November 2011 - Deutsch-Polnische Gesellschaft der BRD eV
November 2011 - Deutsch-Polnische Gesellschaft der BRD eV
November 2011 - Deutsch-Polnische Gesellschaft der BRD eV
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Nr. 4/<strong>2011</strong> (98) - K 6045 - 3 EURO<br />
ZEITSCHRIFT FÜR DEUTSCH-POLNISCHE VERSTÄNDIGUNG<br />
Volldampf sieht an<strong>der</strong>s aus S. 3<br />
Prekarier aller Län<strong>der</strong> ... S. 5<br />
POLEN und wir 4/<strong>2011</strong><br />
1
EDITORIAL POLITIK<br />
Liebe Leserinnen<br />
und Leser,<br />
Polen hat gewählt. Und erstmals in <strong>der</strong><br />
Nachwende-Geschichte wurde eine Regierung<br />
bestätigt. Donald Tusk bleibt Ministerpräsident.<br />
Aber es gibt eine neue Partei. Der<br />
aus <strong>der</strong> PO ausgetretene „reichste Sejm-Abgeordnete“<br />
und Unternehmer Janusz Marian<br />
Palikot hat für seine Parteineugründung<br />
über 10 Prozent erreicht. Unser Warschauer<br />
Redaktionsmitglied Holger Politt hat für uns<br />
das Wahlergebnis analysiert.<br />
Einen beson<strong>der</strong>en Schwerpunkt haben<br />
wir <strong>der</strong> Ausstellung „Tür an Tür - Polen–<br />
<strong>Deutsch</strong>land - 1000 Jahre Kunst und Geschichte“<br />
gewidmet, die noch bis zum 9.<br />
Januar im Berliner Martin-Gropius-Bau zu<br />
sehen ist.<br />
In dieser Ausgabe müssen wir auch einiger<br />
Freunde gedenken, die nicht mehr unter<br />
uns weilen. Kurz vor Drucklegung des vergangenen<br />
Heftes kam die Nachricht über<br />
den Tod unseres Beiratsmitglieds Franz<br />
von Hammerstein. Christoph Koch, Vorsitzen<strong>der</strong><br />
unserer <strong>Gesellschaft</strong>, hat nun einen<br />
ausführlichen Nachruf verfasst. Ebenfalls<br />
verlassen hat uns <strong>der</strong> Präsident des Internationalen<br />
Auschwitz Komitees, Noach Flug.<br />
Er überlebte das Ghetto in Łódź und das KZ<br />
Auschwitz, doch in den 50er Jahren verließ<br />
er Polen, vermied aber bis zuletzt, die Ursachen<br />
deutlich zu benennen.<br />
Nach Fertigstellung dieser Ausgabe kam<br />
nun noch die Mitteilung, dass unser Kassenprüfer,<br />
Willi Sauerzapf, Anfang Oktober<br />
verstorben ist. Wir gedenken seiner in Dankbarkeit.<br />
Ihr Karl Forster<br />
Wir suchen dringend:<br />
Webdesigner/in<br />
zur Neueinrichtung <strong>der</strong> Webseite <strong>der</strong><br />
<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong><br />
Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land und <strong>der</strong><br />
Zeitschrift POLEN und wir.<br />
Wir wollen endlich eine Seite mit Terminkalen<strong>der</strong>,<br />
Newsletter, Linkliste und<br />
einem ordentlichen Archiv aller Zeitschriftenbeiträge,<br />
aber auch einem<br />
CMS für kurze redaktionelle Beiträge.<br />
Wordpress o<strong>der</strong> Jomla vorhanden,<br />
aber nicht eingerichtet.<br />
Wer kann uns helfen?<br />
Wenn Sie selbst nicht <strong>der</strong>jenige/diejenige<br />
sind, vielleicht kennen Sie jemanden,<br />
<strong>der</strong> einem gemeinnützigen<br />
Verein - deshalb lei<strong>der</strong> ohne Bezahlung<br />
- helfen kann.<br />
Kontakt über die Redaktion:<br />
Karl Forster, Tel. 030/89370650 o<strong>der</strong><br />
Mail: redaktion.puw@polen-news.de<br />
Unser Titel<br />
Unser Titelbild zeigt eine Installation aus Leinwand,<br />
Holz, Hafer und Neonröhren, 1987 von<br />
Mirosław Bałka geschaffen (300x300cm) mit<br />
dem Titel „Sw. Wojciech“ (Hl. Adalbert). Die Installation<br />
ist in <strong>der</strong> Ausstellung „Tür an Tür“ (siehe<br />
Bericht auf Seite 13) zu sehen.<br />
Der hl. Wojciech (hl. Adalbert von Prag), ein<br />
tschechischer Geistlicher, starb als Märtyrer<br />
während einer Bekehrungsmission von Heiden<br />
in den nordöstlichen Grenzgebieten Polens. Seine<br />
Mission und sein Tod waren von Bedeutung<br />
für die Bildung des polnischen Staates und die<br />
Beziehungen zwischen den polnischen und deutschen<br />
Herrschern – Bolesław I. <strong>der</strong> Tapfere und<br />
Otto III.<br />
Foto: Piotr Tomczyk<br />
© Muzeum Sztuki w Łodzi, Lodz<br />
Wichtige Adressen:<br />
Geschäftsführung <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> <strong>BRD</strong> e.V.:<br />
Manfred Feustel, Im Freihof 3, 46569 Hünxe, T: 02858/ 7137, Fax: 02858/ 7945<br />
Unsere <strong>Gesellschaft</strong> im Internet:<br />
www.polen-news.de - e-Mail: dpg-brd@polen-news.de<br />
Redaktion POLEN und wir: Karl Forster,<br />
neue Anschrift: Neue Grottkauer Str. 38, 12619 Berlin<br />
Telefon: 030/89370650 (Anrufbeantworter), e-Mail: redaktion.puw@polen-news.de<br />
<strong>Gesellschaft</strong> für gute Nachbarschaft zu Polen:<br />
c/o Klaus-Ulrich Göttner, Moldaustr. 21, 10319 Berlin,<br />
Fax: 01212-5-305-70-560, e-mail: vorstand@guteNachbarn.de<br />
<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong> <strong>Gesellschaft</strong> Bielefeld e.V.:<br />
Theodor-Hürth-Str. 1, 33604 Bielefeld, Tel.: 0521-2705205,<br />
E-Mail: info@dpg-bielefeld.de, www.dpg-bielefeld.de<br />
DEUTSCH-POLNISCHE GESELLSCHAFT DER<br />
BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND E.V.<br />
1. Vorsitzen<strong>der</strong>: Prof. Dr. Christoph Koch,<br />
Sprachwissenschaftler, Berlin<br />
Stellv. Vorsitzen<strong>der</strong>: Dr. Friedrich Leidinger,<br />
Psychiater, Hürth<br />
Vorstand: Henryk Dechnik, Lehrer, Düsseldorf<br />
- Manfred Feustel, Steuerberater, Hünxe - Karl<br />
Forster, Journalist, Berlin - Dr. Klaus-Ulrich<br />
Goettner, Berlin - Dr. Egon Knapp, Arzt, Schwetzingen<br />
- Dr. Holger Politt, <strong>Gesellschaft</strong>swissenschaftler,<br />
Warschau - Wulf Schade, Slawist,<br />
Bochum<br />
Beirat: Armin Clauss - Horst Eisel - Prof. Dr. sc.<br />
Heinrich Fink - Prof. Dr. Gerhard Fischer - Dr.<br />
Franz von Hammerstein † - Christoph Heubner<br />
- Witold Kaminski - Dr. Piotr Łysakowski - Hans-<br />
Richard Nevermann - Eckart Spoo.<br />
Anschrift: <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong> <strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong><br />
Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land e.V., c/o Manfred<br />
Feustel, Im Freihof 3, 46569 Hünxe Tel.:<br />
02858/7137, Fax: 02858/7945<br />
IMPRESSUM:<br />
Zeitschrift für deutsch-polnische Verständigung<br />
ISSN 0930-4584 - K 6045<br />
Heft 4/<strong>2011</strong>, 28. Jahrgang (Nr. 98)<br />
Verlag u. Herausgeber: <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong><br />
<strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land<br />
e.V. in Zusammenarbeit mit <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong><br />
<strong>Gesellschaft</strong> Bielefeld e.V.<br />
Redaktion: Karl Forster (verantwortl.), Wulf<br />
Schade, Dr. Friedrich Leidinger, Dr. Holger Politt,<br />
Redaktionsbüro: POLEN und wir<br />
Karl Forster, Neue Grottkauer Str. 38,<br />
12619 Berlin, Tel.: 030 89370650<br />
e-mail: redaktion.puw@polen-news.de<br />
Layout: Kontaktpress Karl Forster<br />
Druck: Saxoprint Dresden<br />
Aboverwaltung: Manfred Feustel, Im Freihof 3,<br />
46569 Hünxe, Fax: 02858/7945<br />
Bezugspreis: Einzelheft 3,00 €, Jahres-Abonnement<br />
12 €. Inkl. Versand, Ausland: 10,00 €<br />
zuzgl. Versandkosten, Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<br />
<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
<strong>Deutsch</strong>land e.V. und <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n<br />
<strong>Gesellschaft</strong> Bielefeld e.V. erhalten POLEN und<br />
wir im Rahmen ihrer Mitgliedschaft.<br />
Kontoverbindung: Konto 342 56-430<br />
Postbank Essen, BLZ 360 100 43<br />
Namentlich gekennzeichnete Beiträge stimmen<br />
nicht immer mit <strong>der</strong> Meinung <strong>der</strong> Redaktion<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Herausgeberin überein. Für unverlangt<br />
eingesandte Manuskripte o<strong>der</strong> Fotos wird keine<br />
Haftung übernommen.<br />
Erscheinungstermin: 1. <strong>November</strong> <strong>2011</strong><br />
Erscheinungstag <strong>der</strong> nächsten Ausgabe:<br />
Montag, 1. Januar 2012<br />
Redaktionsschluss:15. <strong>November</strong> <strong>2011</strong><br />
Nach den Parlamentswahlen<br />
Volldampf sieht an<strong>der</strong>s aus<br />
Polens neue Regierung vor schwierigen Zeiten<br />
Von Holger Politt<br />
Im Januar 2010 erklärte Ministerpräsident Donald Tusk, er verzichte auf einen<br />
Start bei den Präsidentschaftswahlen, wolle sich auf sein Amt konzentrieren und<br />
ab Herbst <strong>2011</strong> erneut einer Regierung vorstehen. Das war vor Smolensk und unter<br />
dem Eindruck langanhalten<strong>der</strong> stabiler und günstiger Umfragewerte für die<br />
Regierungspartei PO. Jetzt ist er am Ziel seiner Wünsche, denn er ist überhaupt<br />
<strong>der</strong> erste Ministerpräsident im Nachwende-Polen, <strong>der</strong> nach Parlamentswahlen seine<br />
Aufgabe fortsetzen darf.<br />
Viele Beobachter meinen allerdings, dieser<br />
Sieg hänge vor allem mit den Konkurrenten<br />
zusammen, die nicht in <strong>der</strong> Lage gewesen<br />
seien, die Tusk-Regierung bei unverkennbaren<br />
Schwächen zu packen. Dieser Vorwurf<br />
zielt in erster Linie auf die Nationalkonservativen<br />
(PiS) und auf die Linksdemokraten<br />
(SLD), die im alten Sejm entscheidend die<br />
Oppositionsrolle spielten. Fangen wir deshalb<br />
mit diesen beiden Gruppierungen an.<br />
Die Nationalkonservativen hatten frühzeitig<br />
entschieden, wie<strong>der</strong>um Jarosław<br />
Kaczyński als Spitzenmann ins Rennen zu<br />
schicken. Wie bereits bei den vorgezogenen<br />
Präsidentschaftswahlen im Juni 2010<br />
kann <strong>der</strong> PiS-Vorsitzende auch dieses Mal<br />
für sich geltend machen, insgesamt die<br />
bessere, weil angriffslustigere Kampagne<br />
geführt zu haben. Das wird ihm eigentlich<br />
von allen Seiten bescheinigt.<br />
K.O. statt Kopf an Kopf<br />
Infolge <strong>der</strong> offensiven Kampagne sprachen<br />
Medien kurz vor dem Wahlgang gar von einem<br />
Kopf-an-Kopf-Rennen. Doch am Wahlabend<br />
erfolgte die Ernüchterung, denn die<br />
Konkurrenten <strong>der</strong> PO erhielten wie 2007<br />
wie<strong>der</strong>um fast 10 Prozent mehr Stimmen,<br />
weshalb an<strong>der</strong>ntags häufig <strong>der</strong> Boxsport<br />
zur Hilfe genommen wurde – des K.O.-<br />
Schlags wegen.<br />
Doch den gab es gar nicht, denn PiS hat<br />
verlässlich wie<strong>der</strong> das erstritten, was an<br />
politischem Rückhalt seit nunmehr sieben<br />
Jahren auf <strong>der</strong> Habenseite steht. Dass<br />
Jarosław Kaczyński mit mehr gerechnet<br />
hat, steht auf einem an<strong>der</strong>en Blatt. Denn<br />
tatsächlich ist es <strong>der</strong> Partei in den zurückliegenden<br />
vier Jahren nur schwerlich<br />
gelungen, an neue Wählerschichten heranzukommen.<br />
Zwar gab es maßvolle Fortschritte<br />
bei den Jungwählern, doch insge-<br />
samt – so scheint es – sind die Fronten<br />
zwischen PiS und <strong>der</strong> PO festgefahren.<br />
Von großen Wechselbewegungen zugunsten<br />
<strong>der</strong> Nationalkonservativen kann hier<br />
seit langem nicht die Rede sein. Dennoch<br />
meinte Kaczyński am Wahlabend, auch in<br />
Warschau werde spätestens in vier Jahren<br />
Budapest sein. Politisch nämlich – mit einer<br />
absoluten Mehrheit <strong>der</strong> Nationalkonservativen.<br />
Indem er so sprach, machte er<br />
zugleich seinen Führungsanspruch für die<br />
nächsten vier Jahre geltend.<br />
Den konnte SLD-Chef Grzegorz Napieralski<br />
nach den Wahlen nun in keinem Falle<br />
aufrechterhalten. Die Gruppierung fuhr<br />
überhaupt das schlechteste Ergebnis seit<br />
Bestehen ein. Viele sprachen von einer<br />
Katastrophe, manche – wie Ex-Präsident<br />
Aleksan<strong>der</strong> Kwaśniewski – gar von <strong>der</strong><br />
Gefahr eines völligen Untergangs für die<br />
Partei.<br />
Existenzkrise<br />
Das einst so stolze sozialdemokratische<br />
Flaggschiff <strong>der</strong> polnischen Politik ist jedenfalls<br />
in eine schwere Existenzkrise geraten.<br />
Sie wird im Sejm nun eine Randexistenz zu<br />
erdulden haben, denn eine tonangebende<br />
Rolle steht ihr im parlamentarischen Spiel<br />
nicht mehr zu. Napieralski und dessen<br />
Mannschaft haben an<strong>der</strong>s gerechnet; Ein<br />
möglichst hohes zweistelliges Ergebnis<br />
und somit Mehrheitsbeschaffer für die PO.<br />
Eine Rückkehr auf die Regierungssitze sollte<br />
es werden nach den vielen Jahren eher<br />
magerer Opposition.<br />
Hinzu kommt eine zweite Seite, die kurz angesprochen<br />
gehört. Offensichtlich hat die<br />
Partei Schwierigkeiten, sich in einer neuen<br />
Wirklichkeit zurechtzufinden, in <strong>der</strong> die Bezugspunkte<br />
zur Periode <strong>der</strong> Volksrepublik<br />
immer schwächer werden und kaum noch<br />
auf Wahlentscheidungen durchdringen.<br />
Das Stimmenpotential von Menschen, die<br />
sich biographisch bewusst mit dieser Ver-<br />
2 POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> 3<br />
Stimmenanteil<br />
<strong>2011</strong> in %<br />
S t i m m e n<br />
<strong>2011</strong><br />
Stimmenanteil<br />
2007<br />
in %<br />
Wahlsieger Donald Tusk, hier bei seinem Besuch<br />
im <strong>Deutsch</strong>en Bundestag.<br />
Foto: Bundestag/Lichtblick/Achim Melde<br />
Stimmen 2007 Sitze <strong>2011</strong> Sitze 2007<br />
PO 39,18 5.629.773 41,51 6.701.010 207 209<br />
PiS 29,89 4.295.016 32,11 5.183.477 157 166<br />
Palikot 10,02 1.439.490 -- -- 40 --<br />
PSL 8,36 1.201.628 8,91 1.437.638 28 31<br />
SLD 8,24 1.184.303 13,51 (LiD) 2.122.981(LiD) 27 53 (LiD)<br />
PO = Platforma Obywatelska (Bürgerplattform, konservativ-liberal); PiS = Prawo i Sprawiedliwość<br />
(Recht und Gerechtigkeit, national-konservativ); Palikot = Ruch Palikota (Palikot-Bewegung, linksliberal);<br />
PSL = Polskie Stronnictwo Ludowe (<strong>Polnische</strong> Bauernparei, gemäßigt konservativ); SLD = Sojusz<br />
Lewicy Demokratycznej (Bund <strong>der</strong> demokratischen Linken, War im letzten Sejm über das Wahlbündnis<br />
Linke und Demokraten LiD vertreten). (Anm. d. Red.)
POLITIK POLITIK<br />
gangenheit auseinan<strong>der</strong>setzen und gerade<br />
deshalb immer die Linksdemokraten gewählt<br />
hatten, ist allmählich aufgebraucht.<br />
Ein kleines Indiz dafür mag am Wahlabend<br />
die Anwesenheit Jerzy Urbans bei <strong>der</strong> politischen<br />
Konkurrenz gewesen sein, denn<br />
<strong>der</strong> legendäre Zeitungsmacher machte Janusz<br />
Palikot seine Aufwartung. Zu Beginn<br />
<strong>der</strong> 1990er Jahre steckte er allen an<strong>der</strong>en<br />
noch mutig die Zunge von den Wahlpartys<br />
<strong>der</strong> SLD heraus.<br />
Palikot<br />
Palikot ist überhaupt die große Überraschung<br />
<strong>der</strong> Wahl. Noch zu Beginn des Sommers<br />
hätte kein Beobachter auch nur einen<br />
Blumentopf auf ihn gesetzt. Der einstige<br />
PO-Abgeordnete, <strong>der</strong> im Dezember 2010<br />
Partei und Sejm verließ, schien den politische<br />
Mund zu voll genommen zu haben.<br />
Doch bei den Wahlen ist es nur <strong>der</strong> von<br />
ihm angeführten Liste gelungen, <strong>der</strong> schier<br />
übermächtigen PO Stimmen abspenstig<br />
zu machen. 650.000 Wähler, die vor vier<br />
Jahren ihr Kreuz noch bei <strong>der</strong> siegreichen<br />
Tusk-Partei machten, gaben ihm und seinen<br />
Leuten die Stimme. Die halbe Miete<br />
des glänzenden Erfolgs.<br />
In ersten Stellungnahmen bezeichnet er<br />
die Partei als eine linksliberale Kraft, die<br />
für die Einhaltung <strong>der</strong> Verfassung insbeson<strong>der</strong>e<br />
im Verhältnis Staat-Kirche eintrete,<br />
die das öffentliche Leben insgesamt<br />
liberalisieren wolle. Seine Abgeordneten<br />
sind eine kunterbunt zusammengesetzte<br />
Truppe, <strong>der</strong>en auffallend gemeinsames<br />
Merkmals allerdings ist, dass, den Chef<br />
ausgeklammert, niemand parlamentarische<br />
Erfahrung besitzt.<br />
Verteidigung <strong>der</strong> Mehrheit<br />
Bleiben noch die alten und neuen Regierungskoalitionäre<br />
– die große PO und die<br />
kleinere Bauernpartei PSL. Das Hauptziel,<br />
die Verteidigung <strong>der</strong> Regierungsmehrheit,<br />
wurde erreicht. Zwar verlieren sie zusammengerechnet<br />
fünf Sitze, doch die Mehrheit<br />
gilt weiter als komfortabel. Und <strong>der</strong><br />
kleine Koalitionspartner ist für den großen<br />
auch strategisch von Bedeutung. Wer auf<br />
dem Lande PSL wählt, zeigt Kaczyńskis PiS<br />
– die dort viel stärker als die PO ist – eben<br />
die kalte Schulter.<br />
Und die PO hat dennoch verloren – an<br />
Stimmenzahl nämlich und über eine Million,<br />
davon deutlich mehr als die Hälfte an<br />
die Palikot-Liste. Doch sie verbleibt, was<br />
Stimmenanteil, Abstand zur Konkurrenz<br />
„Kommt mit uns, wir siegen“,warb PiS auf ihren Plakaten. Polens Kämpfer für konservative Werte,<br />
Jarosław Kaczyński, umwarb im Wahlkampf beson<strong>der</strong>s die Jugend. So traute er sich sogar in die Unterwelt<br />
<strong>der</strong> Warschauer Clubszene. Hier stellte er sich unter Disco-Scheinwerfern den Fragen junger<br />
Männer und Frauen. Im Club Hybrydy, so vermeldet die renommierte Wochenzeitung DIE ZEIT, „beginnt<br />
<strong>der</strong> 62-Jährige unvermittelt einen kurzen Flirt mit einer jungen Dame, die seine Tochter o<strong>der</strong> Enkeltochter<br />
sein könnte. Den Augenaufschlag <strong>der</strong> 23-jährigen Sylwia Ługowska beantwortet Kaczyński<br />
mit einem Handkuss und einem schelmischen Lächeln“. Ługowska und ihre Mitstreiterinnen stammen<br />
aus dem Nachwuchs <strong>der</strong> Kaczyński-Partei und wurden in den Medien schnell „Engel“ getauft. kfo<br />
und Anzahl <strong>der</strong> Sitze anbelangt, auf dem<br />
sehr hohen Niveau von 2007. Zwar konnten<br />
1997 die SLD und 2007 PiS als Regierungsparteien<br />
Stimmen dazu gewinnen und<br />
den Stimmenanteil erhöhen, doch wurden<br />
sie beide vom jeweiligen Wahlsieger überflügelt<br />
und mussten die Regierungsmacht<br />
abgeben. Tusk hat es geschafft, die nationalkonservative<br />
Konkurrenz im Schach zu<br />
halten, kann auch die zahlenmäßig herben<br />
Verluste an Palikot gut verschmerzen, da<br />
die an<strong>der</strong>en wegen <strong>der</strong> geringeren Wahlbeteiligung,<br />
heuer 48,9 Prozent gegenüber<br />
53,9 Prozent vor vier Jahren, viele Stimmen<br />
an das gewaltige Lager <strong>der</strong> Nichtwähler<br />
verloren. Für seine zweite Amtszeit kündigte<br />
er an, dass nun in Ruhe diejenigen<br />
Dinge, die durch seine Regierung erfolgreich<br />
angeschoben worden seien, zu Ende<br />
gebracht werden könnten. In seiner Kampagne<br />
war viel vom „Bauen“ zu hören. Jetzt<br />
verwies er darauf, nun ganze drei Jahre von<br />
weiteren Wahlschlachten mit Kaczyński<br />
verschont zu bleiben. Ein dezenter Hinweis<br />
darauf, wie schwer ihm <strong>der</strong> diesjährige<br />
Wahlkampf gefallen ist. Und er warnte vor<br />
übertriebenen Hoffnungen, denn das Land<br />
müsse vor allem sehen, wie es die Klippen<br />
<strong>der</strong> weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise<br />
neuerlich umschiffe. <br />
Der Zug <strong>der</strong> 1000 nach Birkenau<br />
Schon zweimal fanden von Belgien ausgehend erfolgreiche Internationale Jugendtreffen<br />
in KZ-Gedenkstätten statt. 1995 fuhren 1000 belgische Jugendliche in Zusammenarbeit<br />
<strong>der</strong> Stadt Namur und <strong>der</strong> Auschwitz-Stiftung nach Polen und 2008 kamen<br />
auf Einladung des Instituts des Vétérans und <strong>der</strong> FIR in <strong>der</strong> Gedenkstätte Buchenwald<br />
über 1000 europäische Jugendliche aus 22 Nationen zusammen.<br />
Nun planen die Auschwitz-Stiftung, die FIR (Internationale För<strong>der</strong>ation <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>standskämpfer)<br />
und das Institut des Vétérans für Mai 2012 einen gemeinsamen „Zug<br />
<strong>der</strong> 1000“ von Brüssel nach Auschwitz mit Zusteigemöglichkeit in an<strong>der</strong>en europäischen<br />
Län<strong>der</strong>n. In dem Zug werden auch Überlebende <strong>der</strong> Lager und an<strong>der</strong>e Veteranen<br />
des antifaschistischen Kampfes mitfahren, um im direkten Kontakt mit den<br />
Jugendlichen Auskunft geben zu können.<br />
Am Sonntag, den 5. Mai 2012 werden gut 700 belgische Jugendliche und knapp 200<br />
Jugendliche aus an<strong>der</strong>en europäischen Län<strong>der</strong>n von Brüssel mit dem Zug nach Polen<br />
starten. Zudem werden gut 100 Jugendliche erwartet, die aus an<strong>der</strong>en Regionen direkt<br />
nach Polen zu diesem Treffen anreisen. In Polen wird es ein intensives Programm<br />
mit Führungen durch die Gedenkstätte, Gespräche mit Zeitzeugen, Gedenkveranstaltungen,<br />
Begegnungen zwischen den Jugendlichen und Eindrücke vom heutigen Polen<br />
geben.<br />
Wäsche trocknen im Hinterhof. Aufgenommen in Darlewo an <strong>der</strong> Ostseeküste. Foto: CFalk/pixelio<br />
Polityka auf <strong>Deutsch</strong>:<br />
Prekarier aller Län<strong>der</strong> ...<br />
Von Wawrzyniec Smoczynski<br />
Serielle Praktikanten, Zeitarbeitnehmer, junge Arbeitslose. In Europa wächst<br />
eine neue soziale Klasse ohne Perspektiven auf Wohlstand und Aufstieg. Auch in<br />
Polen gibt es sie, und sie hat schon einen eigenen Namen: Prekariat.<br />
In Polen ist die erste satte Generation herangewachsen.<br />
Wie aus dem Regierungsbericht<br />
„Młodzi <strong>2011</strong>“ [Jugend <strong>2011</strong>] hervorgeht,<br />
werden die Polen zwischen dem<br />
15. und 34. Lebensjahr ihren Altersgenossen<br />
in Westeuropa immer ähnlicher: Sie<br />
sind offene Hedonisten und leidenschaftliche<br />
Konsumenten von Gütern, sie haben<br />
ein lockeres Verhältnis zur Institution<br />
<strong>der</strong> Ehe, leben ihren Individualismus aus,<br />
möchten aber auch nützlich für die Allgemeinheit<br />
sein. Beziehungen zu Menschen<br />
sind ihnen ebenso wichtig wie ein hoher<br />
Lebensstandard. Sie haben große Ambitionen:<br />
Sie möchten viel Geld, eine gute<br />
Ausbildung und ein hohes Sozialprestige<br />
haben, aber auch eine interessante Arbeit,<br />
wertvolle Freundschaften, ein buntes Leben<br />
und nach einiger Zeit auch eine wohlgeratene<br />
Familie. Schon jetzt schöpfen sie<br />
das Leben aus dem Vollen, erwarten von<br />
ihm aber noch erheblich mehr.<br />
Arbeit halten sie für einen Stützpfeiler des<br />
