Friedrich Nietzsche : Zur Genealogie der Moral (1887) - Umlaufoviny
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modifiziert durch die Idee, daß je<strong>der</strong> Schaden irgendworin sein Äquivalent habe und<br />
wirklich abgezahlt werden könne, sei es selbst durch einen Schmerz des Schädigers. Woher<br />
diese uralte, tiefgewurzelte, vielleicht jetzt nicht mehr ausrottbare Idee ihre Macht<br />
genommen hat, die Idee einer Äquivalenz von Schaden und Schmerz? Ich habe es bereits<br />
verraten: in dem Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner, das so alt ist, als es<br />
überhaupt »Rechtssubjekte« gibt, und seinerseits wie<strong>der</strong> auf die Grundformen von Kauf,<br />
Verkauf, Tausch, Handel und Wandel zurückweist.<br />
II, 5<br />
Hier gerade wird versprochen; hier gerade handelt es sich darum, dem, <strong>der</strong> verspricht, ein<br />
Gedächtnis zu machen; hier gerade, so darf man argwöhnen, wird eine Fundstätte für<br />
Hartes, Grausames, Peinliches sein. Der Schuldner, um Vertrauen für sein Versprechen <strong>der</strong><br />
<strong>Zur</strong>ückbezahlung einzuflößen, um eine Bürgschaft für den Ernst und die Heiligkeit seines<br />
Versprechens zu geben, um bei sich selbst die <strong>Zur</strong>ückbezahlung als Pflicht, Verpflichtung<br />
seinem Gewissen einzuschärfen, verpfändet kraft eines Vertrags dem Gläubiger für den Fall,<br />
daß er nicht zahlt, etwas, das er sonst noch »besitzt«, über das er sonst noch Gewalt hat,<br />
zum Beispiel seinen Leib o<strong>der</strong> sein Weib o<strong>der</strong> seine Freiheit o<strong>der</strong> auch sein Leben.<br />
II, 6<br />
In dieser Sphäre, im Obligationen-Rechte also, hat die moralische Begriffswelt »Schuld«,<br />
»Gewissen«, »Pflicht«, »Heiligkeit <strong>der</strong> Pflicht« ihren Entstehungsherd - ihr Anfang ist, wie<br />
<strong>der</strong> Anfang alles Großen auf Erden, gründlich und lange mit Blut begossen worden. Und<br />
dürfte man nicht hinzufügen, daß jene Welt im Grunde einen gewissen Geruch von Blut und<br />
Folter niemals wie<strong>der</strong> ganz eingebüßt habe? (selbst beim alten Kant nicht: <strong>der</strong> kategorische<br />
Imperativ riecht nach Grausamkeit...) Hier ebenfalls ist jene unheimliche und vielleicht<br />
unlösbar gewordne Ideen- Verhäkelung »Schuld und Leid« zuerst eingehäkelt worden.<br />
Nochmals gefragt: inwiefern kann Leiden eine Ausgleichung von »Schulden« sein? Insofern<br />
Leiden-machen im höchsten Grade wohltat, insofern <strong>der</strong> Geschädigte für den Nachteil,<br />
hinzugerechnet die Unlust über den Nachteil, einen außerordentlichen Gegen-Genuß<br />
eintauschte: das Leiden-machen - ein eigentliches Fest, etwas, das wie gesagt um so höher<br />
im Preise stand, je mehr es dem Range und <strong>der</strong> gesellschaftlichen Stellung des Gläubigers<br />
wi<strong>der</strong>sprach.<br />
II, 16<br />
An dieser Stelle ist es nun nicht mehr zu umgehn, meiner eignen Hypothese über den<br />
Ursprung des »schlechten Gewissens« zu einem ersten vorläufigen Ausdrucke zu verhelfen:<br />
sie ist nicht leicht zu Gehör zu bringen und will lange bedacht, bewacht und beschlafen sein.<br />
Ich nehme das schlechte Gewissen als die tiefe Erkrankung, welcher <strong>der</strong> Mensch unter dem<br />
Druck jener gründlichsten aller Verän<strong>der</strong>ungen verfallen mußte, die er überhaupt erlebt hat -<br />
jener Verän<strong>der</strong>ung, als er sich endgültig in den Bann <strong>der</strong> Gesellschaft und des Friedens<br />
eingeschlossen fand. (...)<br />
Alle Instinkte, welche sich nicht nach außen entladen, wenden sich nach innen - dies ist das,<br />
was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen<br />
heran, was man später seine »Seele« nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie