Dezember 2011 - Ratsgymnasium Minden
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Prosa am Rats<br />
„Das Puzzleteil“<br />
Eine Kurzgeschichte von Imke Horstmannshoff<br />
Sieh mal, dir geht es doch nicht gut, sagte die Tochter in den Raum, der erfüllt<br />
war von schaler Luft und gedämpftem Licht. Das Haus ist zu groß, die Balken<br />
zerfallen, der Garten verwildert, keiner kümmert sich.<br />
Klack, klack, machten die kleinen, gezahnten Kartonstücke auf dem morschen<br />
Holztisch. Die gebrechliche Hand fuhr zur Glasschüssel und durchwühlte zittrig<br />
die verbliebenen Teile. Vielleicht zehn.<br />
Alles geht seinen natürlichen Lauf, erwiderte die Puzzlerin.<br />
Und was ist mit dir, wer kümmert sich um dich, wenn du krank wirst?, fragte<br />
die hochgewachsene Frau neben ihr. Ein Geräusch, das beim Wechseln des<br />
überschlagenen Beins durch den Absatz ihres Schuhs entstanden war, verlor<br />
sich dumpf in den Dielen.<br />
Wenn mein Körper sterben will, werde ich mich ihm nicht verweigern, war die<br />
leise Antwort. Und dann: Klack, klack, klack.<br />
Ein Quietschen, als die Tochter ihre Position im Sessel änderte. Die rostigen<br />
Federn drückten gegen ihren Oberschenkel. Eigentlich sollte es sie erschrecken,<br />
aber sie hatte zu oft daran gedacht. Ich denke, wir sollten über ein Pflegeheim<br />
nachdenken, was meinst du, dort wirst du versorgt, regelmäßige Mahlzeiten,<br />
regelmäßiger Schlaf.<br />
Schweigen. Klack, klack.<br />
Und: Das Haus ist alles, was ich noch habe. Klack.<br />
Diese Pflegeheime sind wunderschön gelegen, alte Herrenhäuser, riesige Gärten<br />
oder Parks, sie achten auf die individuellen Bedürfnisse, du könntest ein Fenster<br />
nach Osten haben, würdest von der Sonne geweckt. Der Blick fiel auf die<br />
schweren Vorhänge, die das Tageslicht draußen hielten, durch sie hindurch. Sie<br />
schloss kurz die Augen und horchte auf das Wühlen in der Glasschüssel. Dann<br />
öffnete sie sie wieder. Henry und ich haben uns vor kurzem so ein Heim<br />
angeschaut, es liegt mitten im Stadtpark, du kennst es vielleicht.<br />
Wieder das Wühlen. Klack.<br />
Sie bieten Aktivitäten an, malen, nähen, Sport, die Leute sind sehr nett.<br />
Wühlen. Klack, klack.<br />
Es wäre nicht allzu teuer und einige Zimmer sind zur Zeit frei, schöne Zimmer,<br />
ich habe gleich gedacht, das passt zu dir. Wieder wechselte die Tochter das<br />
Bein. Was hatte dieser Stuhl nur gegen sie.<br />
Klack. Die Hand fuhr zur Schüssel, wühlte, fand – nichts. Zum ersten Mal<br />
schaute die Frau vor ihr auf und hoffnungsvoll versuchte die Tochter zu lächeln.<br />
Ein Teil fehlt, stellte die Stimme heiser fest.<br />
Die Tochter ließ die Schultern sinken. Du wirst es irgendwo verloren haben,<br />
siehst du, das meine ich, dieses Leben hier, so allein, es macht dich vergesslich