05.01.2013 Aufrufe

it was really - Mathias Kessler

it was really - Mathias Kessler

it was really - Mathias Kessler

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

48<br />

Ich kam nie dazu, Oswalk zu bezahlen. Kaum waren wir in Bergen, begann Oswalk, mir m<strong>it</strong><br />

der Exped<strong>it</strong>ion zu helfen, arrangierte die Reise und die Unterkunft in Tórshavn, und als wir Grönland<br />

erreichten, wollte er kein Geld, bis die Exped<strong>it</strong>ion beendet war. Aus offensichtlichen Gründen, sagte er.<br />

Was kann ich von der Exped<strong>it</strong>ion erwarten?, fragte Oswalk, als er aus einem kurzen Schläfchen<br />

aufwachte. Auf dem unbeleuchteten Deck der vollen Nachtfähre spielten Männer und Frauen rings<br />

um uns Karten, rauchten und tranken. Urlauber, die durchhielten. Manche schliefen in Schlafsäcken<br />

unter den Bänken. Ich hatte kein Auge zugetan, und der Rosé war leer. Nach einem Augenblick<br />

fragte ich zurück:<br />

Was erwartest du?<br />

Ich erwarte, dass wir rausfahren und einem bestimmten Kurs folgen. Bestimmte Dinge sehen,<br />

vielleicht, die, die du sehen willst. Dich dorthin bringen.<br />

Das ist es, Oswalk, genau das kannst du erwarten.<br />

Aber das erwarte ich nicht. Ich erwarte, dass du noch <strong>was</strong> im Ärmel hast.<br />

Ich habe nichts im Ärmel.<br />

Doch. Was, glaubst du, ist da draußen?<br />

Da draußen ist, <strong>was</strong> da draußen ist. Wir wissen nicht, <strong>was</strong> da draußen ist. Deswegen fahren wir hin.<br />

Aber es fahren viele Leute raus. Du kannst eine Frau m<strong>it</strong> Kindern sein und von Japan fliegen,<br />

alles ist möglich. Es ist nicht schwer. Jeder kann rausfinden, <strong>was</strong> da draußen ist, selbst im Internet.<br />

Aber wir sehen es, und wir zeichnen es auf. Das ist der Unterschied. Wir sind keine Kinder.<br />

Alle zeichnen es auf. Heute haben alle Kameras. Du weißt <strong>was</strong>, und du sagst es mir nicht. Vielleicht<br />

komme ich doch nicht m<strong>it</strong>. Am Ende.<br />

Oswalk, ein stattlicher, fähiger Mann, einer, der von sich behaupten konnte, „auf dem Schiff<br />

aufgewachsen“ zu sein, machte keinen Hehl aus seiner wahren Furcht vor der Natur. Er war vernünf-<br />

tig, dachte ich, nicht mehr und nicht weniger. Der Mann, der in der Natur keine Bedrohung sieht,<br />

ist ein Esel, und Oswalks Furcht gereichte ihm zur Ehre, sie war sein nom de guerre. Ich wusste, am<br />

Ende, je größer seine Furcht, desto wahrscheinlicher würde er dabei sein. Und ich, <strong>was</strong> fürchtete ich?<br />

Es war nicht die Natur per se. Es war der Raum. Damals war mir die Furcht vor dem Raum<br />

vertraut. Nicht, weil ich ihn nicht sehen konnte, sondern weil ich es konnte. Der Raum ist nackt,<br />

und ich hatte das Gefühl, ich konnte ihn sehen, und je klarer ich ihn sah, desto kälter fuhr es mir in<br />

die Knochen. Je weniger er zu sehen war, desto entspannter war ich. Doch ich konnte hineinsehen,<br />

staunend, wie man in die vollkommene Schwärze eines Brunnens blickt, oder in einen Stollen, und<br />

allmählich beginnt, seine drei Dimensionen auszumachen. Ich konnte hineinblicken bis zu dem<br />

Punkt, an dem ich den Anblick nicht mehr ertrug und keine Wahl hatte, als den Blick abzuwenden<br />

und die Augen fest zu schließen. Wenn ich den Brunnen fotografiert hätte, oder etwa den Stollen,<br />

hätte mich meine Angst dazu veranlasst, die Kamera hineinfallen zu lassen. Und meine Furcht nahm<br />

tatsächlich diese Form an, eine zusätzliche Ängstlichke<strong>it</strong>, im Strudel eines Raumes Dinge fallen zu<br />

lassen, wobei zu diesen Dingen auch mein physisches Selbst gehörte und das von anderen, in Fällen,<br />

da ich ihr einziger Halt war.<br />

Heute ist die einzige Furcht, die mir geblieben ist, die Furcht vor der Ze<strong>it</strong>. Eine schwarze,<br />

unbekannte Angst, jedoch ohne jede bezwingbare Präsenz. Sonst fürchte ich mich vor nichts mehr.<br />

Ich kann die Ze<strong>it</strong> nicht sehen, ich stelle sie mir nicht einmal als Präsenz vor, weil ich sie nicht finden<br />

kann. Ich bin wieder ein Kind, doch in einer Kindhe<strong>it</strong> geprägt von einer Furcht, die nur ein Erwach-<br />

sener kennen kann. Doch darüber wollte ich hier nicht schreiben.<br />

Ich bin kein großer Entdecker, doch ich bin gut. Der große Entdecker versteht nicht, warum<br />

ich so gut bin, so viel besser als er. Der große Entdecker sucht nach et<strong>was</strong>. Ich suche nichts. Ich suche<br />

den Stein, aber ich suche nicht nach dem Stein. Wer den Stein sucht, und das bin ich, sucht nach dem<br />

Feuer. Feuer ist nichts, und Feuer ist alles. Es ist ganz klar. Ich verstehe es, doch der große Entdecker<br />

versteht es nicht. Der große Entdecker denkt, ich suche nach dem Stein, und wenn ich den Stein<br />

finde, fragt der große Entdecker: Du hast den Stein gefunden? Also, <strong>was</strong> ist der Stein? Natürlich gibt<br />

es keine Antwort auf die Frage „also, <strong>was</strong> ist der Stein?“, es ist eine dumme Frage in fast jedem Fall,<br />

und in diesem Fall ist sie besonders dumm. Denn ich habe nicht den Stein gefunden, ich habe das<br />

Feuer gefunden. Wenn man Feuer gefunden hat, fragt man nicht „also, <strong>was</strong> ist der Stein?“ Feuer ist<br />

Wissen. Wer vom Feuer eine Begründung verlangt, verbrennt sich.<br />

Beim Schreiben dieser Zeilen fällt mir ein Gleichnis aus dem Studium ein. Meine Geschichte,<br />

die Geschichte von mir und Oswalk, ist kein Gleichnis, sie ist ziemlich real, und so zögere ich nicht,

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!