Magazin - ThyssenKrupp Elevator AG
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magazin<br />
TK<br />
Architektur
Gelebte Offenheit<br />
Fenster bieten Durchblick und Einblick,<br />
stehen für Offenheit und Transparenz,<br />
für eine Einladung zum Dialog. Genauso<br />
wie der weitläufige Campus des<br />
<strong>ThyssenKrupp</strong> Quartiers, der hier<br />
durch das ausgestanzte „Landschaftsfenster“<br />
des neuen Verwaltungssitzes<br />
erschlossen wird.<br />
Der neue Hauptsitz von <strong>ThyssenKrupp</strong><br />
in Essen ist Identifikationssymbol<br />
und Ausdruck der gelebten Unternehmenskultur<br />
in einem. Architektur<br />
und städtebauliches Konzept des<br />
Quartiers stehen gleichermaßen für<br />
Innovation und Zukunftsorientierung,<br />
Nachhaltigkeit und gesellschaftliche<br />
Verantwortung.<br />
Mit dem neuen Quartier erwacht ein<br />
lange brachliegendes, 230 Hektar<br />
großes Areal mitten im Herzen Essens<br />
zum Leben. Als Kernstück eines neu<br />
entstandenen Stadtteils verkörpert<br />
der offene Campus das dynamische<br />
Wechselspiel zwischen historischer<br />
Standortverbundenheit und gelebter<br />
Internationalität genauso wie den<br />
Wunsch nach Dialog und Bewegung.<br />
Die Gebäude des Quartiers sind<br />
rund um eine zentrale Wasserachse<br />
angelegt und laden – ebenso wie der<br />
neu entstandene Krupp-Park – zur<br />
Begegnung ein.<br />
Lesen Sie mehr zum Hintergrund und<br />
zur Bedeutung des Quartier-Neubaus<br />
auf den Seiten 46–65.
Hauptstadt der Hoffnung<br />
In Brasília konnten die Corbusier-<br />
Schüler Lúcio Costa und Oscar Niemeyer<br />
Ende der fünfziger Jahre einen<br />
Traum in Stahlbeton gießen: die Utopie<br />
einer funktionalen Stadt. Die innerhalb<br />
von nicht einmal vier Jahren<br />
aus dem Steppenboden gestampfte<br />
neue Hauptstadt Brasiliens verkörperte<br />
ein hehres Ziel: den klaren Bruch<br />
mit den chaotischen Zuständen und<br />
prägenden Klassenunterschieden<br />
in anderen brasilianischen Städten.<br />
Der französische Schriftsteller André<br />
Malraux nannte Brasília die „Hauptstadt<br />
der Hoffnung“. Die Stadt wurde<br />
nach dem Campus-Prinzip angelegt,<br />
mit getrennten Quartieren für Wohnen,<br />
Arbeiten und Freizeit, zwischen denen<br />
die Stadtbewohner auf breiten Autobahnen<br />
pendeln sollten. Aus der Luft<br />
betrachtet, gleichen die Umrisse<br />
Brasílias einem Flugzeug. Den Rumpf<br />
bildet die sogenannte monumentale<br />
Achse, an der die wichtigsten öffentlichen<br />
Gebäude stehen. Die beiden<br />
Flügel setzen sich aus über 100 sogenannten<br />
Superquadras zusammen,<br />
in sich geschlossenen Einheiten von<br />
elf bis zwölf Wohnblöcken, in denen<br />
jeweils bis zu 5.000 Personen leben<br />
können. Als architektonisches Projekt<br />
zählt Brasília heute zum Weltkultur-<br />
erbe der Unesco. Als urbaner Lebensraum<br />
ist es häufig kritisiert worden.<br />
Auf das explosive Wachstum Brasílias<br />
waren zumindest die öffentlichen<br />
Wege und Verkehrsmittel nicht ausgerichtet.<br />
Seit ihrer Einweihung vor<br />
fast genau 50 Jahren, am 21. April<br />
1960, ist die ursprünglich für 500.000<br />
Menschen geplante Stadt auf inzwischen<br />
2,6 Millionen Einwohner angewachsen.<br />
Diese aber schätzen Brasília<br />
für seine im Landesvergleich hohe<br />
Lebensqualität und vor allem seine<br />
saubere Luft, die auch eine Folge des<br />
vergleichsweise geringen Verkehrsaufkommens<br />
ist.
»Erst die Möglichkeit, einen Traum zu verwirklichen,<br />
macht unser Leben lebenswert.«<br />
Paulo Coelho, Schriftsteller
Ohne Licht ist alles nichts<br />
Licht interpretiert Körper und Räume, macht sie erlebbar und verleiht ihnen Farbe. Es fügt der Architektur eine vierte Dimension<br />
hinzu. James Turrell verwandelt Licht in Form. In seinen Werken setzt sich der einflussreichste Lichtkünstler der Gegenwart<br />
mit den vielfältigen Erscheinungsformen des natürlichen und künstlichen Lichts auseinander. Weltweit hat Turrell sogenannte<br />
„Skyspaces“ geschaffen, in denen er sich intensiv mit der Beziehung zwischen Licht und Raum beschäftigt. Für den amerikanischen<br />
Künstler ist Licht ein Werkstoff, den er formen und erfahrbar machen kann. Dass ihm dies gelingt, zeigen die häufigen<br />
Versuche von Betrachtern, das Licht seiner Installationen anzufassen.
»Lichter und Schatten enthüllen die Formen.«<br />
Le Corbusier, schweizerisch-französischer<br />
Architekt (1887–1965)
Entwurf einer humanistischen Weltsicht<br />
Die toskanische Stadt Pienza, die der Humanist Enea Silvio Piccolomini als Papst Pius II. (1458–1464)<br />
an seinem Geburtsort errichten ließ, gilt als die erste Idealstadt der Renaissance. Zum ersten Mal öffnet<br />
sich hier der städtische Binnenraum einer Piazza zur offenen Landschaft, zum ersten Mal in der<br />
Geschichte der neueren Baukunst werden hier Architektur und Natur als ein gegensätzliches und<br />
zugleich komplementäres Gegenüber begriffen. Ausgehend von Pienza, verbreitete sich die sogenannte<br />
humanistische Stadtplanung in andere italienische Städte und schließlich über ganz Europa.
»Die Qualität von Städten und Plätzen lässt sich am Reißbrett entwerfen,<br />
ihre Schönheit kommt durch die Zeit.«<br />
Renzo Piano, italienischer Architekt
»Wir wollten einen Raum schaffen, der Bewegung stimuliert, den Austausch von Wissen<br />
fördert und neue, immer wieder auch überraschende Möglichkeiten für den Einsatz<br />
innovativer Werkstoffe und Technologien aufzeigt.«
editorial<br />
Raum für Zukunft<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
Fast alles, was wir tun, tun wir in Räumen, die von Menschen geschaffen wurden. Wer<br />
Bauten und Städte gestaltet, gibt Menschen Raum für Begegnung und Austausch, für Entwicklung<br />
und Zukunft. Architektur ist damit im besonderen Maße vom Wesen der Gesellschaft bestimmt, in<br />
der sie entsteht: Architekten und Raumplaner gestalten Umwelt aus unseren Erwartungen heraus.<br />
Sie können uns aber auch mit neuen Ideen inspirieren und damit verändern.<br />
Angesichts dieser Herausforderung kann sich niemand dem weltweiten Wandel entziehen. Heute<br />
schlagen sich neue globale Entwicklungen und ein neues Verständnis von nachhaltiger Architektur,<br />
Städte- und Landschaftsplanung in vielfältigen und komplexen Anforderungen an Architekten<br />
und Raumplaner nieder. So wird weltweit um eine nachhaltige Nutzung der begrenzten räumlichen<br />
Kapazität und Energieressourcen unseres Planeten gerungen, arbeiten Architekten und Stadtplaner<br />
an der Lösung der drängendsten räumlichen Herausforderungen unserer Zeit.<br />
Wie finden wachsende Bevölkerungen in Zukunft genug Platz zum Leben und Arbeiten? Wie lässt<br />
sich eine Zersiedelung verlassener Landstriche vermeiden? Können wir<br />
das Bedürfnis nach einem Leben im Einklang mit der Natur auch in der<br />
Stadt verwirklichen? Architektur muss sich dem demographischen Wandel<br />
und einschneidenden Umweltveränderungen stellen und neue Konzepte<br />
entwickeln, die auch unter diesen Bedingungen Raum für Zukunft schaffen. Zugleich eröffnet der<br />
rapide technologische Fortschritt aber auch ungeahnte Möglichkeiten.<br />
Dass technologischen Innovationen bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen eine<br />
entscheidende Bedeutung zukommt, ist längst klar. Auch in der Architektur unterstützen sinnvolle,<br />
innovative Technologien das Streben nach Lebensqualität, Wirtschaftlichkeit und Zukunftsfähigkeit.<br />
Das neue Quartier des <strong>ThyssenKrupp</strong> Konzerns in Essen, das unsere Mitarbeiter in diesen Tagen<br />
beziehen, soll hier bewusst Zeichen setzen. Mit diesem für uns einzigartigen Bauprojekt haben<br />
wir einen Raum geschaffen, der Bewegung stimuliert, den Austausch von Wissen fördert und<br />
neue, immer wieder auch überraschende Möglichkeiten für den Einsatz innovativer Werkstoffe<br />
und Technologien aufzeigt. Wir haben damit einen Ort für Menschen und Ideen geschaffen. Als<br />
Herz unseres global vernetzten Unternehmens ist unser neuer Campus so Ausdruck des Selbstverständnisses<br />
unseres Konzerns genauso wie der Ansprüche, die wir an uns selbst stellen:<br />
Innovation und Nachhaltigkeit, Offenheit und Dialog.<br />
Es ist – und das spricht den Ingenieur in mir besonders an – ein Stück gebaute Technik. Der<br />
Philosoph Martin Heidegger sagte einmal: „In unserem Bauen und in der Weise, wie wir den<br />
gebauten Raum beleben, spiegelt sich unser Verständnis von Wirklichkeit.“ Die beste Architektur<br />
aber findet die richtige Balance zwischen Wirklichkeit und Vision, zwischen dem, was ist, und dem<br />
Mut, neue Wege zu beschreiten. Wie diese aussehen könnten, zeigen Ihnen einige der Beispiele in<br />
diesem <strong>Magazin</strong>. Wir laden Sie herzlich ein: Entdecken Sie mit uns die Lebensräume der Zukunft.<br />
Dr.-Ing. Ekkehard D. Schulz,<br />
Vorsitzender des Vorstands der <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>AG</strong><br />
11
12<br />
inhalt<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010<br />
Architektur<br />
ansichten<br />
30 Wie sehen Sie Architektur?<br />
Ansichten von Kazuyo Sejima und Alain Robert<br />
28 wissens_wert<br />
66 projekte_aktuell<br />
101 kreuz & quer<br />
102 rückblick<br />
92<br />
App-City: Verändert die<br />
erweiterte Realität unseren<br />
Blick auf neue Räume?<br />
46<br />
Das <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier in Essen ist das neue Herz des Konzerns<br />
und Symbol für dessen Entwicklung. Architektur und städtebauliches<br />
Konzept stehen gleichermaßen für Innovation und Zukunftsorientierung,<br />
Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Verantwortung. Ein Sonderteil<br />
zum neuen Hauptsitz.<br />
forum<br />
14 Schönheit hängt nicht von Geld ab<br />
Ein Gespräch mit Alain de Botton, Autor und Philosoph<br />
22 Welt in Zahlen<br />
Globale Metropolen gestern, heute und morgen<br />
24 Achtung Fußgänger<br />
Mit dem freiberuflichen Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar<br />
unterwegs durch Leipzig<br />
projekte<br />
34 Was kommt vor der Stadt?<br />
Ohne die richtige Infrastruktur läuft gar nichts<br />
40 Stoffe, aus denen Träume sind<br />
Neue Werkstoffe machen viele Ideen erst möglich<br />
74 Aufbruch in Amerika<br />
2010 eröffnet <strong>ThyssenKrupp</strong> zwei neue Produktionsstätten<br />
in Brasilien und in den USA<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
quartier<br />
40<br />
Neue Werkstoffe lassen Architektenträume<br />
Wirklichkeit werden.<br />
84<br />
Für die Mobilität der Zukunft spielt Autofahren<br />
wie bei „Blade Runner“ eine immer geringere Rolle.<br />
46 Von der Brache zum neuen Campus<br />
Eine Geschichte in Bildern<br />
48 „Bewegung und Aufbruch“<br />
Ein Gespräch über das neue <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier<br />
mit Ralph Labonte, Mitglied der Vorstands der <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>AG</strong><br />
55 Raum der Stille<br />
Ein Andachtsraum als Rückzugsort<br />
56 Die Macher<br />
Drei Beteiligte mit ihrem Blick auf das Projekt<br />
58 Auf eigene Stärken bauen<br />
Im neuen Quartier kommen einige der innovativsten Produkte<br />
des Konzerns zum Einsatz<br />
60 Eine „grüne Bühne“<br />
Bereits vor Fertigstellung erhielt das Quartier eines<br />
der renommiertesten Zertifikate für nachhaltiges Bauen<br />
62 Die Stadt in der Stadt<br />
Am Standort des neuen Quartiers wird bereits seit<br />
1818 Firmengeschichte geschrieben<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
24<br />
Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar<br />
lehrt uns das Wahrnehmen.<br />
96<br />
Ameisen sind wahre Baumeister – ihre Erforschung bietet<br />
faszinierende Einsichten auch für uns.<br />
perspektiven<br />
76 Megacitys und Schrumpfstädte<br />
Wie lassen sich Fläche, Verkehr, Energie und Wohnqualität<br />
in wachsenden und schrumpfenden Städten sichern und<br />
verbessern?<br />
80 Kinder sehen ihre Umwelt<br />
Schüler eines Essener Gymnasiums fotografieren ihre Umgebung<br />
84 Unterwegs im Jahr 2050<br />
Wie bewegen wir uns in der Stadt der Zukunft?<br />
90 Reale und virtuelle Räume<br />
Warum der Wunsch nach echter Begegnung bleibt – ein Essay<br />
92 Augmented Reality<br />
Neue Technologien verändern den Blick auf unsere Umwelt<br />
96 Faszinierende Bauten<br />
Ein Gespräch mit dem Insektenforscher Bert Hölldobler
14<br />
forum_gespräch<br />
HÄNGT<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
»SCHÖNHEIT<br />
NICHT VON GELD AB«<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
Architektur ist mehr als nur Funktion. Die Art, wie ein Haus<br />
gestaltet ist, sagt viel über Charakter und Sehnsüchte des Besitzers.<br />
Ein Gespräch mit Alain de Botton, Autor und Philosoph.<br />
15
16<br />
forum_gespräch<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
»Architekten sollten Experten darin sein,<br />
wie sich Gebäude auf unsere<br />
Psyche auswirken.«<br />
Alain de Botton<br />
17
18<br />
forum_gespräch<br />
»Die Idee des leeren Raums<br />
ist die große Faszination<br />
unserer Zeit.«<br />
Herr de Botton, eins Ihrer Bücher heißt „Glück und Architektur“.<br />
Kann ein Gebäude glücklich machen?<br />
Architektur ist keine Medizin. Von Medizin mag man wenig halten, und<br />
sie wirkt trotzdem. Anders verhält es sich mit der Architektur: Sie begünstigt<br />
eine Stimmung, aber zwingt sie uns nicht auf. Mit der Architektur<br />
ist es ein bisschen wie mit dem Wetter: Das Wetter hat einen erheblichen<br />
Einfluss auf unsere Stimmung, und viele Menschen ziehen<br />
aufgrund des Wetters in andere Länder. Wenn uns aber etwas Schlimmes<br />
passiert, hilft auch das schönste Wetter nicht – wir sind trotzdem<br />
bedrückt. Genauso können wir im siebten Himmel schweben, obwohl es<br />
in Strömen regnet. Meistens aber befinden wir uns auf der Stimmungsskala<br />
irgendwo zwischen diesen beiden Extremen, und dann kann das<br />
Wetter den Ausschlag für die eine oder die andere Richtung geben. In<br />
ähnlicher Weise kann uns die Architektur, die uns umgibt, optimistischer<br />
oder pessimistischer machen. Architekten sollten deshalb auch Experten<br />
darin sein, wie sich Gebäude auf unsere Psyche auswirken.<br />
„Living Architecture“: Das<br />
„In-Between House“<br />
(Jarmund/Vigsnaes Architects,<br />
Norwegen) fügt sich<br />
nahtlos in eine traditionelle<br />
Häuserreihe einer englischen<br />
Küstenlandschaft ein.<br />
Das „Long House“ von Michael und Patty Hopkins – moderner Ausdruck britischer<br />
Industrie- und Handwerkstradition<br />
Indem sie unsere Gebäude gestalten, nehmen Architekten also Einfluss<br />
auf uns persönlich?<br />
Architektur beeinflusst uns – obwohl wir meistens so tun, als sei das<br />
nicht der Fall. Die Menschen erfreuen sich an schönen Gebäuden, aber<br />
kein Politiker führt eine politische Kampagne unter dem Motto „Ich will<br />
die Welt schöner machen“. Architektur gilt immer als nachrangiges<br />
Thema.<br />
Liegt das nicht auch daran, dass es keine universell anerkannte<br />
Definition des Schönheitsbegriffs gibt?<br />
Dass sich Schönheit nicht definieren lässt, wird immer wieder behauptet,<br />
ist aber völlig falsch. Die vorherrschende Meinung, Schönheit sei<br />
eine Frage des Geschmacks, ist ein willkommenes intellektuelles Gerüst<br />
für Immobilienentwickler. Tatsächlich ist es nicht schwieriger zu definieren,<br />
was schön ist, als festzustellen, ob ein Buch gut ist. Im Idealfall sollte<br />
einem die Architektur natürlich nicht nur Schönheit, sondern auch<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
Komfort bieten – und vielen Architekten gelingt das auch. Architektur ist<br />
eine praktische Kunst. Die Kunst der Architektur liegt darin, Schönheit<br />
und Nutzwert zu bieten.<br />
Aber ist Schönheit in der Architektur nicht ein elitäres Konzept?<br />
Dass Schönheit ein teurer Luxus ist, den wir uns nicht leisten können,<br />
ist ein gefährliches Argument. Man muss sich nur einmal die aus Stein<br />
gebauten toskanischen Bauernhäuser anschauen, um zu erkennen,<br />
dass Schönheit sich auch mit einfachen Mitteln erreichen lässt. Umgekehrt<br />
sieht man zum Beispiel in Teilen Saudi-Arabiens oder in Moskau<br />
sofort, dass Reichtum keine Garantie für Schönheit ist. Derartige Beispiele<br />
zeigen, dass tatsächlich kein Zusammenhang zwischen Geld und<br />
Schönheit besteht. Geld eröffnet die Möglichkeit, Schönes zu gestalten,<br />
aber Schönheit hängt nicht von Geld ab. Letztlich zählen das Geschick<br />
und die Phantasie des Architekten. Schöne Architektur für alle sollte<br />
möglich sein. Ein schönes Haus zu bauen kostet nicht mehr, als ein<br />
hässliches Haus zu bauen.<br />
Warum fühlen sich Menschen zu bestimmten architektonischen<br />
Stilen hingezogen, zu anderen hingegen nicht?<br />
Tendenziell brauchen wir eine Architektur, die für Dinge steht, zu denen<br />
wir uns hingezogen fühlen, die aber in unserem Leben fehlen. Im Grunde<br />
genommen gibt es gegenwärtig nur zwei bedeutende architektonische<br />
Phantasien: die Ruhe und das Natürliche. Der Minimalismus – die<br />
Idee des leeren Raums – ist die große Faszination unserer Zeit. Und<br />
zwar einfach deshalb, weil unser Leben so kompliziert und überladen<br />
mit Dingen und Aktivitäten ist, dass wir uns nach Ruhe sehnen. Nach<br />
der Natur wiederum sehnen sich die Menschen, weil sie einen Gegenpol<br />
zu unserer technologisierten und industrialisierten Welt bildet.<br />
Es gibt mehr hochqualifizierte Architekten als je zuvor und herausragende<br />
Gegenwartsarchitektur. Trotzdem ist die Architektur im<br />
Alltag häufig alles andere als „schön“. Warum?<br />
Zum einen spielen Architekten bei der Gestaltung von Gebäuden eine<br />
immer geringere Rolle. Viele Immobilienentwickler greifen überhaupt<br />
nicht mehr auf Architekten zurück. Dort, wo es eine besonders attraktive<br />
Architektur gibt, ist das gesellschaftliche Engagement häufig sehr<br />
stark ausgeprägt. Zum Beispiel bedurfte es einer enormen kollektiven<br />
Anstrengung und einer Unmenge von Regeln etwa zur Größe und Platzierung<br />
von Gebäuden, damit Manhattan zu dem wurde, was es heute<br />
ist. Da war das politische Engagement vieler gefragt. Ähnlich ist es in<br />
den Niederlanden, wo es viel ansprechende Architektur gibt, weil den<br />
Holländern ihre Umwelt sehr wichtig ist. Auch hier gibt es viele Bestimmungen,<br />
wie und wo man bauen darf. Am schlimmsten hingegen sieht<br />
es oft dort aus, wo es gar keine Regeln gibt und die Gestaltung allein<br />
dem Markt überlassen wird. Architekten stehen jedoch auch der Gesellschaft<br />
gegenüber in der Verantwortung. Die Architektur ist kein privates<br />
Geschäft, sondern betrifft jeden von uns.<br />
Ohne den Einfluss der Religion gäbe es viele der großen architektonischen<br />
Meisterwerke der Welt nicht (die Pyramiden in Ägypten<br />
und Mexiko, die griechischen Tempel, die gotischen Kathedralen,<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
Alain de Botton<br />
Von der Kunst des Reisens über Glück und Architektur bis zum Freud<br />
und Leid der Arbeit – in seinen Büchern versucht Alain de Botton,<br />
philosophische Ideen, von der griechischen Philosophie bis zur<br />
Moderne, auf Probleme des Alltags und gesellschaftspolitische Fragen<br />
anzuwenden und allgemeinverständlich auf den Punkt zu bringen.<br />
Der gebürtige Schweizer lebt und arbeitet in London. 7<br />
Renaissance- und Barockbauten …). Heute ist die religiöse Architektur<br />
– zumindest in der westlichen Welt – in den Hintergrund<br />
gerückt. Was treibt die große Architektur jetzt an?<br />
Die religiöse Architektur hat den Architekten zu allen Zeiten besonders<br />
viel Freiraum geboten, weil Kirchen oder Tempel als reine Orte der Zusammenkunft<br />
frei von vielen praktischen Zwängen der Architektur sind.<br />
Neben vielen interessanten Formen wie dem Schrein oder der Tauf-<br />
3<br />
19
20<br />
forum_gespräch<br />
»Einsamkeit gehört zum Stadtleben.«<br />
3<br />
kapelle hat die Religion den Architekten zudem die Aufgabe gegeben,<br />
Emotionen zu wecken. Das ist etwas ganz anderes als die Gestaltung<br />
eines Bahnhofs. Manche meinen, dass die Zukunft der Architektur im<br />
Bau von Galerien und Museen liege. Ein großer Unterschied besteht allerdings<br />
darin, dass Galerien als Ausstellungsorte für Kunstwerke dienen.<br />
Wo aber die Kunst das wirklich Besondere ist, wird selbst das<br />
schönste Gebäude auf die Funktion eines Behältnisses reduziert, das es<br />
uns ermöglicht, uns an der dort ausgestellten Kunst zu erfreuen. Es ist,<br />
als ob wir heutzutage eine Rechtfertigung bräuchten, um schöne Gebäude<br />
zu errichten. Wir sollten bestimmte Formen neu erfinden und Architekten<br />
die Möglichkeit geben, großartige öffentliche Räume zu<br />
bauen, die keinem anderen Zweck dienen als dem, darin zu flanieren<br />
und die Gedanken wandern zu lassen. So weit sind wir aber noch nicht.<br />
In einem Interview vor etwa zehn Jahren sagten Sie, Städte<br />
könnten „sich mit ihrer Größe erdrosseln“. Seither sind die Städte<br />
überall auf der Welt geradezu explosionsartig gewachsen. Beunruhigt<br />
Sie diese Entwicklung?<br />
Sogar sehr. Das Leben in Gruppen liegt in der menschlichen Natur –<br />
aber nicht das Leben in riesigen Gruppen. Wird eine bestimmte Gruppengröße<br />
überschritten, setzen alle möglichen Dynamiken ein. Die zwischenmenschlichen<br />
Bindungen lassen nach, und die Menschen werden<br />
unsozialer. Ich glaube, es gibt so etwas wie eine ideale Größe für eine<br />
Stadt, und verschiedene Leute haben auch schon versucht, diese zu definieren:<br />
Zum Beispiel könnte eine Stadt gerade die richtige Größe<br />
haben, wenn man sie an einem Tag zu Fuß durchqueren kann oder<br />
wenn man von einem hohen Punkt innerhalb der Stadt den Blick über<br />
die umliegenden Hügel und Landschaften schweifen lassen kann. Die<br />
beste Möglichkeit, eine Megacity zu bewältigen, könnte sein, sie in mehrere<br />
kleine Städte zu unterteilen. In gewisser Weise trifft das schon jetzt<br />
auf Städte wie Los Angeles oder Tokio zu. Tatsächlich sind das eher<br />
Ansammlungen von Nachbarschaften.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
„Living Architecture“:<br />
Das „Shingle House“<br />
des Glasgower Architektenbüros<br />
NORD besteht<br />
aus recycelten Materialien<br />
und kann sich –<br />
je nach Wunsch des<br />
Bewohners – der Außenwelt<br />
gegenüber öffnen<br />
oder verschließen.<br />
Der „Balancing Barn“ des holländischen Architekturbüros MVRDV<br />
Hilft Urbanisierung gegen Einsamkeit?<br />
Ganz und gar nicht. Wo viele Menschen auf einem Haufen leben, werden<br />
