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1 Von der Dunkelheit zur Morgendämmerung – Jamyang Norbu

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<strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>Dunkelheit</strong> <strong>zur</strong> <strong>Morgendämmerung</strong> <strong>–</strong> <strong>Jamyang</strong> <strong>Norbu</strong><br />

Gerichtsstrafen in Tibet von <strong>der</strong> kaiserlichen chinesischen Herrschaft bis <strong>zur</strong> Unabhängigkeit<br />

(inoffizielle Deutsche Übersetzung von Gabriela Scopp)<br />

Am 1. November 1728 wurden in einer Wiese am Ufer des Bamari Kanal, in geringer Entfernung<br />

südwestlich vom Potala, siebzehn Tibeter durch Henker des Manchu Expeditionskorps<br />

hingerichtet. Dreizehn wurden enthauptet und zwei hohe Lamas wurden langsam zu Tode erwürgt.<br />

Die zwei Hauptgefangenen, zwei Minister des Kashag (tibetischer Ministerrat <strong>–</strong> Anm.), Ngabo und<br />

Lumpa, wurden durch eine einzigartige chinesische Methode <strong>der</strong> Exekution hingerichtet, die als<br />

"lingchi" (凌遲) bekannt ist, manchmal als "schleichen<strong>der</strong> Tod" o<strong>der</strong> "Tod <strong>der</strong> tausend Schnitte"<br />

übersetzt, wobei <strong>der</strong> verurteilten Person kleine Teile des Körpers methodisch über einen längeren<br />

Zeitraum hinweg <strong>–</strong> vielleicht sogar einen ganzen Tag - mit einem Messer vom Körper geschnitten<br />

werden, bis er schließlich verstarb. Die Bezeichnung lingchi stammt von einer klassischen<br />

Beschreibung eines Spazierganges auf einen Berg.<br />

Gemäß dem Historiker Luciano Petech wurden die Bürger von Lhasa, die gezwungen worden<br />

waren Zeugen dieses schrecklichen Ereignisses zu sein, von dem Anblick tiefgreifend traumatisiert<br />

<strong>–</strong> so wie es geplant war. [1] Um diese Lektion über legalen Terror klarzumachen, wurden alle<br />

Verwandten <strong>der</strong> Verurteilten, einschließlich <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>, ebenfalls hingerichtet. Ein tibetischer<br />

Augenzeuge, <strong>der</strong> Beamte und Gelehrte Dokar Tsering Wangyal schrieb fünf Jahre später, dass er<br />

selbst nach dieser Zeitspanne sich bei <strong>der</strong> Erinnerung an die Ereignisse bedrückt und verstört<br />

fühlte. Der tibetische Minister Phola war über den Anblick ebenfalls erschüttert, und brachte in den<br />

nächsten Tagen in den vielen Tempeln Lhasas Opfergaben dar und zündete Butterlampen an,<br />

zum spirituellen Wohlergehen <strong>der</strong> Getöteten. Tatsächlich waren die hingerichteten Minister seine<br />

Gegner in einem Bürgerkrieg gewesen, <strong>der</strong> den Expeditionskorps als Vorwand gedient hatte, um in<br />

Tibet einzumarschieren und die Errichtung eines kaiserlichen chinesischen Protektorates in Tibet<br />

zu unterstützen.<br />

Diese Form <strong>der</strong> Exekution wurde in China von ungefähr 900 n.Chr. bis zu ihrer offiziellen<br />

Abschaffung in 1905 angewandt. In einer jüngsten Studie über lingchi <strong>der</strong> Harvard University Press<br />

jedoch, erwähnen die Autoren noch 1910 das Vorkommen von lingchi Hinrichtungen in Osttibet,<br />

unter <strong>der</strong> Verwaltung von Zhao Erfeng. Khampas (Einwohner <strong>der</strong> Region Kham <strong>–</strong> Anm.) gaben an,<br />

chinesische Soldaten würden den "langsamen Tod bringen, indem sie kleine Teile des Körpers<br />

abschnitten so lange, bis das Herz erreicht war und das Leben endete". Die Autoren verwiesen<br />

darauf, dass dies als militärischen Notfall gerechtfertigt werden könnte. [2]<br />

Die außergewöhnliche tibetische Poetin und Bloggerin Woeser wi<strong>der</strong>legte kürzlich in einem<br />

Interview, die offizielle chinesische Propaganda des "barbarischen feudalen Leibeigenschaft"<br />

(immer "bewiesen" durch Ausstellungen von Folterinstrumenten wie Käfige, Ketten, Schandkragen,<br />

Steine und Messer zum Ausstechen <strong>der</strong> Augen, die angeblich in Tibet verwendet worden waren)<br />

und sagte "die brutalsten Folterinstrumente kamen aus dem Inland <strong>–</strong> die kaiserlichen Gesandten<br />

<strong>der</strong> Qing Dynastie brachten sie nach Tibet"[3]<br />

Eine <strong>der</strong> bekannteren chinesischen Beiträge in diesem Zusammenhang war die "mu jia" (木枷), die<br />

in den meisten europäischen Berichten über China als Schandkragen bezeichnet wird. Er war<br />

ähnlich dem Pranger im Westen, nur dass das Brett des Schandkragens nicht an einen Sockel<br />

fixiert war, son<strong>der</strong>n vom Gefangenen herumgetragen werden musste. In Tibet war er,<br />

passen<strong>der</strong>weise, als "gya-go" o<strong>der</strong> "chinesische Tür" bekannt und wurde weit verbreitet von <strong>der</strong><br />

chinesischen Manchu Verwaltung verwendet. Der Schandkragen war nicht nur eine wirkungsvolle<br />

Fesselung, son<strong>der</strong>n aufgrund ihres großen Gewichtes auch eine sehr schmerzhafte Art <strong>der</strong><br />

Bestrafung. Die traditionelle tibetische Methode <strong>der</strong> Fesselung von Gefangenen war mit<br />

Fußfesseln (kang-chak).<br />

1


Eine an<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> gerichtlichen Folterung und Bestrafung, die von den Chinesen in Tibet<br />

eingeführt wurde, war die Fingerpresse. Dieses Instrument wurde heuer bei <strong>der</strong> Ausstellung zum<br />

"50.Jahrestag <strong>der</strong> demokratischen Reformen in Tibet" in Peking gemeinsam mit an<strong>der</strong>en<br />

Folterinstrumenten und Fotografien, welche die Barbarei des alten Tibet "beweisen" sollen, <strong>zur</strong><br />

Schau gestellt. Aber dieses angeblich tibetische Folterinstrument hat nicht einmal einen tibetischen<br />