künftigen Wohlstands und Glücks, doch<br />
es fällt ihnen zunehmend schwer, eine<br />
Beschäftigung und finden und eine gute<br />
Stelle zu bekommen. Junge Polen zwischen<br />
dem 18. und 34. Lebensjahr stellen die<br />
Hälfte <strong>der</strong> registrierten Arbeitslosen, und<br />
die Jugendarbeitslosigkeit ist doppelt so<br />
hoch wie <strong>der</strong> Durchschnitt. Die Hälfte <strong>der</strong><br />
Beschäftigten unter ihnen arbeitet nicht im<br />
erlernten Beruf, und ein Hochschulstudium<br />
ist kein Garant mehr für eine gute soziale<br />
Stellung. 62 Prozent <strong>der</strong> Jugendlichen<br />
jobbt mit Zeitverträgen, Berufsanfänger<br />
steigen in den Arbeitsmarkt mit unbezahlten<br />
Praktika ein, die häufig Festanstellungen<br />
ähneln. Wie die Autorin des Berichts,<br />
Prof. Krystyna Szafraniec, schreibt, „sind<br />
die jungen Leute in <strong>der</strong> Falle temporärer<br />
Beschäftigungsformen gefangen“.<br />
Was dadurch droht, zeigt das Beispiel<br />
Westeuropas. Während junge Polen immer<br />
noch die Hoffnung auf Wohlstand und Aufstieg<br />
haben, geben ihre Altersgenossen in<br />
Frankreich, Spanien und Griechenland sie<br />
allmählich auf. Über den entwickelten Län-<br />
<strong>der</strong>n schwebt die Gefahr einer verlorenen<br />
Generation, <strong>der</strong> ersten seit dem Zweiten<br />
Weltkrieg, <strong>der</strong> er schlechter ergehen könnte<br />
als <strong>der</strong> vorangegangenen. Ein Vorbote<br />
<strong>der</strong> sozialen Krise sind die Unruhen mit<br />
Beteiligung von Jugendlichen, die seit einigen<br />
Jahren ausbrechen: brennende Pariser<br />
Vorstädte, Straßenschlachten im Zentrum<br />
von Athen, Massendemonstrationen in<br />
Madrid und jüngst die Ausschreitungen in<br />
London. Warschau drohen solche Szenen<br />
noch nicht, aber Polen biegt in dieselbe<br />
Sackgasse ein.<br />
Unsicher über die Zukunft<br />
Die Jungen sind die größten Opfer <strong>der</strong><br />
Wirtschaftskrise. Arbeitslos sind heute<br />
20,4 Prozent <strong>der</strong> Europäer zwischen 15 und<br />
24 Jahren, die gerne eine Anstellung finden<br />
möchten, ein Drittel mehr als 2008. Über<br />
fünf Millionen junge Leute finden gar nicht<br />
erst einen Einstieg in den Arbeitsmarkt,<br />
und die Arbeitslosigkeit in dieser Gruppe<br />
hält sich auf einem Rekordniveau, trotz <strong>der</strong><br />
schon zwei Jahre andauernden wirtschaftlichen<br />
Belebung. Der EU-Durchschnitt ist<br />
ohnehin zu optimistisch, verstellt er doch<br />
den Blick auf die extremen Indikatoren einzelner<br />
Län<strong>der</strong>: In Spanien sind 42 Prozent<br />
<strong>der</strong> Jugendlichen arbeitslos, in den baltischen<br />
Län<strong>der</strong>n, Griechenland und <strong>der</strong> Slowakei<br />
über 30 Prozent, in Polen, Ungarn,<br />
Italien und Schweden über 20.<br />
Wenn Jugendliche eine Arbeit finden, ist<br />
4 POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> 5
POLITIK POLITIK<br />
sie immer öfter temporär. Hierbei stehen<br />
Slowenien und Polen an <strong>der</strong> Spitze, wo über<br />
60 Prozent <strong>der</strong> beschäftigten unter 25-Jährigen<br />
mit Zeitverträgen arbeiten. Nicht viel<br />
besser ist es in Frankreich, <strong>Deutsch</strong>land,<br />
Schweden, Spanien und Portugal, wo dieser<br />
Prozentsatz über 50 liegt. Zeitarbeit ist<br />
zu Beginn einer beruflichen Karriere verständlich,<br />
aber diese Beschäftigungsform<br />
wird zur Norm für Jugendliche, unabhängig<br />
von <strong>der</strong> Beschäftigungsdauer. Nach Ablauf<br />
eines Vertrags bietet <strong>der</strong> Arbeitgeber den<br />
nächsten an und zwingt geradezu dazu, im<br />
Austausch gegen nebelhafte Versprechungen<br />
einer Festanstellung ein niedriges Gehalt<br />
zu akzeptieren. So verlängern sich die<br />
Probezeiten und Praktika, die eine Form<br />
unentgeltlicher Arbeit sind.<br />
Die Absenkung <strong>der</strong> Gehälter von Jugendlichen<br />
ist weit verbreitet in Spanien,<br />
Frankreich und Portugal. Die in Spanien<br />
arbeitenden 16-19-Jährigen erhalten 45,5<br />
Prozent des Gehalts von Erwachsenen,<br />
die 20-24-Jährigen 60,7 Prozent. Das Ergebnis<br />
<strong>der</strong> Niedriglöhne ist <strong>der</strong> steigende<br />
Prozentsatz <strong>der</strong> arbeitenden Armen, die<br />
trotz Beschäftigung nicht imstande sind,<br />
den eigenen Unterhalt zu bestreiten. Am<br />
höchsten ist er in Rumänien (17,9 %) und<br />
Griechenland (13,8 %), gefolgt von Spanien<br />
(11,4 %), Lettland (11,1 %) und Polen (11<br />
%). Überall wächst <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> zeitweise<br />
o<strong>der</strong> nicht Vollzeit-Beschäftigten. 27,6<br />
Prozent <strong>der</strong> jungen Europäer arbeiten nicht<br />
Vollzeit, weil sie keine ganze Stelle finden<br />
konnten.<br />
Diese heterogene Gruppe von Menschen<br />
verbindet die Unsicherheit darüber, was<br />
die Zukunft bringen wird, wodurch jedwede<br />
Planung unmöglich gemacht wird, und<br />
eine so miserable Entlohnung, dass sie<br />
sich ein menschenwürdiges Leben nicht<br />
leisten können. Precarius bedeutet auf<br />
Latein, „auf Bitten o<strong>der</strong> Gnade angewiesen“<br />
zu sein, und ein Prekarier ist in <strong>der</strong><br />
heutigen Soziologie ein Mensch in <strong>der</strong><br />
Schwebe zwischen Wohlstand und Armut,<br />
<strong>der</strong> keine materielle Absicherung hat und<br />
ständig von sozialem Abstieg bedroht ist.<br />
„Vor unseren Augen entsteht eine neue<br />
globale soziale Klasse“, sagt Guy Standing,<br />
Professor für wirtschaftliche Sicherheit an<br />
<strong>der</strong> Universität Bath und Autor des Buches<br />
„The Precariat“.<br />
Vor fünf Jahren gab die deutsche Linke<br />
[i.e. die Friedrich-Ebert-Stiftung, Anm.<br />
d. Red.] eine demographische Untersuchung<br />
in Auftrag, die dabei helfen sollte,<br />
ihre Wählerschaft zu erfassen. „Die alten<br />
Unterteilungen in Klassen und Schichten<br />
beschreiben die Wirklichkeit nicht mehr<br />
präzise, also begannen wir, die Befragten<br />
nach den Werten, zu denen sie sich bekennen,<br />
und ihren Lebenseinstellungen zu<br />
gruppieren,“ sagt Rita Müller-Hilmer von<br />
TNS Infratest in Berlin. Resultat <strong>der</strong> Studie<br />
war ein Bericht, dessen Ergebnisse auf die<br />
Titelseiten <strong>der</strong> Zeitungen gelangten: Die<br />
Forscher entdeckten eine breite Gruppe,<br />
die schon Arbeitslosigkeit erlebt hat, sich<br />
marginalisiert fühlt und Angst davor hat,<br />
weiter abzurutschen. Sie bezeichneten sie<br />
als abgehängtes Prekariat und schätzten<br />
sie auf 8 Prozent <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong>. Und das<br />
alles im reichsten Land Europas.<br />
In <strong>Deutsch</strong>land war gerade eine Debatte<br />
über die „neue Unterschicht“ im Gange,<br />
wie damals Personen genannt wurden, die<br />
Sozialleistungen ausnutzten und einen untätigen<br />
Lebensstil führten. Der Bericht bestätigte<br />
einerseits die Existenz einer neuen<br />
Gruppe, was die Linke lieber bestritt, an<strong>der</strong>erseits<br />
zeigte sie, dass diese für eine<br />
Unterschicht im Sinne eines Lumpenproletariats,<br />
auf das die Rechte sie reduzieren<br />
wollte, zu groß ist. Die Wissenschaftler<br />
wiesen nach, was Durchschnittsbürger<br />
schon selbst bemerkt hatten, nämlich dass<br />
Armut nicht mehr ausschließlich die untere<br />
Klasse betrifft und dass Arbeitslosigkeit<br />
die Mittelklasse unterhöhlt. 63 Prozent <strong>der</strong><br />
<strong>Deutsch</strong>en haben Angst vor permanenten<br />
Verän<strong>der</strong>ungen, und 61 Prozent sind <strong>der</strong><br />
Meinung, dass es keine soziale Mitte mehr<br />
gibt, son<strong>der</strong>n nur noch unten und oben übrig<br />
geblieben sind.<br />
Diese Diagnose wird von ökonomischen<br />
Untersuchungen zum Teil bestätigt. 2008<br />
gab das <strong>Deutsch</strong>e Institut für Wirtschaftsforschung<br />
erstmals bekannt, dass die<br />
Mittelschicht schrumpft: Innerhalb eines<br />
Jahrzehnts sei sie um 8 Prozent zusammengeschmolzen,<br />
wovon fast 7 Prozent<br />
in die Unterschicht abstiegen, während<br />
nicht ganz 2 Prozent in die Oberschicht<br />
aufstiegen. Die Mittelschicht macht noch<br />
immer mehr als die Hälfte <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
aus, aber schon mehr als 25 Prozent <strong>der</strong><br />
Bürger befinden sich in <strong>der</strong> armutsgefährdeten<br />
Gruppe. „Früher stieg man in <strong>der</strong><br />
deutschen <strong>Gesellschaft</strong> immer nur auf.<br />
Selbst wenn es <strong>der</strong> aktuellen Generation<br />
schlechter ging, sollten es die Kin<strong>der</strong> besser<br />
haben“, sagt Müller-Hilmer. „Heute ist<br />
dieses Versprechen nicht mehr bindend,<br />
zumindest nicht in <strong>der</strong> Unterschicht.“<br />
Das Beispiel <strong>der</strong> Bundesrepublik ist symptomatisch<br />
für ganz Europa. Ludwig Erhard<br />
hatte den <strong>Deutsch</strong>en in den fünfziger Jahren<br />
„Wohlstand für alle“ und Vollbeschäf-<br />
tigung im Rahmen <strong>der</strong> sozialen Marktwirtschaft<br />
versprochen, die ökonomische<br />
Freiheit mit sozialer Gerechtigkeit miteinan<strong>der</strong><br />
verband. Und er hielt Wort: Mit<br />
dem Schmierstoff des Marshallplansund<br />
angetrieben vom Wie<strong>der</strong>aufbau nach dem<br />
Krieg erlebte <strong>Deutsch</strong>land ein Wirtschaftswun<strong>der</strong>.<br />
Auf das deutsche Wirtschaftswun<strong>der</strong><br />
folgten die französischen Les Trente<br />
Glorieuses, die glorreichen drei Jahrzehnte<br />
des Aufschwungs nach dem Krieg. In ganz<br />
Westeuropa erlebten die Volkswirtschaften<br />
eine zweite Industrialisierung, die ihnen 30<br />
Jahre ununterbrochenen Wachstums sicherten.<br />
Das größte Wun<strong>der</strong> <strong>der</strong> Nachkriegszeit<br />
war die Entstehung <strong>der</strong> Mittelklasse. Innerhalb<br />
weniger Jahrzehnte wuchs eine breite<br />
soziale Gruppe heran, die zuerst die Fabriken<br />
mit Arbeitskräften versorgte und danach<br />
eine Armee von Konsumenten stellte,<br />
die massenhaft Autos, Waschmaschinen<br />
und Fernseher erwarb. Arbeit ermöglichte<br />
nicht nur, den eigenen Unterhalt zu bestreiten,<br />
son<strong>der</strong>n auch auf die Gesundheit<br />
zu achten, die Ausbildung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> zu<br />
bezahlen und für das Alter vorzusorgen.<br />
In Frankreich stieg <strong>der</strong> Durchschnittslohn<br />
zwischen 1945 und 1975 auf das Dreifache,<br />
erstmals nahmen in <strong>der</strong> Geschichte<br />
Europas die sozialen Ungleichheiten ab<br />
anstatt zu, man sprach sogar von einer<br />
„Moyenisierung“, also einer Mittelstandisierung<br />
<strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong>.<br />
Doch die Mittelklasse war mehr als nur<br />
eine Gemeinschaft <strong>der</strong> Satten und mit sich<br />
Zufriedenen. Sie war ein sozialer Lift, <strong>der</strong><br />
neue Generationen von Unterschichten<br />
nach oben hievte. Die <strong>Gesellschaft</strong>en des<br />
industriellen Zeitalters waren ausgesprochen<br />
durchlässig, wer lernen wollte, hatte<br />
den Aufstieg schon in <strong>der</strong> Tasche. Für<br />
den Bedarf <strong>der</strong> Mittelklasse entstand <strong>der</strong><br />
mo<strong>der</strong>ne Wohlfahrtsstaat, <strong>der</strong> nicht mehr<br />
nur Krankenund Rentenversicherungen,<br />
son<strong>der</strong>n ein ganzes Sortiment an Leistungen<br />
zum Chancenausgleich von schlechter<br />
Situierten. Dieser Erfolg <strong>der</strong> Mittelklasse<br />
sicherte Europa ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t an<br />
Stabilität, und es war die Aufgabe <strong>der</strong> Politiker,<br />
dafür zu sorgen, dass die Maschinerie<br />
<strong>der</strong> Vollbeschäftigung und des ununterbrochenen<br />
Wachstums nie ins Stottern geriet.<br />
Sie hatte schon einmal gehakt, 1973,<br />
als die Ölkrise die erste Nachkriegsrezession<br />
in <strong>der</strong> entwickelten Welt auslöste.<br />
Der Ausbruch von Massenarbeitslosigkeit<br />
und Stagflation führte zu einer Wende in<br />
<strong>der</strong> ökonomischen Theorie: Innerhalb eines<br />
Jahrzehnts wurde <strong>der</strong> keynesianische<br />
Glaube an den Staat von Friedmans Kult<br />
des Marktes abgelöst. Das Rezept für die<br />
Wie<strong>der</strong>belebung <strong>der</strong> Volkswirtschaften<br />
sollte in <strong>der</strong> Befreiung <strong>der</strong> Unternehmen<br />
von <strong>der</strong> Last übermäßiger Regulierung und<br />
Besteuerung bestehen, und zum neuen<br />
Ziel <strong>der</strong> Regierenden wurde die Jagd nach<br />
Wirtschaftswachstum. Die Liberalisierung<br />
<strong>der</strong> achtziger Jahre ebnete <strong>der</strong> Globalisierung<br />
<strong>der</strong> neunziger den Weg und diese<br />
wie<strong>der</strong>um <strong>der</strong> Prekarisierung, dem folgenschwersten<br />
sozialen Phänomen des vergangenen<br />
Jahrzehnts.<br />
Ein Wettlauf nach unten<br />
Als Polen vor 20 Jahren von einer Mittelklasse<br />
zu träumen begann, beendeten<br />
die Vereinigten Staaten und Großbritannien<br />
gerade die erste Runde <strong>der</strong> Demontage<br />
ihrer middle classes. Ronald Reagan<br />
und Margaret Thatcher hatten eine Epoche<br />
neoliberaler Reformen eingeleitet, die<br />
nicht nur den Staat privatisierten und die<br />
Wirtschaft liberalisierten, son<strong>der</strong>n auch<br />
die Natur <strong>der</strong> Beschäftigung verän<strong>der</strong>ten.<br />
Die entwickelten Län<strong>der</strong>n leiteten den<br />
Prozess <strong>der</strong> sogenannten Flexibilisierung<br />
des Arbeitsmarkts ein, das heißt des Abschieds<br />
von festen Stellen auf unbestimmte<br />
Zeit zugunsten temporärer Arbeit, Teilzeitarbeit,<br />
befristeter Arbeit und Schritt für<br />
Schritt hin zur Ich-AG. Und alles, um dem<br />
internationalen Wettbewerb <strong>der</strong> Arbeitnehmer<br />
gewachsen zu sein.<br />
„Eine <strong>der</strong> Folgen <strong>der</strong> Globalisierung war<br />
eine Verdreifachung des Arbeitsangebots“,<br />
erläutert Prof. Standing. Der Untergang<br />
des Sozialismus in <strong>der</strong> ehemaligen UdSSR,<br />
vor allem aber Chinas und Indiens Übergang<br />
zum Kapitalismus führten dazu, dass<br />
die Weltwirtschaft innerhalb von 20 Jahren<br />
an<strong>der</strong>thalb Milliarden neue Arbeitskräfte<br />
gewann. Das senkte die globalen Arbeitskosten,<br />
vor allem aber setzte es eine<br />
massenhafte Abwan<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Industrie<br />
aus den entwickelten Län<strong>der</strong>n in Gang:<br />
Erst wurden Bergwerke, dann Hütten und<br />
schließlich Fabriken gen Osten „outgesourced“.<br />
Und als ob das noch nicht genug gewesen<br />
wäre, brachen Wellen von Migranten,<br />
die bereit waren, für weniger Lohn zu<br />
arbeiten, in die entgegengesetzte Richtung<br />
auf. Um die Beschäftigung zu aufrechtzuerhalten,<br />
gaben Regierungen dem Druck von<br />
Arbeitgebern nach und begannen, das Risiko<br />
auf die Arbeitnehmer abzuwälzen.<br />
In den neunziger Jahren machte das<br />
noch niemandem Sorgen. Der Westen triumphierte<br />
gerade, die Mittelschichten beschäftigten<br />
die Immigranten gern für nied-<br />
rige Arbeiten und konsumierten die Güter,<br />
die in <strong>der</strong>en Heimatlän<strong>der</strong>n produziert worden<br />
waren. Die Regierungen glaubten, das<br />
postindustrielle Zeitalter werde noch größere<br />
prosperity bringen, weil es den entwickelten<br />
Volkswirtschaften ermöglicht, eine<br />
Zuflucht in den einträglichsten Sektoren,<br />
wie etwa den Finanzdienstleistungen zu suchen.<br />
In Wirklichkeit setzten die neoliberalen<br />
Reformen einen doppelten Wettbewerb<br />
nach unten in Gang: Die Lockerung <strong>der</strong><br />
Regeln für die Beschäftigung min<strong>der</strong>te die<br />
Qualität <strong>der</strong> neuen Arbeitsplätze, und die<br />
sinkenden Steuern begrenzten die Aufwendungen<br />
für die Sozialpolitik. So wurde <strong>der</strong><br />
Same <strong>der</strong> heutigen Ungleichheiten gesät.<br />
Auf den BIP-Diagrammen wurde die Leere,<br />
die die schwindende Industrie hinterlassen<br />
hatte, von Dienstleistungen gefüllt,<br />
doch auf dem Arbeitsmarkt war die Transformation<br />
weit davon entfernt, in Fluss<br />
zu sein. Auf <strong>der</strong> einen Seite wuchsen die<br />
Massen ehemaliger Arbeiter ohne Chancen<br />
auf eine Beschäftigung in <strong>der</strong> Serviceökonomie,<br />
auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en die Scharen <strong>der</strong><br />
Hochqualifizierten, die um die begrenzte<br />
Zahl fester Stellen wetteiferten o<strong>der</strong> sich<br />
mit einer Zeitarbeit zufrieden geben mussten.<br />
Erstere fielen aus <strong>der</strong> Mittelklasse heraus,<br />
letztere können nie in sie hineingelangen,<br />
während die, die noch darin sind, ins<br />
Prekariat abzurutschen fürchten. Der Weg<br />
nach unten ist leicht, <strong>der</strong> nach oben erheblich<br />
schwieriger: Hand in Hand mit <strong>der</strong> zunehmenden<br />
Ungleichheit <strong>der</strong> Einkommen<br />
ging die abnehmende Durchlässigkeit <strong>der</strong><br />
Klassen.<br />
Der Teufelspakt<br />
Über 20 Jahre gelang es den westlichen<br />
Regierungen, die Prekarisierung <strong>der</strong> Mittelklassen<br />
zu verschleiern. Die USA und<br />
Großbritannien stockten die Gehälter <strong>der</strong><br />
Geringstverdienenden mithilfe des Steuersystems<br />
auf. In Dänemark, <strong>Deutsch</strong>land<br />
und den Nie<strong>der</strong>landen wurde die Sozialpolitik<br />
von <strong>der</strong> Auszahlung von Leistungen<br />
auf Anreize zur Arbeit umgestellt, damit die<br />
Menschen nur ja aus den Arbeitslosenstatistiken<br />
verschwanden. In Frankreich, Italien<br />
und Spanien bezuschusst <strong>der</strong> Staat indirekt<br />
die Jungen über die Renten <strong>der</strong> Eltern,<br />
die für den Unterhalt arbeitsloser Kin<strong>der</strong><br />
aufkommen. „Die Regierungen <strong>der</strong> entwickelten<br />
Staaten sind einen Pakt mit dem<br />
Teufel eingegangen. Dieses System konnte<br />
nicht ewig funktionieren“, sagt Standing.<br />
Und es hat soeben zu funktionieren aufgehört.<br />
Die Finanzkrise hat die Gefahr von<br />
Staatspleiten über Europa gebracht, und<br />
die Regierungen können es sich ganz einfach<br />
nicht mehr leisten, das Prekariat weiter<br />
zu verstecken. Zugleich hat die Rezession<br />
2009 die Arbeitslosigkeit vergrößert<br />
und eine weitere Prekarisierungswelle<br />
ausgelöst. 97 Prozent <strong>der</strong> letztes Jahr in<br />
Großbritannien geschaffenen Stellen sind<br />
Zeitverträge. In <strong>Deutsch</strong>land basiert schon<br />
fast die Hälfte <strong>der</strong> neuen Arbeitsplätze auf<br />
befristeten Verträgen, und über sieben Millionen<br />
Menschen arbeiten bereits auf sogenannten<br />
Minijobs, für weniger als 400 Euro<br />
monatlich. In Portugal sind 300.000 Menschen<br />
in Teilzeit beschäftigt. In Frankreich<br />
leben 20 Prozent <strong>der</strong> Studenten unterhalb<br />
<strong>der</strong> Armutsgrenze.<br />
Laut Standing setzt sich das europäische<br />
Prekariat heute aus drei Gruppen<br />
zusammen. Die erste ist das Pendant zum<br />
industriellen Lumpenproletariat, eine gewaltbereite,<br />
oft kriminelle Min<strong>der</strong>heit, wie<br />
sie vor einigen Wochen auf den Straßen<br />
Londons tobte. Die zweite Gruppe sind gut<br />
ausgebildete junge Leute, die Arbeit haben<br />
sollten, aber keine Möglichkeiten für sich<br />
sehen, romantische Idealisten, die von einer<br />
besseren Welt träumen. „Die haben wir<br />
im Mai auf den Straßen Madrids gesehen“,<br />
sagt Standing. Doch die größte Gruppe ist<br />
die dritte: ältere körperlich Arbeitende, die<br />
mit ihren Stellen auch ihre materielle Sicherheit<br />
und ihren sozialen Status verloren<br />
haben, die sich heute marginalisiert fühlen<br />
und Fremden die Schuld daran geben.<br />
„Sie sind gefährlich für die bestehende<br />
Ordnung, weil sie zu einem Nährboden für<br />
extreme Parteien werden können“, warnt<br />
<strong>der</strong> Wirtschaftswissenschaftler. Wenn<br />
das Prekariat irgendeine Gefahr für Europa<br />
in sich birgt, dann nicht in Form von<br />
Ausschreitungen, obwohl es davon in den<br />
kommenden Jahren ohne Zweifel immer<br />
mehr geben wird, son<strong>der</strong>n eben <strong>der</strong> zunehmenden<br />
Unterstützung von Populisten, die<br />
gegen die Zuwan<strong>der</strong>ung und gegen Europa<br />
sind. Auf dem Rücken des alten Prekariats<br />
machen Marine Le Pen in Frankreich, Geert<br />
Wil<strong>der</strong>sin den Nie<strong>der</strong>landen, die Wahren<br />
Finnenin Finnland und die Schwedendemokratenin<br />
Schweden Karriere. Das junge<br />
Prekariat wird sich, wenn es sich mit <strong>der</strong><br />
Zeit politisiert, eher von <strong>der</strong> extremen Linken,<br />
neokommunistischen o<strong>der</strong> anarchistischen<br />
Bewegungen vereinnahmen lassen.<br />
Beides verheißt Europa kein friedliches<br />
Jahrzehnt. In Anbetracht <strong>der</strong> Hilflosigkeit<br />
<strong>der</strong> führenden Politiker gegenüber <strong>der</strong><br />
Wirtschaftskrise ist kaum zu erwarten,<br />
dass sie mit <strong>der</strong> aufkommenden sozialen<br />
6 POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> 7
POLITIK<br />
Krise besser fertig werden. Und hier wird<br />
es nicht mehr um nationale, son<strong>der</strong>n um<br />
Generationeninteressen gehen: Die Konflikte<br />
werden innerhalb <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong>en<br />
ausgetragen werden, zwischen Jung<br />
und Alt. Heute verteidigen die in die Jahre<br />
gekommenen politischen Eliten Europas<br />
hauptsächlich die Interessen <strong>der</strong> eigenen<br />
Generation, was die Frustration <strong>der</strong> jungen<br />
Arbeitslosen nur vertieft.<br />
Eine neue Linke?<br />
In Polen sind die Prekarisierungsprozesse<br />
ein Jahrzehnt später in Gang gekommen als<br />
in Westeuropa, aber sie werden unweigerlich<br />
ihre Ernte einfahren. Schlechter Ausgebildete<br />
werden prekäre Arbeitsverhältnisse<br />
in Telephonzentren, Einkaufszentren<br />
und Fastfoodrestaurants annehmen, und<br />
viele von ihnen werden noch schlechtere<br />