andere Menschen tendenziell eher als Bedrohung angesehen. Wo<br />
weniger Menschen zusammenleben, ist der Einzelne weniger bedrohlich<br />
und wird eher als potentieller Freund angesehen. Jemanden, dem man<br />
in der Stadt begegnet, begrüßt man eher nicht. Auf dem Land schon.<br />
Einsamkeit gehört zum Stadtleben. Manchmal kann diese Einsamkeit<br />
natürlich auch positiv sein, weil sie dem Einzelnen Anonymität und<br />
Schutz vor Gerede gibt. Wer aber Gemeinschaft sucht, findet diese eher<br />
im Dorf.<br />
„Eine neue Art, Architektur zu erleben“<br />
Alain de Botton gehört zu den Begründern der Initiative „Living Architecture“.<br />
Living Architecture hat außergewöhnliche – bekannte und<br />
weniger bekannte – Architekten mit dem Bau ungewöhnlicher Häuser<br />
an verschiedenen Orten in Großbritannien beauftragt, die als Ferienhäuser<br />
gemietet werden können. Living Architecture will „normalen“<br />
Menschen so ermöglichen, einen Eindruck davon zu bekommen, wie<br />
sich herausragende Architektur im Alltag anfühlt. „In Großbritannien<br />
hat es die Gegenwartsarchitektur sehr schwer“, sagt Alain de Botton.<br />
„Bei den großen modernen Bauwerken, die es hierzulande gibt, handelt<br />
es sich zumeist um Durchgangsorte, wie zum Beispiel Flughäfen,<br />
Museen und Bürogebäude. Die wenigen modernen Häuser, die es<br />
gibt, sind fast alle in Privatbesitz und der Öffentlichkeit nicht zugänglich.<br />
Wir hoffen, mit dieser Initiative einen kleinen Beitrag zur öffentlichen<br />
Debatte in diesem Bereich zu leisten und Bauherren zu etwas<br />
mehr Abenteuerlust zu ermutigen.“ Die „Living Architecture“-Häuser<br />
können ab Juni 2010 gemietet werden. 7<br />
„A Secular Retreat“ (weltliches Refugium) von Peter Zumthor<br />
Niemand weiß, wie unser Arbeits- und Lebensumfeld in 50 oder<br />
100 Jahren aussehen wird. Doch die meisten heute errichteten<br />
Gebäude werden dann noch stehen. Werden sie einem möglicherweise<br />
drastisch veränderten Umfeld noch gerecht werden?<br />
Sicher nicht alle. Aber die besten Gebäude sind flexibel. Einige der<br />
Industriebauten des 19. Jahrhunderts zum Beispiel dienten zunächst<br />
als Lagerhäuser, dann als Bürogebäude und schließlich als Wohnungen<br />
oder Kunstgalerien. Außerdem hat sich unsere Lebensweise bislang<br />
gar nicht so sehr verändert. Das Schlafzimmer, das Badezimmer, die<br />
Küche – das sind feste und seit langem bewährte Einheiten.<br />
Im Alter von 101 Jahren sagte der berühmte Architekt Oscar Niemeyer,<br />
ein Architekt müsse „überzeugt davon sein, die Welt zu einem<br />
besseren Ort machen zu können“. Würden Sie dem zustimmen?<br />
Absolut. Die Gestaltung eines Gebäudes sollte ein positiver Schritt sein,<br />
und als Architekt sollte man das Gefühl haben, seine Umwelt verschönern<br />
zu können. Seit jeher sind die besten Architekten Utopisten<br />
gewesen.7<br />
DAS INTERVIEW FÜHRTE ANKE BRYSON. | FOTOS (PORTRAITS): PHIL FISK<br />
21
22<br />
forum_welt_in_zahlen<br />
São Paulo<br />
Brasilien<br />
21,6 Mio<br />
19,9 Mio<br />
Mexico City<br />
Mexiko<br />
21,8 Mio<br />
21,2 Mio<br />
New York City<br />
USA<br />
20,4 Mio<br />
Globale Metropolen gestern,<br />
heute und morgen<br />
Die Stadt ist ein nahezu universales Phänomen.<br />
Städtische Kulturen sind unabhängig<br />
voneinander auf fast allen Kontinenten<br />
entstanden. Mit etwa 1 Million Einwohnern<br />
im Jahr 330 n. Chr. gilt Rom als erste<br />
Großstadt der Welt. Im Zuge der Verlegung<br />
bedeutender Hauptstadtfunktionen nach<br />
Konstantinopel im 4. Jahrhundert sowie<br />
des Zerfalls des Weströmischen Reiches im<br />
5. Jahrhundert sank die Bevölkerung bis<br />
zum Jahr 530 auf etwa 100.000. 350<br />
Jahre dümpelte Rom vor sich hin, bis es<br />
wieder erwachte, 1936 war die Million<br />
wieder überschritten, heute ist Rom mit<br />
seinen 2,6 Millionen Einwohnern zwar<br />
eine veritable Metropole, aber eine Kleinstadt<br />
im Vergleich mit Städten wie New<br />
York oder Mexico City – oder der Metro-<br />
Lagos<br />
Nigeria<br />
21,5 Mio<br />
Cordoba<br />
Kalifat von Cordoba<br />
450.000<br />
Jakarta<br />
Indonesien<br />
24,1 Mio<br />
20,8 Mio<br />
polregion Tokio, in der mehr als 31 Millionen<br />
Menschen leben, über ein Viertel der<br />
japanischen Gesamtbevölkerung. Mit<br />
Peking war bereits im 15. Jahrhundert eine<br />
asiatische Stadt größte Stadt der Welt.<br />
Folgt man den – leider auf uneinheitlichen<br />
Statistiken basierenden – Schätzungen,<br />
wird das 21. Jahrhundert das Jahrhundert<br />
des asiatischen Städtebooms sein.<br />
Rom<br />
Römisches Reich<br />
450.000<br />
Karthago<br />
Römisches Reich<br />
100.000<br />
Kairo<br />
Ägypten<br />
135.000<br />
Alexandria<br />
Römisches Reich<br />
250.000<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
Konstantinopel<br />
Byzanz<br />
300.000<br />
Antiochia<br />
Römisches Reich<br />
150.000<br />
Bagdad<br />
Irak<br />
250.000<br />
Neyshabur<br />
Persien<br />
125.000<br />
Mumbai<br />
Indien<br />
26 Mio<br />
21,2 Mio<br />
Anuradhapura<br />
Sri Lanka<br />
130.000<br />
Quellen: IDC, Emporis, Worldmapper.org.<br />
Delhi<br />
Indien<br />
25,8 Mio<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
Immer höher hinaus<br />
Im Skyline-Ranking von Emporis erhalten Städte je nach Anzahl und Geschossanzahl<br />
ihrer Hochhäuser Punkte. Die Faustformel: Je höher die Punktzahl, desto eindrucksvoller<br />
die Skyline. Mit 7.682 Hochhäusern und 128.548 Punkten liegt Hongkong hier ganz klar<br />
vor New York mit 5.845 Hochhäusern und gerade einmal 38.898 Punkten. Durch den<br />
Bauboom der letzten Jahre hat sich Dubai inzwischen Platz 10 gesichert. Sieben der Top<br />
10 Skylines befinden sich in Asien, keine in Europa.<br />
Dhaka<br />
Bangladesch<br />
22 Mio<br />
Angkor<br />
Kambodscha<br />
200.000<br />
Shanghai<br />
China<br />
19,2 Mio<br />
Luoyang<br />
China<br />
420.000<br />
Kaifeng<br />
China<br />
400.000<br />
Tokio<br />
Japan<br />
37,3 Mio<br />
31 Mio<br />
Seoul<br />
Südkorea<br />
24,5 Mio<br />
Kyoto<br />
Japan<br />
175.000<br />
Peshawar<br />
Pakistan<br />
120.000<br />
Stadtluft, Landluft<br />
Unten durch<br />
In vielen heutigen Metropolregionen<br />
ist das schnellste Verkehrsmittel<br />
die U-Bahn oder Metro.<br />
Das mit 408 Kilometern längste<br />
– und älteste – Streckennetz der<br />
Welt durchzieht das Erdreich<br />
unter London. New Yorks Subway<br />
folgt mit 386 Kilometern.<br />
Um den Nutzerrekord streiten<br />
sich die Moskauer und die Tokioter<br />
U-Bahn mit jeweils knapp<br />
8 Millionen Fahrgästen pro Tag.<br />
In Tokio sorgen sogenannte<br />
„U-Bahn-Stopfer“ dafür, dass die<br />
Pendler zu Stoßzeiten auf Tuchfühlung<br />
gehen. Aktuell betreiben<br />
rund 140 Städte weltweit eine<br />
Metro.<br />
Mehr als die Hälfte der weltweiten Bevölkerung drängt<br />
sich in den Städten dieser Welt – bei deutlichen Unterschieden<br />
von Land zu Land. Stadtstaaten wie Singapur<br />
nicht eingerechnet, hält Belgien mit 97 Prozent den<br />
aktuellen Urbanisierungsrekord, gefolgt von Kuwait<br />
und Island. Aber auch in Australien und Uruguay ist<br />
der Anteil der Stadtbewohner mit 92 Prozent hoch.<br />
Mit ebenfalls 92 Prozent haben Ost-Timor und Bhutan<br />
die relativ größte ländliche Bevölkerung; in Uganda<br />
und Äthiopien leben immerhin noch 85 Prozent der<br />
Menschen auf dem Land.<br />
100 n. Chr. 1000 n. Chr. 2010 2020<br />
100 n. Chr. 1000 n. Chr. 2010 2020<br />
23
24<br />
forum_reportage<br />
Bertram Weisshaar ist freiberuflicher Spaziergangsforscher. Er flaniert nicht durch die Landschaft,<br />
sondern inspiziert seine Umgebung. Seine These: Auf einem Spaziergang sieht man mehr als durch<br />
eine Windschutzscheibe.<br />
Unter den Sohlen knirscht der Splitt. Bertram Weisshaar<br />
schlendert von Parkdeck 10 zu Parkdeck 11 und wieder zurück zu Parkdeck<br />
10. Er fahndet dort nicht nach einem Auto, nein, er sucht nach<br />
Ruhe. Das Parkhaus liegt bloß wenige Schritte neben dem Hauptbahnhof.<br />
Doch niemand hetzt mit einem rumpelnden Rollkoffer, niemand<br />
bremst mit quietschenden Reifen. Weisshaar beugt sich über das<br />
Geländer. Er blickt auf die Dächer von Leipzig, auf die blauen Lettern der<br />
Stadtwerke, die rote Schrift der Sparkasse. Der Wind zerzaust seine<br />
Locken. In der Ferne rattern die Schnellzüge, bimmeln die Straßenbahnen,<br />
rumpeln die Lastwagen. Plötzlich hat das Parkhaus etwas von<br />
einer Ferieninsel. Wenigstens ein bisschen.<br />
Wer am Leipziger Hauptbahnhof zu einem Spaziergang aufbricht, steuert<br />
wahrscheinlich zuerst die Nikolaikirche an, dann vielleicht das Alte Rathaus,<br />
die Alte Börse und die Alte Waage. Allerdings kein Parkhaus.<br />
Doch Weisshaar ist kein gewöhnlicher Spaziergänger, sondern freiberuflicher<br />
Spaziergangsforscher. Leipzig ist ebenso sehr seine Wahl-<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
ACHTUNG<br />
FUSSGÄNGER<br />
heimat wie sein Forschungsfeld: „Überall gibt es Mikrolandschaften.“<br />
Damit meint er Parks und Kanäle, aber auch Industriebrachen und Leerflächen.<br />
Eine Frage treibt ihn an: „Wie kommen wir – in unseren eigenen<br />
Städten, nicht auf fernen Kontinenten – zu neuen Landschaften?“<br />
Dazu muss er eine neue Sicht auf die Stadt gewinnen. Etwa von einem<br />
Parkhaus aus.<br />
Für Georg Simmel wäre er wahrscheinlich ein Flaneur gewesen, für<br />
Marcel Proust ein Passant, für Oscar Wilde ein Dandy. Bertram Weiss-<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
haar jedoch nennt sich: Promenadologe. Anfang der neunziger Jahre<br />
hat er in Kassel bei Lucius Burckhardt studiert, dem Begründer der sogenannten<br />
Promenadologie. Der Soziologe Burckhardt erforschte, wie<br />
Menschen ihre Umwelt entdecken und durchmessen. Menschliche Wahrnehmung<br />
und Fortbewegung – daran sollte Stadtplanung sich ausrichten,<br />
fand er. Stadtentwicklung dürfe nicht allein die Autofahrer berücksichtigen.<br />
Weisshaar verbreitet Burckhardts Thesen in Vorträgen, bei<br />
Kongressen, in Seminaren. Er ist in Burckhardts Fußstapfen getreten.<br />
3<br />
25
forum_reportage<br />
3<br />
Unter den Sohlen knacken die Dornen. Brombeerranken<br />
überwuchern die Pflastersteine. Zum Verladebahnhof neben dem<br />
Parkhaus gelangt nur, wer ein Absperrgitter beiseiteschiebt. Die Anlage<br />
ist verwaist: Die Fensterscheiben sind zerbrochen, die Backsteinmauern<br />
bemalt. „See sunrise with no sleep at all“, hat jemand in schwarzer<br />
Schrift auf weißen Grund gesprüht. Das Vogelgezwitscher wird lauter,<br />
das Verkehrsrauschen leiser. Ist das schon eine Landschaft? Früher war<br />
die Definition nicht allzu schwierig – die Landschaft lag vor den Stadt-<br />
toren. „Jetzt wissen wir nicht mehr, wo die Stadt aufhört und wo das<br />
Land anfängt“, sagt Weisshaar. In der Stadt breiten sich Grünanlagen<br />
aus, auf dem Land Gewerbegebiete.<br />
In der Stadt hält sich die Landschaft bisweilen verborgen, hinter dem<br />
Verladebahnhof zum Beispiel. Da spaziert Bertram Weisshaar gerne an<br />
einem Flussufer entlang. Dazu muss er sich allerdings durch Brombeeren<br />
kämpfen, auf einem Holzbrett balancieren und über ein Matschstück<br />
rutschen. Erst dann stößt er auf die Parthe, einen winzigen Fluss, der im<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
Bertram Weisshaar<br />
erforscht und entwickelt Spaziergänge, um die Wahrnehmung<br />
der Menschen für ihre Umwelt zu schärfen.<br />
Glastener Forst entspringt und in die Weiße Elster mündet. Planer haben<br />
die Parthe nicht nur versteckt, sondern auch begradigt; das Wasser<br />
wälzt sich durch ein Bett aus Beton. Trotzdem findet Weisshaar dort ein<br />
Merkmal von Landschaft: Sogar in einer solchen Rinne kann er Natur<br />
entdecken, die sich nicht gänzlich bändigen lässt.<br />
Eigentlich hat der Verladebahnhof nichts mit dem Tiergarten flussabwärts<br />
zu tun. Das einzige Bindeglied zwischen ihnen ist das Wasser:<br />
Beide Orte liegen an der Parthe. Damit gehören sie zu einer Landschaft.<br />
Solche Zusammenhänge so herauszuarbeiten, dass sie sich jedem<br />
Spaziergänger sogleich erschließen – darin sieht Weisshaar die Aufgabe<br />
von Landschaftsarchitekten. Die Landschaft entsteht erst in den<br />
Köpfen. Das allerdings war schon immer so. Wer früher vor die Tore der<br />
Stadt trat, durchquerte einen Bach, kletterte auf einen Hügel, wanderte<br />
durch einen Wald. Auch diese Orte standen für sich. Erst der Spaziergänger<br />
verknüpfte all die verschiedenen Eindrücke zu einem Gesamtbild,<br />
nämlich der Landschaft.<br />
Unter den Sohlen splittert das Glas. Auf den Pflastersteinen<br />
am Flussufer sind ein paar Bierflaschen zersprungen. Andere<br />
Spaziergänger würden die Scherben womöglich ausblenden und sich<br />
lieber etwas Schönerem zuwenden, zum Beispiel der Basilikumpflanze,<br />
die im Terrakottatopf auf dem Fenstersims auf der anderen Flussseite<br />
wächst. Die fügt sich besser ins Bild. Bertram Weisshaar hingegen<br />
filtert seine Umgebung nicht. Wie gehen die Stadtplaner mit Flüssen<br />
um? Wie mit Fußgängern, mit Radfahrern und mit Autobesitzern? Mit<br />
solchen Fragen im Kopf streift Bertram Weisshaar nicht nur durch<br />
Leipzig, sondern auch durch Frankfurt, Hannover oder Lübeck. Häufig<br />
heuern die Städte ihn an. Dann führt er Gruppen zum Beispiel durch<br />
historische Altstädte – von Parkplatz zu Parkplatz. Dadurch kann er zweierlei<br />
zeigen: Zum einen beweist er, wie viel Platz Autos beanspruchen,<br />
zum anderen, wie sehr Autos die Sicht einschränken. Durch eine Windschutzscheibe<br />
können wir bloß Ausschnitte wahrnehmen, auf einem<br />
Spaziergang hingegen Einblicke bekommen. Manchmal kann Bertram<br />
Weisshaar keine Landschaft finden. Als er das Flussufer hinter sich<br />
lässt, biegt er in eine Hauptstraße ein. Auf acht Spuren brausen die<br />
Autos vorbei. Ein paar Schritte weiter zuckeln drei Straßenbahnen zur<br />
Haltestelle, Stoßstange an Stoßstange. Ein Spaziergänger könnte den<br />
Platz nicht kreuzen. Wer die Stadt zu Fuß erkunden möchte, muss sich<br />
auf Umwege gefasst machen. Dass Fußgänger aus den Innenstädten<br />
»Jetzt wissen wir nicht mehr, wo die Stadt aufhört und wo das Land anfängt.«<br />
verdrängt werden, beobachtet Weisshaar oft. Neben der großzügigen<br />
Hauptstraße etwa verläuft ein bescheidener Bürgersteig.<br />
Unter den Sohlen zerplatzen zwei Hagebutten. Bertram<br />
Weisshaar zieht den Reißverschluss am Rollkragen hoch, vergräbt<br />
die Hände in den Manteltaschen. Er hat noch ein bisschen Weg vor sich:<br />
„In jeder Stadt stecken hunderttausend Bilder.“ Davon will er noch einige<br />
ausfindig machen. 7<br />
TEXT: INKA WICHMANN | FOTOS: JÖRG GLÄSCHER<br />
27
28<br />
forum_wissens_wert<br />
Die Unvollendeten<br />
In der Geschichte der Architektur hat es immer<br />
wieder markante Bauwerke gegeben, die nicht<br />
fertiggestellt wurden – weil das Geld ausging,<br />
der Bauherr verstarb, eine Pestepidemie<br />
ausbrach oder sonst etwas Unerwartetes dazwischenkam.<br />
Manche dieser Bauwerke lassen<br />
sich auch im rudimentären Zustand nutzen,<br />
andere bleiben Mahnmalen gleich ungenutzt<br />
stehen. So zum Beispiel das 330 Meter hohe<br />
Ryugyong-Hotel in Pjöngjang, Nordkorea,<br />
das das höchste Hotel der Welt sein könnte,<br />
aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten und<br />
Konstruktionsfehlern bislang aber nicht fertiggestellt<br />
wurde und aktuell unbewohnbar ist.<br />
Andere Gebäude befinden sich dauerhaft im<br />
Bau. An Gaudís berühmter Sagrada Família<br />
in Barcelona, Spanien, wird seit den 1880er<br />
Jahren gebaut. Und wenn sich die Spanier ein<br />
Beispiel an den Deutschen nehmen, könnte<br />
es mit der Fertigstellung auch noch dauern:<br />
Bis zur Fertigstellung des Kölner Doms im Jahr<br />
1880 vergingen 632 Jahre. 7<br />
Gaudís berühmte<br />
Sagrada Família<br />
in Barcelona<br />
Raum und Klang<br />
Musik und Architektur sind<br />
eng miteinander verbunden.<br />
Ideengeschichtlich spielen<br />
mathematische und geometrische<br />
Überlegungen in beiden<br />
Traditionen eine wichtige<br />
Rolle: Intervall und Takt in der<br />
Musik, Grundriss und Raumverhältnisse<br />
in der Architektur.<br />
Goethe nannte die Architektur<br />
eine „stumme Musik“. Für<br />
den Philosophen Friedrich<br />
Wilhelm Schelling glich die<br />
Architektur einer „erstarrten“<br />
Musik.<br />
Tatsächlich ist Musik fast<br />
immer auch ein räumliches<br />
Erlebnis. In der Tradition der<br />
venezianischen Mehrchörigkeit<br />
nutzte beispielsweise der Komponist Karlheinz Stockhausen die Klangbewegung<br />
im Raum als kompositorisches Mittel. Als erster Konzertsaal überhaupt wurde<br />
die 1951 fertiggestellte Royal Festival Hall in London (Foto) nach akustischen<br />
Berechnungen errichtet. Seit den sechziger Jahren setzten sich zunehmend<br />
Säle mit variabler Akustik für unterschiedliche Arten von Musik durch. Seit<br />
der Erfindung des Walkman – und seines Nachfolgers MP3-Player – kann jeder<br />
eigene „mobile Innenräume“ schaffen und mit sich tragen, um sich gegen<br />
(lästige) Außenräume abzuschirmen. 7<br />
Baumeister gibt es schon immer: Im Römischen<br />
Reich waren dies vor allem Militäringenieure, im<br />
Frühmittelalter Kleriker, im Spätmittelalter Handwerker<br />
und in der Renaissance Künstler, Bildhauer oder<br />
Wissenschaftler. Zu einer eigenen akademischen<br />
Disziplin wurde die Architektur erst im Zuge der<br />
Industrialisierung und der damit einhergehenden<br />
Fortschritte in der Bautechnologie sowie immer komplexeren<br />
Bauaufgaben.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
Die Architektendichte variiert weltweit<br />
stark: Japan hat einen fünfmal höheren<br />
Anteil von Architekten als Großbritannien,<br />
in Dänemark gibt es knapp doppelt so<br />
viele Architekten pro Einwohner wie in<br />
Deutschland. Wer als Architekt noch Aufgaben<br />
sucht, dürfte in Ländern wie China<br />
oder Indien noch viele Möglichkeiten<br />
haben.<br />
Der Drang nach oben<br />
Hochhäuser beflügeln Gefühle von Ohnmacht und Allmacht, je<br />
nachdem, ob man den schwindelerregenden Blick aus den Tiefen<br />
enger Wolkenkratzerschluchten in die Höhe wagt oder von ganz oben<br />
auf das Flirren der Menschenmassen und des Verkehrs herabschaut.<br />
Wann genau die Menschen auf die Idee kamen, Türme zu bauen, ist<br />
unklar. Beim ältesten archäologischen Turmfund handelt es sich um<br />
die Überreste des Turms von Jericho, datiert auf eine Zeit um 7.500<br />
v.Chr. Die Hochkulturen Mesopotamiens bauten ihre Tempelanlagen<br />
auf künstliche Stufenberge, um ihren Göttern besonders nah zu sein<br />
– zum Beispiel den „Turm zu Babel“, der 77 Meter maß<br />
und 600 v.Chr. fertiggestellt wurde. Gut 300 Jahre später<br />
wurde vor dem Hafen von Alexandria auf der Insel Pharos<br />
ein 140 Meter hoher Leuchtturm errichtet.<br />
Die nächsten hohen Türme wurden dann<br />
erst wieder im Mittelalter in Angriff genommen,<br />
als man mit hohen Kirchenbauten<br />
Gott ehren und Macht demonstrieren<br />
wollte. Der Beginn der heutigen<br />
„Wolkenkratzer-Rally“ geht auf<br />
das Ende des 19. Jahrhunderts<br />
zurück, als die Entwicklung<br />
des Stahlskelettbaus und die<br />
Erfindung des elektrischen<br />
Aufzugs den Bauherren<br />
völlig neue Möglichkeiten<br />
eröffneten. Angefangen<br />
mit New York und Chicago,<br />
schossen allerorten<br />
Wohn- und Bürotürme aus<br />
dem Boden. 7<br />
„Der Mensch braucht vor allem Raum<br />
und Licht und Ordnung“, sagte der Sohn<br />
eines Emaillierers von Uhrengehäusen und einer<br />
Musiklehrerin, den es nach einer Lehre zum Graveur<br />
und Goldschmied zur Malerei und Architektur zog.<br />
Als logische Konsequenz der rasanten technischen<br />
Entwicklung und des damit einhergehenden Wandels<br />
der Lebensgewohnheiten im frühen 20. Jahrhundert<br />
fordert der später aufgrund seiner radikalen Vorstellungen<br />
vielfach kontrovers diskutierte Architekt „eine<br />
fundamental neue Ästhetik“. In seinen „Fünf Punkten<br />
einer neuen Architektur“ erklärt er: „Es bleibt uns nichts<br />
mehr von der Architektur früherer Epochen, sowenig<br />
wie uns der literarisch-historische Unterricht an den<br />
Schulen noch etwas geben kann.“<br />
Die Aufgabe des Architekten sieht er im Erstellen von<br />
zweckmäßigen und wirtschaftlichen Entwürfen. Er<br />
nimmt die reine Funktionalität der Maschine zum Vorbild<br />
für die Gebäudegestaltung und orientiert sich an den<br />
Formen von Flugzeugen, Lokomotiven, Ozeandampfern<br />
und Automobilen. Dabei bekennt er sich umfassend zu<br />
den technischen Möglichkeiten der Zeit und setzt auf neue Baumaterialien<br />
wie Eisenbeton und Stahl. Von Ornamenten, die den Selbstzweck<br />
über die Funktion stellen, hält er nichts. Das Ergebnis seiner Architekturlehre<br />
sind klare und einfache Körper, die sich aus den geometrischen<br />
Grundformen des Rechtecks, Kreises und Quaders zusammensetzen.<br />
Als Stadtplaner setzt er auf strenge Funktionenteilung. In seinem Konzept<br />
einer „zeitgenössischen Stadt für drei Millionen Einwohner“ sollen<br />
die Menschen in riesigen<br />
Hochhäusern auf<br />
Stelzen inmitten weiter<br />
Grünanlagen wohnen,<br />
in anderen Stadtteilen<br />
in Bürotürmen arbeiten,<br />
in wieder anderen<br />
einkaufen und sich<br />
amüsieren. In die<br />
Realität umsetzen kann<br />
er seine städtebaulichen<br />
Vorstellungen,<br />
als ihn die Regierung<br />
des indischen Bundesstaates<br />
Punjab 1951<br />
als Berater für die<br />
Planung der neuen<br />
Hauptstadt Chandigarh<br />
beruft, die heute als<br />
Vorbild für indische<br />
Stadtplaner gilt. 7<br />
AUFLÖSUNG: SEITE 101<br />
WER WAR’S?<br />
29
30<br />
ansichten<br />
»Bislang mussten Architekten sich mit vielen unterschiedlichen Aspekten des Standorts<br />
auseinandersetzen, konzentrierten sich dabei aber immer auf reale Probleme<br />
wie etwa Werkstoffe oder die Form. Ich schätze, dass wir nun fast die Hälfte unseres<br />
Alltags in der Informationsgesellschaft verbringen. Und obwohl die Informationsgesellschaft<br />
unsichtbar ist, denke ich, dass Architektur sich darauf beziehen muss.«<br />
Kazuyo Sejima
Kazuyo Sejima führt gemeinsam mit<br />
Ryue Nishizawa das Architekturbüro<br />
SANAA in Tokio. Das Büro erhielt im<br />
Mai mit dem Pritzker-Preis 2010 die<br />
bedeutendste Auszeichnung für Architekten.<br />
Sejima ist außerdem Kuratorin<br />
der Architektur-Biennale 2010 in Venedig.<br />
Zu den bekanntesten Werken des<br />
Büros zählen das New Museum of<br />
Contemporary Art in New York und die<br />
Zollverein School of Management and<br />
Design in Essen.
