1 Von der Dunkelheit zur Morgendämmerung – Jamyang Norbu
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ehauptet, er wäre "von Rebellen geblendet worden, weil er bei <strong>der</strong> Reparatur <strong>der</strong> PLA<br />
Hochstraße geholfen hatte". Eine 1981 veröffentlichte chinesische Propaganda <strong>–</strong> Zeitschrift zeigte<br />
gleichfalls ein Foto eines "von Rebellen geblendeten Hirten". [21] Aber bisher bin ich in<br />
chinesischem Propagandamaterial noch auf kein Foto von jemandem gestoßen, <strong>der</strong> aufgrund<br />
einer gesetzlichen Strafe <strong>der</strong> tibetischen Regierung geblendet worden wäre. Sogar die<br />
Behauptung <strong>der</strong> "Blendung durch Rebellen" ist mit Vorsicht zu handhaben, da bis auf die Bildtexte<br />
keinerlei weitere Einzelheiten <strong>der</strong> Opfer o<strong>der</strong> des Verbrechens zu existieren scheinen.<br />
Was bei <strong>der</strong>artigen Propagandapraktiken Chinas immer wie<strong>der</strong> überrascht, ist das völlige Fehlen<br />
von Genauigkeit in ihren Behauptungen über Grausamkeiten im alten Tibet. Es werden nicht nur<br />
die sogenannten Opfer nicht namentlich genannt, aber noch überraschen<strong>der</strong> werden keine Namen<br />
<strong>der</strong> Täter <strong>–</strong> Feudalherren o<strong>der</strong> Amtsrichtern <strong>–</strong> je genannt. Sämtliche alte tibetische Gerichtsakte<br />
<strong>der</strong> Vergangenheit sind im Besitz <strong>der</strong> Chinesen. Dennoch wurde meine Wissens kein einziger<br />
tibetischer Aristokrat, Beamter o<strong>der</strong> Richter jemals ausdrücklich <strong>der</strong> Blendung o<strong>der</strong> Abtrennung<br />
von Gliedmaßen beschuldigt. Tausende von Tibetern wurden wegen konterrevolutionärer und<br />
"separatistischer" Verbrechen hingerichtet, aber ich habe von keinem einzigen tibetischen<br />
Aristokraten o<strong>der</strong> Richter gehört o<strong>der</strong> gelesen, <strong>der</strong> wegen jener in <strong>der</strong> chinesischen Propaganda<br />
beschriebenen "grausamen und barbarischen" Folterungen und Verbrechen hingerichtet worden<br />
wäre. Sogar die Folterwerkzeuge, die so liebevoll in ihren Museum-artigen Einrichtungen <strong>zur</strong><br />
Schau gestellt werden, entbehren jeglicher Herkunft. In den Beschriftungen werden we<strong>der</strong><br />
Personen o<strong>der</strong> Gefängnisse o<strong>der</strong> Gerichtsgebäude, von denen die Objekte herstammten, noch die<br />
Zeit ihrer angeblichen Verwendung erwähnt.<br />
Letzten Endes beläuft sich die chinesische Propaganda über das "menschenfressende System <strong>der</strong><br />
Leibeigenschaft" auf sehr wenig: die selben alten Fotografien und Folterinstrumente (viele davon<br />
chinesischen Ursprungs) und menschliche Oberschenkelknochen und Schädel, die man recht<br />
einfach in einem Kuriositäten- o<strong>der</strong> Antiquitätengeschäft in Kathmandu, New York, Neu Delhi<br />
erwerben kann und heutzutage sogar in Peking, Hong Kong und Shanghai, würde ich meinen.<br />
Dies steht nicht in direktem Zusammenhang, aber ich muss diese ungeheuerlichste<br />
Anschuldigung, die ich in fast je<strong>der</strong> chinesischen propagandistischen Veröffentlichung gefunden<br />
habe, erwähnen (und ein für alle mal abhandeln). Es handelt sich um die Fotografie eines<br />
tibetischen Mannes, <strong>der</strong> einen an<strong>der</strong>en Tibeter huckepack trägt. Der Bildtext lautet "Beamte auf<br />
dem Rücken tragen <strong>–</strong> eine <strong>der</strong> zahlreichen verpflichtenden Arbeitsdienste, zu denen die<br />
Leibeigenen gezwungen werden". [22] Erstens ist <strong>der</strong> getragene Mann seiner Kleidung nach zu<br />
urteilen eindeutig kein Beamter. Zweitens hat <strong>der</strong> Apparatschik im "Wahrheitsministerium" in<br />
Peking, <strong>der</strong> dies erfunden hat, scheinbar nicht mitbekommen, dass die Tibeter Reiter waren und<br />
Tibet ein Land <strong>der</strong> Pferde. Alle Tibeter ritten Pferde, einschließlich <strong>der</strong> Frauen und Kin<strong>der</strong>, alter<br />
Menschen und hohen Lamas. Nur Bettler und Pilger gingen zu Fuß und die letzteren taten dies,<br />
um die Verdienste ihrer Pilgerreise damit zu erhöhen. Sogar <strong>der</strong> Dalai Lama ritt auf seinen Reisen<br />
ein Pferd o<strong>der</strong> manchmal ein hörnerloses Yak (nalo). Er hatte eine Sänfte (ein Geschenk des<br />
chinesischen Kaisers), aber diese wurde nur bei einigen formellen Prozessionen in Lhasa<br />
verwendet. Es gab keine an<strong>der</strong>en Sänften in Tibet. Vor 1912 fuhren die Amban (chinesischen<br />
Gesandten) in amtlichen Sänften, guanjiao (官轎) herum, ebenso wie an<strong>der</strong>e chinesische Beamte<br />
in Tibet und Kham.<br />
Tatsächlich schreiben manche Gelehrte den bemerkenswerten militärischen Erfolg von Zhao<br />
Erfeng in Osttibet <strong>der</strong> Tatsache zu, dass er im Gegensatz zu an<strong>der</strong>en chinesischen Bürokraten die<br />
an ihrer Sänfte und Opiumpfeife hingen, ein harter Führer war, <strong>der</strong> die Mühsal seiner Soldaten mit<br />
ihnen teilte. Eric Teichmann schreibt über Zhao "im Gegensatz zu den etwas verweichlichten und<br />
bequemen Szechuanesen, verschmähte er die Sänfte und bereiste ganz Osttibet auf dem<br />
Pfer<strong>der</strong>ücken". [23]<br />
So bewun<strong>der</strong>nswert das auch gewesen sein mag, sollte doch darauf hingewiesen werden, dass<br />
auf tibetischer Seite alle <strong>–</strong> die höchsten Lamas, Aristokraten, Großmütter, Damen, sogar <strong>der</strong><br />
Generalgouverneur Osttibets selbst, auf Pferden ritten o<strong>der</strong> zu Fuß gingen.<br />
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