Jobs in <strong>der</strong> Emigration ausüben. Schwere<br />
Zeiten sind auch für die besser Ausgebildeten<br />
im Anzug: Der Regierungsbericht stellt<br />
unumwunden fest, dass <strong>der</strong> Arbeitsmarkt<br />
für Hochschulabsolventen mittlerweile gesättigt<br />
ist und die Qualifikationen <strong>der</strong> Übrigen<br />
den Erfor<strong>der</strong>nissen <strong>der</strong> Wirtschaft<br />
nicht entsprechen. Die jungen Polen sind<br />
nicht durch eine Kindheit in <strong>der</strong> Mittelklasse<br />
verwöhnt wie ihre Altersgenossen<br />
in Frankreich o<strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>land, aber <strong>der</strong><br />
Verzicht auf ihre Träume wird für sie ebenso<br />
schmerzlich sein.<br />
Die Prekarisierung <strong>der</strong> Senioren erfolgte<br />
durch die wirtschaftliche Transformation,<br />
und sie stellen heute die Wähler <strong>der</strong> Partei<br />
„Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), während<br />
das junge Prekariat noch keine eigene<br />
Vertretung hat. Der Bericht „Die Jungen<br />
<strong>2011</strong>“ zeigt die Sorge <strong>der</strong> Regierung um<br />
diese Altersgruppe, doch er geht <strong>der</strong> Prekarisierung<br />
nicht tiefer auf den Grund, und<br />
seine Empfehlungen gehen in die Richtung<br />
einer weiteren Flexibilisierung des Arbeitsmarkts.<br />
Demgegenüber kann man aus<br />
den Erfahrungen Westeuropas leicht den<br />
Schluss ziehen, dass gerade die Jungen,<br />
wenn es in Polen schließlich zur ersten<br />
Rezession kommt, <strong>der</strong>en zahlenstärksten<br />
Opfer sein werden.<br />
Die Autoren des Regierungsberichts<br />
möchten, dass die Jungen die Initiative von<br />
<strong>der</strong> Solidarnosc-Generation übernehmen.<br />
Heute führt das einzige wahrscheinliche<br />
Szenario einer <strong>der</strong>artigen Rochade üer<br />
eine Rezession, die Politisierung des jungen<br />
Prekariats und die Geburt einer neuen<br />
Linken. Nicht einer postkommunistischen<br />
o<strong>der</strong> sozialdemokratischen, son<strong>der</strong>n einer<br />
postindustriellen, aus <strong>der</strong> Erfahrung<br />
<strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong>en von unten gewachsenen<br />
Linken. Je länger die Wirtschaftskrise<br />
dauert, desto dringen<strong>der</strong> braucht man<br />
eine neue Vision des Kapitalismus, und je<br />
tiefer die soziale Krise, desto größer wird<br />
die Sehnsucht nach einer neuen sozialen<br />
Ordnung und schließlich einer Politik, die<br />
fähig ist, beides miteinan<strong>der</strong> zu verbinden.<br />
Der Westen als Privatier<br />
Ehe es dazu kommt, werden die entwickelten<br />
Län<strong>der</strong> jedoch versuchen, um jeden<br />
Preis Verän<strong>der</strong>ungen zu vermeiden.<br />
Die europäischen Regierungen versuchen<br />
einan<strong>der</strong> gegenseitig mit Einsparungen<br />
zu überbieten, um wie<strong>der</strong> zu ausgeglichenen<br />
Haushalten zu kommen, doch dieser<br />
Wettlauf wird mit <strong>der</strong> Demontage <strong>der</strong> Sozialstaaten<br />
und dem Abdrängen weiterer<br />
Massen von Menschen ins Prekariat enden.<br />
Einige Staaten erhöhen die Steuern<br />
für die Reichsten, aber nicht etwa, um die<br />
Leistungen für die Armen zu erhöhen, son<strong>der</strong>n<br />
allein um sie weiter auf dem bisherigen,<br />
wenn nicht einem niedrigeren Niveau<br />
halten zu können. Wo sich die Konjunktur<br />
schon wie<strong>der</strong> abgeschwächt hat, wird als<br />
Methode zur Bekämpfung <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit<br />
die Teilung von Arbeitsplätzen mit<br />
entsprechen<strong>der</strong> Gehaltskürzung erwogen.<br />
All das sind jedoch Lösungen im Rahmen<br />
des bestehenden Systems, das nicht<br />
nur soziale Sicherheit, son<strong>der</strong>n auch wirtschaftliches<br />
Wachstum nicht mehr garantieren<br />
kann. Noch in den neunziger Jahren<br />
wurden Visionen an die Wand gemalt, wonach<br />
neue Stellen im bürgerschaftlichen<br />
Sektor entstehen und soziale Dienstleistungen<br />
ebenso einträglich würden wie die<br />
Arbeit im staatlichen o<strong>der</strong> privaten Sektor.<br />
Dank des Produktivitätszuwachses sollten<br />
die Menschen für dasselbe Geld kürzer<br />
arbeiten. Die Wirklichkeit entpuppte sich<br />
als eine ganz an<strong>der</strong>e: Der bürgerschaftliche<br />
Sektor verdient nicht, <strong>der</strong> staatliche<br />
schrumpft und <strong>der</strong> private hat den übrigen<br />
die Logik des ungezügelten Marktes aufgezwungen.<br />
Laut Standing steuert die Welt<br />
auf eine große Transformation nach dem<br />
Muster <strong>der</strong>jenigen zu, die im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
die Marktwirtschaft und den Nationalstaat<br />
hervorgebracht hat. Der Schwund<br />
<strong>der</strong> Vollbeschäftigung in den entwickelten<br />
Län<strong>der</strong>n ist ein natürlicher Prozess, denn<br />
in einem globalen System können sie von<br />
den Zinsen des angehäuften Kapitals leben.<br />
Nach Ansicht des Wissenschaftlers ist<br />
ein Mittel, um die Explosion des Prekariats<br />
zu stoppen, diese Kapitalzinsen in Form eines<br />
Grundeinkommens auszuzahlen, einer<br />
niedrigen, ständigen Pension für alle Bürger,<br />
die diese durch Gelegenheitsarbeiten<br />
ergänzen könnten. Ein exotischer Gedanke:<br />
Denn ein kleine Schwierigkeit besteht darin,<br />
dass sich dieses Kapital heute in privater<br />
Hand befindet. Aber gibt es irgendwelche<br />
an<strong>der</strong>en Ideen? <br />
Der Text erschien unter dem Originaltitel<br />
„Prekariusze wszystkich krajow“<br />
in <strong>der</strong> Polityka Nr. 37 vom 7.09.<strong>2011</strong>.<br />
Übersetzung: Silke Lent. Redaktion: Paul-<br />
Richard Gromnitza.<br />
Na zdrowje Bar Convention<br />
mit Gastland Polen<br />
Seit 2007 gibt es in Berlin eine Bar-<br />
und Spirituosenmesse. In diesem Jahr<br />
gab es erstmals ein Gastland: Polen.<br />
An <strong>der</strong> „Bar Poland“ präsentieren an<br />
zwei Tagen bekannte polnische Barten<strong>der</strong><br />
die Cocktail- und Spirituosenkultur<br />
ihrer Heimat. Dabei wurde allerdings<br />
deutlich, daß die meisten polnischen<br />
Wodkahersteller im Besitz internationaler<br />
Unternehmen sind.<br />
Żubrówka beispielsweise, ein Markenname<br />
<strong>der</strong> sich gleichzeitig auch<br />
als Gattungsname <strong>der</strong> Wodkavarianten<br />
mit Büffelgrashalm durchgesetzt<br />
hat. Es hätte auch Wodka mit dem<br />
„Duftenden Mariengras“ o<strong>der</strong> Wodka<br />
mit dem „Vanillegras“ heißen können,<br />
denn das sind ebenfalls Namen die <strong>der</strong><br />
genutzten Pflanze zuteil werden. Hier<br />
in <strong>Deutsch</strong>land wird er „Grasovka“ genannt.<br />
Ein Name, den ihm seine Besitzer<br />
„Un<strong>der</strong>berg“ gegeben haben.<br />
Doch auf <strong>der</strong> Messe sind auch Produkte<br />
aus Łańcut (Biała Dama) im Südosten<br />
Polens o<strong>der</strong> die Produkte des<br />
jungen Familienunternehmens Kozuba<br />
aus Nidzica in den Masuren den Besuchern<br />
angenehm aufgefallen.<br />
Eine gute Idee <strong>der</strong> Messeleitung: An<br />
einer langen Tafel sind bekannte und<br />
unbekannte Wodkasorten aus Polen<br />
aufgereiht, nicht nur zum Anschauen:<br />
Probierbecher stehen gleich bereit.<br />
Karl Forster<br />
Ministerium finanziert Verfasser rechtsextremer Thesen<br />
Vom slawischen<br />
Drang nach Westen<br />
Umstrittene Broschüren an Schulen verschickt<br />
Die Regierung des Bundeslandes Hessen<br />
beliefert Lehreinrichtungen mit rechtslastigen<br />
Publikationen über die Umsiedlung<br />
<strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>en. Eine Broschüre, die das<br />
hessische Sozialministerium im Juli an<br />
450 Institutionen versandt hat, darunter<br />
Studienseminare und Abendgymnasien,<br />
ist von einem prominenten Interviewpartner<br />
rechtslastiger Medien verfasst worden.<br />
Der Völkerrechtler Alfred de Zayas<br />
schreibt darin, die Umsiedlung nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg weise zumindest partiell<br />
„Völkermordcharakter“ auf. Den „Vertriebenen“<br />
stehe daher die Rückgabe ihres<br />
früheren Eigentums o<strong>der</strong> Entschädigung<br />
zu. Über den einstigen tschechoslowakischen<br />
Staatspräsidenten Edvard Beneš behauptet<br />
<strong>der</strong> Autor, Beneš habe politische<br />
Ziele „in Analogie zur Ideologie des deutschen<br />
Nationalsozialismus“ verfolgt. Die<br />
Broschüre enthält heftige Attacken auch<br />
gegen Polen sowie die Westalliierten. Ihre<br />
Verbreitung durch das Sozialministerium<br />
ist <strong>der</strong> vorläufige Höhepunkt einer bereits<br />
seit gut zehn Jahren andauernden Initiative<br />
<strong>der</strong> hessischen Landesregierung, die darauf<br />
abzielt, den Stellenwert <strong>der</strong> Umsiedlung<br />
im öffentlichen Diskurs zu stärken.<br />
Wie eine Sprecherin des hessischen Sozialministeriums<br />
auf Anfrage bestätigt, hat<br />
ihr Haus im Sommer rund 450 Exemplare<br />
<strong>der</strong> Broschüre „50 Thesen zur Vertreibung“<br />
von Alfred de Zayas verschickt. Empfänger<br />
seien verschiedenste Institutionen in ganz<br />
Hessen gewesen, darunter Studienseminare.<br />
Wie Dokumente zeigen, die dieser<br />
Redaktion vorliegen, wurde die Broschüre<br />
auch an Abendgymnasien versandt. Die<br />
Bezahlung sei aus dem Haushalt des Sozialministeriums<br />
erfolgt, bestätigt die Sprecherin.<br />
Der Preis <strong>der</strong> Broschüre wird vom<br />
Verlag, etwaige Rabatte nicht eingerechnet,<br />
mit 7 Euro pro Stück beziffert.<br />
Nicht unumkehrbar<br />
In <strong>der</strong> Broschüre behauptet Autor de Zayas,<br />
zumindest in <strong>der</strong> Tschechoslowakei<br />
und Jugoslawien habe die „Vertreibung“<br />
<strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>en „Völkermordcharakter“ erkennen<br />
lassen. (*1) Daraus ergebe sich „ein<br />
absolutes Anerkennungsverbot auch <strong>der</strong><br />
dabei durchgeführten Enteignungen“. Die<br />
„Vertriebenen“ könnten also mit Recht<br />
„Rückkehr und Eigentumsrückgabe“ verlangen,<br />
wenngleich man, weil Rückgabe<br />
wohl oft kaum noch möglich sei, auch Entschädigungen<br />
in Betracht zu ziehen habe.<br />
Jedenfalls müsse jetzt „im politischen<br />
Bereich (...) die Suche nach gangbaren<br />
Wegen für (...) einen gerechten Ausgleich<br />
auch in <strong>der</strong> schwierigen Eigentumsfrage<br />
intensiviert werden“. Weiter heißt es in <strong>der</strong><br />
Broschüre: „Die Vorstellung, vollzogene<br />
Vertreibungen seien unumkehrbar, ist weit<br />
verbreitet, aber nicht zutreffend.“ So seien<br />
etwa Vertreibungen im früheren Jugoslawien<br />
„zum Teil wie<strong>der</strong>gutgemacht“ worden.<br />
„Dieser Befund“ könne etwa den „Ost- und<br />
Sudetendeutschen (...) Hoffnung machen“.<br />
"Massensterben in Kauf genommen"<br />
Über diese Behauptungen hinaus enthält<br />
de Zayas' Broschüre heftige Angriffe<br />
gegen mehrere Nachbarstaaten. So heißt<br />
es etwa, die „weit verbreitete Vorstellung<br />
eines gewaltsamen (deutschen, d. Red.)<br />
Drangs nach Osten“ sei nicht haltbar (*2) ;<br />
„vielmehr existierte ein allmählicher Drang<br />
nach Westen <strong>der</strong> Slawen“. In Polen habe<br />
„die Diskriminierung <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>en“ schon<br />
in den Jahren von 1919 bis 1924 „Züge<br />
einer Vertreibung“ angenommen. Der<br />
tschechoslowakische Staatspräsident Edvard<br />
Beneš habe einen „rein slawische(n)<br />
tschechisch(n) Nationalstaat“ angestrebt<br />
– „durchaus in Analogie zur Ideologie des<br />
deutschen Nationalsozialismus“. Nicht<br />
etwa <strong>der</strong> NS-Vernichtungskrieg, son<strong>der</strong>n<br />
„die Vertreibung <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>en“ habe „ein<br />
8 POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> 9<br />
POLITIK<br />
in Jahrhun<strong>der</strong>ten gewachsenes Zusammenleben<br />
von Slawen und <strong>Deutsch</strong>en zerstört“.<br />
Auch die Westalliierten treffe schwere<br />
Schuld: Sie hätten, als sie <strong>der</strong> Umsiedlung<br />
zustimmten, angesichts <strong>der</strong> desolaten Ernährungslage<br />
im befreiten <strong>Deutsch</strong>land<br />
„die Gefahr eines Massensterbens in Kauf“<br />
genommen.<br />
„Verharmlosung“ als Verbrechen<br />
Zusätzlich lässt <strong>der</strong> Autor erkennen, dass<br />
er abweichende Ansichten über die „Vertreibung“<br />
nicht zu dulden bereit ist. So sei,<br />
erklärt de Zayas, schon die Benennung<br />
<strong>der</strong> „Vertreibung“ als „Umsiedlung“ „verharmlosend“.<br />
(*3) „Die schwere und anhaltende<br />
Verharmlosung <strong>der</strong> Vertreibung <strong>der</strong><br />
<strong>Deutsch</strong>en“ stelle jedoch, heißt es weiter,<br />
ihrerseits „eine Menschenrechtsverletzung<br />
dar“.<br />
Sudetendeutsche, Juden, Tutsi<br />
Der Autor <strong>der</strong> Broschüre, die das hessische<br />
Sozialministerium verbreitet, ist unter<br />
an<strong>der</strong>em aus Interviews mit rechtslastigen<br />
Medien bekannt. Im Gespräch mit <strong>der</strong> ultrarechten<br />
Wochenzeitung „Junge Freiheit“<br />
etwa behauptete de Zayas, die Sudetendeutschen<br />
seien „aus rassistischen Gründen<br />
vertrieben“ worden, es handele sich<br />
also um „Völkermord“: „Um als Völkermord<br />
zu gelten, ist es nicht nötig, dass alle Mitglie<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Gruppe massakriert werden.<br />
Auch nicht alle Armenier, nicht alle Juden,<br />
nicht alle Tutsis wurden ausgerottet.“ (*4) In<br />
Kreisen <strong>der</strong> äußeren Rechten wird gegenwärtig<br />
Zayas' jüngstes Buch gefeiert („Völkermord<br />
als Staatsgeheimnis“), in dem er<br />
die These vertritt, die NS-Vernichtungspolitik<br />
sei vor <strong>der</strong> Befreiung 1945 im <strong>Deutsch</strong>en<br />
Reich allenfalls Insi<strong>der</strong>n, nicht jedoch allgemein<br />
bekannt gewesen. Verleger <strong>der</strong> vom<br />
hessischen Sozialministerium versandten<br />
Broschüre ist <strong>der</strong> Chefredakteur <strong>der</strong> Preußischen<br />
Allgemeinen Zeitung, Konrad Ba-<br />
In einem Interview mit <strong>der</strong> Jungen Freiheit 9 JUNI 2006, SEITE 6, erklärte de Zayas u.a.:<br />
Die Sudetendeutschen waren Opfer eines virulenten Rassismus, <strong>der</strong> bereits viele Jahre<br />
vor dem Zweiten Weltkrieg Tote und Verletzte for<strong>der</strong>te. … Nach <strong>der</strong> Völkermordkonvention<br />
von 1948 ist die „Absicht“ das entscheidende Moment. Völkermord bedeutet also<br />
Handlungen, die in <strong>der</strong> Absicht begangen werden, „eine nationale, ethnische, rassische<br />
o<strong>der</strong> religiöse Gruppe als solche ganz o<strong>der</strong> teilweise zu zerstören“. Die Benesch-Dekrete,<br />
die Internierung Tausen<strong>der</strong> Sudetendeutscher in Konzentrationslagern, <strong>der</strong> Raub<br />
des Privateigentums und die Art und Weise <strong>der</strong> Durchführung <strong>der</strong> Vertreibung belegen<br />
die Absicht Beneschs und <strong>der</strong> tschechoslowakischen Regierung, die sudetendeutsche<br />
Volksgruppe zu zerstören. Wichtig dabei ist die Tatsache, daß die gesamte Volksgruppe<br />
aus rassistischen Gründen vertrieben wurde, also nur weil sie <strong>Deutsch</strong>e waren. Um als<br />
Völkermord zu gelten, ist es nicht nötig, daß alle Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppe massakriert<br />
werden. Auch nicht alle Armenier, nicht alle Juden, nicht alle Tutsis wurden ausgerottet.
POLITIK PERSONALIEN<br />
denheuer. In <strong>der</strong> Preußischen Allgemeinen<br />
Zeitung hieß es etwa zur „Kriegsschuldfrage<br />
1939“, die aktuellen „ernst zu nehmenden<br />
Darstellungen des Zweiten Weltkrieges“<br />
seien „zu dem Schluß“ gekommen,<br />
„daß von einer Alleinschuld <strong>Deutsch</strong>lands<br />
am Kriegsausbruch nicht die Rede sein<br />
könne“.(*5) Badenheuer hat vor Jahren<br />
eine Ausstellung konzipiert, in <strong>der</strong> es hieß,<br />
das „Sudetenland“ habe „als besetztes Gebiet<br />
interpretiert werden“ können, „das nie<br />
legitim zur ČSR gehört hat“. Daher gefährde<br />
die Tatsache, dass das Münchner Diktat<br />
vom 30. September 1938 ohne Mitwirkung<br />
<strong>der</strong> betroffenen Tschechoslowakei zustande<br />
gekommen sei, „nicht die Gültigkeit des<br />
Abkommens“.<br />
Eine hessische Initiative<br />
Die hessische Landesregierung hat vor<br />
rund zehn Jahren eine Initiative zugunsten<br />
<strong>der</strong> deutschen „Vertriebenen“ gestartet,<br />
in welche die Verschickung <strong>der</strong> Broschüre<br />
von de Zayas einzuordnen ist. So hat sie<br />
das Amt eines Landesbeauftragten für Heimatvertriebene<br />
und Spätaussiedler eingerichtet,<br />
eine Patenschaft für die Stiftung<br />
Zentrum gegen Vertreibungen des Bundes<br />
<strong>der</strong> Vertriebenen (BdV) übernommen, einen<br />
„Tag <strong>der</strong> Vertriebenen“ im Rahmen des<br />
jährlichen „Hessentags“ etabliert sowie<br />
Vertretern des BdV jeweils einen Sitz im<br />
Rundfunkrat des Hessischen Rundfunks<br />
beziehungsweise in <strong>der</strong> Landesanstalt für<br />
den privaten Rundfunk verschafft. Auch<br />
hat die hessische Landesregierung Wert<br />
darauf gelegt, den Stellenwert des Themas<br />
"Vertreibung" in den schulischen Lehrplänen<br />
höher als zuvor anzusiedeln. In diesem<br />
Kontext hat das hessische Kultusministerium<br />
BdV-Materialien an die hessischen Medienstellen<br />
versandt, um sie für die Schulen<br />
verfügbar zu machen. Zuletzt hat die<br />
hessische Landesregierung mit Beschluss<br />
vom 8. <strong>November</strong> 2010 einen „Hessischen<br />
Preis 'Flucht, Vertreibung, Einglie<strong>der</strong>ung'“<br />
gestiftet, <strong>der</strong> alle zwei Jahre für „hervorragende<br />
kulturelle, literarische o<strong>der</strong> wissenschaftliche<br />
Leistungen“ zum Thema „Vertreibung“<br />
verliehen wird. Er ist mit 7.500<br />
Euro dotiert.<br />
Ehrenplakette<br />
Der ehemalige hessische Ministerpräsident<br />
Roland Koch, unter dessen Ägide die<br />
Initiative in Sachen „Vertreibung“ gestartet<br />
wurde, hat dafür am 27. August die<br />
BdV-Ehrenplakette erhalten - während <strong>der</strong><br />
Feierlichkeiten zum diesjährigen „Tag <strong>der</strong><br />
Heimat“. Bei <strong>der</strong> Veranstaltung hatte BdV-<br />
Präsidentin Erika Steinbach Äußerungen<br />
getätigt, die in mancher Hinsicht de Zayas'<br />
Thesen recht nahekommen. So hatte sie<br />
behauptet, die „Wurzeln <strong>der</strong> Vertreibung“<br />
reichten bis in die „Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts“<br />
zurück und dürften nicht „ahistorisch<br />
an den Beginn des Zweiten Weltkriegs<br />
geknüpft“ werden. Auch bei de Zayas heißt<br />
es in einer Relativierung <strong>der</strong> Bedeutung<br />
des deutschen Vernichtungskriegs: „Auch<br />
<strong>der</strong> dynamische slawische Nationalismus<br />
des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts und die Beschlüsse<br />
<strong>der</strong> Verträge von Versailles, St. Germain<br />
und Trianon (...) müssen als Ursachen mit<br />
berücksichtigt werden.“ (*6) <br />
Aus: Informationen zur <strong>Deutsch</strong>en Außenpolitik.<br />
www.german-foreign-policy.com<br />
--------------------------------------------------------------<br />
(*1) Alfred de Zayas: 50 Thesen zur Vertreibung,<br />
London/München 2008<br />
(*2) Alfred de Zayas: 50 Thesen zur Vertreibung,<br />
London/München 2008<br />
(*3) Alfred de Zayas: 50 Thesen zur Vertreibung,<br />
London/München 2008<br />
(*4) „Historische und menschliche Tragödie“;<br />
Junge Freiheit 24/2006<br />
(*5) Neuer Überblick zur Kriegsschuldfrage<br />
1939; Preußische Allgemeine Zeitung 05/2007<br />
(*6) Alfred de Zayas: 50 Thesen zur Vertreibung.<br />
<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>r Preis für Pöttering und Buzek<br />
Dr. Hans-Gert Pöttering (EVP/CDU), ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments<br />
und Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> Konrad-Adenauer-Stiftung, ist gemeinsam mit dem Präsidenten des<br />
Europäischen Parlaments, Jerzy Buzek, in Warschau mit dem <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n Preis<br />
ausgezeichnet worden. Damit würdigte das aus deutschen und polnischen Mitglie<strong>der</strong>n<br />
bestehende Preiskomitee die „beson<strong>der</strong>en Verdienste um die Entwicklung <strong>der</strong> deutschpolnischen<br />
Beziehungen“ <strong>der</strong> beiden Europa-Politiker. Die jährliche Vergabe des <strong>Deutsch</strong>-<br />
<strong>Polnische</strong>n Preises wurde im <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n Vertrag über gute Nachbarschaft und<br />
freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991 vereinbart. Das Preisgeld von insgesamt<br />
20.000 Euro möchten Hans-Gert Pöttering und Jerzy Buzek für die För<strong>der</strong>ung von<br />
weißrussischen und moldawischen Studenten am Europa-Kolleg in Natolin bei Warschau<br />
zur Verfügung stellen.<br />
Bielefeld - Rzeszów<br />
Zwanzig Jahre<br />
Partnerschaft<br />
Mit einem umfangreichen Festprogramm<br />
wurde im Oktober das Jubiläum<br />
<strong>der</strong> Städtepartnerschaft Bielefeld mit<br />
Rzeszów begangen. Vor zwanzig Jahren<br />
wurde diese Partnerschaft in überraschend<br />
kurzer Zeit realisiert. Doch die<br />
Bemühungen um eine solche Partnerschaft<br />
reichten schon viele Jahre zurück.<br />
Die <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
Bielefeld hatte sich schon seit ihrer<br />
Gründung mit dem Thema Städtepartnerschaft<br />
befasst. Mitte <strong>der</strong> 80er Jahre<br />
wurde dann unter dem Vorsitz des<br />
SPD-Bundestagsabgeordneten Kurt<br />
Vogelsang ein neuer Vorstoß unternommen.<br />
Doch das Problem: Bielefeld<br />
hatte mit Vertriebenenorganisationen<br />
„Patenschaften“ vereinbart, <strong>der</strong>en<br />
Formulierungen Hin<strong>der</strong>nisse beim Verständigungsprozess<br />
bildeten. DPG-Vorstandsmitglied<br />
Karl Forster verhandelte<br />
mit allen Ratsfraktionen und konnte<br />
mit einem Ergebnis nach Warschau ins<br />
polnische Aussenministerium fahren:<br />
Der Stadtrat erklärt die Formulierungen<br />
„aus <strong>der</strong> Zeit ihrer Entstehung“ bedingt<br />