32<br />
ansichten
»Ich hielt es für unmöglich, Hochhausfassaden mit bloßen Händen zu erklettern.<br />
Aber ich habe erkannt, dass das Unmögliche nur so lange unmöglich bleibt,<br />
bis man es möglich macht.«<br />
Alain Robert, französischer Fassadenkletterer
34<br />
projekte_infrastruktur<br />
WAS KOMMT VOR DER<br />
Entstehung und Wachstum von Städten hängen nicht nur von der baulichen Entwicklung über,<br />
sondern auch von der unter der Erde ab. Besonders für die infrastrukturelle Versorgung und<br />
Mobilität spielt die Stadt unter der Stadt eine entscheidende Rolle.<br />
Noch sieht man nur Straßen, Sand und Geröll. Am<br />
Horizont, kaum zu erkennen im Flirren der Hitze,<br />
ragen ein paar weiße Hallen auf. Etliche Kilometer<br />
ziehen sich die schwarzen Asphaltbänder durch<br />
den hellen Sand, durch die Einöde. Unter den<br />
Straßen aber ist schon alles vorbereitet für den Ansturm,<br />
den sich das Emirat Dubai im Wüstensand<br />
erhofft: Einen Steinwurf vom neuen Al Maktoum International<br />
Airport, der nach seiner Fertigstellung der größte der Welt sein<br />
wird, entsteht ein rund 30 Quadratkilometer großes Wirtschaftsareal,<br />
in dem Hunderte internationaler Unternehmen ein neues<br />
Zuhause finden oder eine arabische Dependance gründen sollen:<br />
das Dubai World Central. Noch steht hier nicht einmal eine Garage,<br />
aber längst hat man Wasser-, Abwasserrohre sowie Stromund<br />
Kühlleitungen verlegt. Glasfaserkabel wurden gleich paarweise<br />
im Boden versenkt, auf dass die Daten später ungestört in alle Welt<br />
fließen mögen. Bevor die Stadt wächst, ist die Infrastruktur schon<br />
da. In dem neuen Logistik- und Wirtschaftszentrum werden rund<br />
150.000 Menschen arbeiten, Bürogebäude mit 45 Etagen und<br />
25 Hotels errichtet. Und alle müssen mit Wasser, Strom und Kälte<br />
versorgt werden. Ohne eine leistungsfähige Infrastruktur ist das<br />
undenkbar. 3<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
STADT?<br />
Wo heute noch Wüste ist, könnte morgen eine<br />
futuristische Ökostadt stehen (siehe S. 38)<br />
– aber erst braucht es eine funktionsfähige<br />
Versorgungsinfrastruktur.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
35
36<br />
projekte_infrastruktur<br />
3 Das neue Finanzquartier vor den Toren Dubais ist eines der weltweit<br />
wohl imposantesten Bauvorhaben, aber längst nicht das einzige.<br />
Vor allem in China und Indien, aber auch in Afrika wachsen<br />
die Städte. In China wird heute ein Stadtquartier für 50.000 Menschen<br />
in nur drei Jahren aus dem Boden gestampft, oftmals dort,<br />
wo sich Großkonzerne ansiedeln. Im Jahr 2025 werden nach<br />
Schätzung der Unesco bereits 60 Prozent der Menschheit in<br />
Städten leben. All diese Menschen mit Strom oder sauberem Trinkwasser<br />
zu versorgen ist eine Herausforderung. Mehr denn je sind<br />
dafür intelligente und leistungsfähige Infrastrukturlösungen gefragt.<br />
Die beste Lösung für die Stromversorgung wäre die Nutzung regenerativer<br />
Energien. Doch Sonne und Wind werden die Metropolen<br />
der Welt mittelfristig nur zu einem Teil damit versorgen können. Bis<br />
dahin ist Erdgas eine ideale Alternative, denn es verbrennt deutlich<br />
sauberer als Kohle und lässt sich effizient in kleinen Kraftwerken in<br />
der Stadt zur gekoppelten Strom- und Wärmeerzeugung einsetzen.<br />
Was Deutschland betrifft, muss das Gas von weit her aus Russland<br />
und anderen asiatischen Regionen per Pipeline herbeigeschafft<br />
Mit Opus Caementitium,<br />
einem<br />
Vorgänger und<br />
Namensgeber<br />
des heutigen<br />
Zements, bauten<br />
schon die Römer<br />
ihre Aquädukte.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
werden. <strong>ThyssenKrupp</strong> hat dafür Spezialstähle entwickelt, die mit<br />
mehr als 2 Zentimetern Wandstärke besonders haltbar sind. Das<br />
Gas kann daher mit höheren Drücken durch die Pipeline gepumpt<br />
werden. So lässt sich mehr transportieren. Und noch etwas macht<br />
die Rohre besonders. Sie widerstehen hohen Konzentrationen an<br />
Schwefelwasserstoff im Erdgas, der ansonsten zu Rissen und<br />
Leckagen führen könnte.<br />
Infrastruktur, die mitwächst<br />
Eine der zurzeit drängendsten Fragen ist, wie sich die wachsende<br />
Weltbevölkerung und insbesondere die Menschen in den Städten<br />
künftig umweltfreundlich versorgen lassen. Eine Patentlösung, die<br />
noch dazu wirtschaftlich ist, gibt es zurzeit nicht. Doch haben Forscher<br />
in verschiedenen Ländern inzwischen ganz unterschiedliche<br />
Ansätze für die künftige Infrastruktur entwickelt. So entsteht in<br />
Stockholm mit Hammarby Sjöstad ein neuer Stadtteil für 25.000<br />
Menschen direkt am Wasser. Ein Großteil der für Heizung und<br />
Warmwasser benötigten Wärme wird aus der Vergasung von Klärschlamm<br />
und der Verbrennung von Müll gewonnen. Um den Auto-<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
»Die Zukunft ist eine kleinräumige<br />
Gliederung der Stadt in viele Zentren,<br />
die sich zum Teil selbst versorgen.«<br />
verkehr zu reduzieren, wurden eine Expressfährverbindung und<br />
neue Buslinien eingerichtet. Auch die österreichische Stadt Linz will<br />
mit ihrem neuen Stadtteil solarCity Kohlendioxid einsparen. Etwa<br />
die Hälfte des Warmwassers soll durch Solarkollektoren im Stadtteil<br />
erzeugt werden, der Rest wird über Fernwärmeleitungen angeliefert.<br />
Der Trend beim Städtebau und der Infrastruktur ist also klar: Es gilt,<br />
die Stadtgebiete möglichst dezentral und mitunter sogar autark zu<br />
versorgen. „Die Zeiten der großen Kanalisationen und Ausfallstraßen<br />
ist vorbei“, sagt Alexander Rieck, der in der Fraunhofer-Gesellschaft<br />
entsprechende Forschungs- und Entwicklungsergebnisse<br />
zusammenführt und in internationalen Großprojekten anwendet.<br />
„Die Zukunft ist eine kleinräumige Gliederung der Stadt in viele<br />
Zentren, die sich zum Teil selbst versorgen und in denen Menschen<br />
wohnen, einkaufen und arbeiten.“ Die Fraunhofer-Gesellschaft hat<br />
beispielsweise erforscht, wie sich ein solches Areal mit Wasser versorgen<br />
und vom Abwasser befreien lässt. Eine Lösung sind dünne<br />
Vakuumröhren, die fast ohne Wasser auskommen und die Fäkalien<br />
wie in der Zugtoilette absaugen. Feststoffe können dann vor Ort 3<br />
37
38<br />
projekte_infrastruktur<br />
Grundsolides Fundament<br />
Grundlage einer jeden Stadtinfrastruktur ist<br />
heute vor allem eines: Beton. Aus Beton<br />
werden Straßen gegossen, Gerippe von<br />
Hochhäusern errichtet, Eisenbahnbrücken<br />
geformt oder Tunnel unter der Stadt ausgekleidet.<br />
Kein anderer Baustoff wird weltweit<br />
so häufig eingesetzt wie dieser – die<br />
klassische Mischung aus Zement, Wasser<br />
und Sand. Allein in Deutschland verbaut<br />
man jährlich 35 Millionen Tonnen Zement.<br />
Zement wird in turmhohen Anlagen hergestellt,<br />
die mitunter höher als der Kölner<br />
Dom sind. Manche liefern täglich bis zu<br />
15.000 Tonnen.<br />
Die <strong>ThyssenKrupp</strong> Tochter Polysius ist auf<br />
den Bau dieser großen Werke spezialisiert<br />
und hat etliche Anlagen in den wachsenden<br />
Nationen dieser Welt errichtet. Sie<br />
liefern die Essenz für neue Infrastrukturen<br />
wie etwa Bahn- oder Metrostrecken, die<br />
verstopfte Straßen entlasten – oder auch<br />
für unterirdische Shoppingmalls, wie sie<br />
niederländische Architekten in Amsterdam<br />
planen, um die Grachten- und Giebelkultur<br />
über der Erde unangetastet zu lassen.<br />
Dank spezieller bauchemischer Zusätze<br />
sind Beton und Zement heute wahre Hochleistungsstoffe.<br />
Beim Tunnelbau vermengt man Zement<br />
mit Erstarrungsbeschleunigern. Damit<br />
verfestigt sich der Beton innerhalb von<br />
Sekunden, sobald ihn die Spritzmaschine<br />
an die Tunnelwand geschleudert hat. Man<br />
weiß, dass Zementwerke ungeheure Mengen<br />
an Brennstoff benötigen. Um wertvolle<br />
Rohstoffe wie Öl, Gas oder Kohle zu sparen,<br />
werden die Anlagen deshalb so ausgelegt,<br />
dass sie sich auch mit Reststoffen<br />
befeuern lassen – mit Abfall oder auch<br />
Altreifen. Und auch bei den Zementrohstoffen<br />
wird im Sinne der Umwelt gespart.<br />
Vielfach setzt man heute Hochofenschlacke<br />
aus der Eisenherstellung ein. Wie sich<br />
zeigte, verbessern diese Abfallstoffe die<br />
Eigenschaften des Zements sogar. Auch<br />
beim Straßenbau, zum Beispiel in schallschluckenden<br />
Flüsterasphalten, kommen<br />
Schlacken heute zum Einsatz. 7<br />
3<br />
leicht abgetrennt, getrocknet und verbrannt oder zu Biogas vergoren<br />
werden. Für die Toilettenspülung wird Regenwasser genutzt,<br />
das in riesigen unterirdischen Tanks gesammelt wird – einer Art<br />
kommunaler Zisterne.<br />
Auch Alexandra Lux vom Institut für sozial-ökologische Forschung<br />
in Frankfurt am Main glaubt daran, dass die Infrastruktur künftig<br />
eher kleinräumig strukturiert sein wird. „Niemand weiß genau, wie<br />
sich das Wachstum der Städte in Jahrzehnten fortsetzen wird. Statt<br />
große Versorgungsnetze zu bauen, ist es sinnvoller, ein System zu<br />
entwickeln, das mitwachsen kann und aus kleinen Versorgungsinseln<br />
besteht.“ Lux arbeitet unter anderem an Verfahren, mit<br />
denen sich der Wasserbedarf prognostizieren lässt. Was die<br />
Wasserversorgung selbst angeht, hat die staatliche australische<br />
Forschungsorganisation Csiro unlängst eine eindrucksvolle Lösung<br />
präsentiert: Sie will künftig während der Regenzeit das Wasser in<br />
wasserführende Schichten tief in der Erde, sogenannte Aquifere,<br />
pumpen, um damit bei Trockenheit den Bedarf zu decken.<br />
Autarkie auf kleinem Raum<br />
Einen kleinräumigen Autarkieansatz verfolgt auch das Emirat Abu<br />
Dhabi, Dubais Nachbar. Bis zum Jahr 2020 soll dort die erste<br />
Ökoretortenstadt der Welt, „Masdar City“, aus dem Wüstensand<br />
gestampft werden. Die von Stararchitekt Sir Norman Foster<br />
konzipierte 50.000-Einwohner-Gemeinde soll die erste CO2-freie<br />
Metropole der Welt sein, die erste, die sich die Energie für Strom,<br />
Klimakälte oder den Verkehr selbst aus Sonne und Wind erzeugt.<br />
Autos gibt es nicht. Stattdessen gleiten fahrerlose elektrische Fahrkokons<br />
im Kellergeschoss unter den Straßen entlang. Sie bringen<br />
die Bewohner und Arbeiter automatisch von A nach B. Einzig die<br />
Hochhäuser fehlen. Statt der heute auch in Abu Dhabi üblichen riesigen<br />
Wohn- und Bürokomplexe, zwischen denen die Temperaturen<br />
mittags auf 50 Grad steigen, sind für Masdar beschauliche,<br />
zwei-, dreigeschossige Häuser und enge schattige Gassen geplant,<br />
die kühl bleiben. Bei aller Fortschrittlichkeit findet Masdar<br />
damit zurück zum traditionellen Baustil der arabischen Wüstenregionen.<br />
Zwar hat die Wirtschaftskrise die Pläne der Scheichs<br />
durcheinandergewirbelt, so dass derzeit ein neuer Masterplan aufgestellt<br />
wird. Doch bislang gibt es keine andere Stadt weltweit, die<br />
die umweltfreundliche Versorgung derart weit treiben wird.<br />
Im 19. Jahrhundert begannen die europäischen Städte mit dem<br />
Bau moderner Kanalisationen, Anfang des 20. folgten Wasserleitungen<br />
und Stromnetze. Infrastruktur war lange Zeit Versorgung in<br />
großen Dimensionen. Natürlich ist das auch heute noch der Fall.<br />
Doch eines ist sicher: Für die Versorgung der Städte wird man<br />
künftig zunehmend verschiedene Technologien miteinander kombinieren.<br />
Die Infrastruktur diversifiziert sich und wird sich damit<br />
perfekt an die jeweiligen Bedingungen anpassen lassen – in Europa,<br />
in Asien, in einer neuen Stadt oder beim Umbau eines alten<br />
Zentrums. „Welche Ideen sich durchsetzen, wissen wir heute noch<br />
nicht“, sagt Alexander Rieck, „aber es werden viele sein, denn das<br />
Bevölkerungswachstum schafft einen riesigen Bedarf.“ 7<br />
TEXT: TIM SCHRÖDER<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
»Statt große Versorgungsnetze zu bauen, ist es sinnvoller,<br />
ein System zu entwickeln, das mitwachsen kann.«<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
Marode Wasserleitungen im Westen, fehlende<br />
Infrastruktur in den Entwicklungsländern –<br />
die Wasserversorgung bleibt eine der großen<br />
globalen Herausforderungen.<br />
39
40<br />
projekte_werkstoffe<br />
STOFFE,<br />
AUS<br />
Ob spektakuläre Bauprojekte oder der Schutz berühmter Denkmäler – erst dank moderner<br />
Werkstoffe wie neu entwickelter Stahlsorten, Titan und Stahl-Sandwichelementen können Architekten<br />
viele ihrer Ideen verwirklichen.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
DENEN TRÄUME SIND<br />
Effektvoll: Der Eingangsbereich des Porsche-Museums in Stuttgart, das in 16 Metern Höhe auf drei<br />
massiven Betonpfeilern ruht und vom Wiener Architekturbüro Delugan Meissl entworfen wurde.<br />
Der hier verwendete korrosionsbeständige Edelstahl von <strong>ThyssenKrupp</strong> „steigert räumlich die großzügige<br />
Öffnung des Eingangsbereichs und verstärkt die Interaktion von Besuchern und Gebäude“,<br />
wie Architekt Roman Delugan erklärt.<br />
41
42<br />
projekte_werkstoffe<br />
Als der Burj Khalifa Bin Zayed, kurz auch Burj-Tower genannt,<br />
am 4. Januar 2010 offiziell in Dubai eingeweiht<br />
wurde, hatte auch <strong>ThyssenKrupp</strong> Nirosta einen Grund<br />
zu feiern. Denn für die Fassade des 828 Meter hohen<br />
Turms griffen die Bauherren auf rund 400 Tonnen<br />
rostfreien Edelstahl aus dem Werk in Dillenburg<br />
zurück, der von der deutschen Partnerfirma Strukturmetall<br />
bearbeitet und ausgeliefert wurde. Das in sechsjähriger<br />
Bauzeit nach den Plänen des US-Architekten Adrian Smith errichtete<br />
Gebäude ist aber nicht nur das höchste der Welt, sondern es<br />
ist auch besonders widerstandsfähig – rostfreier Edelstahl trotzt<br />
den Umwelteinflüssen, denen der Burj-Tower durch die gleichzeitige<br />
Nähe von Meer und Wüste und die dadurch hervorgerufenen<br />
Temperaturschwankungen ausgesetzt ist. Zudem wurde die Oberfläche<br />
so bearbeitet, dass Gewicht eingespart wird und die Fassade<br />
nicht spiegelt, um die den Airport in Dubai anfliegenden Piloten<br />
nicht zu irritieren.<br />
Neue Werkstoffe verändern die Architektur<br />
Der Burj-Tower beweist wie zahlreiche andere spektakuläre Bauwerke<br />
vor ihm, wie die Entwicklung neuer oder die Verbesserung<br />
bekannter Werkstoffe die Möglichkeiten der Architektur immer wieder<br />
erweitern. Beton war so ein Baustoff, und zwar schon in der<br />
Antike. Die Römer versetzten ihn mit Travertin, Tuff- und Ziegelsplitt<br />
und konnten so vor 2.000 Jahren beim Bau des Pantheons die für<br />
die damalige Zeit gewaltige Spannweite von 43 Metern stützenfrei<br />
überwölben. Glas und Eisen sorgten dagegen Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
für Aufsehen, als der britische Architekt Joseph Paxton<br />
das Ausstellungsgebäude für die erste Weltausstellung 1851 in<br />
London – den sogenannten Crystal Palace – im Wesentlichen mit<br />
diesen beiden Werkstoffen bauen ließ. Schon bald darauf trat dann<br />
der Stahl seinen weltweiten Siegeszug an. Beim Bau des nach<br />
seinem Erbauer Gustave Eiffel benannten Stahlfachwerkturms anlässlich<br />
der Hundertjahrfeier der Französischen Revolution und der<br />
damit verbundenen Weltausstellung von 1889 ging es erneut<br />
um die Zurschaustellung eines modernen Baumaterials. Am eindrucksvollsten<br />
symbolisiert allerdings der Bau des Empire State<br />
Buildings 1930/31 in New York in einer Rekordzeit von 18 Monaten,<br />
wie sehr Stahl die Architektur in den Metropolen in aller Welt revolutioniert<br />
hat. Mit 381 Metern Höhe war das Empire State Building<br />
bis zum Bau des World Trade Centers mehr als 40 Jahre lang das<br />
höchste Gebäude der Welt.<br />
Stahl bleibt zukunftsfähig<br />
Zwar wurde mittlerweile schon mehrfach das Ende des Stahlzeitalters<br />
vorausgesagt, doch konstante Investitionen in dreistelliger Millionenhöhe<br />
allein durch die deutsche Stahlindustrie sorgen dafür,<br />
dass Stahl gegenüber neu entwickelten Verbundwerkstoffen wie<br />
glasfaserverstärktem Kunststoff oder Metallschäumen<br />
sowohl im Preis als auch bei den Materialeigenschaften<br />
konkurrenzfähig bleibt. So stieg die Zahl der in der<br />
Europäischen Stahlregistratur gelisteten Stahlsorten in<br />
den letzten Jahren kontinuierlich auf 2.379 marktrelevante<br />
Sorten. „Allein im Jahr 2009 kamen 86 neue<br />
Stahlsorten hinzu und damit fünf mehr als in den vorangegangenen<br />
vier Jahren zusammen“, so Wolfgang<br />
Schmitz von der Wirtschaftsvereinigung Stahl. Hinzu<br />
kommen weitere nicht registrierte Werkssondermarken<br />
und nichteuropäische Stähle. Neue Sorten sollen dabei<br />
entweder Gewichtseinsparungen bei gleichen Materialeigenschaften<br />
oder verbesserte Eigenschaften bei gleichem<br />
Gewicht erzielen. Das Wechselspiel von Materialforschung<br />
und -entwicklung und der Anpassung an die<br />
ständig steigenden Wünsche von Bauherren und Architekten<br />
haben über Jahrzehnte hinweg dafür gesorgt, dass immer<br />
höher gebaut wurde und immer gewagtere Entwürfe letztlich realisiert<br />
werden konnten.<br />
Vor allem die Kombination von Stahl und Beton hat dafür gesorgt,<br />
dass wie beim Bau des Burj-Towers in immer neue Dimensionen<br />
»Neue Werkstoffe sorgen dafür, dass immer gewagtere Entwürfe<br />
realisiert werden können.«<br />
vorgestoßen werden konnte. Die jüngste Entwicklung beim Beton<br />
ist sogenannter transluzenter, also bis zu einem gewissen Grad<br />
lichtdurchlässiger, Beton. Durch das Einlegen von optischen Fasern<br />
gelang es dem Ungarn Áron Losonczi, diese neuartigen Betonelemente<br />
herzustellen. Selbst bei bis zu 20 Metern Wanddicke sind<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
3
Beton | Bereits von den Römern<br />
beeindruckend im Pantheon in Rom<br />
eingesetzt, entwickelt sich auch dieser<br />
Werkstoff weiter und ermöglicht<br />
heute kühne Konstruktionen wie<br />
die Juscelino-Kubitschek-Brücke in<br />
Brasília.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
Edelstahl | Ob in der Fassade des neu<br />
erbauten Burj-Towers in Dubai oder zur<br />
Stabilisierung der Dresdner Frauenkirche<br />
– Architekten setzen das Material<br />
von <strong>ThyssenKrupp</strong> Nirosta für viele verschiedene<br />
Zwecke ein.<br />
43
44<br />
projekte_werkstoffe<br />
Glas | Nichts an<br />
Faszination verloren<br />
hat für Architekten<br />
das transparente<br />
Material<br />
Glas – wie hier<br />
in der berühmten<br />
Pyramide von<br />
Ieoh Ming Pei vor<br />
dem Louvre (Bild<br />
links) oder<br />
als Dach des um<br />
1900 errichteten<br />
Grand Palais,<br />
ebenfalls in Paris<br />
(Bild Mitte links).<br />
Titan | Unverwüstlich: Titan verwittert auch unter ungünstigen Witterungsbedingungen<br />
kaum und wird immer häufiger in Fassaden genutzt. So besteht die Kuppel des neuen<br />
Nationaltheaters in Peking (Bild Mitte rechts) teilweise aus dem Werkstoff. Und schon<br />
vor 20 Jahren lieferte <strong>ThyssenKrupp</strong> Titanium 30 Tonnen des Werkstoffs für die<br />
Türen der Hassan-II.-Moschee in Casablanca, die so perfekt vor Korrosion durch die<br />
aggressive Meeresluft geschützt sind.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
3<br />
dabei noch Licht und Schatten zu erkennen. In Mexiko-Stadt wird<br />
dieser Baustoff zurzeit das erste Mal im großen Stil von den Architekten<br />
Ebner + Sánchez beim Erweiterungsbau der Firmenzentrale<br />
des mexikanischen Bauunternehmens ICA eingesetzt. Das 120<br />
Meter lange, auf wenigen Stützen ruhende Gebäude soll eine um-<br />
laufende Fassade mit Lamellen aus dem transluzenten Beton erhalten.<br />
Neben Stahl und Beton ist vor allem Titan ein Werkstoff, der<br />
hervorragende mechanische Eigenschaften besitzt, zudem sehr<br />
korrosionsbeständig ist und in der modernen Architektur den Bau<br />
aufsehenerregender Bauwerke ermöglicht.<br />
Das 1997 fertiggestellte und mit einer Titanbeschichtung<br />
versehene Guggenheim-Museum<br />
in Bilbao ist das bekannteste, aber bei<br />
weitem nicht einzige Bauwerk, das auf diese<br />
Weise glänzen kann. So verwendete der japanische<br />
Architekt Kisho Kurokawa beim zwei<br />
Jahre später eröffneten Erweiterungsbau des<br />
Van Gogh Museums in Amsterdam ebenfalls<br />
Titan in Verbund mit Aluminium, um dem<br />
elliptisch geformten Baukörper mehr Glanz<br />
gegenüber dem nüchternen, viereckigen<br />
Hauptgebäude zu verleihen. Neben Exklusivität<br />
und Glanz punktet Titan bei Bauherren<br />
und Architekten vor allem mit seiner Unverwüstlichkeit:<br />
Weil es sich bei Kontakt mit<br />
Sauerstoff mit einer dünnen, transparenten<br />
Oxidschicht umgibt, die fast gar nicht mehr<br />