Namen, indessen finden wir genau die gleiche Fingerpresse in einer Sammlung von <strong>der</strong>artigen<br />

Gegenständen aus <strong>der</strong> Ming Dynastie.[4]<br />

Die Standard-Strafe <strong>der</strong> Chinesen für jene die sich ihnen wi<strong>der</strong>setzten, war jedoch die Hinrichtung<br />

durch Enthauptung (shatou 杀头). Diese Bestrafung wurde vor allem um 1910 vorherrschend, als<br />

<strong>der</strong> 13. Dalai Lama nach Indien flüchtete und Wi<strong>der</strong>stand und Auflehnung gegen die kaiserliche<br />

chinesische Herrschaft um sich zu greifen begann. Gemäß <strong>der</strong> Aussage eines alten Mönches, <strong>der</strong><br />

angab Zeuge einer Hinrichtung am chinesischen Exerzierplatz (jiaochhang) in Shigatse gewesen<br />

zu sein, musste sich <strong>der</strong> verurteilte Tibeter hinknien, während ein Manchu Soldat seine Haare<br />

nach hinten zog, sodass sein Hals gestreckt und für das große Schwert des Henkers vorbereitet<br />

war (dadao大刀). [5]<br />

Währen <strong>der</strong> Ereignisse von 1728 erfolgte die Einrichtung des Büros <strong>der</strong> Amban o<strong>der</strong> kaiserlichen<br />

Einwohner von Lhasa. Die ersten zwei Ambans, Seng Ta-zing und Me Ta-zing (wie tibetische<br />

Aufzeichnungen sie nennen) führten eine grundlegende Restrukturierung des Militärs und <strong>der</strong><br />

Verwaltung in Tibet durch, und scheinen auch chinesische Formen <strong>der</strong> Gerichtsstrafen eingeführt<br />

zu haben <strong>–</strong> bei gleichzeitiger Anwendung traditioneller tibetischer Arten <strong>der</strong> Strafen. Die<br />

chinesischen Strafen waren jedoch offenbar weite effektiver bei <strong>der</strong> Unterwerfung <strong>der</strong> Tibeter.<br />

Petech kommt in seiner Geschichtsschreibung über Tibet des frühen 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts zu dem<br />

Schluss, dass die kaiserliche Macht in Tibet sich unter an<strong>der</strong>em auf "den durch die blutige<br />

Unterdrückung von 1728 in den Herzen <strong>der</strong> tibetischen Aristokratie erweckten Terror" gründete. [6]<br />

Am schlimmsten jedoch wurden <strong>der</strong> chinesische Despotismus und legale Terror vermutlich in<br />

Osttibet erlebt und zwar nicht nur während <strong>der</strong> Manchu Dynastie, son<strong>der</strong>n auch in <strong>der</strong><br />

republikanischen Epoche und ebenso später, während <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong> Kriegsherren. Eric<br />

Teichmann, <strong>der</strong> englische Diplomat <strong>der</strong> 1918 die Verhandlungen zwischen <strong>der</strong> tibetischen und <strong>der</strong><br />

chinesischen Armee in Kham organisiert hatte, schreibt "Es gibt keine bekannte Foltermethode,<br />

die nicht hier an den Tibetern praktiziert würde, Aufschneiden, Abhäuten, Verbrühen,<br />

Auseinan<strong>der</strong>reißen, einfach alles." [7]<br />

Ich las in einem alten National Geographic Magazine (Ausgabe September 1921) über das Leben<br />

in Osttibet, als ich dieses Foto von einem riesigen Kessel, <strong>der</strong> in den Klöstern <strong>zur</strong> Tee-Zubereitung<br />

für die Mönche verwendet wird, entdeckte. Die Überschrift lautete "Ein Kessel <strong>der</strong> von den<br />

Chinesen verwendet wurde um Tibeter zu kochen." [8] Der Artikel von Shelton lieferte keine<br />

weiteren Informationen, aber ich fand eine detaillierten Bericht über dieses "Kochen von Tibetern"<br />

in Shelton's Buch "Pioneering in Tibet". Er hatte diesen grauenvollen Kessel im Bezirk Drayak<br />

entdeckt. Der in dieser Garnison befehlhabende chinesische Oberst hatte rund fünfundvierzig o<strong>der</strong><br />

fünfzig Tibeter gefangengenommen und wollte von den Tibetern gefürchtet werden. Er hatte drei<br />

Gefangene zusammenbinden und den Kessel mit kaltem Wasser setzen lassen und anschließen<br />

das Wasser langsam zum Kochen gebracht. Nachdem sie gut gekocht worden waren, wurden ihre<br />

Körper den Tieren verfüttert. Shelton sah tatsächlich "die Skelette nackt auf den Steinen liegend,<br />

neben ihrem Fleisch, vom Hund gänzlich aufgefressen. An<strong>der</strong>e wurden mit Öl übergossen und<br />

lebendig verbrannt. An<strong>der</strong>en wurden die Hände abgehackt und als Warnung an jene geschickt,<br />

von denen sie herkamen. Wie<strong>der</strong>um an<strong>der</strong>e wurden genommen, an jeden Arm und jedes Bein ein<br />

Yak gebunden und in Stücke gerissen." [9]<br />

Es sollte festgehalten werden, dass das alte tibetische Gesetzbuch, ursprünglich Songtsen Gampo<br />

zugeschrieben, vom ersten Phagmotruba Monarchen und später vom fünften Dalai Lama und Desi<br />

Sangye überarbeitet, harte Formen <strong>der</strong> Todesstrafe wie Ertränkung und Erschießen durch Pfeile<br />

für Schwerverbrechen bestimmten. Aber wir sprechen hier von historischen Zeiten, als "Verräter"<br />

in London gehängt, ertränkt und gevierteilt wurden, als Ketzer in Italien und Spanien durch die<br />

2


Inquisition sowie von Calvin in Genf auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, und "Hexen" in<br />

Massachussetts gefoltert und gehängt wurden. Allerdings, verurteilte Menschen wurden im<br />

kaiserlichen Peking noch zu Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts langsam bis zum Tode in Stücke<br />

geschnitten.<br />

Der letzte aufgezeichnete Fall von Ertränkung als Todesstrafe in Tibet war 1884, als das tibetische<br />

Parlament die Tötung durch Ertränken von Sengchen Lama anordnete, weil dieser den britischen<br />

Spion Sarat Chandra Das bei seiner Reise nach Tibet unterstützt hatte. An<strong>der</strong>e geringere Strafen<br />

für wie<strong>der</strong>holte Vergehen, wie die Amputation <strong>der</strong> rechten Hand o<strong>der</strong> die Durchtrennung <strong>der</strong><br />

Achillessehne <strong>der</strong> Füße, waren vom Gesetz vorgeschrieben, wurden jedoch später in ganz Tibet<br />

abgeschafft.<br />

Die Amputation von Händen und Füßen ist eine <strong>der</strong> Standard <strong>–</strong> Anschuldigungen <strong>der</strong> Chinesen<br />

und ihrer westlichen Propagandisten gegen den Dalai Lama und seine Regierung. Natürlich wird<br />

dabei nie erwähnt, dass <strong>der</strong>artige Strafen, ebenso wie die Todesstrafe, in Tibet 1913 abgeschafft<br />

wurden <strong>–</strong> eine außerordentlich signifikante, aber bisher (sowohl von Peking als auch von<br />

Dharamsala) übersehen historische Tatsache, auf die wir später noch <strong>zur</strong>ückkommen werden.<br />

Chinesische propagandistische Veröffentlichungen, Filme und Ausstellungen verabsäumen es nie,<br />

Fotografien von abgetrennten Gliedmaßen, Schädeldecken, Knochen <strong>–</strong> Ornamenten und aus<br />

menschlichen Oberschenkelknochen hergestellte Trompeten hervorzuheben, um ihre<br />

Behauptungen zu beweisen. Die Leser erinnern sich vielleicht noch an die Anschuldigung in den<br />

70-er und 80-er Jahren, <strong>der</strong> Dalai Lama hätte 108 Jungfrauen hinrichten und aus ihren<br />

Oberschenkelknochen rituelle Instrumente herstellen lassen.<br />

Es ist oft nicht klar, ob solche grausame Strafen, die zu jener Zeit, als Tibet unter <strong>der</strong> Herrschaft<br />

des kaiserlichen China stand, verhängt wurden, jene waren, die auf alten tibetischen Gesetzen<br />

beruhten o<strong>der</strong> tatsächlich chinesische Strafen, die unter chinesischer Herrschaft in Tibet eingeführt<br />

wurden ? Das Abtrennen von Gliedmaßen passt gut in eine Art <strong>der</strong> chinesischen Strafe "Fünf<br />

Schmerzen" (wutongku 五痛苦?)) genannt, von Li Si, einem berühmten Legalisten und Minister <strong>der</strong><br />

Qin Dynastie erfunden, wobei zuerst die Nase des Opfers abgetrennt wurde, anschließen eine<br />

Hand und ein Fuß. Das Opfer wurde dann kastriert und schließlich entlang <strong>der</strong> Taille in die Hälfte<br />

geschnitten. Ironischerweise wurde 208 v.Chr. Li Si selbst auf diese Art hingerichtet.<br />

Aber wichtiger als die Ursprünge <strong>der</strong>artiger Strafen festzustellen, sollte die entscheidende Frage<br />

sein, unter wessen politischer Herrschaft <strong>–</strong> Tibets o<strong>der</strong> Chinas <strong>–</strong> solche grausamen Bestrafungen<br />

den Tibetern auferlegt wurden ? Diese Frage ist signifikant, da <strong>der</strong> wichtigste "Beweis" für Chinas<br />

Anspruch auf Tibet als "untrennbarer Teil von China" jener ist, dass Tibet von 1700-er Jahren bis<br />

1912 unter Manchu Herrschaft stand.<br />

Demzufolge ist es bezeichnend, dass, wann auch immer das Thema <strong>der</strong> "Grausamkeit und<br />

Barbarei" <strong>der</strong> alten tibetischen Regierung und Gesellschaft aufgebracht wird, Peking und seine<br />

Propagandisten im Westen sich stets darauf beschränken, Europäer zu zitieren, die Tibet<br />

bereisten bevor es 1912 unabhängig wurde. Bevorzugte Autoren sind L.A.Waddell, Percival<br />

Landon, Edmund Candler und Captain WFT O'Conner, die, zusätzlich zu ihren prä-1912er<br />

Glanzjahren, 1904 die britischen Streitkräfte bei ihrer Invasion begleiteten und in den meisten ihrer<br />

Schriften das gewaltsame imperialistische Vordringen in Tibet mit <strong>der</strong> Dämonisierung <strong>der</strong><br />

tibetischen Gesellschaft und Institutionen zu rechtfertigen suchten.<br />

In <strong>der</strong> am 2.März 2009 von Peking veröffentlichten Stellungnahme <strong>zur</strong> Gedenkfeier <strong>der</strong> "Fünfzig<br />

Jahre demokratischer Reform in Tibet" gibt es einen Abschnitt "Das alte Tibet <strong>–</strong> eine Gesellschaft<br />

feudalen Leibeigenschaft unter Theokratie", in <strong>der</strong> die anfängliche ausführliche Beschreibung <strong>der</strong><br />

alten tibetischen Gesellschaft jene des britischen Journalisten Edmund Candler ist, über den<br />

sachlich angeführt wird, er habe "Tibet 1904 besucht und die Details <strong>der</strong> alten tibetischen<br />

Gesellschaft aufgezeichnet." [10] Tatsächlich war er Kriegsberichterstatter für die Daily Mail und in<br />

den britischen Expeditionskorps "eingebettet". Überdies wurde er beim ersten Zusammenstoß bei<br />

Guru von Schwerter-schwingenden tibetischen Milizen schwer verletzt. Also weit davon entfernt<br />

3


ein unparteiischer Zeuge zu sein, war er zudem nicht einmal eine erwähnenswerte Zeit lang in<br />

Tibet.<br />

Während jener Periode begannen die Tibeter di Manchu Herrschaft anzufechten, aber ganz egal<br />

wie stark sie sich auch politisch behaupteten, konnten sie natürlich keinerlei Än<strong>der</strong>ungen im<br />

administrativen und juridischen System Tibets durchsetzen, solange die Chinesen nicht vertrieben<br />

worden waren. Das chinesische System <strong>der</strong> Folter und Enthauptungen fand erst 1912 ein Ende,<br />

als die chinesischen Besatzung in Lhasa schließlich kapitulierte und die Truppen sich nach Indien<br />

<strong>zur</strong>ückzogen.<br />

Es gibt eindeutige Beweise dafür, dass <strong>der</strong> junge 13. Dalai Lama und viele seiner Beamten nicht<br />

nur von <strong>der</strong> politischen Herrschaft Chinas frei sein wollten, son<strong>der</strong>n auch die chinesischen Gesetze<br />

und Strafen in Tibet abschaffen wollten. Im Dezember 1893 wurden in Darjeeling die "Gespräche<br />