und betont, auf dem Vertrag von Warschau<br />
zu stehen. Im Ministerium war<br />
man zufrieden und den Kontakten zu<br />
polnischen Städten (Vorschläge waren<br />
Lublin und Rzeszów) stand fast nichts<br />
mehr im Wege. Bis <strong>der</strong> damalige Oberbürgermeister<br />
Bielefelds beim Vertriebenenverband<br />
groß tönte „Wir lassen an<br />
den Patenschaften nicht rütteln“.<br />
Da war erst mal wie<strong>der</strong> Sendepause.<br />
1990 dann ein neuer Anlauf <strong>der</strong><br />
<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong>. Man<br />
wollte Kontakt nach Rzeszów aufnehmen,<br />
da die Stadt ähnliche Strukturen<br />
(Industrie, Universität etc.) aufwies, wie<br />
Bielefeld. Eine Woche lang wurden bei<br />
einer Messe Unterschriften gesammelt,<br />
die dem Stadtrat vorgelegt wurden.<br />
Und ausgerechnet <strong>der</strong> CDU-Oberbürgermeister<br />
konnte sich schnell dafür erwärmen,<br />
Kontakte nach Polen zu knüpfen.<br />
Schon ein Jahr später (Herbst<br />
1991) wurde <strong>der</strong> Vertrag vereinbart, im<br />
Mai 1992 wurde er in Rzeszów feierlich<br />
unterzeichnet.<br />
Karl Forster<br />
Dr. Andrzej Cechnicki<br />
Überbrückung eines<br />
historischen Abgrundes<br />
Laudation anlässlich <strong>der</strong> Verleihung des Bundeverdienstkreuzes<br />
Von Friedrich Leidinger<br />
Anlässlich <strong>der</strong> Auszeichnung von Herrn<br />
Doktor Andrzej Cechnicki mit dem Bundesverdienstkreuz<br />
bin ich gebeten worden,<br />
Ihnen den Ordensträger vorzustellen und<br />
die Gründe für diese Auszeichnung darzulegen.<br />
Nun ist kaum anzunehmen, dass in diesem<br />
Saal jemand sitzt, <strong>der</strong> nicht weiß, wer<br />
Andrzej Cechnicki ist, und wohl je<strong>der</strong> wäre<br />
in <strong>der</strong> Lage, mindestens drei gewichtige<br />
Gründe zu nennen, warum eine Auszeichnung<br />
für Andrzej Cechnicki überfällig ist.<br />
Eine Würdigung <strong>der</strong> Person und Verdienste<br />
des heute Ausgezeichneten erscheint<br />
mir dennoch nicht überflüssig, und ich will<br />
versuchen, zu dem persönlichen Bild, das<br />
die meisten von Ihnen von ihm haben, den<br />
einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Strich o<strong>der</strong> Farbton<br />
hinzuzufügen.<br />
Das Bundesverdienstkreuz wird deutschen<br />
und ausländischen Männern und<br />
Frauen „verliehen für Leistungen, die im<br />
Bereich <strong>der</strong> politischen, <strong>der</strong> wirtschaftlichsozialen<br />
und <strong>der</strong> geistigen Arbeit dem Wie<strong>der</strong>aufbau<br />
des Vaterlandes dienten, und<br />
soll eine Auszeichnung all <strong>der</strong>er bedeuten,<br />
<strong>der</strong>en Wirken zum friedlichen Aufstieg <strong>der</strong><br />
Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land beiträgt.“ So<br />
heißt es in dem Erlass, den Bundespräsident<br />
Theodor Heuss, Bundeskanzler Konrad<br />
Adenauer und <strong>der</strong> Bundesinnenminister<br />
Robert Lehr am 7. September 1951<br />
unterzeichneten, also fast auf den Tag genau<br />
vor 60 Jahren.<br />
Wie hat <strong>der</strong> Krakauer Psychiater Andrzej<br />
Cechnicki zum friedlichen Aufstieg<br />
<strong>Deutsch</strong>lands beigetragen?<br />
Zur Beantwortung dieser Frage sei mir erlaubt,<br />
mich zunächst an die deutschen Teilnehmer<br />
dieser Feier zu wenden. Sie haben<br />
alle eine ziemlich weite Anreise bis hierher<br />
gehabt. Wir sind also mitten in Polen - und<br />
doch sind wir an einem deutschen Ort, am<br />
ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz.<br />
Welche Spannung liegt in diesem Ereignis:<br />
die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes<br />
an einen Polen, im Schatten von<br />
Auschwitz!<br />
Es war <strong>der</strong> ausdrückliche Wunsch Andrzej<br />
Cechnickis, das Bundesverdienstkreuz<br />
an diesem Ort, an dem auch Angehörige<br />
seiner Familie ermordet wurden, aus <strong>der</strong><br />
Hand des deutschen Generalkonsuls in<br />
Krakau zu empfangen.<br />
Hätten sich die politischen Führer <strong>der</strong><br />
Bundesrepublik <strong>der</strong> frühen Nachkriegsjahre<br />
solch eine Szene vorstellen können?<br />
Selbst im Akt <strong>der</strong> Überreichung wird das<br />
Anliegen, das sie mit dem Bundesverdienstkreuz<br />
verbanden, verwirklicht<br />
nämlich: <strong>Deutsch</strong>land<br />
möge aus dem Abgrund<br />
des nationalsozialistischen<br />
Zivilisationsbruchs aufsteigen<br />
und wie<strong>der</strong> einen Platz<br />
unter den europäischen Nationen<br />
einnehmen.<br />
Andrzej Cechnicki ist kein<br />
Politiker. Er ist Psychiater<br />
mit Leib und Seele. Er hat<br />
sich <strong>der</strong> Arbeit mit den empfindsamsten,<br />
verletzlichsten<br />
Menschen in unserer <strong>Gesellschaft</strong>,<br />
den Schizophrenen,<br />
verschrieben. Seit über 35<br />
Jahren ist er <strong>der</strong> Krakauer<br />
Psychiatrischen Universitätsklinik<br />
verbunden, seit<br />
fast zwanzig Jahren koordiniert<br />
er das integrierte Versorgungssystem<br />
für Schizophreniekranke<br />
und ihre Angehörigen in<br />
<strong>der</strong> Stadt Krakau. Erst vor wenigen Monaten<br />
wurde seine jahrzehntelange Arbeit<br />
als Wissenschaftler, Hochschullehrer und<br />
Arzt mit <strong>der</strong> Erteilung <strong>der</strong> Venia Legendi,<br />
<strong>der</strong> Habilitation, durch die Medizinische<br />
Fakultät <strong>der</strong> Jagiellonen-Universität Krakau<br />
belohnt. Als Landeskoordinator <strong>der</strong> polnischen<br />
Antistigma-Kampagne „Schizofrenia<br />
- Otwórzcie Drwi“ (Open the Door) ist er<br />
seit vielen Jahren einer breiteren Öffentlichkeit<br />
bekannt. Er gehört zu denjenigen,<br />
die in ausländischen Fachkreisen <strong>der</strong> polnischen<br />
Psychiatrie seit Jahren ein Gesicht<br />
geben.<br />
Andrzej Cechnicki wurde 1950 in Warschau<br />
geboren. Die Menschen in Polen<br />
waren befreit, aber sie lebten nicht in Freiheit,<br />
sie gehörten zum Reich <strong>der</strong> formalen<br />
und materiellen Gleichheit. Die Folgen <strong>der</strong><br />
deutschen Besatzung, des Terrors und <strong>der</strong><br />
Zerstörung waren noch überall sichtbar.<br />
Die Menschen redeten dennoch wenig<br />
über die Vergangenheit, die Vergangenheit<br />
schien nur noch in Denkmälern und Feiertagsreden<br />
vorzukommen - o<strong>der</strong> in Albträumen.<br />
Andrzej Cechnicki wuchs in einer<br />
Welt voller Tabus auf, in <strong>der</strong> seine Sensibilität<br />
für die verdrängten und abseitigen<br />
Dinge geweckt wurde – und für beson<strong>der</strong>e,<br />
randständige Menschen.<br />
1967 ging Andrzej zum Studium <strong>der</strong><br />
Medizin nach Krakau. Hier herrschte in<br />
relativer Abgeschiedenheit ein außerordentlich<br />
anregendes intellektuelles und<br />
künstlerisches Klima: Theater, Jazz, bildende<br />
Kunst, Literatur und Philosophie. Der<br />
Psychiater Antoni Kępiński erreichte mit<br />
Prof. Dr. Andrzej Cechnicki. Foto: Leidinger<br />
seinen existenzphilosophischen Vorlesungen<br />
und Büchern eine breite Öffentlichkeit.<br />
1974 trat Andrzej Cechnicki als Volontär<br />
in die Psychiatrische Universitätsklinik ein.<br />
Hochschullehrer, Assistenten und Studenten<br />
begegneten einan<strong>der</strong> in fast familiärer<br />
Weise. Seinen Lehrern Adam Szymusik und<br />
Maria Orwid blieb Andrzej ein Leben lang<br />
verbunden. Gemeinsam arbeiten, lernen,<br />
forschen, die Probleme des Alltags meistern,<br />
feiern – alles vermischte sich zu einem<br />
intensiven Lebensgefühl. Je<strong>der</strong> neue<br />
Kollege hatte etwas beizutragen.<br />
Andrzej Cechnickis Beitrag war, die Türen<br />
nach draußen, vor allem nach Westdeutschland<br />
zu öffnen. Natürlich gab es<br />
Kontakte <strong>der</strong> Krakauer Hochschullehrer<br />
ins Ausland. Doch wirkten diese Kontakte<br />
kaum über den Rahmen persönlicher<br />
Bekanntschaft hinaus. Andrzej Cechnicki<br />
10 POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> 11
PERSONALIEN KULTUR/GESCHICHTE<br />
trachtete danach, eine Basis für offenen<br />
Dialog und Begegnung zu schaffen. Das<br />
war we<strong>der</strong> selbstverständlich noch risikolos.<br />
Erinnern wir uns: 1966 hatten Polens<br />
katholische Bischöfe ihren deutschen Brü<strong>der</strong>n<br />
einen offenen Brief geschrieben, den<br />
diese eher verständnislos aufnahmen. Bis<br />
in die siebziger Jahre lag über <strong>der</strong> <strong>BRD</strong> <strong>der</strong><br />
Mehltau <strong>der</strong> Verleugnung und Verdrängung.<br />
Erst nach 1979, nach <strong>der</strong> Ausstrahlung<br />
des amerikanischen Fernsehfilms<br />
Holocaust, interessierte sich eine breitere<br />
Öffentlichkeit dafür, wie weit die deutschen<br />
Eliten – Ärzte, Juristen, Verwaltungsleute,<br />
Ökonomen, Wissenschaftler - in die NS-<br />
Verbrechen verstrickt waren.<br />
Dieselben Eliten bildeten nach dem Krieg<br />
die Pfeiler <strong>der</strong> bundesrepublikanischen <strong>Gesellschaft</strong>,<br />
sie garantierten die politische<br />
Integration <strong>der</strong> <strong>BRD</strong> in den Westen. Und<br />
Polen spielte keine Rolle. Wer interessierte<br />
sich damals in <strong>der</strong> <strong>BRD</strong> für Polen? Wem<br />
würde ein junger polnischer Psychiater damals<br />
in Westdeutschland begegnen?<br />
<strong>Polnische</strong> Ärzte pflegten damals, ihr Gehalt<br />
durch Jobs im Ausland aufzubessern.<br />
Von ihren Reisen brachten sie Geld nach<br />
Hause. Andrzej Cechnicki brachte neue<br />
Ideen und Adressen mit.<br />
Seine erste Reise führte ihn 1979 in die<br />
Schweiz, wo er mit Luc Ciompi und Ambros<br />
Uchtenhagen zwei Vordenker einer<br />
neuen Psychiatrie kennenlernte. Dann<br />
kam Süddeutschland. Formell arbeitete er<br />
in einer Privatklinik als „Milieutherapeut“,<br />
tatsächlich hatten die Patienten einen<br />
kompetenten Psychiater vor sich. Von Besuch<br />
zu Besuch reiste Cechnicki durch die<br />
<strong>BRD</strong>, wuchs das Netzwerk, füllte sich sein<br />
Adressbuch, hatte seine Klinik in Krakau<br />
einen weiteren Partner gefunden.<br />
Aber noch fehlte diesen Beziehungen <strong>der</strong><br />
Inhalt, fanden die deutschen Partner nicht<br />
nach Polen, gab es kein Thema für einen<br />
Dialog.<br />
Schließlich Krakau, April 1985: Der Internationale<br />
Kongress „Krieg, Okkupation und<br />
Medizin“ unter Vorsitz von Professor Józef<br />
Bogusz. Hier trifft Andrzej Cechnicki Klaus<br />
Dörner und seine Mitarbeiter. Ihr Interesse<br />
ist die Aufklärung <strong>der</strong> Morde an psychisch<br />
Kranken durch die <strong>Deutsch</strong>en in Polen.<br />
Mit dem 1. September 1939, dem Tag des<br />
deutschen Überfalls auf Polen, begann<br />
auch Krieg gegen die psychisch Kranken.<br />
<strong>Deutsch</strong>e Psychiater, deutsche Soldaten<br />
und Polizisten haben überall im deutschen<br />
Machtbereich hun<strong>der</strong>ttausende psychisch<br />
Kranker als „lebensunwert“ ermordet, in<br />
Polen wurden nicht selten ganze Krankenhäuser<br />
„liquidiert“, manchmal das Personal<br />
gleich dazu.<br />
40 Jahre nach dem Krieg verlangte die<br />
psychiatrische Versorgung in beiden deutschen<br />
Staaten, und auch in Polen, dringend<br />
nach einer Verbesserung. Die Lage<br />
<strong>der</strong> Psychiatrie war eine politische. Es ging<br />
um die Überwindung von Isolation und<br />
Ausgrenzung, um Menschenrechte. Eine<br />
Reform konnte nur in Gang kommen, wenn<br />
diese entsetzlichen Ereignisse nicht länger<br />
verdrängt wurden. Psychiatrie ist vielleicht<br />
nicht für jeden eine wichtige Sache, aber<br />
<strong>der</strong> Umgang mit den schwächsten Menschen<br />
in einer <strong>Gesellschaft</strong> ist ein Gradmesser<br />
für den zivilisatorischen Zustand<br />
dieser <strong>Gesellschaft</strong>, dafür, ob sie an allgemeingültige<br />
humanistische Werte gebunden<br />
ist. Was lag näher, als diese Werte in<br />
einem deutsch-polnischen Dialog auf dem<br />
Gebiet <strong>der</strong> Psychiatrie mit allen Beteiligten<br />
zu begründen.<br />
Die Tür war offen. Andrzej Cechnickis<br />
Vorarbeit machte es möglich, dass 1987<br />
dreißig Psychiater aus <strong>der</strong> <strong>BRD</strong> auf den<br />
Spuren <strong>der</strong> ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t zuvor<br />
aus deutschen Anstalten in den Osten verlegten<br />
Patienten durch Polen reisten, als<br />
erste <strong>Deutsch</strong>e seit dem Ende des Krieges<br />
in Meseritz, Gnesen o<strong>der</strong> Warta mit ihren<br />
polnischen Kollegen zusammentrafen und<br />
über die Schicksale <strong>der</strong> Deportierten, die<br />
Ereignisse des Kriegs und <strong>der</strong> Besatzung<br />
und über die Probleme <strong>der</strong> heutigen Psychiatrie<br />
diskutierten.<br />
<strong>Deutsch</strong>-polnischer Dialog<br />
Der Dialog polnischer und deutscher<br />
Psychiater über Vergangenheit, Zukunft<br />
und Gegenwart ist Lehrstück bürgerlicher<br />
grenzüberschreiten<strong>der</strong>, internationaler Zusammenarbeit.<br />
Er hat längst auch Freunde<br />
und Kollegen in Israel – viele von ihnen<br />
aus Polen stammend – und in <strong>der</strong> Ukraine<br />
einbezogen. Er beteiligt Fachleute und<br />
Betroffene – Patienten und Angehörige –<br />
freie Vereinigungen und Institutionen <strong>der</strong><br />
Gesundheitsversorgung.<br />
Andrzej Cechnicki hat diese Bewegung<br />
mit unermüdlichem Engagement vorangetrieben,<br />
begleitet und gelegentlich auch in<br />
ihrer Richtung beeinflusst. Er brachte Menschen<br />
zusammen, die sich nie begegnet<br />
wären, und die sich nun zu gemeinsamer<br />
Aktion zusammenschlossen. Er lieferte die<br />
Stichworte, um den Dialog im Fluss zu halten.<br />
Wenn ihm die Worte fehlten, so holte<br />
er sich Rat bei seiner Frau Maria, die den<br />
verschütteten und verborgenen Dingen<br />
wie<strong>der</strong> Namen gab. Wie sehr Maria Cechnicka<br />
mit scharfsinniger Intuition und poetischer<br />
Kreativität zu seiner Arbeit beigetragen<br />
hat, kann nicht überschätzt werden.<br />
Andrzej Cechnicki tat dies nicht ohne<br />
persönliche Opfer, er verzichtete auf materiellen<br />
Erfolg und Karrieremöglichkeiten, er<br />
war niemals auf einen persönlichen Vorteil<br />
bedacht, er machte nicht viel Aufhebens<br />
um mögliche persönliche Nachteile o<strong>der</strong><br />
die Gefahr des Scheiterns. Ein solches Verhalten<br />
mag man als irgendwie altmodisch<br />
empfinden. Ich nenne es aristokratisch und<br />
finde, Andrzej Cechnicki zeigt sich hierin<br />
als „typisch polnisch“. Denn in <strong>der</strong> Zeit, als<br />
die Polen ihren Staat verloren hatten, lebte<br />
das Polentum im polnischen Adel weiter,<br />
und seine Werte wurden für alle mo<strong>der</strong>nen<br />
Polen beispielhaft: Ehre, Uneigennützigkeit,<br />
Opferbereitschaft, Mut, Freiheit (nicht<br />
als Instrument <strong>der</strong> Selbstverwirklichung,<br />
son<strong>der</strong>n als Teilnahme an <strong>der</strong> kollektiven<br />
Souveränität).<br />
Dem ritterlichen Handeln Andrzej Cechnickis<br />
verdanken wir <strong>Deutsch</strong>en die Überbrückung<br />
eines historischen Abgrundes,<br />
<strong>der</strong> uns nicht allein von unserem östlichen<br />
Nachbarn trennte, son<strong>der</strong>n von <strong>der</strong> universellen<br />
Wertegemeinschaft. Über diese<br />
Brücke erhielten wir die Möglichkeit,<br />
unserem Nachbarn wie<strong>der</strong> zu begegnen.<br />
Mehrere Tausend Menschen aus Polen und<br />
<strong>Deutsch</strong>land, aus Israel, aus <strong>der</strong> Ukraine<br />
haben im zurückliegenden Vierteljahrhun<strong>der</strong>t<br />
diese Möglichkeit genossen. Heute ist<br />
für uns <strong>der</strong> Weg zum Nachbarn fast selbstverständlich.<br />
Die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes<br />
an Dr. Andrzej Cechnicki ist ein<br />
Zeichen <strong>der</strong> längst fälligen Anerkennung<br />
und des Dankes. Und, dass er dieses Kreuz<br />
angenommen hat, dafür möchte ich ihm<br />
ebenfalls danken.<br />
In fast allen deutsch-polnischen Reden<br />
gibt es das Leitmotiv <strong>der</strong> „Versöhnung“,<br />
und viele von Ihnen werden sich wun<strong>der</strong>n,<br />
warum dieses Wort nicht längst gefallen<br />
ist.<br />
Ich will als Antwort mit wenigen Zeilen<br />
aus dem Vermächtnis des Herrn Cogito<br />
von Zbigniew Herbert schließen:<br />
Und übe keine vergebung wahrlich es<br />
liegt nicht an dir nachsicht zu üben im<br />
namen <strong>der</strong>er die in <strong>der</strong> frühe verraten<br />
wurden<br />
hüte dich dennoch vor überflüssigem<br />
hochmut betrachte dein narrengesicht<br />
im spiegel und wie<strong>der</strong>hole: ich wurde berufen<br />
– gab’s denn nicht bessre <br />
Beachtenswerte Ausstellung in Berlin:<br />
Brautschatz und Splitter<br />
Tür an Tür - Polen-<strong>Deutsch</strong>land 1000 Jahre Kunst und Geschichte<br />
Von Daniela Fuchs-Frotscher<br />
Das historisch nicht immer unkomplizierte<br />
Beziehungsgeflecht <strong>der</strong> deutschpolnischen<br />
Nachbarschaft wird in <strong>der</strong> Ausstellung<br />
»Tür an Tür Polen – <strong>Deutsch</strong>land.<br />
1000 Jahre Kunst und Geschichte« durch<br />
eine originelle Perspektive betrachtet.<br />
Kunstwerke, Dokumente, aber auch Bücher,<br />
Filme, Musik zeigen, dass die Geschichte<br />
bei<strong>der</strong> Nachbarlän<strong>der</strong> nicht nur<br />
Konflikte, son<strong>der</strong>n auch Gemeinsamkeiten<br />
bieten. Die Frage, ob <strong>der</strong> berühmte Bildschnitzer<br />
des Spätmittelalters Veit Stoß<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> geniale Astronom Nikolaus Kopernikus<br />
<strong>Deutsch</strong>e o<strong>der</strong> Polen waren, stellt<br />
sich heute nicht mehr. Sowohl das Leben<br />
und Schaffen des Künstlers als auch des<br />
Herzogin Hedwig, um 1530, Mischtechnik auf<br />
Pergament auf Leinwand übertragen, 69,5 x 54,5<br />
cm © Bayerische Schlösserverwaltung.<br />
Wissenschaftlers hoben bereits zu ihrer<br />
Zeit Grenzen auf.<br />
Kupferstiche und Skulpturen des Nürnberger<br />
und Krakauer Meisters Stoß und<br />
die Erstausgabe des 1543 erschienenen<br />
Hauptwerks »De Revolutionibus Orbium<br />
Coelestium« von Kopernikus gehören zu<br />
den 800 Exponaten, die aus ganz Europa<br />
zusammengetragen wurden. Der Direktor<br />
des Warschauer Königsschlosses Professor<br />
Andrzej Rottermund spricht von einer<br />
logistischen Meisterleistung, die seine<br />
Mitarbeiter und die Berliner Partner vom<br />
Martin-Gropius-Bau bewältigen mussten,<br />
um die seit 2006 geplante Ausstellung zu<br />
realisieren. Zu den Höhepunkten gehören<br />
Werke u.a. von Dürer, Cranach d.Ä., Uecker<br />
und Beuys.<br />
Der historische Teil <strong>der</strong> Ausstellung beginnt<br />
mit Gnesen, dem Ort des ersten<br />
deutsch-polnischen Gipfeltreffens zwischen<br />
den Königen Otto III. und Boleslaw<br />
I. im Jahre 1000. Beide Monarchen frönten<br />
nicht nur dem Kult um den heiligen Adalbert,<br />
son<strong>der</strong>n es kam dort zur Anerkennung<br />
<strong>der</strong> politischen Souveränität des frühen<br />
polnischen Staates. Zum Reiz <strong>der</strong> Ausstellung<br />
gehört, dass immer wie<strong>der</strong> Arbeiten<br />
zeitgenössischer Künstler hinzugefügt<br />
wurden. Diese erfrischende Mischung erschließt<br />
dem Besucher neue Perspektiven<br />
<strong>der</strong> Betrachtung historischer Ereignisse.<br />
Ein Beispiel wäre die 1987 geschaffene Installation<br />
»Heiliger Adalbert« von Miroslaw<br />
Balka, die aus Leinwand, Holz, Hafer und<br />
Neonröhren besteht. Diese Art <strong>der</strong> Präsentation<br />
trägt deutlich die Handschrift <strong>der</strong><br />
international renommierten Chefkuratorin<br />
Anda Rottenberg aus Warschau, die sich<br />
bisher mit mo<strong>der</strong>nen Kunstausstellungen<br />
einen Namen gemacht hat.<br />
»Das Magazin <strong>der</strong> Geschichte« eine Stahlgitterkonstruktion,<br />
präsentiert<br />
im Lichthof des<br />
Gropius-Baus,<br />
hat <strong>der</strong> Künstler<br />
Jaroslaw Kozakiewicz<br />
extra für<br />
diese Ausstellung<br />
geschaffen.<br />
Sie steht als Metapher<br />
für das<br />
G e f a n ge n s e i n<br />
<strong>der</strong> deutschpolnischenGe-<br />
schichte, die<br />
immer wie<strong>der</strong><br />
Stereotype vom<br />
jeweils An<strong>der</strong>en hervorbringt. Realität<br />
und Mythos werden hier am Beispiel <strong>der</strong><br />
Schlacht bei Grunwald/Tannenberg gezeigt,<br />
wo <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>e Orden von einem<br />
polnisch-litauischen Heer 1410 vernichtend<br />
geschlagen wurde. (sh. Seite 14)<br />
Neben Trennendem wie die Weltkriege<br />
und Besatzung gehören zum Miteinan<strong>der</strong><br />
auch vielfältige Verbindungen von Königs-<br />
und Adelshäusern. So heiratete 1642 Anna<br />
Katharina Konstanze Wasa, eine polnische<br />
Prinzessin, Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg.<br />
Einzelstücke ihres Brautschatzes,<br />
<strong>der</strong> 70 Wagenladungen umfasste, lassen<br />
Reichtum und Pracht erahnen. In diesem<br />
Kontext darf August <strong>der</strong> Starke nicht fehlen,<br />
<strong>der</strong> als König von Polen politisch eher<br />
glücklos agierte, aber Spuren in <strong>der</strong> Kunst<br />
und in Bauwerken hinterließ.<br />
1831 erfasste deutsche Demokraten<br />
eine echte Polenbegeisterung, als sie nach<br />
<strong>der</strong>en misslungenem <strong>November</strong>aufstand<br />
den Geschlagenen Unterstützung und Solidarität<br />
auf ihrer Flucht nach Westeuropa<br />
zukommen ließen. Zu den Sympathisanten<br />
gehörte Richard Wagner, <strong>der</strong> seine Polonia-<br />
Ouvertüre als Hommage an Polens Freiheitswillen<br />
komponierte.<br />
Der zweite Teil <strong>der</strong> Ausstellung ist jüngerer<br />
Geschichte gewidmet. <strong>Deutsch</strong>-polnische<br />
Künstlernetzwerke <strong>der</strong> 20er Jahre<br />
des vergangenen Jahrhun<strong>der</strong>ts begehrten<br />
gegen Nationalismus und Krieg auf. Als<br />
Mittler gilt Jankel Adler, dessen Bild »Meine<br />
Eltern« zu sehen ist. Die Darstellung des<br />
Neubeginns <strong>der</strong> deutsch-polnischen Beziehungen<br />
nach dem Krieg zeigt schmerzliche<br />
Wahrheiten, reizt auch zum Wi<strong>der</strong>spruch.<br />