reagiert, verwittert es auch unter ungünstigen<br />
klimatischen Verhältnissen kaum. Ein Umstand,<br />
der auch die Bauherren des Glasgower<br />
Museums der Wissenschaft bewogen hat, für<br />
den Bau inklusive des angegliederten IMAX-Kinos eine Titanummantelung<br />
für Dach und Fassade zu wählen.<br />
Rostfreier Edelstahl und Titan kommen aber nicht nur für moderne<br />
Bauvorhaben in Betracht, sondern auch an ganz unerwarteter Stelle<br />
zum Einsatz. Dort wo Hitze, Kälte und Korrosion über Jahre die<br />
Bausubstanz von antiken, mittelalterlichen oder Gebäuden aus jün-<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
geren Epochen zerstören, bieten die modernen Werkstoffe die<br />
Chance, dem Verfall entgegenzuwirken. „Normalerweise wird Edelstahl<br />
nur mit moderner Architektur in Verbindung gebracht“, sagt<br />
Gert Weiß, Leiter Produktservice bei <strong>ThyssenKrupp</strong> Nirosta. „Dabei<br />
kann er auch alte Gebäude auf Vordermann bringen, ohne ihnen<br />
»Ob Kölner Dom, Akropolis oder Markuskirche: Stahl und Titan können<br />
auch alte Gebäude wieder auf Vordermann bringen.«<br />
einen völlig neuen Charakter zu verleihen.“ Wie etwa den Kölner<br />
Dom, bei dem für einen auf 100 Metern Höhe liegenden Besucherrundgang<br />
die alten und stark korrodierten Eisenträger durch<br />
Träger aus Edelstahl ersetzt wurden. Auch die Konstruktion der<br />
Dresdner Frauenkirche und das Reiterstandbild vor dem Bremer<br />
Rathaus wurden durch Befestigungselemente aus Nirosta-Stählen<br />
stabilisiert. „Bei diesen Anwendungsbeispielen sticht nicht die<br />
technische Ästhetik des Materials hervor, sondern seine Funktionalität“,<br />
so Weiß weiter.<br />
Moderner Denkmalschutz aus Stahl und Titan<br />
Das gilt auch für den verborgenen Einsatz von Titan auf der Akropolis<br />
in Athen. Dort wurde schon vor Jahren der ursprünglich für<br />
die Restauration eingesetzte Stahl durch Titanstäbe von Thyssen<br />
Krupp Titanium ersetzt, um die korrosionsbedingte Zerstörung des<br />
Marmors in den weltberühmten Tempelsäulen zu verhindern. Auch<br />
an der Rettung des Wahrzeichens von Venedig, des Campanile di<br />
San Marco, vor dem Verfall ist <strong>ThyssenKrupp</strong> Titanium beteiligt.<br />
Der Campanile, ein freistehender Glockenturm des Markusdoms auf<br />
der gegenüberliegenden Seite des Markusplatzes, wurde erstmals<br />
im 10. Jahrhundert errichtet, stürzte 1902 ein und wurde anschließend<br />
wiederaufgebaut. Das Fundament des fast 100 Meter<br />
hohen Turms besteht jedoch aus Holzpfählen, die im Laufe der Zeit<br />
durch das Salzwasser marode wurden. Außerdem greifen aufgrund<br />
des steigenden Meeresspiegels Hochwasser und Überschwemmungen<br />
die Bausubstanz an. Dadurch können Risse entstehen,<br />
und der Markus-Turm könnte sich seitlich neigen oder erneut einstürzen.<br />
In einem aufwendigen Verfahren wird in einer Bauzeit von<br />
zwei Jahren bis Ende 2011 eine Titankonstruktion in dreieinhalb<br />
Metern Tiefe unter Wasser um das bisherige Fundament herum<br />
gespannt, die das Bauwerk langfristig stabilhalten soll. 7<br />
TEXT: CHRISTOPH NEUSCHÄFFER<br />
45
46<br />
2008<br />
projekte_quartier<br />
2007
2009<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
Aus Träumen wird Wirklichkeit: Im Zeitraffer zeigen 52 Bilder,<br />
wie in rund zweieinhalb Jahren aus einer Industriebrache am<br />
Rande der Essener Innenstadt der weitläufige Campus des<br />
neuen <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartiers entstanden ist. Im Sommer<br />
2010 ziehen die Mitarbeiter in die neue Konzernzentrale von<br />
<strong>ThyssenKrupp</strong> ein. Das markante, zentrale Gebäude Q1 etwas<br />
links von der Blickachse steht mit seinem großen Panoramafenster<br />
ebenso wie der Campus insgesamt für Offenheit und<br />
die Einladung zum Dialog. Welche Besonderheiten das Quartier<br />
außerdem noch aufweist, wie sich Innovation und Zukunftsorientierung<br />
des Konzerns darin widerspiegeln und warum das<br />
230 Hektar große Areal auch aus historischer Sicht so interessant<br />
ist, steht auf den folgenden Seiten.<br />
2010<br />
47
48<br />
quartier_interview<br />
»BEWEGUNG<br />
Ein Gespräch über das neue <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier in Essen mit Ralph Labonte, Personalvorstand<br />
der <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>AG</strong>, der das Projekt federführend betreut hat.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
UND AUFBRUCH«<br />
Herr Labonte, 2006 startete <strong>ThyssenKrupp</strong> einen internationalen<br />
Architektenwettbewerb für das neue <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier, Mitte<br />
2007 war der erste Spatenstich. Nun ziehen die Mitarbeiter des<br />
Konzerns ein. Was bedeutet ein derart großes Projekt, das Tausende<br />
von Menschen an einem neuen Standort versammelt, für <strong>ThyssenKrupp</strong>?<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
Nach zwei Jahren Bauzeit fand am 17. Juli 2009 das Richtfest der<br />
Konzernzentrale im neuen <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier statt. Im Namen<br />
des Vorstands dankte Ralph Labonte all jenen, die mit viel<br />
Know-how dazu beigetragen haben, dass hier ein Stadtteil und<br />
alter Industriestandort zu neuem Leben erweckt wurde.<br />
Um es gleich zu Beginn zu sagen: Wir sind froh und stolz, nun in ein architektonisch<br />
so gelungenes Quartier einzuziehen, das genau auf unsere<br />
Anforderungen zugeschnitten ist. Es macht auf vielfältige Weise deutlich,<br />
wie wir uns sehen und was uns wichtig ist. Es ist somit Ausdruck<br />
unseres Selbstverständnisses. Mit der Rückkehr ins Ruhrgebiet bekennen<br />
wir uns klar zu der Region, in der <strong>ThyssenKrupp</strong> und seine beiden<br />
3<br />
49
50<br />
quartier_interview<br />
Ein Quartier für<br />
2.000 Mitarbeiter<br />
Im neuen Quartier in Essen konzentriert <strong>ThyssenKrupp</strong><br />
seine Verwaltungsstandorte – neben<br />
dem zweiten Firmensitz in Duisburg. Der gesamte<br />
Krupp-Gürtel umfasst 230 Hektar. Er<br />
grenzt an die westliche Essener Innenstadt und<br />
erstreckt sich auf 7 Kilometer Länge bis nach<br />
Norden. Auf dem Campus des <strong>ThyssenKrupp</strong><br />
Quartiers arbeiten seit Juni 2010 etwa 2.000<br />
Mitarbeiter. Gestaltet wurde das Quartier nach<br />
einem Entwurf von Chaix & Morel et associés,<br />
Paris/JSWD Architekten und Planer, Köln.<br />
Das Bürokonzept wurde in Zusammenarbeit<br />
mit dem Fraunhofer Institut entwickelt, wobei<br />
die Wünsche der Mitarbeiter berücksichtigt<br />
wurden. 7<br />
Das „Schale-Kern“-Prinzip<br />
Die Grundkonzeption aller Campus-Gebäude<br />
folgt der „Architektur der räumlich erlebbaren<br />
Mitte“ als Zeichen für Dialog und Kommunikation.<br />
Dabei gilt das Prinzip „Schale – Kern“:<br />
Alle Gebäude bestehen aus mindestens zwei<br />
L-förmigen Einzelbaukörpern, die jeweils eine<br />
gemeinsame Mitte umschließen. Damit entstehen<br />
zwei Fassadentypen – ein in die Mitte,<br />
in Richtung der Höfe und Atrien, orientierter<br />
Fassadentypus (der „Kern“) und einer, der<br />
Bezug zu den äußeren Freianlagen aufnimmt<br />
(die „Schale“). Dabei bilden die mit warmen,<br />
sonnigen Farbtönen gestalteten Bleche des<br />
„Kerns“, die in den Abend- und Nachtstunden<br />
illuminiert werden, einen starken Kontrast<br />
zur rauen, metallischen äußeren „Schale“. 7<br />
3<br />
Ein neuer, grüner Stadtteil: links der neue Krupp-Gürtel, rechts die Essener Innenstadt,<br />
verbunden durch den neuen Berthold-Beitz-Boulevard.<br />
Vorgängerunternehmen ihre Wurzeln haben. In Essen hat 1811 die Konzerngeschichte<br />
mit einer kleinen Gussstahlfabrik namens Krupp begonnen<br />
und hier wird sie jetzt fortgeschrieben. Das ist etwas Besonderes.<br />
Denken Sie nur an die Standortverlagerungen anderer Unternehmen,<br />
auch ins Ausland. Außerdem steht ein Umzug immer auch für Bewegung,<br />
für Aufbruch. Ich denke, ich spreche für alle Konzernmitarbeiter,<br />
wenn ich sage, dass wir uns dieser historischen Dimension bewusst<br />
sind. Ich bin gespannt, welche Dynamik das bei uns allen bewirkt.<br />
Welche Bedeutung hat der Standort einer Konzernzentrale heute<br />
überhaupt noch?<br />
Ein Standort ist immer auch ein Signal der Verbundenheit mit einer<br />
Stadt, einer Region. Wo sich ein Unternehmen ansiedelt, ist gerade in<br />
einer globalisierten Welt von großer Bedeutung und hohem symbolischen<br />
Wert – für das Unternehmen selbst, für seine Mitarbeiter und<br />
natürlich für den jeweiligen Ort. Auch ein international vernetzter Kon-<br />
Baudimensionen_1<br />
Baustelle<br />
über 300 am Bau beteiligte Unternehmen<br />
max. rund 1.600 Beschäftigte auf der Baustelle<br />
mehrere hundert Baufahrzeuge pro Tag<br />
13 Kräne (max. zeitgleicher Einsatz)<br />
450.000 m 3 bewegte Bodenmassen<br />
ca. 3 km Bauzaun<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
zern wie <strong>ThyssenKrupp</strong> mit Standorten auf fünf Kontinenten braucht<br />
eine solche zentrale Verwaltung – als Herz des Konzerns und Symbol für<br />
dessen Entwicklung.<br />
Das städtebauliche Campus-Konzept soll auch – zumindest teilweise<br />
– eine Öffnung nach außen bringen. Ist es nicht trotzdem<br />
eher wahrscheinlich, dass sich das Quartier zu einem Mikrokosmos<br />
für die dort Beschäftigten entwickelt?<br />
Nein, das denke ich nicht – das Quartier ist ja eingebettet in eine sehr<br />
umfassende städtebauliche Entwicklung. Vor elf Jahren schon entstand<br />
der Rahmenplan für den sogenannten Krupp-Gürtel, das Entwicklungsareal,<br />
das zwischen der Essener Innenstadt und dem Stadtteil Altendorf<br />
in weiten Teilen über Jahrzehnte brach lag. Mit der schieren Größe von<br />
rund 230 Hektar handelt es sich dabei um das größte innenstadtnahe<br />
Entwicklungsareal in Deutschland. Ziel damals wie heute war es, die<br />
Innenstadt zu erweitern und diese mit dem Stadtteil Altendorf zu verknüpfen.<br />
Mit der Entscheidung, die Verwaltungseinheiten von Thyssen<br />
Krupp im Herzen dieses Entwicklungsareals zu konzentrieren, haben wir<br />
in Essen eine städtebauliche Dynamik in Gang gesetzt. So hat die Stadt<br />
parallel den ersten Bauabschnitt des Berthold-Beitz-Boulevards und<br />
des Nordteils des Krupp-Parks in Angriff genommen und bereits den<br />
Bürgern der Stadt übergeben. Ich bin sehr zuversichtlich, dass auch die<br />
Öffentlichkeit unseren Campus entdecken wird – und so ein lebendiger<br />
Austausch des Konzerns mit seiner Umgebung entsteht. Indem wir<br />
den Campus so offen gestalten, wollen wir ein Zeichen setzen,<br />
gerade in einer Zeit, in der Sicherheitskontrollen schon fast überhandnehmen.<br />
Wir haben keinen Zaun und keine Mauer gebaut, damit diese<br />
immense Fläche nicht nur den Mitarbeitern zur Verfügung steht. Dass<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
3<br />
Ein Ort zum Arbeiten und zum Verweilen: der neue Campus<br />
Unter der Erde<br />
Auch unter dem „grünen Teppich“ des <strong>ThyssenKrupp</strong><br />
Campus ist allerhand los: Unter<br />
Tage ist ein raffiniertes Logistiksystem entstanden.<br />
Großzügig dimensionierte unterirdische<br />
Garagen verbinden alle Gebäude in einem<br />
ausgeklügelten Verkehrssystem und sorgen<br />
so dafür, dass der gesamte Campus autofrei<br />
bleibt – Ver- und Entsorgung, Anlieferung<br />
und Abholung finden unter der Erde statt,<br />
Müllfahrzeuge oder Küchenwagen werden auf<br />
dem Campus nicht zu sehen sein. Jedes Gebäude<br />
lässt sich unterirdisch einzeln anfahren.<br />
Niemand muss also bei schlechtem Wetter<br />
oberirdisch über den Campus laufen. 7<br />
51
52<br />
quartier_interview<br />
Eine starke Gemeinschaft<br />
Den Wettbewerb zum <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier<br />
hat eine Arbeitsgemeinschaft des Pariser Architekturbüros<br />
Chaix & Morel et associés und<br />
des Kölner Architekturbüros JSWD Architekten<br />
gewonnen. Die Büros sind freundschaftlich<br />
miteinander verbunden; eine Reihe von Vorhaben<br />
sind bereits aus gemeinsamen Entwürfen<br />
entstanden, darunter der neue Hauptbahnhof<br />
von Luxemburg.<br />
Das Kölner Architekturbüro JSWD besteht<br />
seit dem Jahr 2000. Die vier Partner Jürgen<br />
Steffens, Olaf Drehsen sowie Konstantin und<br />
Frederik Jaspert leiten ein Büro mit rund 50<br />
Mitarbeitern. Als eine seiner besonderen Stärken<br />
sieht JSWD den „ausgeprägten Sinn für<br />
das Planen in stadträumlichen Dimensionen“.<br />
Mit wenigen, aber klar definierten Elementen<br />
schaffen die Architekten eindeutige Gebäudeund<br />
Freiraumhierarchien. Das charakterisiert<br />
auch das <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier: Gebäude<br />
und umgebende Landschaft sind gleichberechtigte<br />
Teile eines räumlichen Ganzen; erst<br />
eingebettet in die Grün- und Platzräume des<br />
Campus entfalten die einzelnen Bausteine ihre<br />
volle Wirkung.<br />
Das Atelier d’architecture Chaix & Morel et<br />
associés, gegründet 1983, umfasst zurzeit ein<br />
Team von acht Partnern (Philippe Chaix, Jean-<br />
Paul Morel, Rémy Van Nieuwenhove, Walter<br />
Grasmug, Anabel Sergent, Denis Germond,<br />
Benoit Sigros und Rémi Lichnerowicz) und<br />
30 Mitarbeitern. Als Entwurfsprioritäten gelten<br />
für das Büro das ökologisch nachhaltige<br />
Bauen und Planen, die Suche nach architektonischen<br />
Ausdrucksformen mit starker Identität<br />
sowie die Anwendung innovativer Techniken<br />
in der Planung und Entwicklung von Gebäuden.<br />
Zu seinen Gestaltungsprinzipien zählt<br />
Chaix & Morel eine Architektur von nüchterner<br />
Eleganz, eine kontextuelle Formensprache und<br />
einen subtilen Umgang mit natürlichem Licht.<br />
Das Atelier engagiert sich derzeit verstärkt<br />
außerhalb Frankreichs, nicht zuletzt dank der<br />
intensiven Zusammenarbeit mit anderen Architekten<br />
im Ausland. Mit dem <strong>ThyssenKrupp</strong><br />
Quartier hat Chaix & Morel et associés erstmals<br />
im Rahmen einer solchen Konstellation<br />
ein Projekt großen Maßstabs verwirklicht. 7<br />
3<br />
wir die Einladung zum Dialog ernst meinen, zeigt auch die Gestaltung<br />
des Forums: Es soll ein Ort der Gespräche und des Austauschs sein.<br />
Welchen Blick bzw. welche Einschätzung erhoffen Sie sich von<br />
Ihren Gästen und Nachbarn in Essen? Erwarten Sie eine städtebauliche<br />
Entwicklung wie wir sie in den letzten Jahren in Deutschland<br />
beispielsweise am Potsdamer Platz in Berlin oder in der Hamburger<br />
HafenCity erlebt haben?<br />
Das wird die Zukunft zeigen. Vergleiche dieser Art sind immer mit gewissen<br />
Unwägbarkeiten verbunden, weil die Gegebenheiten in jeder<br />
Stadt andere sind. Essen und das Ruhrgebiet haben in den vergangenen<br />
Jahrzehnten einen umfassenden Strukturwandel durchgemacht,<br />
der bis heute anhält – und sich übrigens auch in der Wahl zur diesjährigen<br />
Kulturhauptstadt Europas widerspiegelt. Der Entwicklungsprozess,<br />
mit dem die Zukunft dieser Region gesichert werden sollte, war alles<br />
andere als einfach und vielerorts mit schmerzhaften Entscheidungen<br />
verbunden. In diesem Zusammenhang ist unsere Standortentschei-<br />
»Die Einladung zum Dialog<br />
meinen wir ernst.«<br />
dung auch ein Signal, dass wir an die Zukunft der Region glauben. Eine<br />
solche Einschätzung erhoffe ich mir auch von unseren Gästen und<br />
Nachbarn. Die Grundlagen für eine lebendige städtebauliche Entwicklung<br />
– die man nie ganz genau steuern kann und die sich deshalb auch<br />
nicht genau vorhersagen lässt – sind mit dem Rahmenplan und dem<br />
<strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier gelegt. Jetzt kommt es darauf an, was wir und<br />
alle anderen daraus machen. Das wird spannend.<br />
Architektur ist immer auch ein Selbstbild dessen, der sie „bewohnt“.<br />
Was sagt der Quartierneubau über <strong>ThyssenKrupp</strong> aus?<br />
Welche Botschaft soll das Quartier nach außen vermitteln, welche<br />
Zeichen setzen?<br />
Wir sind in erster Linie ein Technologiekonzern: Wir leben von den Ideen<br />
hochqualifizierter Ingenieure, die unsere Produkte und unser Know-how<br />
in die Welt tragen. Dafür sind Wissensaustausch und Dialog essentiell –<br />
das zeigen wir etwa mit der Campusstruktur und der Öffnung nach<br />
außen. Wir wollen grundsätzlich Transparenz und Offenheit signalisieren.<br />
Das beweisen unter anderem die Fassaden. Das zentrale<br />
Q1-Gebäude zum Beispiel hat große fensterartige Öffnungen, die<br />
„Landschaftsfenster“. Darüber hinaus spiegelt das Quartier die gelebte<br />
Baudimensionen_2<br />
Baustoffe<br />
90.000 m 3 Beton<br />
23.000 t Stahl<br />
28.600 m 2 Teppich<br />
16.300 m 2 Glasflächen<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
Symbol einer neuen Zukunft von <strong>ThyssenKrupp</strong> in Essen: Mit dem Spatenstich am 12. Juni 2007<br />
begannen die Bauarbeiten für das Quartier. Von links: Dr. Gerhard Cromme, Vorsitzender<br />
des <strong>ThyssenKrupp</strong> Aufsichtsrats, Dr. Wolfgang Reiniger, Oberbürgermeister der Stadt Essen,<br />
Prof. Dr. Berthold Beitz, Ehrenvorsitzender des <strong>ThyssenKrupp</strong> Aufsichtsrats, Ministerpräsident<br />
Jürgen Rüttgers, Dr. Ekkehard Schulz, Vorsitzender des Vorstands der <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>AG</strong>, und<br />
Ralph Labonte, Mitglied des Vorstands der <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>AG</strong>.<br />
Innovationskultur unseres Konzerns wider. Das zeigt sich auf den ersten<br />
Blick in Dingen wie der Feinblechfassade oder der weltweit einmaligen<br />
Sonnenschutzkonstruktion, die wir im eigenen Hause entwickelt haben.<br />
Aber auch auf den zweiten und dritten Blick werden Mitarbeiter und<br />
Gäste hier viele Innovationen entdecken. Als globaler Technologiekonzern<br />
sieht sich <strong>ThyssenKrupp</strong> außerdem in der Pflicht, an der Gestaltung<br />
eines nachhaltigen Lebensumfelds für die heutige und kommende<br />
Generationen mitzuwirken – und das fängt natürlich im eigenen Hause<br />
an. Die besonders nachhaltige Bauweise des Quartiers ist mit einem<br />
renommierten Vorzertifikat bereits bestätigt worden.<br />
Wie werden die Nutzer das Quartier erleben? Welche Arbeits- und<br />
Lebensumgebung finden sie vor?<br />
Auch hier sind wieder die Stichworte Transparenz und Offenheit zu nennen.<br />
Die geschosshohen Verglasungen vermitteln Großzügigkeit: Sie<br />
sorgen für höchstmöglichen natürlichen Lichteinfall und damit ein helles,<br />
freundliches Arbeitsambiente. Die Böden, Decken und Büromöbel<br />
aus hellen Materialien verstärken die Wirkung des Lichts im Inneren der<br />
Gebäude. Die Wasserachse, der Flanier-Boulevard und die offene Campus-Struktur<br />
schaffen ein inspirierendes Arbeitsumfeld. Hierzu tragen<br />
auch die Grünflächen bei, auf denen man ebenso arbeiten wie verweilen<br />
kann. Mit dem nicht religiös orientierten „Raum der Stille“ bieten wir<br />
unseren Mitarbeitern zudem eine Rückzugsmöglichkeit aus dem hektischen<br />
Arbeitsalltag. Das alles drückt unsere Vorstellung von zukunftsorientierten<br />
Arbeitsplätzen aus. Sicher wird die Konzentration von bislang<br />
getrennten Standorten für einige zu Veränderungen im bisherigen<br />
Tagesablauf führen. Aber wir haben auch in der Vergangenheit schon<br />
den einen oder anderen Umzug gemeistert und werden das auch diesmal<br />
tun.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
3<br />
Allee der Welten<br />
In der Allee der Welten vor dem Forum spiegelt<br />
sich die Internationalität und globale Ausrichtung<br />
der <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>AG</strong>. Die 68 hier gepflanzten<br />
Bäume stammen aus fünf Kontinenten.<br />
Beim der Auswahl wurde bewusst darauf<br />
geachtet, ein bezüglich Wuchs und Belaubung<br />
möglichst vielfältiges Ensemble entstehen<br />
zu lassen. Ähnlich wie seinerzeit im Essener<br />
Hügel-Park, wo die Familie Krupp ebenfalls<br />
Bäume aus aller Herren Länder pflanzte,<br />
wurden keine Baumschösslinge eingepflanzt,<br />
sondern bereits größere Exemplare, um<br />
zeitgleich mit dem Einzug die gewünschte Gesamtwirkung<br />
zu erzielen. 7<br />
Neuland in der Stadt<br />
Mit dem langfristig angelegten Projekt Krupp-<br />
Gürtel entsteht mitten in der Essener Innenstadt<br />
ein neues urbanes Viertel, das Räume für<br />
Arbeiten, Freizeit und Kultur bieten soll. Dabei<br />
spielen die Bedürfnisse und Potentiale der<br />
bestehenden Nachbarschaften eine zentrale<br />
Rolle: Anbindungen und Verknüpfungen<br />
werden aufgegriffen, Übergänge geschaffen<br />
und mit den Qualitäten des Krupp-Gürtels die<br />
umliegenden Quartiere gestärkt. Der nach Fertigstellung<br />