über tibetische Handelsverordnungen" zwischen den Briten und Chinesen abgehalten. Tibeter<br />

wurden absichtlich von den Gesprächen ausgeschlossen, <strong>der</strong> Kashag entsandte jedoch Minister<br />

Shatra nach Darjeeling, um die Verhandlungen zu beobachten. Die Briten betrachteten die<br />

Anwesenheit Shatras als Unverschämtheit und erniedrigten ihn offensichtlich in <strong>der</strong> Öffentlichkeit,<br />

wie ich bereits in einer an<strong>der</strong>en Abhandlung beschrieben habe. L.A. Waddell war zu <strong>der</strong> Zeit in<br />

Darjeeling und interviewte Shartra bei mehreren Gelegenheiten. Im Gegenzug ersuchte ihn Shatra,<br />

ihm eine Zusammenfassung <strong>der</strong> britischen "straf-, polizei- und zivilrechtlichen Gesetze" <strong>zur</strong><br />

Verfügung zu stellen, die er <strong>zur</strong> "Verbesserung <strong>der</strong> Regierung" nach Lhasa mitnehmen wollte.<br />

Waddell erfüllte ihm diese Bitte und gab ihm Übersetzungen <strong>der</strong> allgemeinen Inhalte des britischindischen<br />

Rechtssystems. Gemäß Waddell war Shatra von <strong>der</strong> Praxis, eine beschuldigte Person<br />

nicht zu einer Aussage gegen sich selbst zu zwingen, sehr beeindruckt und rief aus "Nun, indem<br />

wir den Chinesen folgen, machen wir das genaue Gegenteil, denn wir foltern den Angeklagten so<br />

lange, bis er das Verbrechen gesteht". [11]<br />

Das erste klare Anzeichen für die aufgeklärten Absichten des Dalai Lama für die Zukunft seines<br />

Volkes kam nach seiner Inthronisation 1895. Der frühere Regent Demo Rinpoche initiierte,<br />

nachdem er die Macht abgeben musste, mit seinen zwei Brü<strong>der</strong>n <strong>Norbu</strong> Tsering und Lobsang<br />

Dhonden, eine Verschwörung <strong>zur</strong> Ermordung des Dalai Lama. Die Verschwörung wurde<br />

aufgedeckt und Demo und seine zwei Brü<strong>der</strong> wurden verhaftet. Die empörte Nationalversammlung<br />

(tsongdu) for<strong>der</strong>te die Todesstrafe, doch <strong>der</strong> Dalai Lama lehnte ihre Entscheidung ab und erklärte<br />

seine Ablehnung <strong>der</strong> Todesstrafe mit den Prinzipien des Buddhismus.<br />

Professor Melvyn Goldstein erzählt von einem Gerücht, Demo wäre insgeheim im Gefängnis<br />

getötet worden. Es wäre zwar möglich, dss ein übereifriger Beamter <strong>der</strong>artiges getan hätte, aber<br />

es gibt keinen Beweis für das Gerücht. Sir Charles Bell schreibt in seiner Biographie des "Großen<br />

Dreizehnten", <strong>der</strong> Dalai Lama hätte ihm gesagt "... bis zu seiner Flucht nach Indien gestattete er<br />

unter keinen Umständen die Todesstrafe." [12]<br />

Über seine frühere Abschaffung <strong>der</strong> Todesstrafe hinaus, erklärte <strong>der</strong> Große Dreizehnte nach<br />

seiner Rückkehr aus dem Exil am achten Tag des vierten Monats des Wasser-Ochsen-Jahres<br />

(1913) in seiner Unabhängigkeitserklärung das Ende <strong>der</strong> heutzutage als "grausam und<br />

ungewöhnlich" bezeichneten Strafen. Die Erklärung ist genau: "Des Weiteren wurden<br />

Amputationen von Gliedmaßen <strong>der</strong> Bürger als Art <strong>der</strong> Bestrafung vorgenommen. <strong>Von</strong> nun an sind<br />

<strong>der</strong>artige strenge Strafen verboten." [13] Es wurden Kopien <strong>der</strong> Proklamation in ganz Tibet verteilt<br />

und in jedem Bezirksamt musste eine Kopie aufbewahrt werden.<br />

Charles Bell nennt in dem Index seines Buches "Tibet <strong>–</strong> Vergangenheit und Gegenwart" drei<br />

Referenzen für die "Abschaffung <strong>der</strong> Todesstrafe in Tibet". [14] Robert Byron, <strong>der</strong> bekannte<br />

britische Reiseautor, Kunstkritiker und Historiker, reiste in den frühen Dreißigerjahren nach Tibet<br />

und beobachtete sachlich " die Todesstrafe war nunmehr abgeschafft". [15] Sogar in einem so<br />

abgeschiedenen Teil Tibets wie Zayul, schreibt <strong>der</strong> Pflanzensammler Frank Kingdon-Ward über<br />

einen Kriminalfall in 1937, wo ein Bote <strong>der</strong> Regierung ermordet worden war und <strong>der</strong> Bezirksrichter<br />

nicht die Macht hatte, die Todesstrafe zu verhängen. Kingdon-Ward zog daraus den Schluss, dass<br />

"...die mo<strong>der</strong>ne tibetische Regierung, nachdem sie die vor 25 Jahren beliebte barbarische Praxis<br />

4


<strong>der</strong> Verstümmelung von Rechtsbrechern abgeschafft hat, nun zum an<strong>der</strong>en Extrem geschwenkt<br />

und vorsichtig sei, die Todesstrafe zu verhängen". [16]William Montgomery McGovern, <strong>der</strong><br />

amerikanische Anthropologe <strong>der</strong> 1922 verkleidet nach Lhasa reiste ( und vermutlich Inspiration für<br />

den Charakter Indiana Jones war), erwähnt nicht nur die Abschaffung <strong>der</strong> Todesstrafe, son<strong>der</strong>n<br />

auch die Ansicht des Dalai Lama, dass solche Strafem nit dem Buddhismud unvereinbar wären. Er<br />

schreibt auch "vom Gesetz her können Richter nur die Auspeitschung o<strong>der</strong> Verbannung als Strafe<br />

für jegliches Verbrechen, einschließlich des Mordes, verhängen. Dir Richter von Lhasa erklärten,<br />

dass die Strafen nicht streng genug wären um an<strong>der</strong>e Verbrecher abzuschrecken und drückten ihr<br />

Bedauern darüber aus, dass das alte system abgeschafft worden war." [17]<br />

Charles Bell berichtete auch, dass Nepal Einwände gegen die Abschaffung <strong>der</strong> Todesstrafe in<br />