Das Aufbegehren <strong>der</strong> Solidarnosc-Bewegung<br />
in den 1980er Jahren in Polen und<br />
<strong>der</strong>en Folgen für die Welt animierte Künstler<br />
zur Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem realen<br />
Sozialismus. Belegt in <strong>der</strong> Ausstellung u.a<br />
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Władysław Bartoszewski ist Vorsitzen<strong>der</strong> des wissenschaftlichen<br />
Beirats <strong>der</strong> Ausstellung. Foto: Ulrike Höck<br />
durch Günther Ueckers »Splitter für Polen«.<br />
Ein umfangreiches Begleitprogramm will<br />
das Nachdenken über das deutsch-polnische<br />
Miteinan<strong>der</strong> för<strong>der</strong>n. <br />
Die Ausstellung ist noch bis zum 9. Januar im<br />
Martin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen.<br />
Wir danken <strong>der</strong> Tageszeitung „Neues <strong>Deutsch</strong>land“<br />
für die Nachdruckerlaubnis.<br />
12 POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> 13
KULTUR/GESCHICHTE KULTUR/GESCHICHTE<br />
Anmerkung zu einem Bild:<br />
Patriotische Kreuzstiche<br />
Von Thomas Wilms<br />
„Schlacht bei Tannenberg“ übersetzen<br />
die Ausstellungsmacher im Martin Gropius<br />
Bau in Berlin (sh. Bericht auf Seite<br />
11) fälschlich die gestickte Kopie des<br />
berühmten Matejko-Gemäldes „Bitwa<br />
pod Grunwaldem - Schlacht bei Grunwald“.<br />
Damit will man <strong>der</strong> deutschen<br />
historischen Sicht nahekommen. Thomas<br />
Willms hat sich Original in Warschau<br />
und Kopie in Berlin angesehen<br />
und seine Anmerkungen zu Bild und Geschichte<br />
für POLEN und wir zu Papier<br />
gebracht.<br />
Das Warschauer Nationalmuseum ist so<br />
ehrfurchtgebietend wie alle alten Kunsthallen.<br />
Knarrende Holzdielen, monströse<br />
dunkle Türen, Le<strong>der</strong>polster und dann gestrenge<br />
Adelsporträts, dicke Engel, malträtierte<br />
Heilige und Mätressen mit tiefen<br />
Dekolletes, die auf einen hernie<strong>der</strong> blicken.<br />
Und doch erwartet einen in Warschau etwas<br />
Beson<strong>der</strong>es. In einem riesigen Saal<br />
tritt man vor ein nationales Heiligtum: „Bitwa<br />
pod Grunwaldem“, die „Schlacht von<br />
Grunwald“, unglaubliche 9 mal 4,5 Meter<br />
groß.<br />
Der Eindruck muss im Jahre <strong>der</strong> Enthüllung<br />
1878 noch gewaltiger gewesen sein<br />
als heute, wo man durch ähnlich dimensionierte<br />
Shampoo-Werbung doch etwas<br />
abgestumpft ist.<br />
Der Künstler Jan Matejko wäre mit diesem<br />
Arrangement zweifellos zufrieden<br />
gewesen, denn das Gemälde war nie dafür<br />
gedacht eine Kaufmannsstube zu zieren,<br />
son<strong>der</strong>n von vornherein ein Mittel im<br />
Kampf um nationale Selbstbehauptung.<br />
Begonnen 1872, kurze Zeit nachdem das<br />
<strong>Deutsch</strong>e Reich sich kriegerisch etabliert<br />
hatte, sah es für nationalbewusste Polen<br />
wahrlich nicht gut aus. Keine Armee, kein<br />
Staat, keine Triumphe. Da musste <strong>der</strong> Sieg<br />
eben aus <strong>der</strong> Vergangenheit geborgt werden.<br />
Die Bildsprache ist so einfach wie durch-<br />
35 Stickerinnen und Sticker haben 18 Monate an einer 1:1-Kopie des berühmten Matejko-Gemäldes Schlacht bei Grunwald gestickt. Das Werk ist in <strong>der</strong><br />
Ausstellung „Tür an Tür“ im Berliner Martin-Gropius-Bau bis zum 9. Januar zu sehen. Grzegorz Żochowski (Entwurf <strong>der</strong> Stickvorlage) Działoszyn, 2008-<br />
2010 Mouliné, Kanevas, Kreuzstickerei, 920 x 405 cm © 35 twórców pasjonatów malarstwa Jan Matejki, Działoszyn. Foto: Urszula Czapla<br />
schlagend: Im Zentrum <strong>der</strong> siegreiche bekrönte<br />
König, im Brokatgewand und vor<br />
siegreich wehendem polnischen Adler,<br />
links von ihm <strong>der</strong> Verlierer – Hochmeister<br />
Ulrich von Jungingen - im Moment <strong>der</strong> Katastrophe,<br />
die <strong>Deutsch</strong>ordens-Fahne sinkend,<br />
einfachen Fußsoldaten ausgeliefert.<br />
Der Rest des Gemetzels, auf dem man übrigens<br />
keinen Tropfen Blut sieht, tritt hinter<br />
dieser Kernaussage zurück.<br />
Was hier ins Jahr 1410 verlegt wurde,<br />
steht außer Frage: „Wir haben es euch<br />
schon mal gezeigt und wir werden es euch<br />
wie<strong>der</strong> zeigen!“ Exakt so wurde das Gemälde<br />
über Jahrzehnte auf beiden Seiten auch<br />
empfunden, auf polnischer Seite teilweise<br />
bis in die Gegenwart. <strong>Deutsch</strong>erseits saß<br />
<strong>der</strong> Ärger so tief, dass man noch 1914<br />
meinte „die Schmach tilgen“ zu müssen,<br />
indem man den Sieg über die russische<br />
(!) Armee in Ostpreußen als „Schlacht bei<br />
Tannenberg“ bezeichnete, um auf diese<br />
Weise nicht nur die 500 Jahre zurückliegende<br />
Nie<strong>der</strong>lage zu egalisieren, son<strong>der</strong>n<br />
auch gleich den „falschen“ Namen.<br />
Die Ideologisierung spitzte sich im Folgenden<br />
immer weiter zu: <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>ordensritter<br />
wurde zum Vorläufer des ostwärts<br />
ziehenden SS-Mannes stilisiert und<br />
Tannenberg/Grunwald zum Heldenkampf<br />
zwischen Germanen und Slawen, hüben<br />
wie drüben, eine Art Stalingrad des Mittelalters.<br />
Das tatsächliche mittelalterliche Geschehen<br />
ist hinter all dem nahezu verschwunden.<br />
Wer kämpfte hier überhaupt gegeneinan<strong>der</strong>?<br />
Der noch heute mit Sitz in Wien<br />
existierende „<strong>Deutsch</strong>e Orden“ war ein<br />
Mönchsorden wie Johanniter und Malteser<br />
und hatte wie diese eine merkwürdige karitativ-kriegerische<br />
Doppelrolle. Nach dem<br />
Verlust des Heiligen Landes an die Muslime<br />
richteten seine Hochmeister ihr Augenmerk<br />
auf die Bekehrung an<strong>der</strong>er „Heiden“<br />
östlich des deutschen Siedlungsgebietes<br />
14 POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> 15
POLITIK NACHRUF<br />
und errichtete dort eine eigene Herrschaft.<br />
Dieser Orden war tatsächlich in allererster<br />
Linie katholisch (!), nicht deutsch, seine<br />
höchste Autorität <strong>der</strong> Papst (!), nicht <strong>der</strong><br />
Kaiser, seine Leitheilige die Jungfrau Maria<br />
(!), nicht <strong>der</strong> Reichsadler und seine Angehörigen<br />
waren Mönche (!), nicht preußische<br />
Junker.<br />
Aggression und Intrige<br />
Seine Expansion beruhte selbstverständlich<br />
auf Aggression, Intrige und was <strong>der</strong><br />
damalige Politbetrieb so zu bieten hatte.<br />
Keineswegs aber betrieb er eine Vertreibungspolitik.<br />
Wozu auch: Im dünn besiedelten<br />
Europa war Land ohne Menschen<br />
nämlich fast nichts wert. Solange die Abgaben<br />
flossen, Hand- und Spanndienste, sowie<br />
Heeresfolge geleistet wurde, war alles<br />
an<strong>der</strong>e nicht so wichtig. Und so dämmert<br />
die Erkenntnis herauf, dass 1410 die wenigen<br />
hun<strong>der</strong>t deutschsprachigen katholischen<br />
Mönche in ihrem Gefolge mit hoher<br />
Wahrscheinlichkeit tausende polnischsprachige<br />
Untertanen hinter sich hatten<br />
o<strong>der</strong> was auch immer vor 600 Jahren unter<br />
„<strong>Deutsch</strong>“ und „Polnisch“ zu verstehen gewesen<br />
ist.<br />
Umgekehrt handelt es sich beim schwertschwingenden<br />
König mitnichten um den<br />
polnischen König, den nicht einmal Matejko<br />
zum Kriegshelden machen mochte, und<br />
<strong>der</strong> ihn vielmehr rechts hinten ins Gestrüpp<br />
verfrachtete, son<strong>der</strong>n um den litauischen<br />
Fürsten Vytautas. Der wie<strong>der</strong>um hatte in<br />
seinem Gefolge Tataren und an<strong>der</strong>e Steppenbewohner,<br />
<strong>der</strong>en Christianität mindestens<br />
zweifelhaft war.<br />
Heidnische Tartaren<br />
Der amerikanische Schriftsteller und Polenfreund<br />
James A. Michener ließ es sich in<br />
seiner Romandarstellung („Poland“) dieser<br />
Schlacht denn auch nicht nehmen, ausgerechnet<br />
heidnische Tataren den entscheidenden<br />
Schlag gegen die katholischen<br />
Mönche führen zu lassen.<br />
Untergegangen ist <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>e Orden<br />
übrigens nach Grunwald nicht, ebenso wenig<br />
wie Rom nach Cannae. Der <strong>Deutsch</strong>ordensstaat<br />
kollabierte als Mo<strong>der</strong>nisierungsverlierer<br />
erst ein Jahrhun<strong>der</strong>t später<br />
als sein letzter Hochmeister in einer Art<br />
Management-Buy-out das Gebiet in ein<br />
protestantisches Fürstentum umwandelte,<br />
das von seiner Herkunft die nächsten Jahrhun<strong>der</strong>te<br />
möglichst wenig wissen wollte:<br />
Preußen. <br />
Rassistische Angriffe mehren sich:<br />
Die „Arische Horde“ marschiert<br />
Evangelisch-Reformierte Kirche reagiert mit Erklärung<br />
Von Karl Forster<br />
Lange wurde es geleugnet, dass Rassismus<br />
und Antisemitismus auch in Polen<br />
Raum greift. Jetzt ist auch die evangelische<br />
Kirche in Polen mit einer Erklärung<br />
an die Öffentlichkeit gegangen.<br />
Anfang August wurde die Synagoge in<br />
Orla, einem Ort, in dem viele Polen weißrussischer<br />
Herkunft wohnen, mit faschistischen<br />
und rassistischen Parolen besprüht:<br />
„Juden ins Gas“, „Ganz Polen den Polen“<br />
und „White Power“.<br />
Ende August drangen unbekannte Täter<br />
in das „Zentrum für Islamische Kultur“ in<br />
Krynki ein, demolierten große Teile <strong>der</strong> Inneneinrichtung<br />
und steckten die Toilettenräume<br />
in Brand.<br />
In <strong>der</strong> gleichen Nacht wurden in 14 Orten<br />
<strong>der</strong> Gemeinde Puńsk litauische Gedenktafeln<br />
und ein Denkmal zerstört. Auf das<br />
Denkmal wurde das Zeichen <strong>der</strong> nationalistischen<br />
Organisation „Falanga“ gemalt.<br />
Am 24. August wurde in <strong>der</strong> Gemeinde Bubele<br />
bei Sejny ein Obelisk zum Gedenken<br />
an einen litauischen Dichter beschädigt<br />
und mit Farbe beschmiert. Zwei Tage zuvor<br />
wurde die Wohnung eines pakistanischen<br />
Ehepaares in einer Siedlung in Białystok<br />
angezündet.<br />
Am 31. August wurden in Jedwabne antisemitische<br />
Parolen „Ich entschuldige mich<br />
nicht für Jedwabne“, „Sie waren gut brennbar“<br />
und das Hakenkreuz auf das Denkmal<br />
für die ermordeten Juden gesprüht.<br />
Nazis im Stadion<br />
Schon länger waren in Fußballstadien<br />
Nazigruppen offen und ungestört aufgetreten.<br />
Eine von <strong>der</strong> Europäischen Fußball-<br />
Union (UEFA) in Auftrag gegebene Studie<br />
hatte bestätigt, dass bei Fußballspielen in<br />
den beiden EM-Ausrichterlän<strong>der</strong>n Polen<br />
und Ukraine Neonazi-Gruppen oft völlig<br />
ungehin<strong>der</strong>t auf den Rängen faschistische<br />
Symbole zeigen können und Hasstiraden<br />
gegen Schwarze, Juden, Muslime o<strong>der</strong><br />
Homosexuelle zunehmen. Fans von Legia<br />
Warschau johlten bei einer Party in Łodź<br />
„Juden in die Gaskammern!“ Im Stadion<br />
von Resovia Rzeszów wurde die „Wie<strong>der</strong>holung<br />
<strong>der</strong> Kristallnacht“ angekündigt, und<br />
ein Hooligan aus <strong>der</strong> Gruppe <strong>der</strong> „White<br />
Patriots“ im schlesischen Czestochowa<br />
trägt das eintätowierte Hakenkreuz auf <strong>der</strong><br />
blanken Brust: „Wir hassen Nigger, Schwule<br />
und Juden“, sagt er. Durch Rzeszóws<br />
Straßen zogen einige Tausend Fussballfans<br />
hinter dem Transparent „Hier marschiert<br />
die Arische Horde“ und im Stadion hing ein<br />
Transparent „Tod den Krummnasen“. Alles<br />
ohne Einschreiten <strong>der</strong> Ordnungskräfte.<br />
Inzwischen reagieren wenigstens die Medien.<br />
In einem offenen Brief hat nun auch<br />
die Evangelisch-Reformierte Kirche die Behörden<br />
aufgerufen, gegen die rassistischen<br />
Aktionen vorzugehen. <br />
Erklärung:<br />
Die Evangelisch-Reformierte Kirche in <strong>der</strong><br />
Republik Polen möchte hiermit ihre tiefe<br />
Beunruhigung über die Anstoß erregenden<br />
Vorfälle ausdrücken, die in letzter Zeit in<br />
Jedwabne, Białystok, Puńsk und Orla stattgefunden<br />
haben.<br />
An den genannten Orten kam es zu schändlichen<br />
Taten. Man entweihte das Denkmal<br />
für die ermordeten Juden in Jedwabne,<br />
zündete das Zentrum <strong>der</strong> Islamischen Kultur<br />
in Białystok an, hinterließ beleidigende<br />
Aufschriften auf den Mauern <strong>der</strong> Synagoge<br />
in Orla und übermalte legale Aufschriften in<br />
litauischer Sprache in Puńsk.<br />
Alle diese Ereignisse geben uns heute<br />
Anlass zu Befürchtungen hinsichtlich <strong>der</strong><br />
moralischen Verfassung eines Teiles unserer<br />
Bürger, die Hass gegenüber unseren<br />
Mitbrü<strong>der</strong>n hegen. Mitbrü<strong>der</strong>n, die sich zu<br />
einer an<strong>der</strong>e Religion als die Mehrheit <strong>der</strong><br />
Polen bekennen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e ethnische und<br />
nationale Wurzeln als die Mehrheit <strong>der</strong> Polen<br />
haben.<br />
Wir appelieren an die polnischen Behörden,<br />
verstärkte Anstrengungen zur Aufdeckung<br />
<strong>der</strong> Verursacher dieser unwürdigen<br />
Vorfälle zu unternehmen. Wir solidarisieren<br />
uns mit allen, die diese Akte des Vandalismus<br />
und <strong>der</strong> Gewalt persönlich berührt o<strong>der</strong><br />
ebenso wie uns betroffen gemacht haben.<br />
Wir drücken die Hoffnung aus, dass wir,<br />
die polnische <strong>Gesellschaft</strong>, noch die Kraft<br />
aufbringen, uns über alle Unterschiede hinweg<br />
solch ungerechten Taten zu wi<strong>der</strong>setzen,<br />
die sich gegen unsere Nächsten richten.<br />
Priester Marek Izdebski, Bischof,<br />
am 13.9.<strong>2011</strong><br />
Zum Tod unseres Beiratsmitglieds:<br />
Versöhnen und Wi<strong>der</strong>stehen:<br />
Franz von Hammerstein (1921–<strong>2011</strong>)<br />
Von Christoph Koch<br />
Sein Eingang und sein Ausgang war ein<br />
unverbrüchliches protestantisches Christentum,<br />
ein quellklares, vorbehaltloses<br />
und vor keiner Konsequenz zurückschreckendes<br />
Christentum, das den So zialismus<br />
als seinen na türlichen Nachfahren auszumachen<br />
vermochte. Das Christentum war<br />
die Brücke, über die er mit <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />
Wirklichkeit seiner Tage verkehrte.<br />
Es war zugleich die feste Burg, die ihm den<br />
Rückzug auf die für diesen Verkehr erfor<strong>der</strong>liche<br />
Distanz er laubte und ihm sicheren<br />
Stand auf durch die Zeitumstände aufgewühltem<br />
Grund ge währte. Die Fe stigkeit<br />
<strong>der</strong> Burg schien seinem Charakter etwas<br />
Erratisches mit zu tei len. In Wirk lichkeit<br />
war das Erratische ererbt. Zu ihm hatten<br />
sich das Bewußtsein <strong>der</strong> Über stän dig keit<br />
und <strong>der</strong> dagegen aufbegehrende Stolz <strong>der</strong><br />
Beständigkeit <strong>der</strong> vorigen Generation des<br />
deutschen Adels verdichtet, dem mit dem<br />
Untergang <strong>der</strong> Monarchie unter den Füßen<br />
die Republik ausgebrochen war und <strong>der</strong>,<br />
so weit er nicht die Seiten wechselte, aus<br />
<strong>der</strong> überkommenen Perspektive des Militärs<br />
o<strong>der</strong> des di plomatischen Dienstes zusah,<br />
wie eine längst im Feudalstaat eingerichtete<br />
Bourgeoisie die un gewollte Gabe<br />
<strong>der</strong> Republik vertat, die ihr die Revolution<br />
an<strong>der</strong>er gesellschaftlicher Kräfte, de rer<br />
sie sich schämte, in die Hand gedrückt<br />
hatte. Aus dem Wi<strong>der</strong>spruch von Selbstachtung<br />
und Resignation resultiert das<br />
Hammerstein’sche Schweigen, mit dem<br />
<strong>der</strong> Vater nicht allein den Bruch <strong>der</strong> älteren<br />
Töchter mit den Traditionen des Standes<br />
quittierte. Der Sohn, dem weit aus geringere<br />
Zumutungen ins Haus standen, hat es<br />
in die eigene Familie hinübergerettet. Daß<br />
auch das Christentum eine Rückzugsposition<br />
war – er war zu klug, es nicht zu wissen,<br />
doch hat er mit um so stärkerer Zuversicht<br />
darüber hinweggesehen.<br />
Franz von Hammerstein wurde 1921<br />
in Berlin als Sohn des Freiherrn Kurt von<br />
Hammerstein-Equord und Maria Freiin<br />
von Lüttwitz geboren. Die Mutter war die<br />
Tochter des Generals Walther von Lüttwitz,<br />
<strong>der</strong> 1919 als Oberbefehlshaber <strong>der</strong><br />
Reichswehr den Spartakusaufstand nie<strong>der</strong>schlug<br />
und 1920 die treibende Kraft<br />
des Kapp-Putsches war. Der Vater, aus ge-<br />
meinsamem Militärdienst Freund des späteren<br />
Reichskanzlers Kurt von Schleicher,<br />
war maß geblich an <strong>der</strong> bis zum Juli 1933<br />
anhaltenden geheimen Zusammenarbeit<br />
von Reichswehr und Roter Ar mee beteiligt.<br />
In <strong>der</strong> Weimarer Republik stieg er als<br />
Chef <strong>der</strong> Heeresleitung in die oberste Führungsposition<br />
<strong>der</strong> Reichswehr auf (1930).<br />
Nachdem sein Vorstoß bei Hin denburg,<br />
die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler<br />
zu verhin<strong>der</strong>n, gescheitert war und er sich<br />
die Vergeblichkeit seines Wi<strong>der</strong>stands gegen<br />
die Nationalsozialisten eingestehen<br />
mußte, reich te er Ende 1933 sein Entlassungsgesuch<br />
ein. Von Anfang stand er in<br />
Kontakt mit dem militärischen Wi<strong>der</strong>stand<br />
gegen Hitler, und es heißt, daß er im Zuge<br />
seiner vorübergehenden Reaktivierung zu<br />
Beginn des Zweiten Weltkriegs geplant<br />
habe, Hitler zu beseitigen. Seine beiden<br />
ältesten Söhne, Kunrat und Ludwig, waren<br />
am Putschversuch gegen Hitler vom 20.<br />
Juli 1944 beteiligt. Die drei älteren Töchter<br />
hatten dem elterlichen Milieu bereits früher<br />
den Rücken gekehrt und teils revolutionärere<br />
Wege eingeschlagen. Marie Luise<br />
trat im ersten Semester ih res Jurastudiums<br />
in die Kommunistische Partei ein; Maria<br />
Therese hatte ein intensives Interesse für<br />
das Judentum entwickelt, bewahrte mit Hilfe<br />
von Vater und Schwester Juden vor <strong>der</strong><br />
Verhaftung und wan<strong>der</strong>te nach einem mißglückten<br />
Aufenthalt in einem israelischen<br />
Kibbuz 1935 mit ihrem Mann nach Japan<br />
aus; Helga kam in jungen Jahren durch<br />
ihren polnisch-jüdischen Freund Leo Roth<br />
mit <strong>der</strong> illegalen Arbeit <strong>der</strong> KPD in Berührung,<br />
<strong>der</strong> sie 1930 beitrat. Erst unlängst<br />
hat man in Moskau Dokumente gefunden,<br />
die aus <strong>der</strong> Schreibtischschublade ihres<br />
Vaters stammen. In <strong>der</strong> engeren Familie<br />
Hammerstein hat es keinen Nationalsozialisten<br />
gegeben.<br />
Welch ein Umfeld! Die Jugend Franz von<br />
Hammersteins glie<strong>der</strong>t sich in zwölf Jahre<br />
Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> Wei marer Republik und<br />
zwölf Jahre Aufstieg und Fall des Dritten<br />
Reiches. Wegen eines Sehfehlers vor <strong>der</strong><br />
Einberufung bewahrt, wurde er zur Arbeit<br />
in <strong>der</strong> Rüstungsindustrie dienstverpflichtet<br />
und absolvierte eine Ausbildung als<br />
Industriekauf mann. Nach dem 20. Juli<br />
1944 wurden im Zuge <strong>der</strong> Suche nach den<br />
flüchtigen Brü<strong>der</strong>n er, seine Mutter und<br />
seine Schwestern Helga und Hildur – <strong>der</strong><br />
Vater war 1943 gestorben – in Sippenhaft<br />
genommen. Mutter, Franz und Hildur trafen<br />
sich in <strong>der</strong> Grünen Minna wie<strong>der</strong>, die sie als<br />
Son<strong>der</strong>häftlinge Himmlers auf die Reise in<br />
die weitgehend inexistente „Alpenfestung“<br />
schickte. In den Wirren des Kriegsendes<br />
endet die Irrfahrt für Mutter und Tochter<br />
in den Südtiroler Bergen, für den Sohn auf<br />
dem Fußmarsch von Dachau in den Süden,<br />
ehe die Familienmitglie<strong>der</strong> von den Amerikanern<br />
befreit werden.<br />
Das mit geringfügiger Verspätung angetretene<br />
erwachsene Leben Franz von<br />
Hammersteins beginnt mit einem Fazit.<br />
Er bezieht Position sowohl im Gefüge <strong>der</strong><br />
Familie als auch ge genüber <strong>der</strong> Geschichte<br />
seines Landes, indem er sich zum Studium<br />
<strong>der</strong> Theologie entschließt. Der Keim zu<br />
dem Entschluß ist früh gelegt. Ein Umzug<br />
<strong>der</strong> Familie hatte es gefügt, daß <strong>der</strong> katholisch<br />
Getaufte 1937 in <strong>der</strong> Dahlemer<br />
Bekenntnisgemeinde den Konfirmationsunterricht<br />
von Martin Niemöller besuchte<br />
und von diesem konfirmiert wurde, ehe<br />
Niemöller drei Wochen später als „persönlicher<br />
Gefangener“ Hitlers in das Konzentrationslager<br />
Sachsenhausen eingeliefert<br />
wurde. Hammersteins Entscheidung für<br />
die Theologie ist nicht die Entscheidung<br />
einer gläubigen anima candida, son<strong>der</strong>n<br />
über den Glauben hinaus ein politischer<br />
Entschluß. Seither steht sein Leben unter<br />
dem Motto <strong>der</strong> Begriffe „Versöhnen“ und<br />
„Wi<strong>der</strong>stehen“, die kluge Leute – lei<strong>der</strong> in<br />
umgekehrter Reihenfolge – über die Festschrift<br />
zu seinem 85. Geburtstag gesetzt<br />
haben. Tatsächlich steht von beiden Zielen<br />
das erstere voran. Der Versöhnung <strong>der</strong><br />
vor allem von deutscher Seite nicht erst<br />
durch den beispiellosen Zivilisationsbruch<br />
des Nationalsozialismus unter den Völkern<br />
ebenso wie im eigenen Volk aufgerissenen<br />
Trennungen und Gegensätze und dem Wi<strong>der</strong>stand<br />
gegen alle Versuche, den Prozeß<br />
16 POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> 17
NACHRUF NACHRUF<br />
Ein Foto <strong>der</strong> Skulptur „Franz von Hammerstein“<br />
des Berliner Bildhauers und Grafikers Christian<br />
Theunert (1899-1981), dem im Dritten Reich die<br />
Berufsausübung verboten war, steht im Wohnzimmer<br />
<strong>der</strong> Hammersteins. Theunerts Nachlass<br />
wurde 1996 dem Archiv <strong>der</strong> Akademie <strong>der</strong> Künste<br />
vermacht. Foto: Privatarchiv Hammerstein<br />
<strong>der</strong> Befreiung des westlichen Teils des aus<br />
tiefstem Fall hervorgegangenen Nachkriegsdeutschlands<br />
aus den Verfehlungen<br />
<strong>der</strong> Vergangenheit zu hin<strong>der</strong>n, dient fortan<br />