des Südabschnitts rund 22 Hektar<br />
große, vom Landschaftsarchitekten Andreas<br />
Kipar gemeinsam mit den Bürgern der angrenzenden<br />
Stadtteile gestaltete Krupp-Park bietet<br />
viel Platz für Freizeit und Erholung. 7<br />
53
54<br />
quartier_interview<br />
Panoramafenster<br />
Das Atrium des zentralen Q1-Gebäudes ist das<br />
Herz des <strong>ThyssenKrupp</strong> Campus – und wer<br />
den Campus betritt, kann sehen, wie es<br />
schlägt. Denn zwei gut 25 Meter breite und<br />
28 Meter hohe Fenster öffnen von Süden und<br />
Norden den Blick in den Innenraum. Da es<br />
weder Fensterrahmen noch -sprossen gibt, ergibt<br />
sich zunächst der Eindruck, als bestünden<br />
die Landschaftsfenster aus einer einzigen,<br />
riesigen Glasscheibe. Wie wurde diese maximale<br />
Transparenz erreicht? Ziel musste unter<br />
anderem sein, so wenig einzelne Glasscheiben<br />
wie möglich zu verwenden, um die Fenster<br />
mit möglichst wenig Silikonfugen zu unterbrechen.<br />
Ergebnis dieser Überlegungen sind<br />
Isolierglasscheiben, die je 2,15 Meter breit und<br />
3,60 Meter hoch sind. Eine entscheidende<br />
Rolle spielte außerdem eine möglichst schlanke<br />
Tragkonstruktion für die Fenster, so dass<br />
die Ingenieure eine vertikal und horizontal vorgespannte<br />
Seilfassade wählten. Daran sind<br />
die Scheiben mittels Klemmhalter punktförmig<br />
gelagert. Die Landschaftsfenster sorgen so<br />
nicht nur für Transparenz, sondern wirken<br />
zugleich als technische Meisterleistung aus<br />
Stahl und Glas und somit als Zeichen der Innovationskraft<br />
von <strong>ThyssenKrupp</strong>. 7<br />
3<br />
Welches waren die größten Herausforderungen im Zusammenhang<br />
mit dem Neubau? Was hat Sie in der Projektphase am meisten<br />
überrascht?<br />
Das Bauprojekt insgesamt war eine logistische Herausforderung. Wir<br />
haben etwa eine Hochspannungsleitung verlegt, die das Gelände<br />
durchschnitt – ein in Deutschland einzigartiger Vorgang. Außerdem<br />
haben wir das gesamte Gebiet mit Brecheranlagen durchpflügt, um<br />
Fundamente der Gussstahlfabrik abzuräumen und den Boden für die<br />
Umsetzung der Wasserachse absolut glatt einzuebnen. Gut bewältigt<br />
haben wir auch andere kleinere und größere Überraschungen, wie zum<br />
Beispiel die Notlandung eines Kleinflugzeugs auf unserem Baugelände.<br />
Welche Elemente des Quartiers empfinden Sie als besonders<br />
ungewöhnlich im Vergleich mit anderen, ähnlich gelagerten Projekten?<br />
Zum einen ist das der architektonische Gesamtauftritt: Unsere Struktur<br />
ist nun so flexibel, dass wir auf dynamische Veränderungsprozesse innerhalb<br />
des Konzerns reagieren können. Ungewöhnlich ist sicher auch<br />
das Gesamtkonzept mit einem Drittel befestigter Fläche und einem<br />
Anteil von zwei Dritteln unversiegelter Grünflächen. Die tragen mit rund<br />
700 Bäumen und der großzügig angelegten Wasserfläche dazu bei, das<br />
Kleinklima des gesamten Geländes erheblich zu verbessern. Vielleicht<br />
einzigartig ist der Einsatz eigener Produkte, die wir zum Teil speziell für<br />
das Quartier entwickelt haben. Auf diese Weise haben wir eine Corporate<br />
Architecture geschaffen, eine identitätsstiftende Baukultur, die die<br />
neue Konzernzentrale in Essen unverwechselbar macht.<br />
Abschließend Ihre ganz persönliche Einschätzung: Angenommen,<br />
wir sind im Jahre 2030. Wird Ihnen der Umzug ins Quartier als ein<br />
Epochenwechsel für den Konzern erscheinen?<br />
Ein Epochenwechsel wäre sicher zu viel gesagt. Mit dem Umzug wird<br />
aus <strong>ThyssenKrupp</strong> kein grundlegend anderes Unternehmen. Aber wenn<br />
man Gewohntes auf den Prüfstand stellt, wie wir das mit diesem<br />
Bauprojekt getan haben, entstehen immer auch neue Ideen. Mit dem<br />
Quartier haben wir die Unternehmensidentität und die Ansprüche, die<br />
wir an uns selbst haben – Innovation und Nachhaltigkeit, Offenheit und<br />
Wissensvernetzung – baulich umgesetzt. Das sorgt auch für neue Impulse<br />
und Aufbruchstimmung. Insofern meine ich schon, dass wir auf<br />
diesen Umzug als eine wichtige Wegmarke, vielleicht sogar den Beginn<br />
eines neuen Kapitels der Konzerngeschichte zurückblicken werden. 7<br />
Baudimensionen_3<br />
Infrastruktur<br />
320.000 laufende Meter elektrische Leitungen<br />
9.000 laufende Meter Wasserrohre<br />
29 Aufzüge, Fahrtreppen und Hebebühnen<br />
ca. 3 km Erdsonden (Geothermie)<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
Raum der Stille<br />
Mensch werde wesentlich: denn wenn die Welt vergeht, so fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht.<br />
Angelus Silesius<br />
3 Mit diesen Worten könnte man einen Andachtsraum im Thyssen<br />
Krupp Quartier in Essen beschreiben. Ein Konzern versucht, zukunftsfähige<br />
Strukturen zu schaffen und eröffnet seinen visionären Grundlagen<br />
Räume. Fundament jeder Unternehmung sind die Menschen.<br />
Jene, für die ein Unternehmen da ist – die Zielgruppe sozusagen – und<br />
jene, mit denen ein Unternehmen da ist – die Handelnden. Ein Raum<br />
der Stille und der Andacht sollte beide Gruppen einladen, innezuhalten,<br />
sich zu stärken und dann die Wege des Alltags und des Geschäfts<br />
weiterzugehen. Die kleine Rast in der Hetze des Betriebs – das war und<br />
ist die Funktion der Wegekapellen. Diese kleinen Bauwerke sind für alle<br />
sichtbar da, laden ein, aber man kann sie auch liegen lassen und<br />
vorbeigehen. Vielleicht kann das ein Akzent des Raumes der Stille sein.<br />
Ein Andachtsraum kann im Kontext einer Verwaltungszentrale nur<br />
Akzent sein, sollte nicht mit einem Schwerpunkt verwechselt werden.<br />
Ein „Raum im Raum“ also – in diesem Sinne ein Symbol, das Zusammenhänge<br />
anklingen lässt, aber nicht ausformuliert. Wo sollte im Kontext<br />
des Bauwerks ein solcher Raum liegen? Für Suchende müsste er<br />
sichtbar und auffindbar sein, für Einkehrende (ver-)bergend.<br />
Der Mensch wird in den Worten Angelus Silesius verstanden als jemand,<br />
der bezogen ist. Der Mensch strebt über sich hinaus. Seiner<br />
Sehnsucht nach dem Größeren, nach dem Anderen wird Raum geschenkt.<br />
Was überdauert den Zufall und bleibt? Manchmal stellt sich ja<br />
die Frage inmitten aller geschäftigen Vergänglichkeit. Ein Raum der<br />
Stille sollte den Besucher aufrichten zu seiner wahren Fähigkeit und<br />
Kraft, müsste dafür also eine Richtung und Höhe nach oben haben.<br />
Pater Abraham Fischer<br />
aus der Abtei Königsmünster<br />
beriet Thyssen<br />
Krupp bei der Einrichtung<br />
des „Raums der<br />
Stille“.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
Ein Raum für Rückzug und Austausch<br />
Der „Raum der Stille“ lädt alle Mitarbeiter und Gäste des<br />
<strong>ThyssenKrupp</strong> Quartiers zum friedlichen Verweilen ein. Er<br />
dient der Meditation, der Sammlung und dem Rückzug, aber<br />
auch dem interkulturellen, überkonfessionellen Austausch.<br />
Tatsächlich besteht der Raum der Stille aus einer Raumfolge<br />
mit einem Vorraum und einem daran angrenzenden Hauptraum,<br />
in dem ein großer quadratischer Kubus zu schweben<br />
scheint. Wände und Boden des Raums sind in einem<br />
weißen, leicht marmorierenden, glatten mineralischen Putz<br />
gehalten. Das Innere des schwebenden Kubus hingegen ist<br />
mit Titanspindeln verkleidet, die erst dann wahrzunehmen<br />
sind, wenn man unter den Kubus tritt. So entsteht ein spannungsvoller<br />
Gegensatz zu den glatt verputzten Wänden. 7<br />
Angesichts der vielfältigen Formen menschlicher Suche kann ein<br />
„Raum der Mitte“ im Kontext eines weltweit verzweigten Konzerns keine<br />
für alle gültigen Antworten anbieten. Seine Funktion kann es lediglich<br />
sein, die Frage des Menschen nach sich selbst und seiner Zukunft offen<br />
zu halten. Ein solcher Raum sollte neutral sein – nichts vorgeben an<br />
verfasster Religion –, zugleich aber den Besucher ganz persönlich<br />
ansprechen. Die Frage des Menschen nach sich selbst wäre das<br />
Thema. Eine wie auch immer geartete<br />
Gottesvorstellung kann daraus erwachsen<br />
– oder aber auch nicht. Der Raum sollte<br />
also in höchsten Maß befreien und niemanden<br />
in seiner Innerlichkeit bestimmen.<br />
Gleichfalls sollte der Ort gestaltet sein,<br />
aber darin freilassen und nicht bevormunden.<br />
Allein die Existenz eines solchen<br />
Raumes hat eine Bedeutung, gibt Hinweise<br />
über das Menschenbild eines Bauherrn.<br />
Ein Raum der Stille sieht den Menschen<br />
nicht nur als Wirtschaftsfaktor. Diese Sicht<br />
hat etwas Nachhaltiges und stellt die Frage<br />
nach der Zukunft eines deutschen Konzerns.<br />
Einst wurden aus Rohstoffen Halbzeuge<br />
gefertigt, dann Produkte, schließlich<br />
Innovationen und Technik. Vielleicht in<br />
Zukunft auch Visionen „für das Wesen, das<br />
besteht“? 7<br />
TEXT: PATER ABRAHAM FISCHER OSB<br />
55
56<br />
quartier_menschen<br />
DIE MACHER<br />
Auf die eine oder andere Weise hat der Quartierbau<br />
insgesamt weit über 1.000 Mitarbeiter<br />
beschäftigt. Wie ihr Baualltag aussah, haben<br />
uns drei von ihnen erzählt.<br />
Jürgen Nageldick<br />
Projektleiter Fördertechnik<br />
3 Jürgen Nageldick bringt Menschen hoch hinaus: Er kümmert sich<br />
als Projektleiter um die Aufzüge und Fahrtreppen im <strong>ThyssenKrupp</strong><br />
Quartier. Er ist von Anfang bis Ende in das Projekt eingebunden, von der<br />
ersten Technikbesprechung bis zur abschließenden Bauherrenabnahme.<br />
Seit 2002 arbeitet der Maschinenbautechniker aus dem Münsterland<br />
für <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>Elevator</strong>. Er hat schon viele Projekte betreut, hat<br />
in Walldorf einen Softwarehersteller, in Mannheim ein Bekleidungshaus<br />
und in Essen ein Einkaufszentrum mit Aufzügen und Fahrtreppen ausgestattet.<br />
Diesmal ist Nageldick für 22<br />
Aufzüge zuständig – und außerdem<br />
für drei Fahrtreppen, einen Plattform-<br />
den Campus.«<br />
lift sowie drei Scherenhebebühnen.<br />
Knapp 30 Anlagen insgesamt. Eine<br />
solche Materialmenge transportiert niemand im Handumdrehen. „Es<br />
sind 50 bis 60 Anlieferungen notwendig“, schätzt Jürgen Nageldick. Die<br />
Baustellenlogistik stellt ihn vor große Herausforderungen. Einfahrtsgenehmigungeneinholen,<br />
Mitarbeiterausweise<br />
beschaffen – sonst dürfen<br />
die Transporter die<br />
Schranke nicht passieren.<br />
Das verschlingt Zeit.<br />
Außerdem gibt es auf der<br />
Baustelle aufgrund der<br />
Innenstadtlage kaum Lagerfläche.<br />
„Da muss man<br />
geschickt koordinieren“,<br />
sagt der 38-Jährige.<br />
Dabei unterstützt ihn ein<br />
sogenannter Auftragsabwickler.<br />
Darüber hinaus<br />
gehören unter anderem<br />
eine Projektassistentin,<br />
ein Montageleiter und<br />
rund zehn Monteure zum<br />
Team. Sie wirken im<br />
Quartier an einer großen<br />
technischen Herausforderung<br />
mit. Im Verwaltungsgebäude<br />
Q1 – dem mit 16<br />
Haltestellen höchsten Gebäude<br />
– setzt <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>Elevator</strong> drei Panorama-Aufzüge ein. Zwei<br />
dieser Anlagen bilden ein TWIN-System: „Die beiden Aufzugskabinen<br />
fahren unabhängig voneinander im gleichen Schacht“, erläutert Nageldick.<br />
So sparen die Bauherren Platz, die Passagiere Zeit. Jürgen Nageldick<br />
hat allen Grund, stolz zu sein: „Das neue Quartier wird ein schöner<br />
Arbeitsplatz. Ich freue mich auf den Campus.“ 7<br />
»Ich freue mich auf<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
Willi Döring<br />
Küchenchef<br />
3 Willi Döring verkauft dienstags Hähnchen, donnerstags Erbsensuppe,<br />
freitags Pangasiusfilet. „Dienstag ist Geflügeltag, Donnerstag<br />
ist Eintopftag, Freitag ist Fischtag“, sagt er. Freilich tischt Willi Döring in<br />
seiner Imbissbude nicht nur ein Mittagsmenü auf. Sondern auch<br />
Currywurst, Bockwurst und Krakauer Wurst. Wer auf seine Gesundheit<br />
Wert legt, isst dazu noch ein Schälchen Krautsalat. Seit Mai 2008 bewirtet<br />
Willi Döring mit drei Kollegen die Bauarbeiter des <strong>ThyssenKrupp</strong><br />
Quartiers. In diesem Zeitraum haben sie ungefähr 20.000 Würstchen<br />
über den Tresen geschoben.<br />
Maurer, Elektriker, Schweißer –<br />
sie alle stärken sich an den Steh-<br />
nicht alle Tage!« tischen oder auf den Holzbänken.<br />
Die Speisekarte hat Willi<br />
Döring in drei Sprachen ausgehängt: auf Deutsch, Polnisch und Türkisch.<br />
Aus Deutschland, Polen und der Türkei stammen die meisten<br />
Bauarbeiter. Doch Willi Döring hört auch viel Portugiesisch und Italienisch,<br />
Rumänisch und Bulgarisch. Männer aus rund 20 verschiedenen<br />
Nationen arbeiteten auf der Baustelle, schätzt er. Der gelernte Koch will<br />
allen Geschmacksvorlieben gerecht werden. Wer kein Schweinefleisch<br />
essen darf, kann etwa zwischen Rinderhacksteak, Geflügelfrikadelle<br />
und Fischfilet wählen. Morgens um acht sperrt Willi Döring die Imbissbude<br />
auf, damit sich die erste Schicht mit heißem Kaffee und belegten<br />
Brötchen versorgen kann. Um 15.30 Uhr ist eigentlich Schluss. Doch<br />
während er die Wärmeplatte schrubbt, bekommen Nachzügler gerne<br />
noch ein Schweineschnitzel. Willi Döring – 55 Jahre alt, seit 34 Jahren<br />
bei <strong>ThyssenKrupp</strong> – hat keinen weiten Nachhauseweg: Er wohnt zwei<br />
Kilometer entfernt. So kann er auch in seiner Freizeit bisweilen über das<br />
Gelände streifen, um sich die Bauarbeiten anzugucken. „So etwas sieht<br />
man schließlich nicht alle Tage!“, sagt er. „Die Betonfahrzeuge! Die<br />
Stahlträger! Und dann auch noch die hohen Kräne!“ 7<br />
»So etwas sieht man<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
Georg Lummel<br />
Spenglermeister<br />
3 Wenn irgendwo Fassaden<br />
im Sonnenlicht glänzen, sich<br />
auch ungewöhnliche Formen<br />
mit Titan, Edelstahl oder<br />
Feinblechen schmücken, dann<br />
hatte womöglich Georg Lummel<br />
seine Hände im Spiel.<br />
So auch beim Gebäude Q1<br />
und dem Forumgebäude des<br />
<strong>ThyssenKrupp</strong> Quartiers: Der<br />
Spenglermeister war mit seinem<br />
Unternehmen, der Lummel<br />
GmbH & Co. KG aus<br />
Karlstadt am Main, dafür verantwortlich,<br />
die hochwertigen<br />
Stahlbleche anzubringen, die<br />
mit ihrem an Champagner erinnernden<br />
Farbton wesentlich zum äußeren Erscheinungsbild der<br />
Gebäude beitragen. Das war nicht das erste Mal, dass Georg Lummel<br />
mit <strong>ThyssenKrupp</strong> zusammenarbeitet: Die spektakulären Edelstahlfassaden<br />
der Bauten von Frank O. Gehry im Düsseldorfer „Neuen Zollhof“<br />
oder im Eingangsbereich<br />
des neuen Porsche-Museums<br />
in Stuttgart hat das<br />
nicht gedacht, dass renommierte Unternehmen<br />
ebenfalls angebracht. Doch,<br />
die Feinbleche so<br />
so sagt Lummel, „jedes<br />
Objekt ist einzigartig. Beim<br />
gut aussehen können.«<br />
<strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier war<br />
eine Herausforderung beispielsweise,<br />
dass jedes Feinblech sich einzeln herausnehmen lassen<br />
muss, falls ein Schaden auftritt.“ Kompliziert war auch die Abstimmung<br />
der Beteiligten untereinander, wie Lummel erzählt: „Teilweise treffen<br />
sich im Gebäude vier unterschiedliche Fassadentypen an einer Stelle.<br />
Das bedeutet: Die beteiligten Fassadenbauer müssen gleich gut und<br />
genau arbeiten, damit sich alle mit einer Abweichung von maximal zehn<br />
Millimetern am festgelegten Ort treffen.“ Mit dem Ergebnis ist Georg<br />
Lummel sehr zufrieden. „Ich hätte vorher nicht gedacht, dass die Feinbleche<br />
so gut aussehen können, denn für solche Fassaden nimmt man<br />
sonst eher Aluminium.“ Doch, so sagt er selbstbewusst, „wenn man es<br />
richtig macht, ist das Material auch für repräsentative Gebäude sehr gut<br />
geeignet.“ Teilweise haben bis zu 16 Mitarbeiter seines Unternehmens<br />
an den Fassaden gearbeitet. Nun ist Lummel froh, dass die Arbeiten so<br />
gut wie abgeschlossen sind. Denn anstrengend war das Projekt schon,<br />
meint er. „Das ist eigentlich fast immer so: Während man baut, ist es<br />
auch mal nervenzehrend. Aber hinterher ist man stolz und freut sich<br />
über das gute Feedback.“ 7<br />
»Ich hätte vorher<br />
57
58<br />
quartier_materialien<br />
AUF EIGENE STÄRKEN BAUEN<br />
Produkte von <strong>ThyssenKrupp</strong> – von Aufzügen und Fahrtreppen bis zu Werkstoffen wie Edelstahl oder<br />
Titan – finden sich in vielen Gebäuden dieser Welt. Dass deshalb auch im <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier<br />
besonderer Wert darauf gelegt wurde, im Neubau die eigene Innovationskraft und technische Kompetenz<br />
unter Beweis zu stellen, versteht sich da von selbst.<br />
Glänzende Idee<br />
Das Sonnenschutzsystem gibt dem Hauptgebäude sein Gesicht –<br />
und ist eine weltweit einzigartige Lösung.<br />
3 Die besten Ideen kommen<br />
häufig wie von allein. Ein Beispiel<br />
hierfür ist das Sonnenschutzsystem<br />
für die neue Hauptverwaltung.<br />
Der Anstoß für die<br />
innovative Lösung kam auf einer<br />
gemeinsamen Sitzung mit dem<br />
Pariser Architekturbüro Chaix &<br />
Morel et associés und dem Kölner<br />
Büro JSWD Architekten. Als<br />
die Sonne in den Sitzungsraum<br />
schien, hielten sich die Teilnehmer<br />
automatisch eine Hand<br />
waagerecht über die Augen, um<br />
sich vor dem Licht zu schützen.<br />
Und genau so funktioniert auch<br />
der Sonnenschutz in Essen: Auf<br />
einer vertikalen Mittelachse sitzen links und rechts gut 7 Zentimeter<br />
lange und 2 Millimeter dünne Edelstahllamellen – sie sind quasi<br />
die vor der Sonne schützende Hand. Die Achse kann<br />
rotieren und so die Lamellen stufenlos am Sonnenstand ausrichten.<br />
Hinzu kommt ein weiterer Clou: Um den Sonnenschutz bei<br />
Bedarf vollständig zu öffnen, lassen sich die Lamellen nach vorne<br />
zusammenfahren.<br />
Dieses speziell angefertigte Sonnenschutzsystem bildet die<br />
optische Visitenkarte des Gebäudes. Denn die insgesamt rund<br />
400.000 Lamellen geben dem Bau ein Gesicht, das sich je nach<br />
Sonneneinfall wandelt – an sonnigen Tagen im Hochsommer oder<br />
bei Sturm ist die Fassade zum Beispiel komplett geschlossen und<br />
leuchtet silbrig, während sie an bedeckten Tagen den Blick auf die<br />
Glasfassade darunter freigibt. Die von <strong>ThyssenKrupp</strong> Nirosta aus<br />
einem Chrom-Nickel-Molybdän-Edelstahl gefertigten Elemente<br />
wurden auf einer Seite geschliffen, auf der anderen Seite gestrahlt.<br />
Dadurch erscheinen die Lamellen je nach Blickwinkel und Lichteinfall<br />
matt oder glänzend – und lenken das einfallende Licht so nach<br />
innen, dass es in den Büros auch bei geschlossenem Sonnenschutz<br />
hell genug ist.<br />
Die Herstellung des neuartigen Sonnenschutzsystems war anspruchsvoll.<br />
Nach der Bearbeitung der Metallstreifen durch <strong>ThyssenKrupp</strong><br />
Umformtechnik montierte eine Spezialfirma aus Südtirol<br />
je 116 bis 160 Lamellen auf den Achsen zu elektronisch angetriebenen<br />
Lamellenpaketen. Dabei kam es darauf an, dass die Lamellen<br />
in der Mittelachse beweglich bleiben und exakt auf die Signale<br />
des elektrischen Antriebs reagieren. Der ist clever programmiert:<br />
Die Steuerung kennt nicht nur den jahreszeitlichen Sonnenstand,<br />
sondern weiß dank der Daten aus einer Wetterstation auf dem<br />
Dach des neuen Hauptgebäudes auch, wie das Wetter gerade ist –<br />
Voraussetzung, um einen rundum guten Sonnenschutz zu gewährleisten.<br />
Ein weiteres Plus: Auch wenn die Lamellen vor der Fassade<br />
sitzen, können die Mitarbeiter jederzeit die Fenster öffnen. Nur<br />
eine schützende Hand vor dem Licht der Sonne, die brauchen sie<br />
nun nicht mehr. 7<br />
8 8<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
Es muss nicht immer Aluminium sein<br />
Für eine repräsentative Fassade lässt sich auch Feinblech einsetzen –<br />
wenn es entsprechende Eigenschaften mitbringt.<br />
3 Im allgemeinen Sprachgebrauch galt<br />
Blech bislang nicht eben als besonders<br />
hochwertig – das Wort „Blechkarosse“ ist<br />
noch eines der freundlicheren Beispiele<br />
hierfür. Aber: Wie man sich doch täuschen<br />
kann! Denn die in einem Champagnerton<br />
edel schimmernden Metallelemente an<br />
den Gebäuden des <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartiers<br />
und im Inneren des im Mittelpunkt<br />
stehenden zentralen Q1-Gebäudes bestehen<br />
aus nichts anderem als: Stahlblech.<br />
Zugegebenermaßen aber nicht aus irgendeinem<br />
Stahlblech, sondern aus einem<br />
im Coil-Coating-Verfahren organisch beschichteten<br />
hochwertigen Feinblech. Bislang<br />
waren derartige Stahlbleche im<br />
Wesentlichen für die Fassaden klassischer<br />
Industriehallen und Bürogebäude gedacht,<br />