Tibet erhob, da es einige Fälle gab, in denen Tibeter, die nepalesische Staatsbürger ermordet<br />

hatten, geringere Strafen erhalten hatten. Ein "hoher tibetischer Amtsträger" erzählte Bell, dass<br />

"die nepalesischen Behörden verlangen, dass wir jene Tibeter hinrichten. Bisher haben wir dem<br />

nicht zugestimmt". [18]<br />

Alan Winnington, <strong>der</strong> linksgerichtete Journalist <strong>der</strong> als erster Europäer in Tibet nach seiner<br />

"Befreiung" durch das kommunistische China einreisen durfte - als das Rechtssystem noch das<br />

traditionelle war <strong>–</strong> wurde vom obersten Richter und Bürgermeister von Lhasa Gorkar Mepon<br />

informiert, dass "in Tibet seit einigen Jahren keine Todesstrafe verhängt wurde". Winnington<br />

erörterte "leichtere Strafen" wie die Amputation, erhielt jedoch eine unerwartete Antwort: 'Aber<br />

meiner Erinnerung nach wurden solche Dinge nicht getan', bekräftigte Mepon." [19]<br />

Obwohl in <strong>der</strong> Ausführung des Gesetzes Unzulänglichkeiten und gelegentliche Fehler passierten,<br />

muss ihre Umsetzung als gewaltig, sicherlich als beeindruckend bezeichnet werden. Tibet war<br />

eines <strong>der</strong> ersten Län<strong>der</strong> <strong>der</strong> Welt, welche die Todesstrafe abschafften. Es gibt sie natürlich immer<br />

noch in den USA, Großbritannien und bemerkenswerterweise auch im buddhistischen Sri Lanka<br />

und Thailand. Im letztgenannten Land werden angeblich buddhistische Empfindsamkeiten<br />

beruhigt, indem <strong>der</strong> Verurteilte von hinter einem Vorhang erschossen wird. In Japan gibt es die<br />

Todesstrafe noch immer, Bhutan hat sie erst 2004 abgeschafft.<br />

Sogar die wenigen Fälle in denen die revolutionäre Rechtsentscheidung des Dalai Lama<br />

missachtet o<strong>der</strong> ihr zuwi<strong>der</strong>gehandelt wurde, demonstrieren die vollständige tibetische<br />

Verpflichtung gegenüber den Idealen des Großen Dreizehnten. Als 1924 ein Soldat während einer<br />

Bestrafung starb, wurde <strong>der</strong> Oberbefehlshaber <strong>der</strong> tibetischen Armee Tsarong, ein Mann, <strong>der</strong><br />

persönlich das Leben des Dalai Lama gerettet hatte, degradiert und auf Lebenszeit seiner<br />

militärischen Dienste enthoben.<br />

Es gibt nicht nur keinerlei Auszeichnungen über Exekutionen nach 1913, son<strong>der</strong>n sogar <strong>der</strong><br />

einzige protokollierte Fall einer offiziell verhängten "grausamen und unüblichen" Strafe<br />

demonstriert, welch tiefe Wurzeln das neue Gesetz im tibetischen Leben gefasst hatte. Einige<br />

Jahre nach dem Tod des 13. Dalai Lama versuchte <strong>der</strong> Amtsträger Lungshar einen gewaltsamen<br />

Staatsstreich. Nach dessen Fehlschlag wollten zahlreiche Regierungsmitglie<strong>der</strong> Lungshar<br />

hinrichten lassen, jedoch stand ihnen das alte Gesetz im Wege. Also wurde gegen Lungshar eine<br />

geringere Strafe, nämlich das Entfernen seiner Augen, verhängt. Die Operation wurde schlimm<br />

verpfuscht. Derartige Strafen waren so lange außer Gebrauch gekommen, dass sogar gemäß<br />

einem so ziemlich anti-tibetischen Akademiker wie Melvin Goldstein die Bevölkerungsschicht, die<br />

in <strong>der</strong> Vergangenheit Hinrichtungen und <strong>der</strong>artige Bestrafungen ausgeführt hatten, es nunmehr<br />

sehr schwierig fand das zu tun und sie "... sagten <strong>der</strong> Regierung, dass sie nur deshalb imstande<br />

waren es zu tun, weil ihre Eltern ihnen gesagt hatten, wie es zu machen wäre".<br />

Abgesehen von diesem Fall, gibt es praktisch keinerlei Aufzeichnungen von "Blendung" o<strong>der</strong><br />

Amputationen, die als Strafe in Tibet durchgeführt worden wären. Alan Winnington hat in seine<br />

Buch keine <strong>der</strong>artige Fälle. Anna Louise Strong, vor<strong>der</strong>ste amerikanische kommunistische<br />

Propagandistin Chinas, reiste quer durch Tibet und schrieb zwei Bücher aber, obwohl sie<br />

scheffelweise Geschichten von Grausamkeiten erzählt, hat sie nur dieselbe eine Fotografie eines<br />

blinden Mannes in ihren beiden Büchern. [20] Er wird namentlich nicht genannt, aber Strong<br />

5


ehauptet, er wäre "von Rebellen geblendet worden, weil er bei <strong>der</strong> Reparatur <strong>der</strong> PLA<br />

Hochstraße geholfen hatte". Eine 1981 veröffentlichte chinesische Propaganda <strong>–</strong> Zeitschrift zeigte<br />

gleichfalls ein Foto eines "von Rebellen geblendeten Hirten". [21] Aber bisher bin ich in<br />

chinesischem Propagandamaterial noch auf kein Foto von jemandem gestoßen, <strong>der</strong> aufgrund<br />

einer gesetzlichen Strafe <strong>der</strong> tibetischen Regierung geblendet worden wäre. Sogar die<br />

Behauptung <strong>der</strong> "Blendung durch Rebellen" ist mit Vorsicht zu handhaben, da bis auf die Bildtexte<br />

keinerlei weitere Einzelheiten <strong>der</strong> Opfer o<strong>der</strong> des Verbrechens zu existieren scheinen.<br />

Was bei <strong>der</strong>artigen Propagandapraktiken Chinas immer wie<strong>der</strong> überrascht, ist das völlige Fehlen<br />

von Genauigkeit in ihren Behauptungen über Grausamkeiten im alten Tibet. Es werden nicht nur<br />

die sogenannten Opfer nicht namentlich genannt, aber noch überraschen<strong>der</strong> werden keine Namen<br />

<strong>der</strong> Täter <strong>–</strong> Feudalherren o<strong>der</strong> Amtsrichtern <strong>–</strong> je genannt. Sämtliche alte tibetische Gerichtsakte<br />