nicht allein sein berufliches, son<strong>der</strong>n sein<br />
ganzes Leben mit zunehmen<strong>der</strong>, bisweilen<br />
auch rücksichtsloser Ausschließlichkeit.<br />
Dabei geht es auch im Falle größter Aufrichtigkeit<br />
naturgemäß nicht ohne Unvollkommenheiten<br />
ab, sei es, daß das Herz<br />
den Kopf (niemals umgekehrt) vom letzten<br />
Durchdringen des Gegenstandes zurückhält,<br />
sei es, daß das Verständnis des Gegenstands<br />
an<strong>der</strong>er und umfangreicherer<br />
Instrumente bedarf, als sie <strong>der</strong> theologische<br />
Zugang bereithält, sei es endlich, daß<br />
ein für die Sache relevanter Gegenstand<br />
scheinbar außerhalb des Anliegens <strong>der</strong><br />
Versöhnung liegt.<br />
Noch während seiner Studienzeit beginnt<br />
Hammerstein mit unerschöpflicher Energie<br />
und mit unerschütterlicher Standfestigkeit<br />
eine nachgerade gigantisch anmutende<br />
Aktivität, <strong>der</strong>en Breitenwirkung heute<br />
kaum mehr überschaubar ist. Die folgenden<br />
Zeilen vermögen davon nur ein grobes<br />
Bild zu zeichnen.<br />
An vor<strong>der</strong>ster Stelle des gewählten Lebensvorsatzes<br />
steht die Versöhnung zwischen<br />
Ju den und <strong>Deutsch</strong>en, die eine<br />
kritische Solidarität mit dem Staat Israel<br />
einschließt. Mit jüdischer Geschichte und<br />
Kultur war Franz von Hammerstein vor<br />
allem während eines Studienaufenthalts<br />
in den USA vertraut geworden, wo er auf<br />
jüdische Emigranten aus <strong>Deutsch</strong>land traf.<br />
Während dieser Zeit war er zusammen mit<br />
Eberhard Bethge, dem Betreuer des Nachlasses<br />
von Dietrich Bonhoeffer, an <strong>der</strong><br />
Gründung <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> für Christlich-<br />
Jü di sche Zusammenarbeit beteiligt, die seit<br />
1951 die jährliche „Woche <strong>der</strong> Brü<strong>der</strong>lichkeit“<br />
organisiert. In den USA wurden auch<br />
die Grundlagen seiner Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit Leo Baeck und Martin Buber gelegt.<br />
Bereits 1951 schenkt er seiner späteren<br />
Frau das Hauptwerk „Ich und Du“ des jüdischen<br />
Religionsphilosophen. Sieben Jahre<br />
später erscheint seine Dissertation „Über<br />
das Messiasproblem bei Martin Buber“.<br />
Im gleichen Jahr gründete Hammerstein<br />
mit dem Magdeburger Kirchenrechtler Lothar<br />
Kreyssig, <strong>der</strong> als Richter seine Stimme<br />
gegen das nationalsozialistischen Euthanasieprogramm<br />
erhoben hatte, Harald<br />
Poelchau, dem Gefängnisseelsorger <strong>der</strong><br />
nationalsozialistischen Hinrichtungstätte<br />
Plötzensee, und den Pfarrern <strong>der</strong> Bekennenden<br />
Kirche Martin Niemöller und Ernst<br />
Wilm die Aktion Sühnezeichen, die seither<br />
Hun<strong>der</strong>te junger Freiwilliger nach Israel<br />
und in die von <strong>Deutsch</strong>land unterworfenen<br />
und vom Krieg betroffenen Län<strong>der</strong><br />
geschickt hat, wo sie an <strong>der</strong> Aufarbeitung<br />
<strong>der</strong> Vergangenheit, <strong>der</strong> Betreuung <strong>der</strong> Opfer,<br />
<strong>der</strong> Pflege <strong>der</strong> Gedenkstätten und in<br />
sozialen Einrichtungen mitarbeiten. Internationale<br />
Begegnungsstätten in Jerusalem,<br />
Oświęcim (Auschwitz), Paris und Coventry,<br />
die von Aktion Sühnezeichen initiiert und<br />
errichtet wurden, sind lediglich die herausragenden<br />
Orte ungezählter von ihr organisierter<br />
Begegnungen von ehemaligen<br />
Häftlingen, Verfolgten, Zwangsarbeitern,<br />
Kriegsgefangenen, von Wi<strong>der</strong>standsgruppen<br />
aus allen betroffenen Län<strong>der</strong>n, von<br />
Franz von Hammerstein Foto: ASF<br />
KZ-Insassen und ihren Befreiern, von Zeitzeugen<br />
und Angehörigen nachgeborener<br />
Generationen, die die Erinnerung an das<br />
Geschehen wachhalten, das Verständnis<br />
seiner Geschichte vertiefen und das Bewußtsein<br />
<strong>der</strong> Zusammengehörigkeit über<br />
nationale, religiöse und weltanschauliche<br />
Unterschiede hinaus bestärken.<br />
Die Arbeit von Aktion Sühnezeichen stieß<br />
bei den Opfervölkern des Nationalsozialismus<br />
anfangs auf Mißtrauen und Skepsis, in<br />
weiten Teilen des Tätervolkes auf teils gehässige<br />
Ablehnung. Die Diffamierungen als<br />
Nestbeschmutzer und Va ter landsverräter<br />
trafen die Mitarbeiter und die Freiwilligen<br />
von Aktion Sühnezeichen wie die Träger<br />
an<strong>der</strong>er Initiativen, die sich die Überwindung<br />
<strong>der</strong> nationalsozialistischen Hinterlassenschaft<br />
zur Aufgabe machten, und waren<br />
in den Jahren, in denen Hammerstein<br />
die Arbeit <strong>der</strong> Organisation als ihr Generalsekretär<br />
leitete (1968 – 1975), noch kaum<br />
verstummt.<br />
Im Anschluß an diese Tätigkeit war Franz<br />
von Hammerstein beim Weltkirchenrat in<br />
Genf mit <strong>der</strong> Betreuung des christlich-jüdischen<br />
Dialogs befaßt. Für sein Eintreten<br />
für die christlich-jü dische Verständigung<br />
wurde er 2001 mit dem Bundesverdienstkreuz<br />
ausgezeichnet. Zwei Jah re später<br />
erhielt er zusammen mit Günter Särchen,<br />
dem katholischen Mitbegrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Ak tion<br />
Sühnezeichen <strong>der</strong> DDR, den Lothar-Kreyssig-Friedenspreis.<br />
Die Arbeit für Aktion Sühnezeichen bot<br />
den Anstoß und die Grundlage für das<br />
zweite große Anliegen Franz von Hammersteins:<br />
den Dialog über die Gräben des Kalten<br />
Krieges hinweg. In all seinen Funktionen<br />
hat er unter dem Leitstern <strong>der</strong> Versöhnung<br />
auf unzähligen Wegen und auf allen Ebenen<br />
das Gespräch mit Partnern aus den sozialistischen<br />
Län<strong>der</strong>n Osteuropas, allen voran<br />
aus Polen, <strong>der</strong> Sowjetunion und <strong>der</strong> Tschechoslowakei,<br />
die als Territorien <strong>der</strong> Ausweitung<br />
des deutschen „Lebensraums“ und<br />
als Lieferstätten <strong>der</strong> Rohstoffversorgung<br />
des <strong>Deutsch</strong>en Reiches ausersehen waren,<br />
gesucht und geführt. Die Hypothek, die auf<br />
den Gesprächen lag, war weitaus größer<br />
als die aktuellen politischen und ideologischen<br />
Gegensätze <strong>der</strong> unterschiedlichen<br />
<strong>Gesellschaft</strong>ssysteme. Alle drei Län<strong>der</strong><br />
waren Schauplatz deutscher Kriegsverbrechen,<br />
Polen und die Tschechoslowakei<br />
waren zudem die Ursprungslän<strong>der</strong> <strong>der</strong> im<br />
Zuge <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage des Dritten Reiches<br />
geflüchteten, vertriebenen und ausgesiedelten<br />
deutschen Bevölkerung und hatten<br />
von den Alliierten <strong>der</strong> Antihitlerkoalition<br />
Franz von Hammerstein mit Ehefrau Verena Foto: Aktion Sühnezeichen / Friedensdienste<br />
große Teile des <strong>Deutsch</strong>en Reiches zugesprochen<br />
bekommen, Polen endlich war<br />
überdies <strong>der</strong> hauptsächliche Schauplatz<br />
<strong>der</strong> Vernichtung <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung<br />
aus allen Teilen Europas. Der Dialog<br />
mit Polen verband Franz von Hammerstein<br />
mit <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong><br />
<strong>der</strong> Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land. Länger,<br />
als ich zurückdenken kann, gehörte er mit<br />
an<strong>der</strong>en Vertretern von Aktion Sühnezeichen<br />
dem Beirat unserer <strong>Gesellschaft</strong> an,<br />
und beharrlich hat er auf die hartnäckigen<br />
Fragen von Freunden, die uns das Erstgeburtsrecht<br />
neiden, ob er diese Zugehörigkeit<br />
mit seinem Gewissen vereinbaren<br />
könne, geantwortet: ja, das könne er sehr<br />
wohl. Umgekehrt habe ich unsere <strong>Gesellschaft</strong><br />
lange Jahre im Kuratorium <strong>der</strong> Aktion<br />
Sühnezeichen vertreten, in dem er<br />
als Ehrenvorsitzen<strong>der</strong> keine passive Rolle<br />
spielte.<br />
Seinen beruflichen Lebensweg hat Franz<br />
von Hammerstein in harmonischer Folgerichtigkeit<br />
beschlossen. Als Direktor <strong>der</strong><br />
Evangelischen Akademie zu Berlin blieb er<br />
<strong>der</strong> rastlose Mittler des Dialogs. 1986 trat<br />
er in einen ebenso rastlosen Ruhestand.<br />
In <strong>der</strong> Konsequenz seines Lebensentwurfs<br />
war er in zahlreichen Organisationen, die<br />
sich die Überwindung von <strong>der</strong> Geschichte<br />
gezogener Gräben zum Ziel setzten, ein<br />
meist aktives Mitglied. So in <strong>der</strong> Gedenkstätte<br />
<strong>Deutsch</strong>er Wi<strong>der</strong>stand und in <strong>der</strong><br />
Stiftung Topographie des Terrors, in <strong>der</strong><br />
Internationale <strong>der</strong> Kriegsdienstverweigerer<br />
und im Martin-Niemöller-Friedenszentrum.<br />
Sein Einsatz für die osteuropäischen Län<strong>der</strong><br />
hat den Zusammenbruch des Sozialismus,<br />
den er als Tragödie verstand, überdauert.<br />
So hat er 1992 Starthilfe für die<br />
Initiative <strong>Deutsch</strong>-Russischer Austausch<br />
e. V. geleistet, die sich die För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
Zivilgesellschaft in Rußland, Weißrussland<br />
und <strong>der</strong> Ukraine zur Aufgabe macht.<br />
In Rußland unterstützte er die Arbeit von<br />
Memorial, das sich <strong>der</strong> Geschichte und <strong>der</strong><br />
juristischen und sozialen Lage <strong>der</strong> Opfer<br />
<strong>der</strong> deutschen Okkupation und des Stalinismus<br />
annimmt, und wurde 1993 Mitglied<br />
seiner deutschen Sektion. 1994 stellte<br />
er sich für die Überführung <strong>der</strong> Hinterlassenschaft<br />
<strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> für deutschso<br />
wjetische Freundschaft <strong>der</strong> DDR in<br />
die Stiftung West-Östliche Begegnungen<br />
zur Verfügung, die sich den deutschrussischen,<br />
deutsch-weiß rus sischen und<br />
deutsch-ukrainischen Beziehungen und<br />
dem Aufbau demokratischer Strukturen<br />
in den ostslavischen Nachfolgestaaten <strong>der</strong><br />
UdSSR widmet und <strong>der</strong>en Vorsitz er zehn<br />
Jahre lang inne hatte.<br />
Welch ein Lebensweg und welche Distanz,<br />
die er durchmessen hat! Das Lebenswerk<br />
Franz von Hammersteins verkörpert<br />
exemplarisch die mögliche Ankunft des<br />
deutschen Adels auf dem Boden <strong>der</strong> Republik,<br />
<strong>der</strong> deutschen freilich, d. h. einer<br />
schwierigen Republik, die in beson<strong>der</strong>em<br />
Maße die Entscheidung für ihre freiheitlichen<br />
und befreienden Möglichkeiten for<strong>der</strong>t,<br />
die als Möglichkeiten zur Verwirklichung<br />
aufgegeben sind. Das Leben Franz<br />
von Hammersteins ist dieser Aufgabe in<br />
denkbar vollkommener Weise gerecht geworden.<br />
Franz von Hammerstein ist am 15. August<br />
<strong>2011</strong> gestorben. Seine Frau Verena, die<br />
dieses Leben getragen und ermöglicht hat,<br />
meint, daß er auch Fehler hatte. Man sollte<br />
es nicht für möglich halten. <br />
Wenn Sie uns<br />
helfen wollen...<br />
... gibt es verschiedene Möglichkeiten..<br />
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POLEN und wir<br />
Zeitschrift für deutsch-polnische<br />
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Neue Grottkauer Str. 38<br />
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redaktion.puw@polen-news.de<br />
18 POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> 19
TOURISMUS BÜCHER<br />
Premiere im grenzüberschreitenden Bahnverkehr:<br />
Reisen ohne Lokwechsel<br />
Lokführer erlernen die polnische Sprache<br />
Von Ulrike Höck<br />
Europa rückt stetig näher zusammen,<br />
aber die Fahrt mit <strong>der</strong> Bahn zum Nachbarn<br />
Polen ist noch immer beschwerlich. Zeitraubende<br />
Lokwechsel, Unterbrechungen<br />
<strong>der</strong> Elektrifizierung o<strong>der</strong> eingleisige Bahnstrecken<br />
schmälern das Reisevergnügen.<br />
Umso erfreulicher ist, dass nun eine entscheidende<br />
Hürde genommen wurde: Die<br />
Bahntöchter DB Regio und Arriva Polen haben<br />
die Zulassung für die Triebwagen <strong>der</strong><br />
Baureihe VT646 für den Einsatz in ganz Polen<br />
und <strong>Deutsch</strong>land erhalten. Damit wird<br />
hier erstmals auch im Regionalverkehr <strong>der</strong><br />
grenzüberschreitende Schienenverkehr<br />
ohne Lokwechsel, <strong>der</strong> vor kurzem beim<br />
Warschau-Berlin-Express realisiert wurde,<br />
möglich.<br />
Erster Ausflug<br />
Am 26. August <strong>2011</strong> war es endlich soweit:<br />
DB-Regio Nordost und Arriva RP starteten<br />
den ersten Ausflug mit dem neuen<br />
Triebwagen ins Nachbarland Polen, begleitet<br />
von führenden Vertretern <strong>der</strong> Wojewodschaft<br />
Lubuskie, des Landes Brandenburg<br />
und <strong>der</strong> beiden DB-Konzerntöchter. Der<br />
Premierenzug nahm auch 90 Touristen aus<br />
Berlin mit auf die Reise ins nahegelegene<br />
polnische Międzyrzecz.<br />
Während die Touristen die Fahrt durch<br />
Brandenburg und die Wojewodschaft Lubuskie<br />
genossen, erläuterten Vertreter aus<br />
Polen und <strong>Deutsch</strong>land <strong>der</strong> mitreisenden<br />
Presse die Bedeutung <strong>der</strong> Neuerung. „Wir<br />
brauchen gute Verbindungen zwischen<br />
Brandenburg und Polen“ so <strong>der</strong> brandenburgische<br />
Verkehrsminister Jörg Vogelsänger.<br />
„Die Zulassung <strong>der</strong> Triebwagen<br />
für beide Län<strong>der</strong> ist ein wichtiger Schritt.“<br />
Der Zug verfügt nun über die <strong>Polnische</strong><br />
Zugsicherung SHP und die Sicherungseinrichtung<br />
Funkstopp, die Displays wurden<br />
angepasst und sind komplett zweisprachig<br />
gestaltet. Die technischen Voraussetzungen<br />
für den grenzüberschreitenden Verkehr<br />
sind nun erfüllt. Der früher notwendige<br />
Lokwechsel kann entfallen und die<br />
gewonnene Zeitersparnis macht Bahnfahren<br />
zwischen <strong>Deutsch</strong>land und Polen beson<strong>der</strong>s<br />
im Nahverkehr attraktiver.<br />
Der Bahnbevollmächtigte Dr. Joachim<br />
Trettin ist erfreut über den überwältigen<br />
Zuspruch <strong>der</strong> Ausflügler für diese erste angebotene<br />
Tagestour zum polnischen Nachbarn<br />
und sieht darin das Interesse an einer<br />
Verbesserung des grenzüberschreitenden<br />
Verkehrs bestätigt. Dies gilt auch für polnische<br />
Fahrgäste, für die Berlin und Umgebung<br />
attraktive Reiseziele darstellen, so<br />
<strong>der</strong> Marschall <strong>der</strong> Wojewodschaft Lubuskie<br />
Maciej Szykuła. Und „unsere polnischen<br />
Städte und Gemeinden freuen sich, wenn<br />
die Gäste aus Berlin künftig mit <strong>der</strong> Bahn<br />
anreisen können“<br />
Besuch in Gorzów<br />
Hiervon konnten sich auch die Berliner<br />
Ausflügler überzeugen. Eine Stadtvisite in<br />
Gorzów führte sie an die Westuferprome-<br />
nade <strong>der</strong> Warta, wo Bahnbögen ähnlich den<br />
Berliner S-Bahnbögen umgestaltet werden<br />
und Cafés zum Verweilen einladen. Neue<br />
Spielplätze und Wasserspiele begeistern<br />
die Kin<strong>der</strong>, Sonnenkollektoren zeugen von<br />
umweltfreundlicher Planung. Beim Besuch<br />
auf dem Marktplatz boten sich kurze Einblicke<br />
in die neuere Geschichte. Mit Bahn und<br />
Bus ging es weiter nach Międzyrzecz und<br />
zur Burg an <strong>der</strong> Obra. Gut gestärkt von traditioneller<br />
polnischer Küche, erkundeten<br />
die Reisenden die Burganlage. Sie wurden<br />
von Rittern in glänzen<strong>der</strong> Rüstung empfangen<br />
und durften sich im Bogenschießen<br />
üben o<strong>der</strong> im Folterkeller gruseln. Beim<br />
Museumsbesuch faszinierte beson<strong>der</strong>s<br />
die hervorragende Sammlung wertvoller<br />
Sargporträts, von denen einige zurzeit in<br />
<strong>der</strong> Ausstellung im Martin-Gropius-Bau zu<br />
sehen sind. Mit Renaissancemusik und<br />
Tanzdarbietungen des jungen preisgekrönten<br />
Ensembles „Antiquo More“ fand <strong>der</strong><br />
Besuch einen stimmungsvollen Ausklang.<br />
Sprachkurse gefragt<br />
Für die Zukunft sind weitere Touren geplant,<br />
jedoch wird gerade erst das Netz<br />
neu ausgeschrieben. DB-Regio dürfte gute<br />
Chancen mit <strong>der</strong> Baureihe VT646 bei <strong>der</strong><br />
Ausschreibung <strong>der</strong> Strecke für 2014 haben.<br />
In <strong>der</strong> Zwischenzeit werden in einem<br />
Schulungszentrum in Szczecin die Lokführer<br />
aus <strong>Deutsch</strong>land ausgebildet. Auch aus<br />
Sicherheitsgründen wird hier beson<strong>der</strong>er<br />
Der neue Triebwagenzug besucht erstmals einen polnischen Bahnhof. Foto: Höck<br />
Wert auf die polnischen Sprachkenntnisse<br />
gelegt. „Die Nachfrage übersteigt bei weitem<br />
die Zahl angebotener Ausbildungsplätze,<br />
wir sind selbst darüber erstaunt“ so ein<br />
Sprecher <strong>der</strong> Bahn. Für die Lokführer heißt<br />
es jetzt also: die Schulbank drücken, polnische<br />
Schienenverkehrsregeln lernen und<br />
Vokabeln pauken. <br />
Jan Karskis Bericht an die Welt<br />
Geschichte eines Staates<br />
im Untergrund<br />
Von Renate Weiß<br />
In diesem Jahr erschien in <strong>Deutsch</strong>land Jan Karskis „Mein Bericht an die Welt“. Als<br />
„Geschichte eines Staates im Untergrund“ war <strong>der</strong> Bericht in vierhun<strong>der</strong>tausend<br />
Exemplaren 1944 in USA herausgegeben, und war sofort vergriffen. Daraufhin erschien<br />
dieser Bericht in England, Schweden, Norwegen und Frankreich. 1999 wurde<br />
das Buch in Polen verlegt und nun eben bei uns.<br />
Was beeindruckt den Leser heute an<br />
diesem Bericht, da doch bereits viele Publikationen<br />
über die polnische Untergrundbewegung<br />
von 1939 bis 1945 erschienen<br />
sind? Das ist vor allem die Authentizität<br />
dieses Buches.<br />
Mich haben zwei Ereignisse beson<strong>der</strong>s<br />
beschäftigt. Die zweite Reise Karskis nach<br />
Frankreich bzw. nach London als Kurier <strong>der</strong><br />
Exilregierung. Er gelangte über viele Umwege<br />
und schwierige Fahrten mit dem Zug,<br />
zu Fuß, und per Schiff 1943 nach London.<br />
Er berichtete den Vertreten <strong>der</strong> polnischen<br />
Exilregierung und auch Vertretern <strong>der</strong> englichen<br />
Regierung über seine Erlebnisse und<br />
über die Situation in Warschau, Lublin und<br />
Krakau, über sein illegales Eintauchen in<br />
das Ghetto und das KZ Bełżec; über seine<br />
eigene Inhaftierung und die Folter (1940 ),<br />
sowie seine Befreiung aus dem Gestapogefängnis,<br />
dem Krankenlager. Die Rettungsaktion<br />
für Jan Karski erfolgte auf Anweisung<br />
von Józef Cyrankiewicz (Vorsitzen<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Sozialdemokratischen Partei) unter<br />
Anleitung von Staszek Rosa (Stasnisław<br />
Rosieński, 1943 ermordet), den er aus Krakau<br />
kannte, aber nicht wusste, dass er zum<br />
Untergrund gehört. Eine ganze Gruppe von<br />
Kämpfern <strong>der</strong> PPS (Sozialdemokratische<br />
Partei Polens) war an dieser Befreiung beteiligt.<br />
Er charakterisiert Józef Cyrankiewicz<br />
(später Ministerpräsident in <strong>der</strong> Volksrepublik<br />
Polen) im Zusammenhang mit ihrer<br />
bei<strong>der</strong> Arbeit im Untergrund. „Während<br />
meines Aufenthalts in Krakau wohnte ich<br />
bei einem Mann namens Józef Cyna, mit<br />
dem ich schon vor dem Krieg befreundet<br />
war. Er war Anführer <strong>der</strong> Sozialistischen<br />
Partei und ein erstklassiger Journalist ... .<br />
Von den zahlreichen Vertretern <strong>der</strong> politischen<br />
Führung, denen ich begegnete, war<br />
er offenbar <strong>der</strong> Einzige, <strong>der</strong> erkannte, dass<br />
es ein fataler Fehler war, sich auf die Stärke<br />
Frankreichs zu verlassen.” Bereits hier erkannte<br />
Cyrankiewicz die eigennützige Rolle<br />
<strong>der</strong> Alliierten bei <strong>der</strong> Befreiung Polens vom<br />
Faschismus. Obwohl die polnischen Soldaten<br />
an fast allen Fronten kämpften und<br />
an <strong>der</strong> Befreiung Berlins teilnahmen, wurde<br />
Polen nicht zu den Verhandlungen zum<br />
Potsdamer Abkommen hinzugezogen.<br />
20 POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> 21<br />
Analysen<br />
Karski schreibt nicht nur über Persönlichkeiten<br />
des Untergrunds, son<strong>der</strong>n analysiert<br />
auch gesellschaftliche Bewegungen.<br />
„Von den vier Bewegungen, die am tiefsten<br />
im polnischen Bewusstsein verankert<br />
waren, besaß die Sozialistische im Kampf<br />
um die Unabhängigkeit die wahrscheinlich<br />
stärkste und ungebrochene Tradition. Sie<br />
hatte großen Einfluss bei den polnischen<br />
Arbeitern erlangt, die Vorreiter im Kampf<br />
um die Unabhängigkeit gewesen waren.<br />
Aus ihren Reihen stammen die mutigsten,<br />
unerbittlichsten und aufopfeungsvollsten<br />
Kämpfer.“ Zusammenfassend betont er<br />
„Die Arbeiter spielten eine maßgebliche<br />
Rolle bei <strong>der</strong> Verteidigung Warschaus...“<br />
„Die Nationalbewegung hatte ebenfalls<br />
tiefe Wurzeln in <strong>der</strong> Bevölkerung. Die<br />
Grundidee ‚Alles für die Nation‘ war von<br />
enormer Bedeutung für den Kampf Polens<br />
um die Selbsterhaltung als Nation und um<br />
die zahllosen Tragödien und Nie<strong>der</strong>lagen zu<br />
überstehen. Diese politisch starke Partei<br />
hatte Zulauf aus allen Klassen und Schichten.“<br />
„Historisch gesehen war die Bauernpartei<br />
die jüngste <strong>der</strong> vier Organisationen.“<br />
„Die vierte Kraft , die christliche Arbeiterbewegung,<br />
ist infolge ihrer ideologischen<br />
Orientierung ähnlich demokratisch ausgerichtet“<br />
Er analysiert die parlamentarischen Verhältnisse<br />
im Vorkriegspolen, zeigt die<br />
Verän<strong>der</strong>ungen, die sich im Untergrund<br />
entwickelten und die Rolle <strong>der</strong> Parteien<br />
für eine demokratische Entwicklung. „Die<br />
politischen Parteien repräsentierten die<br />
überwiegende Mehrheit <strong>der</strong> polnischen Bevölkerung<br />
im Untergrundstaat“.<br />
Wer war Jan Karski?<br />
Es ist die Geschichte eines polnischen<br />
Patrioten. Er lebte mit seiner Familie in einer<br />
großen interkulturellen Stadt, in Łódź.<br />
Er stammt aus einer Familie <strong>der</strong> polnischen<br />
Mittelschicht, hatte selbst den Ehrgeiz in<br />
