Friedrich Nietzsche : Zur Genealogie der Moral (1887) - Umlaufoviny
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unwillkürlich begehrtes Narkotikum gegen Qual irgendwelcher Art. Hierin allein ist, meiner<br />
Vermutung nach, die wirkliche physiologische Ursächlichkeit des Ressentiment, <strong>der</strong> Rache<br />
und ihrer Verwandten, zu finden, in einem Verlangen also nach Betäubung von Schmerz<br />
durch Affekt - man sucht dieselbe gemeinhin, sehr irrtümlich, wie mich dünkt, in dem<br />
Defensiv-Gegenschlag, einer bloßen Schutzmaßregel <strong>der</strong> Reaktion, einer<br />
»Reflexbewegung« im Falle irgendeiner plötzlichen Schädigung und Gefährdung von <strong>der</strong><br />
Art, wie sie ein Frosch ohne Kopf noch vollzieht, um eine ätzende Säure loszuwerden.<br />
(...)<br />
Aber sein Hirt, <strong>der</strong> asketische Priester, sagt zu ihm: »Recht so, mein Schaf! irgendwer muß<br />
daran schuld sein: aber du selbst bist dieser Irgend-Wer, du selbst bist daran allein schuld -<br />
du selbst bist an dir allein schuld!«... Das ist kühn genug, falsch genug: aber eins ist damit<br />
wenigstens erreicht, damit ist, wie gesagt, die Richtung des Ressentiment - verän<strong>der</strong>t.<br />
III. 20<br />
Jede <strong>der</strong>artige Ausschweifung des Gefühls macht sich hinterdrein bezahlt, das versteht sich<br />
von selbst - sie macht den Kranken kränker -: und deshalb ist diese Art von Remeduren des<br />
Schmerzes, nach mo<strong>der</strong>nem Maße gemessen, eine »schuldige« Art. Man muß jedoch, weil<br />
es die Billigkeit verlangt, um so mehr darauf bestehn, daß sie mit gutem Gewissen<br />
angewendet worden ist, daß <strong>der</strong> asketische Priester sie im tiefsten Glauben an ihre<br />
Nützlichkeit, ja Unentbehrlichkeit verordnet hat - und oft genug selbst vor dem Jammer, den<br />
er schuf, fast zerbrechend; insgleichen, daß die vehementen physiologischen Revanchen<br />
solcher Exzesse, vielleicht sogar geistige Störungen, im Grunde dem ganzen Sinne dieser<br />
Art Medikation nicht eigentlich wi<strong>der</strong>sprechen: als welche, wie vorher gezeigt worden ist,<br />
nicht auf Heilung von Krankheiten, son<strong>der</strong>n auf Bekämpfung <strong>der</strong> Depressions-Unlust, auf<br />
<strong>der</strong>en Lin<strong>der</strong>ung, <strong>der</strong>en Betäubung aus war. Dies Ziel wurde auch so erreicht. Der<br />
Hauptgriff, den sich <strong>der</strong> asketische Priester erlaubte, um auf <strong>der</strong> menschlichen Seele jede<br />
Art von zerreißen<strong>der</strong> und verzückter Musik zum Erklingen zu bringen, war damit getan -<br />
je<strong>der</strong>mann weiß das -, daß er sich das Schuldgefühl zunutze machte.<br />
III, 23<br />
Was bedeutet eben die Macht jenes Ideals, das Ungeheure seiner Macht? Weshalb ist ihm in<br />
diesem Maße Raum gegeben worden? weshalb nicht besser Wi<strong>der</strong>stand geleistet worden?<br />
Das asketische Ideal drückt einen Willen aus: wo ist <strong>der</strong> gegnerische Wille, in dem sich ein<br />
gegnerisches Ideal ausdrückte?<br />
(...)<br />
Wo ist das Gegenstück zu diesem geschlossenen System von Wille, Ziel und Interpretation?<br />
Warum fehlt das Gegenstück?... Wo ist das andre »eine Ziel«?... Aber man sagt mir, es fehle<br />
nicht, es habe nicht nur einen langen glücklichen Kampf mit jenem Ideale gekämpft, es sei<br />
vielmehr in allen Hauptsachen bereits über jenes Ideal Herr geworden: unsre ganze mo<strong>der</strong>ne<br />
Wissenschaft sei das Zeugnis dafür - diese mo<strong>der</strong>ne Wissenschaft, welche, als eine<br />
eigentliche Wirklichkeits-Philosophie, ersichtlich allein an sich selber glaube, ersichtlich<br />
den Mut zu sich, den Willen zu sich besitze und gut genug bisher ohne Gott, Jenseits und<br />
verneinende Tugenden ausgekommen sei.<br />
(...)