<strong>der</strong> Vergangenheit sind im Besitz <strong>der</strong> Chinesen. Dennoch wurde meine Wissens kein einziger<br />

tibetischer Aristokrat, Beamter o<strong>der</strong> Richter jemals ausdrücklich <strong>der</strong> Blendung o<strong>der</strong> Abtrennung<br />

von Gliedmaßen beschuldigt. Tausende von Tibetern wurden wegen konterrevolutionärer und<br />

"separatistischer" Verbrechen hingerichtet, aber ich habe von keinem einzigen tibetischen<br />

Aristokraten o<strong>der</strong> Richter gehört o<strong>der</strong> gelesen, <strong>der</strong> wegen jener in <strong>der</strong> chinesischen Propaganda<br />

beschriebenen "grausamen und barbarischen" Folterungen und Verbrechen hingerichtet worden<br />

wäre. Sogar die Folterwerkzeuge, die so liebevoll in ihren Museum-artigen Einrichtungen <strong>zur</strong><br />

Schau gestellt werden, entbehren jeglicher Herkunft. In den Beschriftungen werden we<strong>der</strong><br />

Personen o<strong>der</strong> Gefängnisse o<strong>der</strong> Gerichtsgebäude, von denen die Objekte herstammten, noch die<br />

Zeit ihrer angeblichen Verwendung erwähnt.<br />

Letzten Endes beläuft sich die chinesische Propaganda über das "menschenfressende System <strong>der</strong><br />

Leibeigenschaft" auf sehr wenig: die selben alten Fotografien und Folterinstrumente (viele davon<br />

chinesischen Ursprungs) und menschliche Oberschenkelknochen und Schädel, die man recht<br />

einfach in einem Kuriositäten- o<strong>der</strong> Antiquitätengeschäft in Kathmandu, New York, Neu Delhi<br />

erwerben kann und heutzutage sogar in Peking, Hong Kong und Shanghai, würde ich meinen.<br />

Dies steht nicht in direktem Zusammenhang, aber ich muss diese ungeheuerlichste<br />

Anschuldigung, die ich in fast je<strong>der</strong> chinesischen propagandistischen Veröffentlichung gefunden<br />

habe, erwähnen (und ein für alle mal abhandeln). Es handelt sich um die Fotografie eines<br />

tibetischen Mannes, <strong>der</strong> einen an<strong>der</strong>en Tibeter huckepack trägt. Der Bildtext lautet "Beamte auf<br />

dem Rücken tragen <strong>–</strong> eine <strong>der</strong> zahlreichen verpflichtenden Arbeitsdienste, zu denen die<br />

Leibeigenen gezwungen werden". [22] Erstens ist <strong>der</strong> getragene Mann seiner Kleidung nach zu<br />

urteilen eindeutig kein Beamter. Zweitens hat <strong>der</strong> Apparatschik im "Wahrheitsministerium" in<br />

Peking, <strong>der</strong> dies erfunden hat, scheinbar nicht mitbekommen, dass die Tibeter Reiter waren und<br />

Tibet ein Land <strong>der</strong> Pferde. Alle Tibeter ritten Pferde, einschließlich <strong>der</strong> Frauen und Kin<strong>der</strong>, alter<br />

Menschen und hohen Lamas. Nur Bettler und Pilger gingen zu Fuß und die letzteren taten dies,<br />

um die Verdienste ihrer Pilgerreise damit zu erhöhen. Sogar <strong>der</strong> Dalai Lama ritt auf seinen Reisen<br />

ein Pferd o<strong>der</strong> manchmal ein hörnerloses Yak (nalo). Er hatte eine Sänfte (ein Geschenk des<br />

chinesischen Kaisers), aber diese wurde nur bei einigen formellen Prozessionen in Lhasa<br />

verwendet. Es gab keine an<strong>der</strong>en Sänften in Tibet. Vor 1912 fuhren die Amban (chinesischen<br />

Gesandten) in amtlichen Sänften, guanjiao (官轎) herum, ebenso wie an<strong>der</strong>e chinesische Beamte<br />

in Tibet und Kham.<br />

Tatsächlich schreiben manche Gelehrte den bemerkenswerten militärischen Erfolg von Zhao<br />

Erfeng in Osttibet <strong>der</strong> Tatsache zu, dass er im Gegensatz zu an<strong>der</strong>en chinesischen Bürokraten die<br />

an ihrer Sänfte und Opiumpfeife hingen, ein harter Führer war, <strong>der</strong> die Mühsal seiner Soldaten mit<br />

ihnen teilte. Eric Teichmann schreibt über Zhao "im Gegensatz zu den etwas verweichlichten und<br />

bequemen Szechuanesen, verschmähte er die Sänfte und bereiste ganz Osttibet auf dem<br />

Pfer<strong>der</strong>ücken". [23]<br />

So bewun<strong>der</strong>nswert das auch gewesen sein mag, sollte doch darauf hingewiesen werden, dass<br />

auf tibetischer Seite alle <strong>–</strong> die höchsten Lamas, Aristokraten, Großmütter, Damen, sogar <strong>der</strong><br />

Generalgouverneur Osttibets selbst, auf Pferden ritten o<strong>der</strong> zu Fuß gingen.<br />

6


Der Brauch Menschen zu benutzen um an<strong>der</strong>e Menschen zu tragen, ist nachweisbar ein<br />

chinesischer, und nicht ein tibetischer. Der traditionelle Transport in China erfolgte großteils mittels<br />

Sänften und Rikschas, die alle von armen chinesischen Kulis gezogen o<strong>der</strong> getragen wurden. Lao<br />

Shes berühmter Roman "Rikscha" (Lo Tuo Xiang Zi) bietet eine herzergreifende Darstellung des<br />

erbärmlichen Lebens eines dieser von TB geplagten, Opium <strong>–</strong> rauchenden Lasttiere. Während <strong>der</strong><br />

kommunistischen chinesischen Herrschaft wurde ein Cousin von mir in Lhasa (mit schlechtem<br />

Klassenhintergrund) dazu bestimmt, ein Handkarren (therka) <strong>–</strong> Zieher zu sein. Mehr als zwanzig<br />

Jahre lang transportierte er Baumaterial, landwirtschaftliche Erzeugnisse, und Menschen durch die<br />

heilige Stadt und hat noch immer dicke Schwielen an <strong>der</strong> Hand um es zu beweisen.<br />

Wenn wir Reiseberichte über Tibet ansehen die nach 1913 und vor <strong>der</strong> chinesischen Invasion<br />

verfasst wurden, ob sie von Europäern o<strong>der</strong> gar Chinesen geschrieben wurden, scheinen Berichte<br />

über grausame Strafen, die in früheren Erzählungen vorkamen, nunmehr verschwunden zu sein.<br />

Heinrich Harrer, <strong>der</strong> die meisten negativen Berichte früherer englischer Reisenden gelesen hatte,<br />

schreibt "wir haben niemals <strong>der</strong>artig grausame Bestrafungen gesehen. Mit dem Lauf <strong>der</strong> Zeit<br />

scheinen die Tibeter mil<strong>der</strong> geworden zu sein. Ich erinnere mich daran, eine öffentliche<br />

Auspeitschung miterlebt zu haben, die meines Erachtens nicht streng genug war".<br />

Auch Charles Bell erwähnt Etwas in <strong>der</strong> Richtung, dass die Tibeter mit <strong>der</strong> Zeit mil<strong>der</strong> und<br />

zivilisierter geworden seien und da und dort Hinweise auf die zivilisierende Auswirkung <strong>der</strong><br />

Kontakte mit dem britischen Indien. Albert Shelton ist konkreter, dass es <strong>der</strong> Einfluss <strong>der</strong><br />

englischen Bräuche und Gesetze war, den <strong>der</strong> Dalai Lama und seine Beamten während ihres Exils<br />

in Darjeeling aufgenommen hatten, <strong>der</strong> sie menschlicher und zivilisierter werden ließ. Wir können<br />

zwar bis zu einem gewissen Punkt Bell und Sheldon zustimmen, doch müssen wir uns vor Augen<br />

halten, dass die Briten massenweise die Eingeborenen in Indien und ihren an<strong>der</strong>en Kolonien<br />

aufhängen ließen. Also kann die Entscheidung des 13. Dalai Lama die Todesstrafe abzuschaffen,<br />

nicht diesem Modell zugerechnet werden.<br />

Auch nach den Reformen des 13. Dalai Lama war das tibetische Rechtssystem<br />

zugegebenermaßen nicht perfekt, korrupt und viele <strong>der</strong> Strafen blieben brutal. Zum Beispiel war<br />

die Standard-Strafe in Tibet das Auspeitschen mit einer Le<strong>der</strong>peitsche. Es war nicht so grausam<br />

wie die "neunschwänzige Katze" <strong>der</strong> königlichen Flotte (die in vielen britischen Gefängnissen bis<br />

1957 angewandt wurde), wobei manchmal Stahlkugeln o<strong>der</strong> Drahtstacheln an den Spitzen <strong>der</strong><br />

Riemen angebracht wurden, um die potentielle Verletzungen durch die Auspeitschung zu steigern.<br />

Todesfälle wurden in Tibet auch minimiert, da die Gefangenen auf das Gesäß und nicht den<br />

Rücken geschlagen wurden. Nichtsdestotrotz war es nach heutigem Standard zweifellos brutal and<br />

ich glaube nicht, dass man diese Praxis verteidigen kann, wenngleich sie in Tibet vor 1950<br />

durchgeführt wurde und diese Bestrafung in vielen Län<strong>der</strong>n Afrikas und Asiens beibehalten wurde:<br />

einschließlich Pakistan, Afghanistan, Singapur, Malaysia, Nigeria, Saudi Arabien und,<br />

selbstverständlich, China <strong>–</strong> wo diese Praxis durch die Verwendung von elektrischen Knüppeln<br />

mo<strong>der</strong>nisiert wurde.<br />

Tibetische Gefängnisse waren auch definitiv unangenehme Orte. Aber die Kerkerhaft wurde mit<br />

Ausnahme <strong>der</strong> Verhandlung, aufgrund <strong>der</strong> Kosten und mit ihr verbundenen Probleme im Großteil<br />

Tibets nicht verhängt. Gemäß Woeser gab es in Lhasa zwei kleine Gefängnisse. "Sie waren<br />

gerade groß genug für rund 20 Gefangene." Eine an<strong>der</strong>e Quelle über tibetische Rechtslehre<br />

erwähnt, das Shol Gefängnis in Lhasa hätte Platz für "dreißig bis fünfzig Männer", während das<br />

Hauptgefängnis <strong>der</strong> Stadt Nangtse-shak nur zwei Aufenthaltsräume und einen Kellerraum hatte,<br />

die vermutlich nicht einmal 30 Menschen maximal fassen konnten. [24] Verbrechern war es<br />

oftmals gestattet in Fußfesseln unbeaufsichtigt die Stadt zu durchstreifen, um für ihren Unterhalt zu<br />

betteln. Wichtigere politische Gefangene wurde nach West- und Südtibet verbannt, wie<br />

beispielsweise Kunphel la, Changlochen, Khyungram und an<strong>der</strong>e. Nur in wenigen Ausnahmefällen<br />

wurden politische Gefangene in Gefängnissen von Lhasa selbst gehalten. Lungshar war 4 Jahre<br />

lang eingesperrt, Gedun Chophel drei.<br />

7


Als Gedun Chophel im Stadtgefängnis war, "erhielt er einen eigenen Raum in einem oberen<br />

Stockwerk und durfte Lebensmittel und Bettwäsche von Freunden erhalten", laut Donald Lopez. Er<br />

wurde dann in das Zhol Gefängnis überstellt. "Obwohl die physischen Bedingungen dort schlechter<br />

waren, erhielt er Schreibmaterial. Er setzte seine Arbeit an den "Weißen Annalen" fort und schrieb<br />

auch Briefe und Gedichte. Nach seiner Entlassung versorgte ihn die Regierung mit Räumen hinter<br />

dem Jokhang über dem Landwirtschaftsministerium, mit einem Bezug von Geld und Getreide, mit<br />

<strong>der</strong> Anweisung, die Arbeit an den "Weißen Annalen" fortzusetzen. Er tat es nicht." [25] Ich<br />

erwähnte dies nicht, um die Behandlung des großen tibetischen Gelehrten durch die tibetische<br />

Regierung heranzusetzen, son<strong>der</strong>n um sie mit den Bedingungen in chinesischen Gefängnissen zu<br />

vergleichen. Hat irgendjemand je Gedichte o<strong>der</strong> historische Chroniken in einem Laogai Camp<br />

geschrieben ?<br />

Generalamnestien waren in Tibet nicht ungewöhnlich, wo alle Gefangene freigelassen, die<br />

Gerichtshöfe und Gefängnisse geleert, gereinigt und mit glückverheißenden Zeichnungen aus Kalk<br />

dekoriert wurden. Dies ereignete sich bei <strong>der</strong> Entdeckung einer neuen Inkarnation des Dalai Lama,<br />

seiner Inthronisierung o<strong>der</strong> zum Anlass seiner Hin<strong>der</strong>nis (kag) Jahre. Es könnte auch <strong>zur</strong><br />