bei denen es auf die Funktionalität ankam.<br />
Speziell bei <strong>ThyssenKrupp</strong> werden diese<br />
Stahlbleche außerdem ökologischen Kriterien<br />
gerecht und können durch die Farbge-<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
staltung der Umgebung attraktiv angepasst<br />
und eingesetzt werden. Doch das<br />
hier verwendete schmelztauchveredelte<br />
Feinblech eröffnet völlig neue Anwendungsmöglichkeiten.<br />
Es lässt sich nicht nur<br />
hervorragend umformen, schweißen und<br />
lackieren, sondern genügt auch allen<br />
Ansprüchen an eine repräsentative und<br />
deutlich wahrnehmbare Farbanmutung.<br />
Denn die im neuen <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier<br />
bis zu 3 Meter langen und bis zu 67 Zentimeter<br />
breiten, abgekanteten Stahlpaneele<br />
sind wind-, wetter- und lichtbeständig, zugleich<br />
sind ihre Oberflächen besonders<br />
eben. Innovativ ist auch der Herstellungsprozess.<br />
Hierbei wird dem schmelztauchveredelten<br />
Feinblech in der Zinkschmelze 1<br />
Prozent Magnesium beigefügt. Dadurch<br />
kann die Schichtdicke auf dem Blech – bei<br />
noch besserem Korrosionsschutz – dünner<br />
ausfallen, so dass der wertvolle Rohstoff<br />
Zink sparsamer verwendet werden kann.<br />
Grüner aufwärtsfahren<br />
Kostengünstig und edel: die Feinblechfassade<br />
des neuen <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartiers<br />
Hinzu kommt, dass das beschriebene Feinblech<br />
mit 0,8 bis 1,2 Millimetern Dicke<br />
deutlich dünner und dadurch kostengünstiger<br />
ist als ein vergleichbares Fassadenelement<br />
aus Aluminium (in der Regel mindestens<br />
3 Millimeter). Fassaden aus<br />
oberflächenveredeltem Feinblech sind also<br />
günstig und zugleich edel. 7<br />
Aufzüge und Fahrtreppen im Quartier sind von <strong>ThyssenKrupp</strong> und besonders umweltfreundlich.<br />
Aufzugsmontage im Quartier<br />
3 Umweltgerechte Aufzüge? Höchstens<br />
der Strom für den Antrieb, der kann aus erneuerbaren<br />
Energien stammen, glauben<br />
die meisten. Doch die Aufzüge im <strong>ThyssenKrupp</strong><br />
Quartier – die selbstverständlich<br />
ebenso wie die Fahrtreppen von Thyssen<br />
Krupp stammen – weisen gleich eine<br />
ganze Reihe von Besonderheiten auf, die<br />
dem Anspruch des Konzerns an nachhaltiges<br />
Bauen gerecht werden. So wandeln<br />
die sechs Aufzüge im Q1-Gebäude die<br />
Energie, die beim Abbremsen der Kabinen<br />
entsteht, in elektrische Energie um und<br />
speisen diese wieder ins Stromnetz ein.<br />
Darunter befinden sich zwei besonders effiziente<br />
TWIN-Anlagen, bei denen zwei Kabinen<br />
übereinander und unabhängig von-<br />
einander im selben Schacht fahren. Viele<br />
der insgesamt 27 Anlagen setzen LED-<br />
Leuchten ein, die ebenfalls viel Energie –<br />
und damit CO2-Ausstoß – einsparen und<br />
zudem eine deutlich längere Lebensdauer<br />
als herkömmliche Glühbirnen haben.<br />
Ein weiterer umweltfreundlicher Vorteil:<br />
Fast alle Aufzugskabinen sind für die Fahrt<br />
im Schacht mit einer speziellen Rollenführung<br />
ausgestattet. Dadurch sind keine<br />
geölten Schienen nötig – und es landet<br />
kein Öl im Schacht, das entsorgt werden<br />
müsste. Die Fahrtreppen wiederum verbrauchen<br />
weniger Energie, weil sie sich<br />
„intermittierend“ betreiben lassen – also<br />
automatisch anhalten, wenn niemand sie<br />
braucht. 7<br />
59
60<br />
quartier_nachhaltigkeit<br />
EINE „GRÜNE BÜHNE“<br />
Das <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier wurde bereits vor Fertigstellung mit einem der<br />
renommiertesten Zertifikate für nachhaltiges Bauen ausgezeichnet.<br />
Der Gedanke des nachhaltigen Bauens wird immer populärer.<br />
Bei internationalen Großprojekten ist geradezu ein<br />
Wettbewerb darum entbrannt, welches Gebäude am<br />
ehesten modernen Energieeffizienzkriterien und anderen<br />
Aspekten der Nachhaltigkeit gerecht wird. Auch viele<br />
Immobilieninvestoren berücksichtigen das inzwischen<br />
bei ihren Anlageentscheidungen. Kein Wunder also, dass<br />
beim Bau des neuen <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartiers das Thema Nachhaltigkeit<br />
ebenfalls von Anfang an ganz oben auf der Agenda stand – schließlich<br />
dokumentiert der Konzern so sein Engagement im Bereich der<br />
Nachhaltigkeit und seine Umweltkompetenz und kann damit im globalen<br />
Wettbewerb punkten.<br />
Wie aber lässt sich – angesichts eines nicht immer klar zu fassenden<br />
Nachhaltigkeitsbegriffs – messen, ob ein Bau tatsächlich wichtige Maßstäbe<br />
der Nachhaltigkeit berücksichtigt? Orientierung bieten Zertifizierungen,<br />
die weltweit zur Beurteilung der „grünen Bühnen“ der Unter-<br />
nehmen vergeben werden. Eines der renommiertesten<br />
Vorzertifikate hat <strong>ThyssenKrupp</strong> bereits im vergangenen<br />
Jahr erhalten: Auf der internationalen Immobilienmesse<br />
„Expo Real“ prämierte die Deutsche Gesellschaft für<br />
Nachhaltiges Bauen (DGNB) das neue Quartier<br />
allein aufgrund der Planung mit dem „Vorzertifikat in<br />
Gold“ – eine „Absichtserklärung, den Bau nach Abschluss<br />
aller Arbeiten mit dem ,endgültigen’ Zertifikat in<br />
Gold auszeichnen zu lassen, sofern die von der DGNB<br />
geforderten Nachhaltigkeitskriterien eingehalten werden“,<br />
wie Gerhard Hoffmann, Geschäftsführer des Instituts<br />
für angewandte Energiesimulation und Facility<br />
Management (ifes), erklärt. Er hat im Auftrag von <strong>ThyssenKrupp</strong><br />
das Gebäude auditiert und seine Ergebnisse an<br />
die DGNB zur Prüfung übergeben. Neben der Ökobilanz<br />
kam es dabei vor allem auch auf ökonomische, soziale und<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
funktionale Gesichtspunkte an, wie etwa die Gesamtkosten für das<br />
Projekt, den Bürokomfort für die Mitarbeiter oder die vielfältige<br />
Nutzbarkeit des Gebäudes. „Sämtliche Säulen des modernen<br />
Nachhaltigkeitsbegriffs werden damit abgedeckt“, erklärt<br />
Hoffmann.<br />
Rundum gutes Klima<br />
Bemerkenswert ist beispielsweise der geringe Primärenergieverbrauch<br />
des neuen Quartiers: Das Gebäude unterschreitet<br />
die Vorgaben der Energieeinsparverordnung<br />
2007 um 20 bis 30 Prozent, unter anderem dank einer<br />
hohen Wärmerückgewinnung – der Energiegehalt der<br />
Abluft wird genutzt, um die frische Zuluft zu temperieren.<br />
Ein nachhaltiges Energie- und Klimakonzept<br />
sorgt für die thermische Behaglichkeit. Ebenfalls<br />
umwelt- und ressourcenschonend sind der Ein-<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
Viele Zertifikate – ein Ziel<br />
Warum es gerade bei Gebäuden so wichtig ist, die Nachhaltigkeit<br />
im Blick zu behalten, macht eine Zahl deutlich: Sie<br />
stehen für 40 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs. Im<br />
Rahmen der Klimadiskussion hat daher das Thema Nachhaltigkeit<br />
von Gebäuden erheblich an Bedeutung gewonnen,<br />
was dazu geführt hat, dass die Bau- und Immobilienwirtschaft<br />
zahlreiche Zertifizierungssysteme nutzen kann, um die<br />
Einhaltung nachhaltiger Prinzipien beim Bau und Betrieb von<br />
Gebäuden zu dokumentieren. Das Zertifikat der Deutschen<br />
Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) ist das erste in<br />
Deutschland entwickelte Qualitätssiegel. Zu den weiteren<br />
Zertifizierungssystemen zählen beispielsweise BREEAM (BRE<br />
Environmental Assessment Method) aus Großbritannien oder<br />
LEED (Leadership in Energy and Environmental Design)<br />
aus den Vereinigten Staaten. Die Beurteilungsmaßstäbe sind<br />
allerdings keineswegs einheitlich. So bewertet der US-amerikanische<br />
Nachhaltigkeitsstandard LEED zwar die ökologischen<br />
Aspekte, legt aber dafür im Gegensatz zum Gütesiegel<br />
der DGNB parallel nicht auch noch größeren Wert auf die<br />
ökonomischen und soziokulturellen Komponenten. Für den<br />
Bauherrn empfiehlt es sich daher, im Vorfeld genau zu überprüfen,<br />
welches Gütesiegel welche Aspekte dokumentiert. 7<br />
satz von Geothermie zur Kühlung und zur Vorheizung der Fußbodenheizung<br />
im Atrium, schadstoffarme Baumaterialien, eine komfortable<br />
Blend- und Sonnenschutztechnik sowie ein besonderes Wassertrennsystem,<br />
bei dem unter anderem Regenwasser auf den Dächern der Gebäude<br />
auf dem Campus gesammelt und vom Schmutzwasser getrennt<br />
in den Teich des Krupp-Parks geleitet wird.<br />
„Aufgrund der Vielzahl der Vorzüge und der optimalen Umsetzung der<br />
Nachhaltigkeitskriterien stand es außer Frage, das Vorzertifikat in Gold<br />
verliehen zu bekommen“, sagt Hoffmann. Das neue <strong>ThyssenKrupp</strong><br />
Quartier zählt somit zu den wenigen Bauten in Deutschland, die dieses<br />
Gütesiegel erhalten haben. Und dessen Wert ist, so sagt Hoffmann,<br />
nicht zu unterschätzen: „Das DGNB-Zertifikat besitzt im internationalen<br />
Vergleich ein hohes Renommee, da es auch explizit den gesamten<br />
Lebenszyklus eines Gebäudes inklusive eines späteren Rückbaus oder<br />
Abrisses berücksichtigt.“ 7<br />
TEXT: JAN VOOSEN<br />
61
62<br />
quartier_historie<br />
1819 | Wie alles anfing: der neu erbaute Schmelzbau der Gussstahlfabrik Fried. Krupp in Essen. Das kleinere<br />
Gebäude diente zunächst als Aufseherhaus, dann als Wohnhaus für die Familie Krupp.<br />
1800<br />
DIE STADT IN DER<br />
Es wuchs und blühte, zerfiel und wird nun wiederentdeckt: das alte Werksgelände der Kruppschen<br />
Gussstahlfabrik in Essen. Wo heute das neue <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier entsteht, wird bereits seit 1818<br />
Firmengeschichte geschrieben.<br />
S<br />
1810<br />
o müssen versunkene Städte aussehen. Üppige Vegetation<br />
überwuchert ein unüberschaubares Gelände. Verlassene<br />
Straßen und Plätze verschwinden zunehmend unter<br />
wild wachsenden Büschen. Kaskaden von Efeu und wildem<br />
Wein bedecken Wälle und Mauern. Vereinzelt stehen<br />
noch verwitterte Backsteingebäude mit blinden oder zerbrochenen<br />
Fenstern. Anderswo sind von der ehemaligen<br />
Bebauung nur noch Fundamente, Grundmauern und Fußböden zu<br />
sehen. Schlanke Birkenstämme wachsen zwischen verrosteten Bahnschienen<br />
und Versorgungsleitungen. Aus den Rissen im Asphalt<br />
sprießen Gräser und Halme, die den Boden beständig weiter aufreißen.<br />
Wer im Jahr 2000 das historische Werksgelände der Firma Krupp in<br />
Essen besuchen wollte, unternahm eine Reise ins Niemandsland. Trotz<br />
der attraktiven Lage in unmittelbarer Nähe zur Essener Innenstadt –<br />
1820<br />
1830<br />
deren Hochhäuser und das Rathaus in Sichtweite – lag das Gebiet fast<br />
vollkommen brach. Dass hier einmal Menschen tätig waren, die Häuser<br />
benutzt und die Schienen befahren wurden, lag offensichtlich viele<br />
Jahrzehnte zurück. Die Dimensionen der Überbleibsel jedoch ließen erkennen,<br />
dass hier einst eine ganze Stadt gestanden hatte: die „Fabrikstadt“<br />
der Kruppschen Gussstahlfabrik. Mehr als 100 Jahre lang, bis in<br />
die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde hier die Geschichte der<br />
Firma Krupp geschrieben.<br />
Von einer Keimzelle …<br />
1861 | Rasches Wachstum nach 1850: ein frühes<br />
Verwaltungsgebäude der Gussstahlfabrik mit<br />
„Uhrturm“<br />
Wie bei jeder Stadt beginnt auch das rasante Wachstum der Gussstahlfabrik<br />
mit einer Keimzelle: 1818 errichten der junge Unternehmer Friedrich<br />
Krupp und zwei Teilhaber eine neue Gussstahlanlage in Altendorf,<br />
einer Gemeinde westlich des Ortes Essen. Zwei Jahre zuvor war es<br />
1840<br />
1850<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
1860<br />
1910 | Ein Luftbild zeigt, wie gewaltig sich die Krupp-Werke ausgedehnt haben. Das neue <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier liegt genau im Zentrum dieser Aufnahme.<br />
STADT<br />
ihnen erstmals gelungen, hochwertigen Gussstahl herzustellen. Die<br />
neue Produktionsstätte besteht aus wenigen Fachwerkgebäuden. Auch<br />
ein Aufseherhaus gehört dazu, das der Familie später als Wohnhaus<br />
dient und als Kruppsches Stammhaus bekannt wird. Die Gegend ist<br />
eher ländlich, Felder umgeben die kleine Fabrik, und auch das nahe<br />
Essen – im Jahr 2000 die größte Stadt im Ballungsraum Ruhrgebiet –<br />
zählt zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 3.500 Einwohner.<br />
Neben Firmengründer Friedrich Krupp erweist sich vor allem dessen<br />
Sohn Alfred, der den Betrieb 1826 nach dem Tod des Vaters übernimmt,<br />
als äußerst geschäftstüchtig. Die kleine Firma wächst rasant,<br />
besonders ab den 1850ern. In diese Zeit fallen für Krupp wichtige Entwicklungsschritte,<br />
wie etwa die Erfindung des nahtlosen Eisenbahnreifens<br />
1853. Von 74 Mitarbeitern im Jahr 1848 vergrößert sich die Belegschaft<br />
im Essener Werk auf 30.000 Beschäftigte kurz vor der<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
1870<br />
1880<br />
1890<br />
Um 1900 | Zwerg unter<br />
Riesen: das Kruppsche<br />
Stammhaus im Betriebsgelände<br />
Jahrhundertwende. Ebenso sprunghaft wächst auch das Werksgelände.<br />
Neue Gebäude für Verwaltung und Produktion werden gebaut,<br />
ebenso ein eigenes Verkehrsnetz mit Schienen und Straßen. Das kleine<br />
Stammhaus verschwindet zunehmend inmitten immer neuer und<br />
immer größerer Produktionsanlagen. Zwischen den Jahren 1861 und<br />
1873 vergrößert sich die Gesamtfläche auf das Zwanzigfache, von 18<br />
auf 360 Hektar. Zwei Jahre später ist allein die überdachte Fläche so<br />
groß wie der Essener Stadtkern.<br />
… zu einem Wald von Schornsteinen<br />
Auf diese Weise wächst Krupp im Zuge der Industrialisierung zu einer<br />
„Stadt in der Stadt“ heran, übrigens parallel zur Stadt Essen, die ihrerseits<br />
kurz vor der Jahrhundertwende ihren 100.000sten Einwohner<br />
registriert. 1889 veröffentlicht Diedrich Baedeker seine Eindrücke von<br />
1900<br />
1910<br />
3<br />
63
64<br />
3<br />
1920<br />
quartier_historie<br />
1920 | Eine Industriekathedrale: Die Krupp-Maschinenbau-Halle 9 auf einem zeitgenössischen Gemälde von Otto Bollhagen<br />
einem Besuch der Fabrik in dem Buch Alfred Krupp und die Entwicklung<br />
der Gußstahlfabrik zu Essen: „Schon der Wald von Schornsteinen,<br />
die unaufhörlich Rauchwolken in die Atmosphäre senden, die Wasserschächte<br />
und sonstigen Hochanlagen […] sagen uns, dass wir es<br />
mit einem Werk von erstaunlichem räumlichem Umfange und von ganz<br />
außergewöhnlicher Ausdehnung zu thun haben, einer wahren Fabrik-<br />
Stadt.“ Baedeker verzeichnet auch statistische Angaben über das Werk:<br />
44 Kilometer normalspurige und 29 Kilometer schmalspurige Werkseisenbahn<br />
zählt er auf. Für die Produktion nennt er 1.195 Öfen, 286<br />
Dampfkessel, 21 Walzenstraßen, 370 Dampfmaschinen, 92 Dampfhämmer,<br />
361 Kräne und 1.724 Werkzeugmaschinen. Zudem gebe es<br />
80 Kilometer Telegraphen- und 140 Kilometer Telefonleitungen sowie<br />
werkseigene Wasserwerke und eine 64 Mann starke Berufsfeuerwehr.<br />
Im Unterschied zu einer Stadt allerdings ist die Fabrik kein öffentlicher<br />
1930<br />
1940<br />
1930 | Schaltstelle<br />
des Konzerns: die<br />
Hauptverwaltung an<br />
der Altendorfer Straße<br />
1950<br />
Raum. Die Fabrikstadt trennt Altendorf, das 1901 in die Großstadt eingemeindet<br />
wird, von der nahen Essener Innenstadt. Lediglich zwei<br />
Querverbindungen, die Frohnhauser und die Altendorfer Straße, verbinden<br />
die beiden Stadtteile und können von Fußgängern, Straßenbahn<br />
und Autos genutzt werden – rechts und links von Mauern umgeben.<br />
Sogar mit dem werkseigenen Schienennetz gibt es keine Berührungspunkte:<br />
Es wird über zahlreiche Bücken geleitet, die die Straße überspannen.<br />
Geheimnisvolles Leben und Treiben<br />
Zwar bestimmt die Fabrik das Stadtbild, die Bürger sehen die Schornsteine,<br />
atmen den Rauch und hören den Lärm der Produktion, der<br />
Dampfhämmer und der Geschütze, die hier nicht nur produziert, sondern<br />
auf dem werkseigenen Schießstand auch unmittelbar getestet<br />
1960<br />
1950 | Folgen des<br />
Krieges: Ruinen in<br />
der Nähe der Krupp-<br />
Hauptverwaltung<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
1970
»Bis 2006 ist das<br />
Gelände ein blinder<br />
Fleck auf dem<br />
Stadtplan, ein<br />
unzugänglicher,<br />
vielleicht<br />
vergessener Ort.«<br />
1980<br />
werden. Doch was hinter den Mauern vorgeht, bleibt den Nicht-Kruppianern<br />
verborgen. Sie können, so Diedrich Baedeker, lediglich „das<br />
Geräusch des geheimnisvollen Lebens und Treibens, das hinter den<br />
rauchgeschwärzten Mauern dort pulsiert“, wahrnehmen.<br />
Eine Art Niemandsland mitten in einem urbanen, dichtbesiedelten<br />
Raum – das bleibt das Krupp-Gelände auch dann, als es schon lange<br />
nicht mehr für die Produktion genutzt wird. Die beiden Weltkriege<br />
bringen der Firma ein wechselhaftes Geschick zwischen Wachstum und<br />
Verlusten, Um- und Neubauten, „ziviler“ und Rüstungsproduktion. Letztere<br />
macht die Firma im Zweiten Weltkrieg verstärkt zum Ziel alliierter<br />
Bombardements. Nach Ende des Krieges ist etwa ein Drittel von 1,5 Millionen<br />
Quadratmetern bebauter Fläche vollständig zerstört, ein weiteres<br />
Drittel in Teilen. Viele der noch funktionstüchtigen Anlagen werden<br />
demontiert und als Reparationsleistungen ins Ausland gebracht.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
1990<br />
2010 | Eine Vision wird Realität: Das neue Quartier steht.<br />
2000<br />
Zwar siedeln sich in den fünfziger Jahren wieder Firmen auf dem alten<br />
Betriebsgelände an. Der Großteil des Gebietes der alten Gussstahlfabrik<br />
liegt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch brach. Die verbleibenden<br />
Bauwerke sind verwaist. Es gibt nur wenige Zwischennutzungen<br />
oder neue Bauvorhaben, vorrangig an den Rändern des Geländes. Wild<br />
wucherndes Grün erobert sich das Gebiet zurück. Menschen bleiben<br />
dem Ort eher fern. Für viele ist das Gelände ein „blinder Fleck“ auf dem<br />
Stadtplan, ein unzugänglicher, vielleicht vergessener Ort. Erst nach der<br />
Jahrtausendwende gerät mit dem „Krupp-Gürtel“ die Idee einer systematischen<br />
Neunutzung an die Öffentlichkeit. 2006 fällt der Beschluss<br />
der <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>AG</strong>, hier das <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier zu errichten. Mit<br />
seinem Campus-Konzept soll es aus der zunächst verbotenen und später<br />
vergessenen Stadt ein neues, öffentliches Stück Essen machen. 7<br />
TEXT: SARAH BAUTZ<br />
2010<br />
Um 2006 | Im Dornröschenschlaf:<br />
Das Gelände<br />
wirkt wie ein Überrest<br />
einer vergangenen Zivilisation.<br />
2020<br />
65<br />
2030
66<br />
projekte_stadion
Leichte Bauelemente<br />
für anspruchsvolle Architektur<br />
Mit seinen Kuppeln, die aus vielen<br />
kleinen, durch eine filigrane<br />
Fachwerkkonstruktion verbundenen<br />
Dreiecken bestehen, ahmt<br />
das Anfang Mai 2010 eingeweihte<br />
Melbourne Rectangular<br />
Stadium Konstruktionsprinzipien<br />
der Natur nach. Die australischen<br />
Architekten Cox Architects<br />
and Planners lehnten die äußere<br />
Gestalt ihres als „bioframe“<br />
bezeichneten Entwurfs an die<br />
Gestalt der geodätischen Kuppeln<br />
des amerikanischen Architekten<br />
Richard Buckminster<br />
Fuller aus den vierziger Jahren<br />
an. <strong>ThyssenKrupp</strong> lieferte mit<br />
Hoesch isowand vario ® ein spezielles<br />
Stahl-Sandwichelement,<br />
das auf rund 25.000 Quadratmetern<br />
Stadiondachfläche ver-<br />
baut wurde und über erstklassigeWärmedämmungseigenschaften<br />
bei geringem Eigengewicht<br />
verfügt.<br />
Die leichte Sandwichkonstruktion<br />
des Daches ermöglicht es, die<br />
mehr als 30.000 Zuschauerplätze<br />
mit halb so hohem Materialeinsatz<br />
gegen Wind und Wetter<br />
zu schützen wie bei einer konventionellen<br />
Konstruktion mit<br />
einem sogenannten Kragdach.<br />
Das geringe Eigengewicht war<br />
wichtig, um die stützenfreie<br />
Überwindung von Spannweiten<br />
von bis zu sechs Metern zu<br />
ermöglichen. Bei aller Leichtig-<br />
keit kam es aber auch auf gute<br />
Dämmungseigenschaften an,<br />
damit es die Zuschauer auch bei<br />
den heißen australischen Sommertemperaturen<br />
unter dem<br />
Stadiondach aushalten. Den von<br />
den Architekten ausgewählten<br />
Farbton „whisper white“ hat<br />
<strong>ThyssenKrupp</strong> Steel Europe mit<br />
einer hochwertigen PVDF-Beschichtung<br />
(Polyvinylidenfluorid)<br />
umgesetzt. Die Kunststoffschicht<br />
ist 25 Mikrometer dick und sorgt<br />
mit ihrer hohen chemischen<br />
und thermischen Beständigkeit<br />
dafür, dass die Oberfläche<br />
Umwelteinflüssen und Sonneneinstrahlung<br />
dauerhaft und ohne<br />
Qualitätsverluste standhält.
