br />
werden wir nicht nur von Theatern, sondern oft auch<br />
von Galerien eingeladen. Ich sehe dies jedoch nicht<br />
als Vermischung verschiedener Kunstrichtungen, dies<br />
entspricht einfach meiner Herangehensweise. Die visuelle,<br />
konzeptuelle Seite ist für mich im Probenprozess<br />
grundlegend.» Nichts umschreibt Hermanis Arbeitsweise<br />
besser als das Motto des diesjährigen auawirleben-<br />
Festivals: «Freie Radikale».<br />
«Schauspieler sind eine Nationalität für sich»<br />
Wichtig ist für Hermanis auch der Einfl uss, den die<br />
Stadt hat, in der die Produktion aufgeführt wird. Wird<br />
die «Imagination in Frankfurt» nun zur «Imagination in<br />
Bern» umfunktioniert? «Nein, leider nicht, dazu bräuchten<br />
wir mindestens vier Monate Vorbereitungszeit in<br />
Bern». Mit dem Zürcher Ensemble verbrachte er vor<br />
Probenbeginn einige Zeit in der Sahara. «Wir haben wie<br />
eine Familie gelebt».<br />
In Bern wird die vorläufi g letzte Aufführung von<br />
«Das Eis» stattfi nden. «Es wird ziemlich emotional werden.<br />
Wir haben so viel Zeit miteinander verbracht und<br />
wurden auf der Gefühlsebene persönlich sehr involviert.<br />
Das Gefühl der Verbundenheit ist mir in der Arbeit mit<br />
Schauspielern das Wichtigste.» Hermanis, der neben seiner<br />
Regiearbeit jeden zweiten Abend in seinem Theater<br />
in Riga als Schauspieler auftritt, hält nichts von monologisierenden<br />
Regisseuren. «Ich respektiere Schauspieler<br />
als unabhängige Künstler. Ich gebe ihnen Visionen, einige<br />
Anweisungen und dann zähle ich auf ihren Input, ich<br />
erw<strong>art</strong>e von ihnen, dass sie als eigenständige Künstler<br />
funktionieren. In jeder Aufführung gibt es so viele Dinge,<br />
die von den Schauspielern beigesteuert werden, ohne<br />
dass wir überhaupt darüber diskutieren. Ich kann nicht<br />
mit Schauspielern arbeiten, die keine künstlerisch unabhängige<br />
Imagination besitzen. Ich glaube, das ist ein<br />
typische Arbeitsweise des unabhängigen Theaters.»<br />
Hermanis, der kaum Deutsch und gebrochen Englisch<br />
spricht, arbeitete bereits mehrmals mit deutschsprachigen<br />
Schauspielern. Wie muss man sich so eine Probe<br />
vorstellen? «Die Sprache ist kein Problem, wenn ich<br />
mit ausländischen Schauspielern arbeite. Sie müssen<br />
sich in meinen Proben keine langen theoretischen Vorträge<br />
anhören. Sprache ist also in meinem Fall nicht