it was really - Mathias Kessler
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Ich kam nie dazu, Oswalk zu bezahlen. Kaum waren wir in Bergen, begann Oswalk, mir m<strong>it</strong><br />
der Exped<strong>it</strong>ion zu helfen, arrangierte die Reise und die Unterkunft in Tórshavn, und als wir Grönland<br />
erreichten, wollte er kein Geld, bis die Exped<strong>it</strong>ion beendet war. Aus offensichtlichen Gründen, sagte er.<br />
Was kann ich von der Exped<strong>it</strong>ion erwarten?, fragte Oswalk, als er aus einem kurzen Schläfchen<br />
aufwachte. Auf dem unbeleuchteten Deck der vollen Nachtfähre spielten Männer und Frauen rings<br />
um uns Karten, rauchten und tranken. Urlauber, die durchhielten. Manche schliefen in Schlafsäcken<br />
unter den Bänken. Ich hatte kein Auge zugetan, und der Rosé war leer. Nach einem Augenblick<br />
fragte ich zurück:<br />
Was erwartest du?<br />
Ich erwarte, dass wir rausfahren und einem bestimmten Kurs folgen. Bestimmte Dinge sehen,<br />
vielleicht, die, die du sehen willst. Dich dorthin bringen.<br />
Das ist es, Oswalk, genau das kannst du erwarten.<br />
Aber das erwarte ich nicht. Ich erwarte, dass du noch <strong>was</strong> im Ärmel hast.<br />
Ich habe nichts im Ärmel.<br />
Doch. Was, glaubst du, ist da draußen?<br />
Da draußen ist, <strong>was</strong> da draußen ist. Wir wissen nicht, <strong>was</strong> da draußen ist. Deswegen fahren wir hin.<br />
Aber es fahren viele Leute raus. Du kannst eine Frau m<strong>it</strong> Kindern sein und von Japan fliegen,<br />
alles ist möglich. Es ist nicht schwer. Jeder kann rausfinden, <strong>was</strong> da draußen ist, selbst im Internet.<br />
Aber wir sehen es, und wir zeichnen es auf. Das ist der Unterschied. Wir sind keine Kinder.<br />
Alle zeichnen es auf. Heute haben alle Kameras. Du weißt <strong>was</strong>, und du sagst es mir nicht. Vielleicht<br />
komme ich doch nicht m<strong>it</strong>. Am Ende.<br />
Oswalk, ein stattlicher, fähiger Mann, einer, der von sich behaupten konnte, „auf dem Schiff<br />
aufgewachsen“ zu sein, machte keinen Hehl aus seiner wahren Furcht vor der Natur. Er war vernünf-<br />
tig, dachte ich, nicht mehr und nicht weniger. Der Mann, der in der Natur keine Bedrohung sieht,<br />
ist ein Esel, und Oswalks Furcht gereichte ihm zur Ehre, sie war sein nom de guerre. Ich wusste, am<br />
Ende, je größer seine Furcht, desto wahrscheinlicher würde er dabei sein. Und ich, <strong>was</strong> fürchtete ich?<br />
Es war nicht die Natur per se. Es war der Raum. Damals war mir die Furcht vor dem Raum<br />
vertraut. Nicht, weil ich ihn nicht sehen konnte, sondern weil ich es konnte. Der Raum ist nackt,<br />
und ich hatte das Gefühl, ich konnte ihn sehen, und je klarer ich ihn sah, desto kälter fuhr es mir in<br />
die Knochen. Je weniger er zu sehen war, desto entspannter war ich. Doch ich konnte hineinsehen,<br />
staunend, wie man in die vollkommene Schwärze eines Brunnens blickt, oder in einen Stollen, und<br />
allmählich beginnt, seine drei Dimensionen auszumachen. Ich konnte hineinblicken bis zu dem<br />
Punkt, an dem ich den Anblick nicht mehr ertrug und keine Wahl hatte, als den Blick abzuwenden<br />
und die Augen fest zu schließen. Wenn ich den Brunnen fotografiert hätte, oder etwa den Stollen,<br />
hätte mich meine Angst dazu veranlasst, die Kamera hineinfallen zu lassen. Und meine Furcht nahm<br />
tatsächlich diese Form an, eine zusätzliche Ängstlichke<strong>it</strong>, im Strudel eines Raumes Dinge fallen zu<br />
lassen, wobei zu diesen Dingen auch mein physisches Selbst gehörte und das von anderen, in Fällen,<br />
da ich ihr einziger Halt war.<br />
Heute ist die einzige Furcht, die mir geblieben ist, die Furcht vor der Ze<strong>it</strong>. Eine schwarze,<br />
unbekannte Angst, jedoch ohne jede bezwingbare Präsenz. Sonst fürchte ich mich vor nichts mehr.<br />
Ich kann die Ze<strong>it</strong> nicht sehen, ich stelle sie mir nicht einmal als Präsenz vor, weil ich sie nicht finden<br />
kann. Ich bin wieder ein Kind, doch in einer Kindhe<strong>it</strong> geprägt von einer Furcht, die nur ein Erwach-<br />
sener kennen kann. Doch darüber wollte ich hier nicht schreiben.<br />
Ich bin kein großer Entdecker, doch ich bin gut. Der große Entdecker versteht nicht, warum<br />
ich so gut bin, so viel besser als er. Der große Entdecker sucht nach et<strong>was</strong>. Ich suche nichts. Ich suche<br />
den Stein, aber ich suche nicht nach dem Stein. Wer den Stein sucht, und das bin ich, sucht nach dem<br />
Feuer. Feuer ist nichts, und Feuer ist alles. Es ist ganz klar. Ich verstehe es, doch der große Entdecker<br />
versteht es nicht. Der große Entdecker denkt, ich suche nach dem Stein, und wenn ich den Stein<br />
finde, fragt der große Entdecker: Du hast den Stein gefunden? Also, <strong>was</strong> ist der Stein? Natürlich gibt<br />
es keine Antwort auf die Frage „also, <strong>was</strong> ist der Stein?“, es ist eine dumme Frage in fast jedem Fall,<br />
und in diesem Fall ist sie besonders dumm. Denn ich habe nicht den Stein gefunden, ich habe das<br />
Feuer gefunden. Wenn man Feuer gefunden hat, fragt man nicht „also, <strong>was</strong> ist der Stein?“ Feuer ist<br />
Wissen. Wer vom Feuer eine Begründung verlangt, verbrennt sich.<br />
Beim Schreiben dieser Zeilen fällt mir ein Gleichnis aus dem Studium ein. Meine Geschichte,<br />
die Geschichte von mir und Oswalk, ist kein Gleichnis, sie ist ziemlich real, und so zögere ich nicht,