Einsetzung eines Regenten o<strong>der</strong> einer Periode nationaler Krise o<strong>der</strong> nationaler Feier geschehen.<br />

Die kommunistische Propaganda über "grauenvolle mit giftigen Skorpionen gefüllte Kerker des<br />

Potala" sind Ammenmärchen. In den Gefängnissen von Lhasa gab es vermutlich einige Skorpione<br />

und Spinnen, so wie an jedem an<strong>der</strong>en dunklen Ort. Lungshar beklagte sich bei seinem Sohn über<br />

sie. Ein Einwohner von Lhasa, Tupten Khetsun, erwähnt in seinen Memoiren, wie ein chinesisches<br />

Propaganda Team ein Gefängnis in Lhasa filmte und fotografierte, das sie vorher selbst mit<br />

Skeletten und Skorpionen gefüllt hatten. "Das Shol Nachbarschaftskomitee ließ Kin<strong>der</strong> Skorpione<br />

sammeln, um sie für den Propagandafilm zu verwenden. Aber als sie zu filmen versuchten, blieben<br />

die Skorpione nicht auf den Körpern auf die man sie gesetzt hatte und flüchteten in die<br />

Mauerspalten, so mussten sie mit unsichtbaren Fäden, die an ihre Beine befestigt waren, am Platz<br />

gehalten werden." [26]<br />

Tupten Khetsuns Buch setzt auch in die richtige Perspektive, wie vernachlässigbar unbedeutend in<br />

Bezug auf Größe o<strong>der</strong> Ungerechtigkeit Tibets traditionelles Strafsystem war im Vergleich zu dem<br />

gigantischen Gefängnis- und Laogai System, das China geschaffen hat und in Tibet (und in <strong>der</strong> VR<br />

China) aufrecht erhält. In und um Lhasa allein, hatten wir nach 1959 solche größere Gefängnisse<br />

und Aufbewahrungsorte wie Silingpu, Tering, <strong>Norbu</strong>lingka, Trapchi, Gutsa (ich mag einige<br />

übersehen haben), wo Tausende von Gefangenen eingekerkert waren und wo zumindest in<br />

dreien, Tubten Strafen absitzen musste. Tubten diente auch in den Zwangsarbeitslagern (Laogai)<br />

in Nachen und Powo-Tramo, wo er und zehntausende tibetische Gefangene arbeiteten und viele<br />

Tausende starben. Wir müssen auch in Mado und Kham die riesigen Laogai Lager in Tsaidam,<br />

Ragnakhag in Minya und Yakraphuk nördlich von Dhartsedo erwähnen. Es muss wohl nicht<br />

erwähnt werden, dass wir über ein fortlaufendes System sprechen.<br />

Was unter <strong>der</strong> kommunistischen chinesischen Herrschaft ebenfalls andauert, ist die barbarische<br />

Grausamkeit, Ungerechtigkeit und <strong>der</strong> Terror, den die Tibeter unter <strong>der</strong> kaiserlichen Manchu<br />

Herrschaft ertragen mussten <strong>–</strong> bis wir 1912 unabhängig wurden.<br />

Referenzen:<br />

1. Petech, Luciano. China and Tibet in the Early XVIIIth Century, E.G. Brill, Leiden, 1972, pg 149<br />

2. Brook,Timothy. Bourgon, Jerome. Blue, Gregory. Death By a Thousand Cuts, Harvard<br />

University Press, 2008, pg 251.<br />

3. Zhang Nan, Voice of America, Mar 29, 2009, “Tibetan Writer Questions Beijing’s Version of<br />

Tibetan History”Source: VOA, 29 March,2009.<br />

4. Wang Qi, ed. Sancai tuhui Illustrated compendium of the three powers [heaven, earth,<br />

humanity]. Nanking: wuyun xuan, 1609.<br />

8


5. Conversation with Loten la, Dharamshala, November 1973.<br />

6. Petech, pg196.<br />

7. Teichman, Eric, Travels of a Consular Officer in Eastern Tibet, Cambridge University Press,<br />

London, 1922, pg 228.<br />

8. Shelton, Albert. “Life Among the People of Eastern Tibet”, National Geographic Magazine,<br />

September 1921, pg 325.<br />

9. Shelton, Albert. Pioneering In Tibet, Fleming H.Revell, New York, 1921, pg 93-94.<br />

10. “Full Text: Fifty Years of Democratic Reform in Tibet” http://news.xinhuanet.com/english/2009-<br />

03/02/content_10928003_4.htm<br />

11. Waddell, L.A., Lhasa And Its Mysteries, Methuen & Co., London, 1906,pg 48.<br />

12. Bell, Charles Portrait of a Dalai Lama, Wm. Collins, London, 1946. pg<br />

13. Shakabpa, W.D. Tibet: A Political History, Yale, 1967, pg 248.<br />

14. Bell, Charles. Tibet Past and Present. London: Oxford University Press, 1924. See index:<br />

“Capital punishment abolished in Tibet, 142, 143, 236.”<br />

15. Byron, Robert. First Russia then Tibet. London: Macmillan & Co., 1933. pg 204<br />

16. Kingdon-Ward, Frank. In the Land of The Blue Poppies. New York: Mo<strong>der</strong>n Library, 2003. pg<br />

222.<br />

17. McGovern, William. To Lhasa in Disguise. New York: Century Co., 1924. pp. 388-389. pp. 388-<br />

389<br />

18. Bell. Tibet Past and Present, pg. 236.<br />

19. Winnington, Alan. Tibet: The Record of a Journey. London: Lawrence & Wishart Ltd., 1957.<br />

pg99.<br />

20. Strong, Anna Louise, Tibetan Interviews, New World Press, Peking 1959 between pg 110-111.<br />

Strong, Anna Louise, When Serfs Stood Up in Tibet, New World Press, Peking 1965, between pg<br />

74-75<br />

21.Jin Zhou, ed. Tibet No Longer Mediaeval, Foreign Language Press Beijing, pg 56.<br />

22. Ibid. pg 56<br />

23. Teichman, pg 36-37<br />

24. French, Rebecca. The Golden Yoke: The Legal Cosmology of Buddhist Tibet, Cornell<br />

University, Ithica, 1995, pg 325<br />

25. Lopez Jr., Donald S. The Madman’s Middle Way: Reflections on Reality of the Tibetan Monk<br />

Gendun Chopel, The University of Chicago Press, Chicago, 2006, pg 43<br />

26. Khetsun, Tubten. (translated by Matthew Akester) Memories of Life in Lhasa Un<strong>der</strong> Chinese<br />

Rule, Columbia University Press, New York, 2007, 51-52<br />

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