68<br />
projekte_brücke
Flussüberquerung<br />
in der Schwebe<br />
„Schwebendes Floß“ nannten<br />
Arch&More, die Architekten der<br />
neuen Ybbsbrücke, ihren Entwurf.<br />
Mit einem hängenden<br />
Tragwerk, das bei Benutzung<br />
leicht in Bewegung gerät, soll<br />
die inmitten einer Naturlandschaft<br />
in der niederösterreichischen<br />
Region Mostviertel errichtete<br />
Brücke schon in ihrer<br />
Gestaltung widerspiegeln, was<br />
wir bei einer Brückenüberquerung<br />
spüren – das „sichere,<br />
genießende und erholende Moment<br />
an den Ufern“ genauso<br />
wie das „leichte, erhebende Moment<br />
während der Überquerung<br />
der Brücke“.<br />
Zwei markante, bei Dunkelheit<br />
beleuchtete Uferrahmen bilden<br />
für Fußgänger oder Radfahrer<br />
das Tor zur Brücke. Die 13 Meter<br />
hohen Durchgänge aus Stahl<br />
ruhen auf Stahlbetonfundamenten<br />
in der Größe von Wohnhäusern<br />
und tragen eine filigrane,<br />
auf Seilen hängende, drei Meter<br />
breite Fahrbahn, die in 16 Metern<br />
Höhe über den Fluss führt.<br />
Dass die Brücke mit einer<br />
Spannweite von 92 Metern so<br />
schlank und elegant ausfallen<br />
konnte, ist hier dem Einsatz der<br />
zugleich leichten und belastbaren<br />
Hoesch Additiv Decke ®<br />
zu verdanken. Das innovative<br />
und besonders ressourcensparende<br />
Bausystem aus dem<br />
<strong>ThyssenKrupp</strong> Konzern wird ansonsten<br />
vor allem im Parkhausund<br />
Geschossbau verwendet.<br />
www.hoesch.at
70<br />
projekte_aktuell<br />
Bauen mit dem Wesen der Farbe<br />
3 Farbigkeit erzeugt Stimmungen, ganz<br />
ähnlich wie Musik. Diese Verwandtschaft<br />
drückt sich schon darin aus, dass wir von<br />
Farbtönen, Klangfarben oder auch Farbklängen<br />
sprechen. Der Einzelhandel nutzt<br />
diesen emotionalen Einfluss von Farben,<br />
um Wohlbefinden und Kauflust der Käufer<br />
zu steigern, während in vielen Bürogebäuden<br />
helle Farbtöne für ein Offenheit<br />
signalisierendes und kreativitätsförderndes<br />
Arbeitsumfeld sorgen. Als Pionier und<br />
Experte auf diesem Gebiet hat der Farbdesigner<br />
Friedrich Ernst v. Garnier, der<br />
diese Profession vor 40 Jahren ins Leben<br />
rief, bereits viele trostlose Plattenbauten<br />
in Ostdeutschland freundlicher gestaltet.<br />
Seine Spezialität aber sind Industrieanlagen.<br />
Seit vielen Jahren tragen seine<br />
»Farbe ist Licht. Licht ist Wärme. Wärme ist Energie.<br />
Energie ist Leben. Leben ist Farbe.«<br />
Friedrich Ernst v. Garnier<br />
Farben dazu bei, die Arbeitsatmosphäre<br />
in den Werken von <strong>ThyssenKrupp</strong> zu verbessern<br />
– und schaffen so eine Umgebung,<br />
in der die Mitarbeiter lieber (und<br />
besser) arbeiten. Zuletzt gestaltete v.<br />
Garnier die Farbgebung des neuen Stahlwalzwerks<br />
in Alabama. Dort sind die Hallen<br />
vor allem in Rot und verschiedenen<br />
„Blau, Grün und Braun spiegeln<br />
die Farben des Himmels<br />
und der Erde wider und verhelfen<br />
selbst großvolumigen<br />
Industriebauten wie Produktionshallen<br />
zu harmonischen<br />
Erscheinungsbildern.“<br />
Friedrich Ernst v. Garnier<br />
Blautönen gehalten. „Das Wichtigste ist,<br />
mit dem Wesen der Farbe zu bauen“, sagt<br />
v. Garnier, der dafür das Konzept der<br />
„Organischen Farbigkeit“ entwickelt hat:<br />
Ebenso wie in der Natur sorgen demzufolge<br />
erst mehrtönige Farbklänge statt<br />
monochromer Flächen für unser Wohlbefinden.<br />
So lassen sich mit farbigen<br />
Stahlteilen beispielsweise auch klotzige<br />
Industriebauten sanft in ihre Umgebung<br />
einpassen. In den vergangenen Jahren<br />
hat v. Garnier etwa 20 Kollektionen von<br />
Bauten-Farbigkeiten entworfen und ist<br />
unter anderem zweimal mit dem Europäischen<br />
Stahlbaupreis ausgezeichnet worden,<br />
außerdem mit dem Deutschen Fassadenpreis<br />
und dem chinesischen „Luban<br />
2004“, dem renommiertesten Architekturpreis<br />
für Industriebauten in China. 7<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
Viel Bewegung<br />
in der Wüste<br />
3 Wo einst nur Sand war, soweit man sehen<br />
konnte, entstehen heute einige der spannendsten<br />
städtebaulichen Projekte unserer Zeit. Manche,<br />
wie die Ökostadt Masdar in Abu Dhabi, sind noch<br />
Vision, andere, wie Lusail City in Qatar, stehen kurz<br />
vor der Fertigstellung. Die neue Küstenstadt Lusail<br />
wächst derzeit im Nordosten Dohas, der Hauptstadt<br />
von Qatar, aus einer bislang kaum bebauten Wüstenfläche<br />
empor. Auf dem rund 35 Quadratkilometer<br />
großen Areal sollen einmal 200.000 Menschen<br />
leben, arbeiten und ihren Urlaub verbringen. Anders<br />
als bei der weiter südlich bereits realisierten<br />
künstlichen Insel The Pearl wird Lusail aus dem<br />
natürlich gewachsenen Küstenabschnitt herausmodelliert,<br />
Wasserflächen und Kanäle dabei vom<br />
Meer her ausgegraben. Ziel der Planer der Retortenstadt<br />
war eine ausgewogene und bedarfsgerechte<br />
Unterbringung der wichtigsten städtischen<br />
Funktionen. Neben Verwaltung, Einzelhandel, Freizeit-<br />
und Bildungseinrichtungen, Erholungsflächen,<br />
Freizeithäfen und wassernahen Luxushotels entstehen<br />
Wohnquartiere auf vorwiegend niedrig bebauten,<br />
begrünten Flächen. <strong>ThyssenKrupp</strong> unterstützt<br />
die Mobilität in der Planstadt mit insgesamt 124<br />
Förderanlagen in vier zentralen Parkhäusern, die<br />
an das Metro-System der Stadt angebunden sind.<br />
Pro Parkhaus werden drei Panorama-Aufzüge und<br />
ein Feuerwehraufzug, 16 Fahrtreppen sowie jeweils<br />
neun beziehungsweise sechs Fahrsteige geliefert. 7<br />
Futuristisch parken in Lusail City<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
MyZeil Frankfurt am Main: die höchste Fahrtreppe in einem deutschen Einkaufszentrum<br />
Vielschichtiges Shoppingerlebnis<br />
3 Seit Februar 2009 rühmt sich die<br />
in die Jahre gekommene Einkaufsmeile<br />
der deutschen Finanzmetropole<br />
Frankfurt am Main einer „neuen<br />
Shoppingdimension“: MyZeil, Prototyp<br />
der städtischen Einkaufsgalerie<br />
neuester Prägung, zieht die Passanten<br />
schon von außen in den Bann.<br />
Einem schwarzen Loch ähnelnd, öffnet<br />
sich ein riesiger Trichter in der<br />
gläsernen Fassade und gibt den Blick<br />
in den Himmel frei. Innen setzt sich<br />
der furiose Eindruck fort: Der gläserne<br />
Trichter aus der Fassade wird<br />
hier zum Himmel. Mit vielschichtigen<br />
Ebenen, einer spannungsreichen<br />
Linienführung und ungewohnten<br />
Perspektiven hat der italienische Architekt<br />
Massimiliano Fuksas ein ungewöhnliches<br />
Raumerlebnis geschaffen.<br />
Auch <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>Elevator</strong> hat<br />
mit der Fertigung und Montage der<br />
höchsten Fahrtreppe in einem deutschen<br />
Einkaufszentrum einen wichti-<br />
gen Designbeitrag geleistet: Im Sog<br />
des Trichters bringt die 47 Meter<br />
hohe Anlage die Besucher vom Erdgeschoss<br />
direkt in den vierten Stock.<br />
Hier öffnet sich der Blick auf die<br />
Frankfurter Skyline und – über die<br />
Brüstung nach unten – auf das geschäftige<br />
Treiben von einem Dutzend<br />
Fahrtreppen, die unablässig Menschenströme<br />
kreuz und quer nach<br />
oben und unten transportieren. Für<br />
das neben MyZeil aus drei weiteren<br />
Gebäudeteilen bestehende Bauprojekt<br />
„PalaisQuartier“ liefert Thyssen<br />
Krupp <strong>Elevator</strong> insgesamt 28 Fahrtreppen<br />
sowie 48 Aufzüge, darunter<br />
den weltweit 100. TWIN. Zusammen<br />
mit sieben herkömmlichen Aufzügen<br />
und der gemeinsamen Zielauswahlsteuerung<br />
sorgt der TWIN mit seinen<br />
zwei Kabinen in einem Schacht dafür,<br />
dass die Hotelgäste ohne Wartezeiten<br />
zu ihren Zimmern und Suiten im 96<br />
Meter hohen Hotelturm gelangen. 7<br />
71
72<br />
projekte_aktuell<br />
Außen alt, innen neu<br />
3 „Arbeitsraum, Lebensraum, Erlebensraum“<br />
lautet das Motto des Projektes<br />
„Zeitenströmung“ in Dresden. Auf 60.000<br />
Quadratmetern ist hier der „größte Treffpunkt<br />
für Oldtimerliebhaber, Kunst- und<br />
Kulturbegeisterte in Sachsen“ errichtet<br />
worden. Auf dem Gelände der ehemaligen<br />
Strömungsmaschinenwerke werden jetzt<br />
Serviceleistungen rund um das Automobil<br />
angeboten, ergänzt durch ein umfangrei-<br />
Grüner geht’s nicht<br />
ches Gastronomie- und Freizeitangebot,<br />
die Probebühnen des Staatsschauspiels<br />
Dresden sowie Büroräume. Direkt beteiligt<br />
an der erfolgreichen Wiederbelebung des<br />
seit 1995 weitgehend brachliegenden<br />
Fabrikgeländes war <strong>ThyssenKrupp</strong><br />
Xervon. Die <strong>ThyssenKrupp</strong> Tochter war für<br />
die Entkernung und den denkmalgerechten<br />
Neuaufbau eines dreigeschossigen<br />
Gebäudekomplexes der Ende 1800 als<br />
Historische Bausubstanz mit<br />
modernsten Funktionalitäten in<br />
der Dresdner „Zeitenströmung“<br />
Kaserne erbauten Liegenschaft zuständig.<br />
Insgesamt mussten 400 Quadratmeter<br />
Dachfläche, 300 Quadratmeter Innenwände<br />
und ebenso viele Quadratmeter Holzbalkendecken<br />
rückgebaut und entsorgt<br />
werden. Stehen blieben nur die Außenhülle,<br />
der massive Treppenhauskern sowie<br />
zwei gusseiserne Säulen mit gemauerten<br />
Bögen, die als historische Bausubstanz<br />
erhalten bleiben sollten. Grundlage für<br />
die Instandsetzung war die von den<br />
Xervon-Ingenieuren entwickelte und auf<br />
die spätere Nutzung als Räumlichkeiten<br />
für ein exklusives Fitnessstudio, eine<br />
Werkswohnung und Büroräume abgestimmte<br />
Ausführungsplanung. Auf Basis<br />
der Genehmigungsplanung haben die<br />
Sanierungsexperten die komplette Feinplanung<br />
für die Bereiche Medienführung,<br />
Heizung, Sanitär und Elektro erarbeitet<br />
und auch die statische Berechnung der<br />
Umbaumaßnahme organisiert. Nach nur<br />
sechsmonatiger Sanierung war das Werk<br />
vollendet – mit dem äußeren Charme<br />
der Vergangenheit und neuen inneren<br />
Werten. 7 www.zeitenstroemung.de<br />
3 In Singapur entsteht mit Solaris der „Businesspark der Zukunft“, ein Gebäude, das – so der O-Ton der Architekten<br />
– „die erholsame Wirkung des Tageslichts, der natürlichen Belüftung und einer gedeihenden Flora und Fauna ins Arbeitsumfeld<br />
bringt“. Fauna? Ja, tatsächlich. Auf 8.000 Quadratmetern durchgängig begrünter Fläche soll sich eine<br />
vielfältige Pflanzenwelt mit allen dazugehörigen Mikroorganismen frei entfalten dürfen. Rund um die zwei Gebäudekomplexe,<br />
die durch ein großes, natürlich belüftetes Atrium verbunden sind, schlängeln sich 3 Meter breite Landschaftsterrassen<br />
spiralförmig entlang der Außenfassade nach oben. Auf 1,5 Kilometer Länge verbinden diese<br />
den ebenerdigen one-north Park mit den kaskadenförmig angelegten Dachgärten. Aber auch von innen ist<br />
hier alles grüner als sonst: Der Energieverbrauch des mit dem höchsten Umweltsiegel<br />
der Stadt Singapur ausgezeichneten Gebäudes wird um 36 Prozent unter dem vergleichbarer<br />
bestehender Bürogebäude liegen. Entsprechend wichtig war<br />
es, dass auch die von <strong>ThyssenKrupp</strong> gelieferten 16 Aufzüge den hohen<br />
Umweltansprüchen genügen. Eine intelligente Software versetzt die<br />
Steuerung und Kabinenbeleuchtung in den energiesparenden Stand-by-<br />
Modus, sobald die Aufzüge eine bestimmte Zeit nicht benutzt werden. 7<br />
Landschaft mitten<br />
in der Großstadt:<br />
„Solaris“ Singapur
„Das schönste Museum der Welt“<br />
3 „Ein Geschenk an die Essener Bürger,<br />
ganz im Sinne Alfried Krupps“, nannte<br />
Berthold Beitz, der Kuratoriumsvorsitzende<br />
der Alfried Krupp von Bohlen und<br />
Halbach-Stiftung, das größte Einzelprojekt,<br />
das die Krupp-Stiftung je getragen<br />
hat: den Neubau des Museum Folkwang<br />
in Essen. Der nach dem Entwurf von<br />
David Chipperfield Architects, Berlin/London,<br />
errichtete und von der Krupp-Stiftung<br />
als alleiniger Förderin mit 55 Millionen<br />
Euro finanzierte Neubau wurde in nur<br />
23 Monaten Bauzeit errichtet. Rechtzeitig<br />
zum Beginn des Kulturhauptstadtjahres<br />
Ruhr.2010 öffnete das in neuem Glanz<br />
erstrahlende Museum im Januar 2010<br />
seine Türen.<br />
Chipperfields Neubau ergänzt den denkmalgeschützten<br />
Altbau von 1960 und<br />
erweitert die Ausstellungsfläche des Mu-<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
seums auf rund 7.000 Quadratmeter.<br />
Helle Räume, klare Wege, großzügige<br />
Sichtachsen – im neuen Museum Folkwang<br />
kommen die Werke der eindrucksvollen<br />
Sammlung in lichten Räumen zur<br />
Geltung, Räumen, die zur Begegnung<br />
mit Kunst, aber auch zur Diskussion und<br />
zum gesellschaftlichen Austausch einladen.<br />
„Das Museum Folkwang mit seinen<br />
sozialen und kulturellen Ambitionen wird<br />
ein leicht zugänglicher, öffentlicher Ort in<br />
der Stadt sein. Die Architektur bildet einen<br />
ruhigen Hintergrund für die Sammlungen.<br />
Atmosphärisch dominieren Licht und<br />
Offenheit, aber auch Konzentration“,<br />
erläuterte Chipperfield seinen Entwurf.<br />
„Das schönste Museum der Welt“ heißt<br />
die erste große Sonderausstellung im<br />
Neubau, für die erstmals seit mehr als<br />
70 Jahren Meisterwerke des Museum<br />
Begegnung im lichten Raum: der Architekt<br />
David Chipperfield (links) und Prof. Dr. Berthold<br />
Beitz, Vorsitzender des Kuratoriums der Alfried<br />
Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung,<br />
in der neuen Ausstellungshalle des Museum<br />
Folkwang<br />
Folkwang wieder vereint und die spektakuläre<br />
Sammlung aus der Zeit vor 1933<br />
rekonstruiert wurden. In den zwanziger<br />
und frühen dreißiger Jahren gehörte das<br />
Museum Folkwang zu den bedeutendsten<br />
Sammlungen moderner und zeitgenössischer<br />
Kunst weltweit. Paul J. Sachs,<br />
Mitbegründer des MoMA in New York,<br />
soll es 1932 bei einem Besuch in Essen<br />
„das schönste Museum der Welt“ genannt<br />
haben. Dass es wieder zu seinem<br />
alten Ruhm zurückkehrt, dazu will zumindest<br />
auch Chipperfield seinen Beitrag<br />
geleistet haben: „Ein Museum um eine<br />
bedeutende Sammlung herum zu bauen<br />
ermutigt mich, Architektur als Werkzeug<br />
zu verstehen und nicht als etwas, das sich<br />
selbst genügt“, sagte er anlässlich der<br />
Neueröffnung des Museums. 7<br />
www.museum-folkwang.de<br />
73
74<br />
projekte_stahlwerke<br />
AUFBRUCH<br />
IN AMERIKA<br />
2010 startet <strong>ThyssenKrupp</strong> die beiden neuen<br />
Produktionsstätten in Brasilien und in den USA.<br />
Die Stahlhütte im brasilianischen Bundesstaat<br />
Rio de Janeiro und das Verarbeitungswerk bei<br />
Mobile im US-Bundesstaat Alabama schaffen<br />
viele neue Arbeitsplätze – und stärken die Position<br />
von <strong>ThyssenKrupp</strong> in wichtigen Märkten.<br />
Größtes privates Investitionsprojekt in Südamerika, zeitweise<br />
die größte private Baustelle in den USA: Allein<br />
diese Tatsachen verdeutlichen die Dimension der beiden<br />
amerikanischen Großprojekte von <strong>ThyssenKrupp</strong>. Durch<br />
den Bau der Stahlhütte im brasilianischen Bundesstaat<br />
Rio de Janeiro rückt der Konzern noch näher an Rohstoffe<br />
heran; die Errichtung des hochmodernen Werks<br />
mit Walz- und Veredelungslinien bei Mobile (Alabama) stärkt seine Wettbewerbsposition<br />
in wichtigen Absatzmärkten.<br />
Die Arbeiten am Standort in Brasilien sind nun sehr weit fortgeschritten.<br />
Der Produktionsstart ist für das dritte Quartal 2010 geplant. Fünf Millio-<br />
nen Tonnen Stahl pro Jahr sollen künftig von hier aus in Form hochwertiger<br />
Brammen an das neue Werk in Alabama und zu den deutschen<br />
Standorten von <strong>ThyssenKrupp</strong> geliefert werden. Dort wird der Stahl dann<br />
weiterverarbeitet. Auf der Baustelle in der Bucht von Sepetiba waren<br />
zeitweise bis zu 23.000 Menschen beschäftigt. In der Betriebsphase<br />
werden direkt 3.500 neue Arbeitsplätze in der Stahlproduktion entstehen.<br />
Hinzu kommt etwa die vierfache Zahl an Arbeitsplätzen, die in anderen<br />
Branchen indirekt gesichert werden. Zudem sind durch die Investition<br />
von <strong>ThyssenKrupp</strong> Ausbildungsstätten entstanden. Von der Industrialisierung<br />
wird diese sozial schwache Region also erheblich profitieren.<br />
Wichtige Glieder in der globalen Wertschöpfungskette<br />
Ausschlaggebend für die Wahl des Standorts waren insbesondere<br />
Logistikvorteile: zum einen durch den direkten Zugang zum Atlantischen<br />
Ozean, zum anderen durch die dort endende Eisenbahnlinie für den<br />
Transport von Eisenerz. Die Erzlagerstätten im brasilianischen Bundesstaat<br />
Minas Gerais liegen vergleichsweise nah und stellen eine Versorgung<br />
mit hoher Qualität sicher. Darüber hinaus gab das positive Umfeld<br />
für die Rekrutierung von qualifiziertem Personal den Ausschlag für die<br />
Standortwahl. Auf einer Fläche von 9 Quadratkilometern stehen nun<br />
eine Kokerei, eine Sinteranlage, zwei Hochöfen, ein Oxygenstahlwerk<br />
mit Stranggießanlagen, ein eigenes Kraftwerk und ein Hafen – ein komplettes<br />
Hüttenwerk ist aus dem Nichts entstanden und wird bald eine<br />
wichtige Rolle in der globalen Wertschöpfungskette von <strong>ThyssenKrupp</strong><br />
einnehmen.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
Das größte Investitionsprojekt in Südamerika: Ab Herbst 2010 sollen in der Bucht von Sepetiba in Brasilien<br />
rund 5 Millionen Tonnen Stahl pro Jahr produziert werden.<br />
Das gilt auch für das neue Werk in Calvert bei Mobile in Alabama: Ebenfalls<br />
voraussichtlich ab dem dritten Quartal 2010 können hier in den auf<br />
der „grünen Wiese“ errichteten Anlagen aus den brasilianischen Brammen<br />
Stahlbänder gewalzt werden. Hierzu stehen eine Warmbreitbandstraße,<br />
ein Kaltwalzwerk und Feuerbeschichtungslinien zur Verfügung.<br />
Ein Teil des Warmbands wird zu Edelstahl-Flachprodukten weiterverarbeitet.<br />
Das geschieht entweder in speziellen Anlagen am gleichen<br />
Standort oder im Edelstahlwerk <strong>ThyssenKrupp</strong> Mexinox im mexikanischen<br />
San Luis Potosí. Die Fertigprodukte werden an Abnehmer in den<br />
USA, Kanada und Mexiko geliefert – eine deutliche Stärkung der Position<br />
von <strong>ThyssenKrupp</strong> in der nordamerikanischen Freihandelszone<br />
NAFTA.<br />
Für die Ansiedlung in Mobile sprach, dass das Werk nur wenige Kilometer<br />
vom Hafen von Mobile am Golf von Mexiko entfernt liegt und sich<br />
das mexikanische Edelstahlwerk von hier aus ebenfalls gut erreichen<br />
lässt. Die in Brasilien produzierten Brammen können – nachdem sie an<br />
einem eigens errichteten Terminal im Tiefseehafen von Mobile auf kleinere<br />
Schiffe umgeladen werden – über den Fluss Tombigbee auf dem<br />
Wasserweg direkt bis zum neuen Standort geliefert werden.<br />
Produktentwicklung im Fokus<br />
Mit der Investition gibt <strong>ThyssenKrupp</strong> einen wichtigen Impuls für die<br />
regionale Wirtschaft: Bis zu 2.700 direkte Jobs sollen durch das Werk<br />
neu entstehen, mit mit vier Mal so vielen zusätzlichen indirekten Jobs<br />
rechnet man bei Zulieferern, Hotels, Restaurants und vielen weiteren<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
Dienstleistern. Gut für Alabama, wo sich auch andere globale Konzerne<br />
wie Degussa, Ciba, Hyundai und Honda niedergelassen haben. Den<br />
Gouverneur von Alabama, Bob Riley, hat am meisten beeindruckt, wie<br />
viel <strong>ThyssenKrupp</strong> in die Entwicklung neuer Produkte investiert. „Das<br />
hat uns alle davon überzeugt, dass sich ein Konzern bei uns ansiedelt,<br />
der in der Produktentwicklung immer führend sein wird“, so Riley. Der<br />
indianische Name Alabama bedeutet übrigens manchen Forschern<br />
zufolge in etwa „hier lebe ich“. Das gilt nun auch für <strong>ThyssenKrupp</strong>. 7<br />
TEXT: ALEXANDER SCHNEIDER<br />
Über den Golf von Mexiko ist das neue Verarbeitungswerk in Alabama in die<br />
globale Wertschöpfungskette von <strong>ThyssenKrupp</strong> eingebunden.<br />
75
76<br />
perspektiven_stadt der zukunft<br />
MEGACITYS UND<br />
SCHRUMPFSTÄDTE<br />
Die Zukunft der Menschheit liegt in den Städten. Aber was ist die Stadt der Zukunft? Wie lassen<br />
sich Fläche, Verkehr, Energie und Wohnqualität in wachsenden und schrumpfenden Städten sichern<br />
und verbessern?<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
A 3<br />
uf YouTube gibt es ein Video, das aus einem fahrenden Auto<br />
heraus aufgenommen ist. Drei lange Minuten sind verfallende<br />
Wohnblocks, verlassene Einfamilienhäuser und Bauruinen<br />
zu sehen. Nur wenige Menschen bevölkern die<br />
trostlose Szenerie, die an Bilder aus Bürgerkriegsgebieten<br />
erinnert. Doch das hier ist weder Grosny noch Bagdad,<br />
sondern Amerikas ehemalige Boomtown Detroit.<br />
Wo noch bis Anfang der fünfziger Jahre die Produktion der Big Three –<br />
Chrysler, Ford und General Motors – für ein anhaltendes Wirtschafts-<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
wachstum sorgte, wirken heute ganze Viertel wie die Kulisse für einen<br />
Endzeitfilm. Tatsächlich liegt ein Drittel der gesamten Stadtfläche brach;<br />
etwa 4.000 Bauten stehen leer, Straßenschilder rosten, und auf den<br />
Bürgersteigen wächst Gras.<br />
Der krasse Niedergang von Detroit infolge wirtschaftlicher Probleme<br />
und sozialer Spannungen gilt Stadtplanern als Musterbeispiel für<br />
„Shrinking Cities“. Wenn Städte aufgrund von Abwanderung und Bevölkerungsrückgang<br />
schrumpfen, hat das natürlich nicht immer derart<br />
drastische Folgen wie im Fall der ehemals prosperierenden Motor City.<br />
77
78<br />
perspektiven_stadt der zukunft<br />
3<br />
Gleichwohl wird das Phänomen weithin unterschätzt, nicht zuletzt,<br />
weil in den urbanistischen Debatten der vergangenen Jahre das<br />
Augenmerk vor allem auf das Wachstum der Megapolen gerichtet<br />
war. Doch ob Russland oder China, Belgien oder Finnland: Überall<br />
schrumpfen Städte. Deutschland bildet da keine Ausnahme. In<br />
Ostdeutschland gibt es Gemeinden, schreiben die Autoren Jeremy<br />
Gaines und Stefan Jäger in Ein Manifest für nachhaltige Stadtplanung,<br />
„die so entvölkert sind, dass man dort einmal die Woche mit<br />