die Diplomatie einzusteigen, Kariere zu<br />
machen. Dieser Ehrgeiz bedeutete harte<br />
Arbeit. Der Krieg brachte ihn auf einen an<strong>der</strong>en<br />
Weg, <strong>der</strong> nicht nur diplomatisches<br />
Geschick, son<strong>der</strong>n Mut, analytische Fähigkeiten<br />
und eine bedingungslose Liebe zu<br />
seinem Land erfor<strong>der</strong>te.<br />
Er wurde Kurier <strong>der</strong> Untergrundregierung<br />
Polens, <strong>der</strong> nicht nur Informationen<br />
Jan Kozielewski wurde 1914 in Łodź geboren,<br />
1942 nahm er den Namen Karski an.<br />
Foto: Verlag Antje Kunstmann<br />
nach Frankreich bzw. England vom Untergrundkampf<br />
<strong>der</strong> Exilregierung übermittelte,<br />
son<strong>der</strong>n selbst zum großen Teil die Nachrichten<br />
von den verschiedenen Kämpfern,<br />
Organisationen und Strukturen des Untergrundstaates<br />
erarbeitete.<br />
Es wird in seinen Berichten die Vielfalt <strong>der</strong><br />
Untergrundbewegung deutlich. Er übermittelte<br />
nicht nur Instruktionen <strong>der</strong> Parteien,<br />
son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> jüdischen Vertreter die<br />
nicht zu den Parteien gehörten, aber als<br />
jüdische Min<strong>der</strong>heit in Polen, Vertreter im<br />
Nationalrat in London hatten.<br />
Bevor Karski in geheimer Mission 1943<br />
nach London abreiste, hatte er noch eine<br />
Aussprache mit den jüdischen Vertretern<br />
des Untergrunds. Die jüdische Bevölkerung<br />
stand vor ihrer völligen Ausrottung. Die bei-
INACHRUF<br />
den jüdischen Vertreter des Untergrunds<br />
waren sich dieser schrecklichen aussichtslosen<br />
Lage bewusst. Sie waren <strong>der</strong> Ansicht<br />
Hilfe könne nur von den Alliierten kommen.<br />
Karski sollte diese Botschaft nach London,<br />
in die USA und zu den Vereinten Nationen<br />
bringen, damit keiner sagen könne,<br />
<strong>der</strong> Ernst <strong>der</strong> Situation sei nicht erkannt.<br />
Karski erhielt einen umfassenden Bericht<br />
über die Lage im Ghetto und in den Konzentrationslagern.<br />
Er wollte sich trotzdem<br />
davon selbst ein Bild machen. Es wurde die<br />
Möglichkeit organisiert, dass er sich selbst<br />
von <strong>der</strong> Situation überzeugt.<br />
Seine Erlebnisse, die Grausamkeiten im<br />
Ghetto und im Lager sind kaum zu ertragen.<br />
Diese Erlebnisse verfogten ihn bis an<br />
sein Lebensende.<br />
In London berichtete Karski vor allen<br />
möglichen Gremien, gab Pressekonferenzen.<br />
„Aus britischer Sicht zählte das alles<br />
nicht viel.“ ( S: 535) schreibt er enttäuscht.<br />
Generell entstand bei ihnen <strong>der</strong> Eindruck,<br />
dass er zwar überall berichten musste,<br />
aber letztlich doch ein gewisser Unglauben<br />
zu spüren war.<br />
„Mir wurde bald klar, dass die Außenwelt<br />
die beiden wichtigsten Prinzipien des polnischen<br />
Wi<strong>der</strong>standes nicht nachvollziehen<br />
konnten. Sie würden nie verstehen<br />
und würdigen können, welche Opfer und<br />
welcher Heldenmut darin lagen, dass sich<br />
unsere gesamte Nation weigerte, mit den<br />
<strong>Deutsch</strong>en zu kollaborieren. … Die Tatsache,<br />
dass ein Staatsapparat im Untergrund<br />
normal funktionieren konnte, mit einem<br />
Parlament, einer Regierung, einem Justizwesen<br />
und einer Armee, war für sie reine<br />
Fantasie“. (S. 536 )<br />
Im Mai 1943 wurde Karski in die USA<br />
beor<strong>der</strong>t. Dort traf er mit amerikanischen<br />
Persönlichkeiten zusammen, auch mit dem<br />
Präsidenten Roosevelt. Dieser wollte alles<br />
wissen, über den Untergrund, über die<br />
Vernichtung <strong>der</strong> Juden. Aber auch er hatte<br />
zwar großes Interesse gezeigt aber die<br />
Hilferufe <strong>der</strong> jüdischen Untergrundkämpfer<br />
wurden nicht gehört.<br />
Heute wird oft einseitig die Rolle einzelner<br />
Personen und Parteien hervorgehoben,<br />
nicht aber die gesamte Untergrundbewegung<br />
gewürdigt, wie es Karski in seinem<br />
Bericht an die Welt 1944 in USA tat . <br />
Jan Karski: Mein Bericht an die Welt<br />
Geschichte eines Staates im Untergrund<br />
Übersetzt von Franka Reinhart, Ursel Schäfer<br />
Erschienen <strong>2011</strong> im Antje Kunstmann Verlag,<br />
624 Seiten, 28,00€<br />
ISBN 978-3-88897-705-3<br />
Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees verstorben<br />
Abschied von Noach Flug<br />
Roman Kent wurde zum Nachfolger gewählt<br />
Mit einem beeindruckenden Gedenkakt<br />
haben Freunde und politische Weggefährten<br />
Abschied vom Präsidenten des Internationalen<br />
Auschwitz Komitees Noach Flug<br />
genommen, <strong>der</strong> am 11. August verstarb.<br />
Bundespräsident Christian Wulff betonte<br />
in seiner Rede: „Noach Flug hat uns<br />
<strong>Deutsch</strong>en sein Vertrauen geschenkt. Er<br />
war überzeugt, dass wir uns mit unserer<br />
Vergangenheit auseinan<strong>der</strong>setzen und<br />
Antisemitismus und Rechtsextremismus<br />
bekämpfen, heute wie morgen. <strong>Deutsch</strong>land<br />
verliert in Noach Flug einen großartigen<br />
Freund und ein echtes Vorbild an<br />
Menschlichkeit. Seine Botschaften waren<br />
Wahrhaftigkeit, Verständigung und Versöhnung.“<br />
Der israelische Gesandte, Emmanuel<br />
Nahshon, schil<strong>der</strong>te in seiner Rede<br />
Noach Flugs Wirken als israelischer Diplomat<br />
und als Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> Organisation<br />
Holocaust-Überleben<strong>der</strong> in Israel.<br />
Marian Turski aus Warschau und Roman<br />
Kent aus New York erinnerten in ihren<br />
Reden an die gemeinsamen Jugendjahre<br />
mit Noach Flug im Ghetto von Lodz und<br />
die ersten Aktionen ihres gemeinsamen<br />
Wi<strong>der</strong>standes gegen Hunger und Demütigung,<br />
als sie im Ghetto von Arbeitsstelle<br />
zu Arbeitsstelle zogen, und von jedem in<br />
eine Schüssel einen o<strong>der</strong> zwei Löffel Suppe<br />
erbaten, um sie an die weiterzugeben,<br />
die nichts zu essen hatten. Boaz Levin, <strong>der</strong><br />
Enkel Noach Flugs, <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeit in Berlin<br />
studiert, erinnerte in bewegenden Worten<br />
an seinen Großvater und Ratgeber, <strong>der</strong> ihm<br />
auch den Weg nach <strong>Deutsch</strong>land und nach<br />
Berlin gewiesen habe. Christoph Heubner<br />
schil<strong>der</strong>te den Freund und Präsidenten des<br />
Internationalen Auschwitz Komitees als<br />
großherzigen und weitsichtigen Menschen,<br />
<strong>der</strong> die Entwicklung und den Weg des Internationalen<br />
Auschwitz Komitees über Jahre<br />
geprägt und geför<strong>der</strong>t habe.<br />
Als Nachfolger Flugs wurde Anfang Oktober<br />
<strong>der</strong> 1929 in Łódź geborene Roman<br />
Kent gewählt. Der heute in New York lebende<br />
Kent ist Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> „American<br />
Gathering of Jewish Holocaust Survivors“<br />
und Schatzmeister <strong>der</strong> „Jewish Claims<br />
Conference“. Seit 2003 war er als Vizepräsident<br />
des Internationalen Auschwitz-<br />
Komitees aktiv. <br />
Albert Mangelsdorf Foto: Kumpf<br />
Albert Mangelsdorffs Auftritt 1957 in Sopot wirkt bis heute nach<br />
Diplomatie mit Jazz<br />
Von Hans Kumpf<br />
Nach den politischen Umwälzungen in<br />
Europa vor über zwei Jahrzehnten gehört<br />
beim Jazz ein stimmiges Wechselspiel<br />
zwischen Polen und dem nun vereinigten<br />
<strong>Deutsch</strong>land längst zur Normalität. Die<br />
brisant-prickelnde Atmosphäre vom polnischen<br />
Katakomben- und Un<strong>der</strong>ground-<br />
Jazz ist längst passé. Nach wie vor kommt<br />
man in <strong>der</strong> gemeinsamen Geschichte <strong>der</strong><br />
swingenden Art aber trotzdem oft auf anno<br />
1957 zurück. Und Namen wie die <strong>der</strong> deutschen<br />
Brückenbauer Werner Wun<strong>der</strong>lich<br />
(Baden-Baden) und Bert Noglik (Leipzig)<br />
sowie die in <strong>Deutsch</strong>land lebenden polnischen<br />
Musiker Vitold Rek (Kontrabass), Janusz<br />
Stefanski (Schlagzeug), Vladislav Sendecki<br />
(Piano) und Leszek Zadlo (Saxofon)<br />
tauchen immer wie<strong>der</strong> auf. Die Vokalistin<br />
Urszula Dudziak und <strong>der</strong> Trompeter Tomasz<br />
Stanko, in seinem Heimatland vielmals<br />
zum „Jazzmusiker des Jahres“ gewählt,<br />
genießen im Westen geradezu Kultstatus.<br />
Zwei Fachzeitschriften informieren seit<br />
Jahrzehnten in Wort und Schrift ausführlich<br />
von <strong>der</strong> Szene im jeweiligen Nachbarland,<br />
nämlich das „Jazz Forum“ (Warschau) und<br />
das „Jazz Podium“ (Stuttgart).<br />
Ganz groß an die polnische Öffentlichkeit<br />
- und wortwörtlich auf die Straße - gelangte<br />
<strong>der</strong> Jazz 1956 beim ersten nationalen Festival<br />
im Seebad Sopot. Für den internationalen<br />
Touch sorgten dabei eine tschechoslowakische<br />
und eine englische Formation.<br />
Dank des überwältigenden Erfolgs wagten<br />
es die studentischen Organisatoren, im<br />
Folgejahr die Festivität erheblich auszuweiten.<br />
Nun dienten dem wie<strong>der</strong> einwöchigen<br />
„II Festiwal Muzyki Jazzowej“ vom 14. bis<br />
21. Juli 1957 als Veranstaltungsorte sowohl<br />
die berühmte Waldoper als auch ein<br />
Sportstadion und eine Werfthalle in <strong>der</strong><br />
Nachbarstadt Danzig.<br />
Gleich mehrere Bands aus <strong>Deutsch</strong>land<br />
wurden hierzu eingeladen, und dies kam<br />
zwölf Jahre nach Ende <strong>der</strong> furchtbaren Okkupation<br />
und des Krieges einer politischen<br />
Sensation gleich, nämlich die West-Berliner<br />
„Spree City Stompers“ und unabhängig<br />
davon diverse Musiker aus Frankfurt,<br />
dominiert von den Bläsern Albert und Emil<br />
Mangelsdorff sowie Joki Freund. Eingefädelt<br />
hatte den hessischen Beitrag, <strong>der</strong><br />
unter den Namen „Two Beat Stompers“,<br />
„Emil Mangelsdorff Swingtett“, „Joki<br />
Freund Quintett“ und „Frankfurt All Stars“<br />
firmierte, Jazz-Experte Werner Wun<strong>der</strong>lich.<br />
Wun<strong>der</strong>lich hatte während seiner Kriegsgefangenschaft<br />
in Warschau die Sprache des<br />
22 POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> 23<br />
KULTUR<br />
Landes erlernt und dann rege Verbindungen<br />
mit <strong>der</strong> dortigen Jazzszene gehalten.<br />
Keine Frage: 1957 geriet zu einem markanten<br />
Neuanfang in <strong>der</strong> deutsch-polnischen<br />
Jazzgeschichte. Auch nach mehr als einem<br />
halben Jahrhun<strong>der</strong>t bleibt dieses Meeting<br />
mit <strong>der</strong> damals begonnenen gegenseitigen<br />
Zuneigung stets präsent – so musiziert <strong>der</strong><br />
nimmermüde Saxofonist Emil Mangelsdorff<br />
(geboren 1925) in seinem Quartett<br />
aktuell mit zwei seit den 80er Jahren in<br />
<strong>Deutsch</strong>land lebenden Polen, nämlich mit<br />
dem Bassisten Vitold Rek und dem Schlagzeuger<br />
Janusz Stefanski.<br />
Als im Februar 1997 das Festival in Olsztyn/Allenstein<br />
40 Jahre Jazz-Partnerschaft<br />
zwischen den beiden Län<strong>der</strong>n würdigen<br />
und feiern wollte, wurde dieses honorige<br />
Ansinnen von den deutschen Kulturbürokraten<br />
nicht adäquat unterstützt. Stargast<br />
sollte Posaunist Albert Mangelsdorff sein.<br />
In <strong>der</strong> finanziellen und organisatorischen<br />
Unsicherheit kamen als Repräsentanten<br />
<strong>der</strong> im Sommer 1957 an <strong>der</strong> Ostsee aufgetretenen<br />
deutschen Formationen dann<br />
immerhin Emil Mangelsdorff und <strong>der</strong> Posaunist<br />
Hans Wolf Schnei<strong>der</strong>. Mit dabei<br />
wie<strong>der</strong> im völkerverbindenden Einsatz war<br />
auch Werner Wun<strong>der</strong>lich. Seine polnischen<br />
Freunde erinnerten sich noch lebhaft an<br />
die „Geheimgespräche“, welche seinerzeit<br />
in Sopot die bei<strong>der</strong>seitigen Jazzaktivitäten<br />
weiter in die Wege geleitet hatten. Für<br />
seine „Verdienste um die polnische Kultur“<br />
ist Wun<strong>der</strong>lich später – sogar in <strong>der</strong><br />
schwierigen Ära <strong>der</strong> doppelten Kaczynski-<br />
Regentschaft! - mit dem „Ehrenorden des<br />
polnischen Kulturministers“ ausgezeichnet<br />
worden. Mit Genugtuung registrierte Werner<br />
Wun<strong>der</strong>lich, <strong>der</strong> noch in seinem neunten<br />
Lebensjahrzehnt per Radiosendungen<br />
über die Jazzaktivitäten in Polen informiert,<br />
dass ihn das „Jazz Forum“ auf <strong>der</strong> Titelseite<br />
<strong>der</strong> Septembernummer 2000 als „ambasador<br />
polskiego jazzu“, als „Botschafter des<br />
polnischen Jazz“, würdigte.<br />
An<strong>der</strong>seits verteilten auch deutsche Diplomaten<br />
bedeutungsvolle Orden. Dem<br />
Multiinstrumentalisten und Komponisten<br />
Andrzej Kurylewicz (1932-2007), wie seine<br />
singende Ehefrau Wanda Warska 1956 und<br />
1957 in Sopot dabei, wurde im April 2001<br />
von <strong>Deutsch</strong>lands Mann in Warschau mit<br />
dem „Verdienstkreuz 1. Klasse“ bedacht.<br />
2007, zum 50jährigen Jubiläum <strong>der</strong> polnisch-deutschen<br />
Sopot-Begegnung, geglückte<br />
das „Jazz Forum“ seine Leser nicht<br />
nur mit einem Reprint des Programmhefts<br />
von 1957, son<strong>der</strong>n wartete noch mit einer<br />
CD mit historischen Tondokumenten auf –
KULTUR KULTUR<br />
14 Tracks von 75 Minuten Gesamtdauer.<br />
In die deutsche Sopot-Delegation von<br />
1957 integrierte sich neben dem farbigen<br />
New-Orleans-Klarinettisten Albert Nicholas<br />
als weiterer Amerikaner <strong>der</strong> professionell<br />
gut gelaunte Bill Ramsey, <strong>der</strong> ja nicht<br />
nur billige Schlager zu singen vermag. Von<br />
seiner Wahlheimat aus brach er wie<strong>der</strong>holt<br />
nach Polen auf, um dort zu konzertieren.<br />
2001 tat sich Bill Ramsey bei einem Festival<br />
mit dem renommierten „Jazz Band Ball<br />
Orchestra“ zusammen, und das klingende<br />
Resultat gab es alsbald als CD-Beilage vom<br />
„Jazz Forum“. Zuvor hatte bei dem 1962 in<br />
Krakau gegründeten Ensemble als singen<strong>der</strong><br />
Gast aus <strong>Deutsch</strong>land Sylvia Droste<br />
fungiert.<br />
Aber auch in <strong>Deutsch</strong>land erinnerte man<br />
sich konzertant und dezidiert an das markante<br />
Jazztreffen von Sopot, zwar nicht in<br />
einem „runden“ Jubiläumsjahr, son<strong>der</strong>n am<br />
26. Mai 2005 aus Anlass des binational<br />
ausgerufenen „<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n Jahres“.<br />
In Frankfurt am Main ist längst <strong>der</strong><br />
Schlagzeuger Janusz Stefanski heimisch<br />
geworden, und er initiierte die in <strong>der</strong> Alten<br />
Oper durchgeführte Veranstaltung mit dem<br />
englischen Titel „German Polish Jamboree.<br />
Three Jazz Generations 1957-2005“. Die<br />
ergrauten Brückenbauer <strong>der</strong> 50er Jahre<br />
trafen sich ebenso wie die „mittlere“ Generation<br />
und <strong>der</strong> hoffnungsvolle Nachwuchs.<br />
Nun wurden von polnischer Seite<br />
u.a. Adam Pieronczyk, das Wasilewski Trio<br />
und Anna Serafinska sowie die Sopot-Veteranen<br />
Jan Ptaszyn Wroblewski und Roman<br />
Dylag gewonnen. Podiumsgespräche<br />
und die Präsentation von Filmdokumenten<br />
vertieften den Blick zurück. Das deutsche<br />
„Jazz Podium“ brachte über dieses „Geman<br />
Polish Jamboree“ einen zweiseitigen Vorbericht,<br />
und das polnische „Jazz Forum“<br />
protokollierte die Veranstaltung gar auf<br />
sechs Seiten.<br />
Schon im Jahre 2000 wurde in <strong>der</strong> Alten<br />
Oper ausgiebig polnisch gejazzt, da damals<br />
bei <strong>der</strong> Internationalen Buchmesse<br />
als „Gastland“ Polen diente. Jazzmusik aus<br />
Polen erfreut sich in <strong>Deutsch</strong>land längst<br />
eines wohlklingenden Namens. Fielen in<br />
den 60er Jahren beson<strong>der</strong>s agile Oldtime-<br />
Bands auf, die gerne auch in kleinen Lokalen<br />
spielten, so überraschen mittlerweile<br />
die Gäste aus dem Osten mit eigenständigem<br />
zeitlosem Jazz, oft mit Rockeinflüssen<br />
vermengt.<br />
Am 19. Juli 1998 widmete das Festival<br />
„Jazz Open Stuttgart“ dem vielseitig aktiven<br />
Joachim-Ernst Berendt zum (fast verjährten)<br />
75. einen ganzen Abend. Der deut-<br />
sche „Jazzpapst“ reiste 1957 im Tross von<br />
Werner Wun<strong>der</strong>lich nach Sopot mit (und<br />
verbreitete im Nachhinein gerne die schaurige<br />
Mär, die Eisenbahnwagen seien – wie<br />
einst bei Lenins Trip von <strong>der</strong> Schweiz zur<br />
Oktoberrevolution – verplombt gewesen,<br />
lernte dort den Pianisten und später als<br />
Palanskis Filmkomponist berühmt gewordenen<br />
Krzysztof Komeda kennen – und lud<br />
diesen dann wie<strong>der</strong>holt nach <strong>Deutsch</strong>land<br />
zu Rundfunk-, TV- und Plattenproduktionen<br />
ein. Ein ausgedehnter Programmpunkt <strong>der</strong><br />
Berendt-Feierlichkeiten war hier Polen vorbehalten.<br />
Pawel Brodowski, Chefredakteur<br />
<strong>der</strong> Zeitschrift „Jazz Forum“, und die Sängerin<br />
Urszula Dudziak, die zusammen mit<br />
dem trompetenden (Komponisten-Filius)<br />
Markus Stockhausen musizierte, bedankten<br />
sich in aller (Fernseh-)Öffentlichkeit für<br />
die Bemühungen Berendts um die polnische<br />
Jazzszene. Mittlerweile sind wichtige<br />
Konzertteile mittels DVD nachzuerleben<br />
(„Best of Jazz Open Stuttgart 1998“), dabei<br />
auch das Robert Majewski Quintett.<br />
Ökonomisch ergiebig und künstlerisch<br />
för<strong>der</strong>nd schien <strong>der</strong> deutsche Markt für<br />
viele polnische Jazzmusiker allemal. So erklärte<br />
einst Urszula Dudziak, dass es für sie<br />
und ihren (damaligen) Ehemann Michal Urbaniak<br />
wichtig gewesen sei, frühzeitig von<br />
dem Stuttgarter Intercord-Label „Spiegelei“<br />
produziert worden zu sein. Inzwischen<br />
hatte sie längst mit ihrer (oftmals raffiniert<br />
elektronifizierten) Stimme Weltruhm erlangt<br />
und ihre Wohnsitze in die USA und<br />
nach Schweden verlegt. Die Idee zum Projekt<br />
„Vocal Summit“, in dem sie auch mit<br />
dem späteren Pop-Hitparaden-Star Bobby<br />
McFerrin kooperierte, ging gleichfalls von<br />
<strong>Deutsch</strong>land aus.<br />
Noch in bester Erinnerung ist für den<br />
Trompeter Tomasz Stanko, dass er 1964<br />
vom Norddeutschen Rundfunk zu ausgedehnten<br />
Aufnahmen nach Hamburg verpflichtet<br />
wurde. Die in München ansässige<br />
Plattenfirma ECM stellte den individuell<br />
herzhaft-herb intonierenden Blechbläser<br />
immer wie<strong>der</strong> groß heraus, sei es zusammen<br />
mit dem Trio des Pianisten Marcin<br />
Wasilewski o<strong>der</strong> seinem „nordischen“<br />
Quintett. Außerdem sorgte das wie ECM<br />
in München ansässige Label ACT dafür,<br />
dass sich polnische Pianisten wie Pawel<br />
Kaczmarczyk, Vladyslav alias Wladyslaw<br />
alias Vladislav alias Adzik Sendecki (in<br />
<strong>der</strong> Schweiz wohnhaft und in Hamburg als<br />
Keyboar<strong>der</strong> <strong>der</strong> NDR Big Band tätig) und<br />
Leszek Mozdzer auf dem Weltmarkt (noch)<br />
besser positionieren konnten.<br />
Von 1966 bis 2002 gab es in Nürnberg<br />
alle zwei Jahre das Festival „Jazz Ost West“,<br />
kontinuierlich wurde dieses mit polnischen<br />
Musikern bestückt - ständiger Stammgast<br />
sozusagen war Tomasz Stanko. Zudem<br />
sorgt <strong>der</strong> unverwechselbare Stanko bei<br />
„JazzBaltica“, <strong>der</strong> swingenden Festivität in<br />
Kiel und Salzau, für eine hochwertige Konstante.<br />
Nicht zu unterschätzen war zu Zeiten<br />
des Kalten Krieges das „Jazz Jamboree“ in<br />
Warschau. Ähnlich wie Nürnberg diente es<br />
früh als Drehscheibe und Informationsbörse.<br />
Das polnische Festival ermöglichte vor<br />
dem Wendejahr 1989 unzählige deutschdeutsche<br />
Kontakte - bei Musikern, Journalisten<br />
und angereisten Zuhörern. Christoph<br />
Dieckmann übrigens beschrieb im Oktober<br />
2005 bei <strong>der</strong> Eisenacher Tagung „Jazz in<br />
<strong>der</strong> DDR – Jazz in Osteuropa“ humorvoll<br />
seine aufregenden „Wallfahrtgeschichten“<br />
nach Warschau zum „Jazz Jamboree“. Polen<br />
und <strong>der</strong> Jazz gerieten für die Ostdeutschen<br />
damals für ein Sinnbild <strong>der</strong> Freiheit.<br />
Zum Bindeglied <strong>der</strong> internationalen Jazzgemeinde<br />
und beson<strong>der</strong>s auch zwischen<br />
<strong>der</strong> <strong>BRD</strong> und <strong>der</strong> DDR avancierte die in<br />
<strong>der</strong> polnischen Hauptstadt editierte Zeitschrift<br />
„Jazz Forum“. 1967 (ein Jahrzehnt<br />
nach Sopot!), als auf polnische Initiative<br />
die Europäische Jazzfö<strong>der</strong>ation entstand,<br />
wurde diese in einer englischen Version<br />
zum systemübergreifenden Organ einer<br />
sich frei und unabhängig fühlenden Jazz-<br />
Welt. Fünf Jahre lang - bis zur Einführung<br />
des Kriegsrechts 1981 - gelang es zudem,<br />
eine deutschsprachige Ausgabe herauszubringen.<br />
Experten wie Bert Noglik und Rolf<br />
Reichelt reisten zum Übersetzen regelmäßig<br />
aus <strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>en Demokratischen<br />
Republik an.<br />
Mit <strong>der</strong> Doppelnummer 5/6-1992, 66<br />
Seiten im DIN-A-4-Format, ausgeliefert<br />
erst Anfang 1993, verabschiedete sich<br />
das „Jazz Forum“ in <strong>der</strong> englischen und somit<br />
weltweit verstandenen Version. Wirtschaftliche<br />
Zwänge machten diesen Schritt<br />
notwendig - eben eine Kehrseite <strong>der</strong> politischen<br />
Öffnung. Im Untertitel nennt sich die<br />
polnische Monatspostille jedoch bis heute<br />
im internationalen Englisch „The European<br />
Jazz Magazine“.<br />
Auch das „Jazz Jamboree“ in Warschau<br />
verlor in den letzten Jahren an (internationaler)<br />
Bedeutung. Dafür wurde 2008 in<br />
<strong>Deutsch</strong>land nach polnischem Namensvorbild<br />
das „European Jazz Jamboree Berlin“<br />
ins Leben gerufen. Allerdings: Eine äußerst<br />
breite Palette län<strong>der</strong>übergreifen<strong>der</strong> Jazzbegegnungen<br />
gab es Ende Mai 2009 bei<br />
dem ebenfalls von Uli Blobels „Jazzwerkstatt<br />
Berlin-Brandenburg“ organisierten<br />
<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n Festival „Sounds – No<br />
Walls – Friends & Neighbours in Jazz“. Zum<br />
20jährigen Jubiläum des Mauerfalls wurden<br />
bedeutende Bands aus Vergangenheit<br />
und Gegenwart eingeladen sowie viel miteinan<strong>der</strong><br />
improvisiert und diskutiert. Die<br />
umfangreiche Liste <strong>der</strong> beteiligten Musiker<br />
umfasste das Marcin Wasilewski Trio,<br />
das polnische Quintett Kattorna mit dem<br />
deutschen Gastkollegen Ernst-Ludwig Petrowsky<br />
(Saxofon), das Silke Eberhard Trio<br />
mit Adam Pieronczyk, Mateusz Kolakowski<br />
(Solo-Piano), das Zbigniew Namyslowski<br />
Quintett, das Friedhelm Schönfeld Trio plus<br />
Lev Shpigel (Trompete), die Ulrich Gumpert<br />
Workshop Band, Vitold Rek als Solobassisten,<br />
das amerikanisch-polnische Billy<br />
Harper - Piotr Wojtasik Quintet, das Kayla<br />
Quintett sowie den Klarinettisten Theo Jörgensmann<br />
mit den Oles-Zwillingen Marcin<br />
am Bass und Barolomej am Schlagzeug.<br />
Bereits mehrere CDs hat dieses län<strong>der</strong>übergreifende<br />
Trio vorgelegt.<br />
An <strong>der</strong> Planung dieses von <strong>der</strong> Öffentlichen<br />
Hand wesentlich unterstützten Festivals<br />
beteiligt war <strong>der</strong> vielfältig engagierte<br />
Leipziger Publizist Bert Noglik, <strong>der</strong> am 10.<br />
September 2008 im <strong>Polnische</strong>n Institut seiner<br />
Heimatstadt das „Silberne Verdienstkreuz<br />
<strong>der</strong> Republik Polen“ erhielt. „Mit dem<br />
Verdienstkreuz werden Bürger geehrt, die<br />
sich beson<strong>der</strong>e Verdienste um den polnischen<br />
Staat und seine Bürger mit Taten erworben<br />
haben, die nicht zu ihren sowieso<br />
zu erledigenden Pflichten gehören“, hieß<br />
es in <strong>der</strong> offiziellen Presseerklärung.<br />
Zahlreiche Jazz-Aktivitäten entfalteten<br />
bereits 1997/98 die „Baden-württembergisch/<br />
<strong>Polnische</strong>n Kulturbegegnungen“.<br />
„Kin<strong>der</strong>kreuzzug“, „Children Song“,<br />
„Oberek“ und „W olszynie“ - so heißen<br />
einige Stücke, die in den Ludwigsburger<br />
„Bauer Studios“ digital auf Band gebannt<br />
wurden. Bernd Konrad, Professor an <strong>der</strong><br />
Stuttgarter Musikhochschule, bekam vom<br />
Land Baden-Württemberg Geldmittel zugewiesen,<br />
um ein deutsch-polnisches Jazzensemble<br />
zu formieren. Vor einem Auftritt<br />
bei Stuttgarts „Südpool-Sommer-Festival“<br />
bewerkstelligte das binationale Quintett<br />
digitale Aufnahmen, die dann im Radio gesendet<br />
wurden. Zu einer spekulierten Plattenproduktion<br />
kam es lei<strong>der</strong> nicht.<br />
Als prominenteste Persönlichkeit <strong>der</strong><br />
Gruppe fungierte die aus den USA angereiste<br />
Urszula Dudziak. Zwei folkloristische<br />
Lie<strong>der</strong> ihres Geburtslandes steuerte<br />
Urszula Dudziak zum gemeinsamen Unternehmen<br />
bei. Bei „Oberek“ handelt es sich<br />
um einen rhythmisch verspielten Tanz im<br />
Dreivierteltakt, und die eigentlich simple<br />
Dur-Tonleiter abwärts arrangierte sie bei<br />
„W olszynie“ („Wäldchen“) sehr lieblich und<br />
harmonisch anheimelnd. Die Bassklarinette<br />
von Bernd Konrad und das Flügelhorn<br />
von Herbert Joos gelangten mit <strong>der</strong> instrumental<br />
geführten Stimme zu einer homogenen<br />
Innigkeit.<br />
Bei dem Werk „Kin<strong>der</strong>kreuzzug“ erinnerte<br />
sich Saxofonist Konrad des gleichnamigen<br />
Gedichts von Bertolt Brecht. Dieses erschütternde<br />
Poem beginnt mit den Worten:<br />
„In Polen, im Jahr Neununddreißig/ War<br />
eine blutige Schlacht/ Die hatte viele Städte<br />
und Dörfer/ Zu einer Wildnis gemacht./<br />
Die Schwester verlor den Bru<strong>der</strong>/ Die Frau<br />
den Mann im Heer/ Zwischen Feuer und<br />
Trümmerstätte/ Fand das Kind die Eltern<br />
nicht mehr.“ Den Inhalt und die Atmosphäre<br />
<strong>der</strong> Brecht-Lyrik wollte Bernd Konrad dabei<br />
nachzeichnen.<br />
„Statt mit Chopin im Programm nach<br />
Berlin zu reisen, brachte Polens Präsident<br />
einen aufregenden jungen Pianisten mit.<br />
Mit ebenso wilden wie virtuosen Improvi-<br />
sationen begeisterte <strong>der</strong> 33-jährige Leszek<br />
Mozdzer sein Publikum. Da konnte nicht<br />
einmal <strong>der</strong> Applaus für die Umarmung von<br />
Köhler und Kwasniewski mithalten“ – So<br />
berichtete euphorisch die ansonsten kritische<br />
„taz“ über die feierlich-prominente Eröffnungsveranstaltung<br />
des „<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>s<br />
Jahres“ im April 2005. Auch zum<br />
fulminanten Abschluss vom „<strong>Polnische</strong>n<br />
Mai“ wenige Wochen später in Stuttgart<br />
war <strong>der</strong> aus Danzig stammende Tastenkünstler<br />
zur Stelle. Sein Bassist Olo Walicki<br />
und <strong>der</strong> in München geborene und <strong>der</strong>zeit<br />
in Berlin lebende Schlagzeuger Maurice de<br />
Martin schlugen im Theaterhaus-Konzert<br />
gleichfalls filigran sehr melodiöse und weiche<br />
Töne an. Letztendlich ein homogenes<br />
Trio, bei dem – trotz des reichhaltigen Notenmaterials<br />
– komponierte Parts und Improvisationen<br />
fließend ineinan<strong>der</strong> übergingen.<br />
Lyrische Balladen waren bestimmend.<br />
Leszek Mozdzer auf die Frage nach seinen<br />
Erfahrungen in <strong>Deutsch</strong>land: „Ich habe<br />
mit vielen deutschen Musikern zusammengearbeitet.<br />
Die Musiker sind wie eine<br />
riesige Familie, wir haben eine glänzende<br />
Kommunikation miteinan<strong>der</strong>. Ich mag die<br />
Der Bassist Vitold Rek Foto: Kumpf<br />
Art und Weise, wie in <strong>Deutsch</strong>land Musik<br />
organisiert wird. Es stehen ziemlich gute<br />
Pianos zur Verfügung, es gibt grandiose<br />
Konzertsäle.“<br />
Mit mehreren Performances bereicherte<br />
das von <strong>der</strong> Philologin und Übersetzerin<br />
Katarzyna Kumpf angeführte Projekt<br />
„<strong>Polnische</strong> Lyrik & Jazz“ die Kulturbegegnungen<br />
1997/98 im Südweststaat. Musikalisch<br />
unterstützt wurde die Rezitatorin<br />
24 POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> POLEN und wir 4/<strong>2011</strong> 25
KULTUR KULTUR<br />
von ihrem Ehemann Hans Kumpf (Klarinette,<br />
Theremin) und dem bereits erwähnten<br />
Vitold Rek. Unter seinem eigentlichen<br />
Namen Witold Szczurek hatte <strong>der</strong> Kontrabassist<br />
seine Karriere in Polen begonnen,<br />
in <strong>Deutsch</strong>land erhoffte sich <strong>der</strong> in Krakau<br />
(unter Pen<strong>der</strong>ecki) ausgebildete Saitenvirtuose<br />
jedoch mehr künstlerische Anregungen.<br />
Längst hat er sich hierzulande als<br />
Virtuose, als Dozent und als Festivalleiter<br />
in Frankfurt etabliert.<br />
Auf Initiative von Bert Noglik formierte<br />
Rek - in Anlehnung dessen erfolgreichen<br />
Quartetts „East West Wind“ - eigens für<br />
die Leipziger Jazztage am 8. Oktober 1998<br />
eine „Polish German Jazz Connection“.<br />
Mit dabei waren wie<strong>der</strong>um <strong>der</strong> Saxofonist<br />
Adam Pieronczyk sowie Janusz Stefanski<br />
(Schlagzeug) und Corinna Danzer (Saxofon).<br />
Die Kritik lobte sodann die enorme<br />
Spielfreude des län<strong>der</strong>übergreifenden Unternehmens.<br />
2005 (im <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n<br />
Jahr!) gar hatte das Festival in <strong>der</strong> Bach-<br />
Stadt das jazzende Polen zum dominierenden<br />
Thema.<br />
Unzählig sind inzwischen die deutschpolnischen<br />
Jazz-Aktivitäten geworden. Und<br />
dies spricht für sich. Grazyna Wanat beispielsweise<br />
entwickelte erstmals 2008 die<br />
kompakte Konzertreihe „Polen-Allergie“,<br />
welche mit hochwertigem Jazz etwaige<br />
Vorurteile gegenüber dem Nachbarland<br />
bekämpfen will. Das in <strong>der</strong> Franken-Metropole<br />
sehr aktive Kulturzentrum „Krakauer<br />
Haus“ zeichnet für diese Veranstaltung verantwortlich.<br />
Tomasz Stanko (aufgewachsen<br />
in Nürnbergs Partnerstadt Krakau),<br />
Pink Freud, Aga Zaryan, Filip Wisniewski,<br />
Leszek Mozdzer und weitere Künstler aus<br />
Polen gaben sich bislang ein swingendes<br />
Stelldichein.<br />
In Darmstadt hat nicht nur das <strong>Deutsch</strong>e<br />
Polen-Institut seinen Sitz, son<strong>der</strong>n auch<br />
das auf das Joachim-Ernst-Berendt-Archiv<br />
zurückgehende Jazzinstitut. Es lag natürlich<br />
nahe, interdisziplinär zu kooperieren.<br />
So wurden dort beispielsweise Mitte 2010<br />
Ausstellungen mit jazzimpressionistischen<br />
Malereien von Mira und Alex Fleischer<br />
sowie eine Festivaldokumentation von<br />
Breslaus „Jazz nad Odra“ gezeigt. Schon<br />
1985 hatte es im kulturell stets aktiven<br />
Darmstadt eine konzertmäßige Neuauflage<br />
<strong>der</strong> Berendt-Produktion mit polnischer<br />
Lyrik (meisterhaft rezitiert von Gert Westphal)<br />
und Jazz gegeben. Als Interpreten<br />
<strong>der</strong> aufgefrischten Komeda-Kompositionen<br />
beteiligten sich jetzt u.a. Leszek Zadlo,<br />
Krzesimir Debski, Janusz Stefanski und<br />
Adzik Sendecki. Der LP-Veröffentlichung<br />
folgte 1997 die CD-Version „Der Walzer<br />
vom Weltende“, erschienen bei „Litraton“<br />
in Hamburg.<br />
Bei diversen Partnerschaften, seien sie<br />
bezogen auf (Hoch-)Schulen o<strong>der</strong> Kommunen,<br />
werden auch innige Jazzbeziehungen<br />
gepflegt. Seit 1998 existiert zwischen<br />
Neustrelitz und Szczecinek (Neustettin)<br />
eine Städtepartnerschaft. Bei einem Festkonzert<br />
zum 700jährigen Bestehen von<br />
Szczecinek taten sich auf dem dortigen<br />
Marktplatz am 21. Juni 2010 gar 130 Jugendliche<br />
aus den beiden Regionen zusammen,<br />
um das extra arrangierte Auftragswerk<br />
„Rhythmi urbani“ unter dem Dirigat<br />
des Komponisten Krzesimir Debski uraufzuführen.<br />
In den 80er Jahren tourte Jazzgeiger<br />
Debski viel in <strong>Deutsch</strong>land mit seiner<br />
Formation „String Connection“, und er<br />
erinnert sich sehr gerne an diese aufregenden<br />
Zeiten. Mittlerweile ist er beson<strong>der</strong>s<br />
als universeller Filmkomponist bekannt.<br />
Nach dem Vorbild <strong>der</strong> jugendlichen<br />
deutsch-französischen Big Band wurde<br />
auch ein <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>s Jugendjazzorchester<br />
gegründet. Der Landesmusikrat<br />
Nie<strong>der</strong>sachsen ist bei diesem völkerverbindenden<br />
Projekt maßgeblich verantwortlich.<br />
Professor Bernhard Mergner leitet seit<br />
2004 das Großensemble, die in Würzburg<br />
lebende Würzburg lebenden Komponistin<br />
und Vokalistin Sylwia Bialas arbeitete<br />
schon tonschöpferisch für den Klangkörper.<br />
In Würzburg an <strong>der</strong> Musikhochschule<br />
tätig war bis zu seiner Pensionierung <strong>der</strong><br />
1945 in Krakau geborene Saxofonist Leszek<br />
Zadlo. 2003 wurde <strong>der</strong> Jazzvirtuose<br />
zum Professor ernannt, an seinem Wohnort<br />
München übt Zadlo das Ehrenamt des<br />
Vorsitzenden <strong>der</strong> „<strong>Gesellschaft</strong> zur För<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> deutsch-polnischen Verständigung<br />
e.V.“ aus. 1986 galt <strong>der</strong> Pole mit dem<br />
deutschen Pass sogar als <strong>der</strong> „erste offizielle<br />
Jazzlehrer in Bayern“. Außerhalb von<br />
Musikhochschulen bewährte sich Zadlo als<br />
erfahrener Dozent bei freien Jazzkursen,<br />
sowohl in <strong>Deutsch</strong>land als auch in Polen.<br />
Dass immer wie<strong>der</strong> gemeinsame instrumentale<br />
Fortbildungen stattfinden, dient<br />
erst recht <strong>der</strong> Völkerverständigung. Aber<br />
<strong>der</strong> Jazz gilt eo ipso als eine internationale<br />
Musik, als eine Sprache weitgehend ohne<br />
Kommunikationsschwierigkeiten.<br />
Es gibt freilich einen polnischen „Exportüberschuss“<br />
in punkto Gastspielreisen zu<br />
verzeichnen. Weit mehr polnische Musiker<br />
jazzen in <strong>Deutsch</strong>land als dass deutsche<br />
Jazzer in Polen auftreten. Immerhin: Im<br />
Chopin-Jahr 2010 wurde dem gefeierten<br />
National-Komponisten eine ganz beson-<br />
<strong>der</strong>e Ehre zuteil - <strong>der</strong> Kölner Trompeter<br />
Markus Stockhausen, jazzen<strong>der</strong> Sohn des<br />
avantgardistischen Tonschöpfers Karlheinz<br />
Stockhausen, interpretierte zusammen mit<br />
dem Pianisten Adzik Sendecki am 4. August<br />
im Warschauer Lokal „Palladium“ etliche<br />
Werke des Romantikers. 13 Tage später<br />
konzertierte Sendecki mit deutschen<br />
Kollegen nochmals in Warschau. Als regulärer<br />
Tastenmann <strong>der</strong> Big Band des Norddeutschen<br />
Rundfunks beteiligte er sich im<br />
Sala Kongresowa bei dem Programm „Bobby<br />
meets Chopin“ mit dem populären Vokalsolisten<br />
Bobby McFerrin. Im Mai 1911<br />
wurde Sendecki mit dem Hamburger Musikpreis<br />
ausgezeichnet, was natürlich auch<br />
in seiner Heimat vermerkt wurde.<br />
Nicht zum ersten Mal hatte dabei das experimentierfreudige<br />
Jazzorchester des NDR<br />
mit Polen zu tun. So führte es 2006 mit<br />
dem Saxofonisten Jan Ptaszyn Wroblewski<br />
als Stargast die Produktion „Jazz from<br />
Poland“ durch. Neben Wroblewski-Kompositionen<br />
wurden auch Stücke von Tomasz<br />
Stanko und Krzysztof Komeda gespielt.<br />
Von dem legendären Komeda (1931-1969)<br />
kam nochmals „Astigmatic“ zum Zuge. Die<br />
Originalversion mit dem Quintett des großen<br />
Filmkomponisten wird in Polen als die<br />
beste einheimische Plattenproduktion aller<br />
Zeiten gewertet. Und hierbei beteiligt war<br />
auch ein <strong>Deutsch</strong>er: Günter Lenz, <strong>der</strong> als<br />
Mitglied des Albert Mangelsdorff Quintetts<br />
1965 beim „Jazz Jamboree“ gerade einen<br />
Auftritt absolviert hatte, konnte kurzfristig<br />
als Aushilfsbassist gewonnen und ins Studio<br />
geholt werden. Die Abonnenten vom<br />
„Jazz Forum“ bekamen die am 25. Mai<br />
2006 in Hamburg gefertigten Tonaufzeichnungen<br />
von „Jazz from Poland“ auf CD verewigt<br />
kostenlos mit dem September-Heft<br />
des gleichen Jahres geliefert.<br />
„Polen tut Europa gut“ konstatierte Anfang<br />
Dezember 2010 in Warschau Bundespräsident<br />
Christian Wulff. Für den Jazz<br />
bedeutet Polen längst ein Glücksfall, darf<br />
man hinzufügen. Zu Zeiten des Kalten Krieges<br />
wurden beson<strong>der</strong>s in und von Warschau<br />
aus die swingenden Bande zwischen<br />
Ost und West geknüpft und gepflegt. Heutzutage<br />
ist unaufgeregte Normalität eingetreten.<br />
In Zeiten vom gemeinsamen Europa<br />
und des Schengen-Abkommens können<br />
auch Jazzer unbeschwert hin- und herreisen<br />
– dies eben ohne lästige Visumspflicht<br />
und ohne Ärger mit argwöhnischen Zollbehörden,<br />
wenn es um den leidigen Instrumententransport<br />
geht. <br />
Kunstperformance im und am Zug<br />
Kraków-Berlin XPRS<br />
Von Karl Forster<br />
Stellen Sie sich einmal vor, sie sitzen bequem<br />
im Eurocity Wawel von Kraków nach<br />
Berlin. Plötzlich stürmen einige Maskierte<br />
ind den Zug, machen Lärm, o<strong>der</strong> Musik,<br />
tanzen. Da kann es schon etwas dauern,<br />
bis sie verstehen: Das ist eine Kunstaktion.<br />
Die Landschaft, die sie auf dieser Fahrt<br />
durchqueren, die Orte wie Katowice/Kattowitz,<br />
Gliwice/Gleiwitz, Opole/Oppeln,<br />
Wroclaw/Breslau, Legnica/Liegnitz haben<br />
für Polen wie auch für <strong>Deutsch</strong>land<br />
eine beson<strong>der</strong>e historische, politische<br />
und kulturelle Bedeutung. Sie bilden einen<br />
Fundus an Geschichten, die ein polnischdeutsches<br />
Team im Auftrag des Maxim<br />
Gorki Theaters Berlin und des Narodowy<br />
Stary Teatr Kraków über mehrere Monate<br />
zusammengetragen hat.<br />
Unter <strong>der</strong> künstlerischen Leitung des Regisseurs<br />
und Intendanten des Maxim Gorki<br />
Theaters Berlin, Armin Petras, wurden die<br />
Ergebnisse dieser Recherche von Schauspielern<br />
bei<strong>der</strong> Ensembles gemeinsam<br />
mit lokalen Partnern und Kulturinitiativen<br />
während einer Fahrt mit dem EC 340 von<br />
Kraków nach Berlin im Sommer zur Aufführung<br />
gebracht.<br />
Bahnhof Źary: Siegerehrung im Armdrücken-<br />
Wettbewerb. Foto: Natascha von Steiger<br />
„Wir hoffen, dass Sie auf dieser Reise we<strong>der</strong><br />
eine Verspätung noch eine Beschleunigung<br />
erleben“, so Michał Olszewski, Autor,<br />
Schriftsteller und Mitorganisator des<br />
Projekts zu den Reisenden, als sich <strong>der</strong><br />
Bahnhof Bolesławiec: <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong> „Glinoludy“<br />
Bogdan Nowak. Foto: Natascha von Steiger<br />
Zug am Samstag um 7.30 auf seinen Weg<br />
machte. Verabschiedet wurde er dabei von<br />
Orchesterklängen… Kaiser Franz und <strong>der</strong><br />
Schauspielerin Helena Modrzejewska.<br />
Ungewöhnliche, beson<strong>der</strong>e Gäste, traf<br />
man auf dieser ungewöhnlichen Zugfahrt<br />
eine ganze Menge. Meist verkörperten<br />
Schauspieler Rollen aus bekannten literarischen<br />
Vorlagen.<br />
Literarisch und sportlich ging es in einem<br />
an<strong>der</strong>en Wagen zu, in welchem Thomas Urban<br />
sein Buch über die deutsch-polnischen<br />
Beziehungen im Fußball präsentierte. Mit<br />
unglaubwürdigem Staunen hörten die Versammelten<br />
über das abgesprochene Spiel<br />
im Jahre 1927, als wenig fehlte, und eine<br />
deutsche Mannschaft polnischer Meister<br />
geworden wäre.<br />
Plötzlich lautes Getöse, als <strong>der</strong> Zug am<br />
Transparent „Zabrze begrüßt den General<br />
De Gaulle“ vorbeifuhr.<br />
Dieser Charles De Gaulle stieg kurz zuvor<br />
in den Zug, wo <strong>der</strong> Gefeierte den Zugführer<br />
begrüßte, welchen er an seinen früheren<br />
Besuch erinnerte, wo er die bis heute bekannten<br />
Worte über die beson<strong>der</strong>e Polenheit<br />
<strong>der</strong> Schlesier äußerte. Im Zug fanden<br />
weitere, unzählige Attraktionen statt: ein<br />
Armdrückerturnier, Treffen mit <strong>der</strong> Jugend<br />
aus Kędzierzyn-Kożle, welche sich für die<br />
Menschenrechte einsetzt, Workshops bei<br />
welchem man aus Niveadosen Kameras<br />
bauen konnte, Recital <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong> aus Opole,<br />
Filmvorführungen und Modevorführungen<br />
und noch viele an<strong>der</strong>e Vorstellungen.<br />
Eine unterhaltsame Zugfahrt, wenn auch<br />
mit kleinen „Störungen“. Eine Schulklasse<br />
hatte wohl wenig Interesse für die laufende<br />
Performance und störte beim Einstieg die<br />
Veranstaltung. Schließlich wollten sie einfach<br />
nur Zug fahren. Und die Performance<br />
<strong>der</strong> Bahn passte auch nicht so ganz: 45 Minuten<br />
Verspätung, so ganz ohne Unterhaltungsprogramm.<br />
Doch Schade, daß eine<br />
solche Kunstaktion wohl einmalig bleibt.<br />
Unser Tipp:<br />
Erstmals erscheint auf dem deutschen<br />
Markt ein Sprachkalen<strong>der</strong> zur polnischen<br />
Sprache.Die Blätter dieses abwechslungsreich<br />
gestalteten Abreißkalen<strong>der</strong>s präsentieren<br />
Dialoge, Redewendungen, Sprichwörter<br />
o<strong>der</strong> Zitate, kurze Grammatik- o<strong>der</strong><br />
Wortschatzübungen sowie wissenswerte<br />
Fakten zur Landeskunde. Zudem sind die<br />
Namenstage und Sternzeichen in den Kalen<strong>der</strong><br />
eingetragen.<br />
Diese Mischung aus Information, Unterhaltung<br />
und Übung bietet täglich eine<br />
Gelegenheit, das Sprachvermögen o<strong>der</strong><br />
die Kenntnisse über Land und Leute spielerisch<br />
und zugleich systematisch zu erweitern.<br />
Übersetzungen, Lösungen und<br />
Vokabelhilfen auf den Blattrückseiten garantieren<br />
einen effektiven Lernerfolg.<br />
Aleksandra Malchow / Erik Malchow<br />
Sprachkalen<strong>der</strong> Polnisch 2012<br />
640 Seiten. ISBN 978-3-87548-597-4. 14.90€<br />
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DPAG Pressepost Entgelt bezahlt<br />
Verlag <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
<strong>der</strong> Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land<br />
c/o Manfred Feustel<br />
im Freihof 3, 46569 Hünxe<br />
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Liebe Leserin, lieber Leser<br />
Wenn an dieser Stelle kein Versandetiket klebt,<br />
sind Sie vielleicht noch kein Abonnent<br />
unserer Zeitschrift. Das sollte sich än<strong>der</strong>n.<br />
Für nur 12 Euro pro Jahr erhalten Sie<br />
POLEN und wir frei haus.<br />
Bestellung an nebenstehende Anschrift.<br />
Terminvormerkung:<br />
War die „Vertreibung“ Unrecht?<br />
Freitag, 17. Februar – Samstag, 18. Februar 2012<br />
Die Umsiedlungsbeschlüsse des Potsdamer Abkommens<br />
und ihre Umsetzung in ihrem völkerrechtlichen<br />
und historischen Kontext sind das Thema<br />
einer Tagung an <strong>der</strong> Freien Universität Berlin.<br />
Noch fehlt die endgültige Bestätigung <strong>der</strong> Finanzierung<br />
<strong>der</strong> Tagung. Geht alles klar, veröffentlichen<br />
wir in <strong>der</strong> Januar-Ausgabe das ausführliche Programm<br />
und die Anmeldemöglichkeiten.<br />
Bitte merken Sie sich jedoch bereits den Termin<br />
vor.<br />
<strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong> <strong>Gesellschaft</strong> <strong>der</strong><br />
Bundesrepublik <strong>Deutsch</strong>land e.V.<br />
Bitte helfen Sie uns:<br />
Drei Klicks im Internet für POLEN und wir<br />
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im Verein! Von Sport<br />
über Kultur bis Jugendarbeit. Sie<br />
spendet je 1.000 Euro an die beliebtesten<br />
1.000 Vereine. Welche<br />
das sind, bestimmen Sie mit Ihrer<br />
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<strong>Deutsch</strong>land e.V. ist einer von bereits<br />
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Stimmen erhalten und unter die 1000 besten aufrücken,<br />
erhalten wir eine Spende <strong>der</strong> Bank in Höhe<br />
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Und so geht es: Je<strong>der</strong> Internetnutzer darf drei<br />
Stimmen vergeben. Man kann seine drei Stimmen<br />
auch nur einem Verein geben – wir freuen uns,<br />
wenn Sid uns mit allen drei Stimmen unterstützen.<br />
Gehen Sie auf unsere Webseite<br />
www.polen-news.de, Hier finden<br />
Sie den Link zur Abstimmungsseite.<br />
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Nun können Sie das nochmal wie<strong>der</strong>holen. Bis<br />
zu 3 Stimmen je e-mail-adresse können vergeben<br />
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Also sofort abstimmen<br />
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