Trinkwasser die Kanalisation spülen muss“. Bestes Beispiel ist<br />
Dessau, das seit der Wende so stark schrumpft wie kaum eine andere<br />
Kommune in unserem Land. Ganze Viertel wirken verlassen,<br />
Gründerzeitfassaden bröckeln, Schulen und Geschäfte stehen leer.<br />
In der Bauhaus-Stadt will man nun die leistungsfähigsten Quartiere<br />
als sogenannte „Stadtinseln“ zwischen gestalteten Land-<br />
»Stadtentwicklungspolitik<br />
ist Friedenspolitik für die<br />
Zukunft.«<br />
schaftszügen entwickeln. Ob das Konzept tragfähig ist, wird die<br />
Zukunft zeigen. Lösungen sind jedenfalls dringend gefragt: Bereits<br />
2020 wird jeder zweite Landkreis in Deutschland mit sinkenden<br />
Einwohnerzahlen konfrontiert sein.<br />
Dessen ungeachtet verschwinden hierzulande jährlich knapp 380<br />
Quadratkilometer Landschaft unter Vorstädten und Straßen. Eine<br />
paradoxe Situation, zumal sich die Bedingungen für ein Leben in<br />
der Peripherie mit zunehmender Ressourcenknappheit grundlegend<br />
ändern werden. Den vorhandenen Raum sinnvoll nutzen,<br />
lautet die stadtplanerische Devise der Zukunft. „Europas Metropo-<br />
Buchtipps zum Thema<br />
Jeremy Gaines und Stefan Jäger: Albert<br />
Speer & Partner. Ein Manifest für nachhaltige<br />
Stadtplanung. Prestel. In einer<br />
Zeit der globalen Erwärmung gewinnt die<br />
Entwicklung eines ressourcenschonenden<br />
Städtebaus an Bedeutung. Ausgehend<br />
von den Projekten des Büros Albert Speer<br />
& Partner, formulieren die beiden Autoren<br />
Jeremy Gaines und Stefan Jäger ein zukunftsweisendes<br />
Konzept für den umweltverträglichen<br />
Städtebau.<br />
Wiederkehr der Landschaft/Return of<br />
Landscape. Das anlässlich einer Ausstellung<br />
in der Berliner Akademie der Künste<br />
erschienene Buch stellt Las Vegas und<br />
Venedig in den Mittelpunkt – zwei sehr<br />
verschiedene Städte, die eine Geschichte<br />
von kluger Landschaftsnutzung und von<br />
überheblicher Eroberung erzählen, von<br />
zukunftsfähigen und von gescheiterten<br />
Strategien der Stadtentwicklung. Namhafte<br />
Autoren zeigen Möglichkeiten auf,<br />
die Stadt des 21. Jahrhunderts aus der<br />
Landschaft heraus zu entwickeln.<br />
len dürfen kein neues Land für ihre Weiterentwicklung verbrauchen<br />
– sie verfügen bereits über genug Land, das nur regeneriert<br />
werden muss“, konstatieren Jeremy Gaines und Stefan Jäger.<br />
„Andernfalls werden sie nicht überleben.“<br />
Balanceakt Stadtentwicklung<br />
Völlig anders stellt sich die Situation in vielen Schwellenländern<br />
dar. Allein in China werden – so das Greenpeace-<strong>Magazin</strong> – „bis<br />
2030 rund 400 Millionen Menschen in Städte ziehen, genauer: in<br />
mehr als 240 Großstädte, die es noch gar nicht gibt“. Laut UNO<br />
werden im Jahr 2050 über 75 Prozent der Weltbevölkerung in<br />
Metropolen leben. Die gigantischen Stadtkonglomerate, für die<br />
man bei der UNO den Begriff Metacitys kreiert hat, werfen komplexe<br />
urbanistische Fragen auf: Wie sollen immer mehr Menschen auf<br />
einer gleichbleibenden Fläche menschenwürdig leben? Welche<br />
Auswirkungen haben unterschiedliche Bildungsstandards auf die<br />
soziale Balance? Wie kann man ökonomische Stabilität und eine<br />
hohe Umweltqualität erreichen? Vor allem aber: Wie lässt sich verhindern,<br />
dass Städte ungebremst Ressourcen verschlingen und<br />
auf Kosten ihres Umlands leben?<br />
Klaus Töpfer, ehemaliger Leiter des UN-Umweltprogramms, spricht<br />
in seinem Essay Der Chaosplanet von drei Säulen einer nachhaltigen<br />
Städteentwicklung: wirtschaftlicher und gesellschaftlicher<br />
Stabilität sowie ökologischer Nachhaltigkeit. „Stadtentwicklungspolitik,<br />
die die Funktion von Stadt schafft und erhält, ist ... auch<br />
eine Friedenspolitik für die Zukunft“, schreibt Töpfer. „Wenn sie<br />
nicht Arbeit, Entwicklung, sozialen Ausgleich und ökonomische<br />
Stabilität ermöglicht, wird es eine friedliche Entwicklung auf unserem<br />
Planeten nicht geben.“<br />
Auch wenn sich die Megacitys in ihrem Erscheinungsbild zunehmend<br />
gleichen – Fachleute sprechen von einer Globalisierung der<br />
Stadtstrukturen –, so ist doch jede von ihnen ein eigener Kosmos<br />
mit unverwechselbaren natürlichen und kulturellen Gegebenheiten.<br />
Konzepte, die in Mexico City funktionieren, lassen sich nicht so ohne<br />
The Endless City. The Urban Age Project<br />
by the London School of Economics<br />
and Deutsche Bank’s Alfred Herrhausen<br />
Society. Phaidon. The Endless City präsentiert<br />
die Forschungsergebnisse des<br />
„Urban Age Project“, einer von der<br />
London School of Economics und der<br />
Alfred Herrhausen Gesellschaft der Deutschen<br />
Bank initiierten Untersuchung.<br />
Der 500 Seiten starke Wälzer liefert einen<br />
soliden Überblick über den aktuellen<br />
Stand der klassischen Stadtentwicklungspolitik.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
weiteres auf Jakarta anwenden – und umgekehrt. Vermutlich sind<br />
die Hyperstädte des 21. Jahrhunderts ohnehin nicht mit zentraler<br />
Planung in den Griff zu bekommen. Klaus Töpfer ist davon überzeugt,<br />
dass sich innerhalb der Megacitys dörfliche Funktionen bilden<br />
werden. Umgekehrt, so der Gründungsdirektor des Institute for<br />
Advanced Sustainability Studies in Potsdam, müssten städtische<br />
Funktionen im ländlichen Raum erfüllt werden, „wenn es uns gelingen<br />
soll, den Zustrom von Menschen aus den ländlichen Regionen<br />
in die Stadt abzubremsen“. Der hält unterdessen unverändert<br />
an. In der Hoffnung auf ein besseres Leben strömen Jahr für Jahr<br />
Millionen von Menschen in die Turbocitys Asiens und Afrikas.<br />
Landwirtschaft in der Stadt<br />
Die einzige Lösung für den durch Migrationsbewegungen und<br />
Bevölkerungswachstum ausgelösten „Highspeed Urbanism“ heißt<br />
Verdichtung; allein so lassen sich (Waren-)Wege verkürzen, Ressourcen<br />
schonen und Energie einsparen. Dem Bauen in die Höhe<br />
sind dabei allerdings Grenzen gesetzt. Für „unwirtschaftlich und<br />
überflüssig“ hält Albert Speer jr. Bauten von mehr als 400 Metern<br />
Höhe, wie er in einem Interview die prestigeträchtige Jagd nach<br />
immer neuen Höhenrekorden kommentierte. Vielmehr interessiert<br />
den renommierten Architekten, der mit seinen Partnern Büros in<br />
Frankfurt am Main und Shanghai unterhält, das Thema Nachhaltigkeit.<br />
Hinter dem zugegebenermaßen schwammigen Begriff verbirgt<br />
sich die Notwendigkeit, die Fähigkeit der Megacitys zur Selbstregeneration<br />
zu stärken. Denn der Missbrauch der Landschaft als<br />
Verfügungsmasse des boomenden Städtebaus hat in der Vergangenheit<br />
Umweltprobleme von erheblichem Ausmaß hervorgebracht<br />
– globale Erwärmung, Wasserknappheit, Nahrungsmangel<br />
und Artenverlust sind ja längst traurige Gewissheit. Die Städte von<br />
morgen dürfen sich nicht weiter auf Kosten der Landschaft profilieren,<br />
sondern müssen aus ihr heraus entwickelt werden. Ihre<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
Zukunftsfähigkeit hängt nicht zuletzt davon ab, ob fruchtbare<br />
Böden im Umland vor Bebauung geschützt werden können. Das<br />
United Nations Development Programme wirbt bereits seit Mitte<br />
der neunziger Jahre für urbane Landwirtschaft.<br />
Doch kann man tatsächlich einen Teil unserer Nahrungsproduktion<br />
in die Großstadt verlagern – bereits existierende Modelle wie die<br />
„Community Gardens“ in Chicago oder grüne Hinterhofidyllen in<br />
Kreuzberg mal ausgenommen? Wenn es nach dem belgischen<br />
Architekten Vincent Callebaut geht, zieht die Landwirtschaft demnächst<br />
in den Wolkenkratzer ein. „Dragonfly“ nennt der Visionär<br />
sein für New York City entwickeltes Projekt an der Südspitze von<br />
Roosevelt Island. Seine „Metabolic Farm“ propagiert die Rückkehr<br />
zur traditionellen Landwirtschaft in einem futuristisch anmutenden<br />
Kontext.<br />
An zwei Startrampen ähnelnden Türmen, in denen Menschen wohnen<br />
und arbeiten sollen, schließen sich zwei gigantische Flügel für<br />
die landwirtschaftlichen Nutzflächen an. Auf übereinanderliegenden<br />
Etagen werden Tiere gehalten, um die Versorgung der<br />
Bewohner mit Fleisch, Milch und Eiern zu garantieren. Sogar Ackerland<br />
soll es geben, Reisfelder und Obstgärten. Windturbinen<br />
erzeugen die nötige Energie; Hightechaußenhäute sorgen für die<br />
Klimaregulation. Callebaut hat seinen grünen Riesen als autarkes<br />
System konzipiert: als einen lebenden Organismus, in dem nicht<br />
der kleinste Humuskrümel verlorengeht, sondern dem ewigen<br />
Naturkreislauf zugeführt wird. Die Bewohner von Dragonfly produzieren<br />
ihr eigenes Wasser; ihr Abfall ist biologisch abbaubar. Vielleicht<br />
tauschen sie ihre Erfahrungen als Big-Apple-Bauern ja eines<br />
Tages mit den Leuten von Lilypad aus, jener schwimmenden Stadt,<br />
die Callebaut als eine mögliche Antwort auf den drohenden Anstieg<br />
des Meeresspiegels entworfen hat. Bilder davon gibt es übrigens<br />
auf YouTube zu sehen. 7<br />
TEXT: MARGIT UBER | ILLUSTRATIONEN: MARIO W<strong>AG</strong>NER<br />
79
80<br />
perspektiven_lebenswelt<br />
„Die Essener Volkshochschule<br />
auf dem Burgplatz leuchtet<br />
nachts in kräftigen Farben, die<br />
die Innenstadt aufhellen. Dieses<br />
Bild mag ich besonders, weil<br />
das Gebäude eher kompakt ist<br />
und tagsüber nicht auffällt. Dann<br />
ist es praktisch nur ein voller<br />
Würfel aus Glas, so scheint es.<br />
Sein wahres Gesicht zeigt es erst<br />
nachts: Dann leuchtet es in bunten<br />
Regenbogenfarben dem<br />
Himmel entgegen und macht mit<br />
seinem bunten Lichterspiel auf<br />
sich aufmerksam.“<br />
C Franziska Sieg<br />
KINDER SEHEN IHRE<br />
C<br />
UMWELT<br />
Was nehmen junge Menschen an ihrer Stadt wahr? Und wie sehen und beurteilen sie Architektur?<br />
Das <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>Magazin</strong> bat Schülerinnen und Schüler der neunten Jahrgangsstufe des Gymnasiums<br />
Essen-Werden, in ihrer Umgebung zu fotografieren und ihre Aufnahmen zu kommentieren.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
„Das Haus der Technik gegenüber dem Essener Hauptbahnhof<br />
finde ich total beeindruckend, vor allem wegen des kuppelförmigen<br />
Durchgangs. Durch seine Bauart wirkt es modern, durch<br />
die Ziegelsteine gleichzeitig alt. Ich könnte es mir stundenlang<br />
anschauen, so interessant finde ich es.“<br />
C Annika Albertz<br />
„Auf den ersten Blick sieht das Pressezentrum Messe-Essen<br />
aus wie ein Schiff. Durch seine klaren Linien und seine<br />
eigenartige Form und Bauweise sticht es auf alle Fälle aus<br />
dem Stadtbild heraus.“<br />
C Ante Schlesselmann<br />
81
82<br />
perspektiven_lebenswelt<br />
„Den Kirchturm der evangelischen Kirche in Werden sieht man genau so,<br />
wenn man aus unseren Klassenfenstern herausschaut. Besonders<br />
gut gefällt mir auch der Blick auf den Turm des Beatae Mariae Virginis<br />
Gymnasiums.“<br />
C Mirjam Otten<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
„‚Essen bewegt‘. Auch die Innenstadt wird derzeit erweitert – aber leidet sie darunter?<br />
Neue Einkaufszentren prägen nun das Zentrum und lassen kleine Läden in<br />
den Nebenstraßen (Bild oben) vergessen. ‚Essen macht Unmögliches möglich‘<br />
– es werden neue Straßen und Wege errichtet (Bild unten). Wenn diese fertiggestellt<br />
sind, werden sie wohl ihren Zweck erfüllen und die Straßen vom Verkehr entlasten<br />
– obwohl im Moment noch das<br />
genaue Gegenteil der Fall ist.“<br />
C Lea Sophie Lange<br />
83
84<br />
perspektiven_mobilität<br />
Geht’s denn hier gar nicht weiter? Auch Harrison Ford als<br />
„Blade Runner“ muss mit Staus kämpfen. Immerhin:<br />
Dank feiner Technik kann er per Knopfdruck abheben und<br />
solche Hindernisse im Los Angeles der Zukunft überfliegen.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
UNTERWEGS IM JAHR<br />
2050<br />
In der Stadt der Zukunft werden wir mehr laufen und Fahrrad fahren. Denn, so fordern Verkehrsexperten,<br />
wir müssen uns aus der Abhängigkeit vom Auto lösen, um die Städte lebenswerter zu machen.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
85
86<br />
perspektiven_mobilität<br />
»Die Stadt der Zukunft ist auf die Bedürfnisse der Menschen<br />
zugeschnitten und nicht auf die der Autos.«<br />
Bäume säumen eine breite Straße, auf der zahlreiche<br />
Menschen mit ihren Fahrrädern oder zu Fuß unterwegs<br />
sind. Hier, im Zentrum der Metropole, ist lautes<br />
Vogelgezwitscher und fröhlicher Kinderlärm zu<br />
hören. Leise rauschen elektrisch betriebene Busse<br />
und Straßenbahnen vorbei. Und auch auf der Fahrbahn<br />
für Elektroautos fließt der Verkehr. Es ist halb<br />
neun Uhr vormittags an einem sonnigen Frühlingstag im Jahr<br />
2050 – viele Berufspendler haben ihr Fahrrad mit in die Bahn<br />
genommen, aber für die meisten ist der Weg zu ihrem Arbeitsplatz<br />
ohnehin nicht weit, denn sie leben in der Nähe der Innenstadt.<br />
Kreativ werden und umdenken<br />
„Die Menschen in der Stadt der Zukunft werden das meiste zu Fuß<br />
erledigen können“, sagt Jeff Kenworthy, Professor für Nachhaltigen<br />
Städtebau an der Curtin University in Perth. Und, so die<br />
Zukunftsvision des australischen Mobilitätsexperten, sie leben<br />
gerne in der Metropole, denn sie bietet ihnen ein grünes und<br />
lebenswertes Umfeld: Das Stadtzentrum und dessen Neben-<br />
Das ist mal eine wirkliche Großstadt: Der Planet Coruscant in<br />
„Star Wars: Episode III – Die Rache der Sith“ ist eine einzige<br />
sogenannte „Makropole“. Am besten bewegt man sich in den<br />
Hochhausschluchten dieser Riesenstadt mit eleganten Gleitern fort.<br />
straßen sind autofrei, überall sind breite Fuß- und Radwege angelegt.<br />
Jede freie Fläche Land wird für die Landwirtschaft zur Verfügung<br />
gestellt. Durch die stadtnahe Nahrungsmittelproduktion<br />
sind die Transportwege kürzer. „Die Stadt der Zukunft ist auf die<br />
Bedürfnisse der Menschen zugeschnitten und nicht auf die der<br />
Autos“, lautet die Prognose von Kenworthy, der in internationalen<br />
Vergleichsstudien die Abhängigkeit der Städte vom Auto erforscht.<br />
Dass sein Blick in die Zukunft sehr optimistisch ausfällt, darüber ist<br />
sich der Wissenschaftler durchaus bewusst. Denn die Realität sieht<br />
gegenwärtig noch völlig anders aus. In fast allen internationalen<br />
Großstädten sorgen unzählige Pendler täglich für kilometerlange<br />
Staus, für Lärm- und Luftverschmutzung. Viele Megacitys in Asien<br />
und Südamerika stehen kurz vor dem Verkehrskollaps: Einige Bewohner<br />
von Mexiko-Stadt benötigen bis zu drei Stunden täglich,<br />
nur um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Geschäftsleute im brasilianischen<br />
São Paulo umgehen das Verkehrschaos, indem sie per<br />
Hubschraubertaxi zu ihren Terminen fliegen. In asiatischen Großstädten<br />
verursacht ein Durcheinander von Fahrrädern, Rikschas,<br />
Mopeds und immer mehr Autos ein alltägliches Chaos. Und auch<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
Der Traum von Freiheit: Mit einem Landspeeder kann Luke Skywalker bei „Star Wars IV – Eine neue Hoffnung“ seine Umgebung<br />
erkunden. Verkehrsprobleme sind auf dem Wüstenplaneten Tatooine unbekannt.<br />
in den Metropolen Europas und der Vereinigten Staaten ist vielerorts<br />
kaum noch ein Durchkommen möglich. Die Straßen stoßen an die<br />
Grenzen ihrer Belastbarkeit, der CO2-Ausstoß ist beträchtlich, und<br />
die Folgen – massive Luftverschmutzung und drohender Klimawandel<br />
– sind alarmierend. Eine Aussicht auf rasche Besserung ist<br />
nicht in Sicht, denn in Zukunft wird sich das Verkehrsaufkommen in<br />
den Schwellenländern noch vervielfachen.<br />
Jeff Kenworthy gibt sich dennoch zuversichtlich. „Wir können<br />
solche Probleme nicht in einer Woche erledigen, aber wir können<br />
versuchen, das System in eine andere Richtung zu lenken“, zeigt<br />
sich der Wissenschaftler überzeugt. Seit dem Zweiten Weltkrieg<br />
habe man dem Auto mehr und mehr Bedeutung eingeräumt. Jetzt<br />
gelte es, „kreativ zu werden und umzudenken“.<br />
Was kommt nach dem Auto?<br />
Mit dieser Meinung steht Kenworthy nicht alleine da. Verkehrsexperten<br />
weltweit plädieren dafür, die Abhängigkeit von der automobilen<br />
Mobilität zu reduzieren. Die könnte ohnehin durch steigende<br />
Ölpreise bald stark eingeschränkt werden. „Vieles deutet darauf<br />
hin, dass wir bei der Erdölforderung auf eine Zielgerade zustreben,<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
an deren Ende wir uns überlegen müssen, womit wir in der Zukunft<br />
fahren möchten“, sagt Michael Schreckenberg, Professor für Physik<br />
von Transport und Verkehr an der Universität Duisburg-Essen.<br />
Wo dies möglich ist, sollen öffentliche Verkehrsmittel das Auto ersetzen.<br />
Doch der Weg bis dorthin ist weit. In Städten wie Paris oder<br />
New York platzen auch die öffentlichen Verkehrssysteme bereits<br />
aus allen Nähten. Vollgestopfte Busse und Bahnen, mangelnder<br />
Komfort sowie vielerorts lange Taktzeiten und schlechte Anschlussverbindungen<br />
führen dazu, dass sich weltweit viele Menschen lieber<br />
in den täglichen Stau einreihen. „Der Nahverkehr muss attraktiver<br />
werden“, fordert Kenworthy denn auch. Doch vielen<br />
Großstädten fehlt das Geld, um die Infrastruktur auszubauen. In<br />
den Schwellenländern sind die Probleme häufig hausgemacht: In<br />
einigen Megacitys wie beispielsweise Bangkok gibt es so gut wie<br />
gar keine Verkehrsplanung. „Es wird einfach gebaut nach den<br />
Plänen derer, die das meiste Land oder das meiste Geld besitzen“,<br />
so Kenworthy. In vielen Großstädten in Europa oder den USA hingegen<br />
haben die Verfechter der automobilen Mobilität noch eine zu<br />
starke Lobby, um ernsthaft Veränderung voranzutreiben, glaubt<br />
Kenworthy.<br />
3<br />
87
88<br />
perspektiven_mobilität<br />
3<br />
Dass sich hingegen am alltäglichen Irrsinn des Verkehrs auch künftig nicht viel ändern wird, das vermutet Luc Besson in „Das fünfte Element“ –<br />
und lässt dort Autos auf allen Ebenen durch die Straßen schweben, chaotische Verkehrsteilnehmer inklusive.<br />
Doch es gibt auch positive Signale: So gehört das Metro-System in<br />
der brasilianischen Millionenstadt São Paulo zu den modernsten<br />
der Welt. Hier werden bis Ende 2010 über vier Jahre zusätzliche 20<br />
Milliarden Real (etwa 8,5 Milliarden Euro) in die Weiterentwicklung<br />
»Einfach ins Auto steigen und losfahren, ohne nachzudenken,<br />
wird wahrscheinlich nicht mehr möglich sein.«<br />
des öffentlichen Verkehrssystems geflossen sein. Auch das<br />
U-Bahn-System im südkoreanischen Seoul ist vorbildlich – die<br />
dortige Metro hat weltweit die beste Energieeffizienz.<br />
Im Jahr 2050 werden die meisten öffentlichen Verkehrssysteme<br />
wohl mit Strom betrieben werden. Und sie bieten ihren Gästen<br />
größeren Komfort, so die Überzeugung der meisten Verkehrsexperten.<br />
„Im Jahr 2050 ist der öffentliche Verkehr nicht mehr das,<br />
was er heute ist“, sagt zum Beispiel auch Manfred Boltze, Professor<br />
für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik an der Technischen<br />
Universität Darmstadt. „Er wird weitaus komfortabler und an die<br />
Bedürfnisse der Menschen angepasst sein.“ So würden vor allem<br />
innovative Informationstechnologien dabei helfen, das Ticketing zu<br />
vereinfachen und den Informationsfluss zu erhöhen. „Wenn ich im<br />
Jahr 2050 mit der Bahn oder<br />
dem Bus fahre, dann wird das<br />
automatisch von meinem Mobiltelefon<br />
erfasst“, stellt sich Boltze<br />
die Zukunft vor. „Und am<br />
Monatsende werden die Fahrtkosten<br />
automatisch vom Konto<br />
abgebucht.“ Auch die unterschiedlichen Verkehrsmittel, so der<br />
Wissenschaftler, werden wesentlich besser vernetzt und intelligenter<br />
kombinierbar sein.<br />
Mobil auf zwei Rädern<br />
Auf Einschränkungen muss man sich dagegen beim motorisierten<br />
Individualverkehr einstellen: „Die Mobilität der Zukunft wird von<br />
unseren technischen Möglichkeiten abhängen“, sagt Michael<br />
Schreckenberg. Aufgrund der relativ geringeren Fahrreichweite von<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
„Beam me up, Scotty!“ – ein legendärer Satz der Filmgeschichte,<br />
der das unkomplizierte Transportverfahren<br />
bei „Raumschiff Enterprise“ auf den Punkt bringt<br />
(auch wenn er genau so nie gesagt wurde). Einfach auf<br />
einen Knopf drücken, schon ist man da. Von dieser<br />
Lösung müssen Pendler aber wohl noch lange träumen.<br />
Elektroautos werde es die uneingeschränkte Mobilität, wie wir sie<br />
heute kennen, im Jahr 2050 vielleicht nicht mehr geben. „Wir werden<br />
besser planen müssen als heute. Einfach ins Auto steigen und<br />
losfahren, ohne nachzudenken, wird wahrscheinlich nicht mehr<br />
möglich sein. Es sei denn, es gibt bis dahin Akkus, die kurze Ladezeiten<br />
haben und mit denen man 400 Kilometer weit kommt.“<br />
Zudem sei es problematisch, Platz für die zahlreichen notwendigen<br />
Aufladestationen vorzuhalten. „In Berlin haben mehr als 90 Prozent<br />
aller Autos keine ,Heimat‘, das heißt, sie stehen auf der Straße<br />
und nicht in einer Garage oder auf einem Grundstück.“<br />
Dass der gute alte „Drahtesel“ in Zukunft eine echte Renaissance<br />
erleben wird – auch darüber herrscht Einigkeit. Schon heute arbeiten<br />
zahlreiche Regierungen daran, ihre Städte fahrrad- und<br />
fußgängerfreundlicher zu machen. In New York wurden bereits<br />
etliche Straßen zurückgebaut, um Platz für Radwege zu machen.<br />
Langfristig soll hier ein 3.000 Kilometer langes Fahrradwegenetz<br />
entstehen. Ziel ist, Amerikas umweltfreundlichste Stadt zu werden.<br />
Aber auch andere amerikanische Städte ziehen nach: In Chicago<br />
gibt es bereits beheizte Parkhäuser für Fahrräder, die den Radlern<br />
darüber hinaus Duschmöglichkeiten und Werkstätten bieten. Auch<br />
in Europa spielt das Fahrrad in Mobilitätskonzepten eine größere<br />
Rolle als noch vor wenigen Jahren. So wurde in Kopenhagen bereits<br />
vor einigen Jahren eine grüne Welle für Fahrradfahrer eingeführt.<br />
In der dänischen Hauptstadt fahren rund 37 Prozent der<br />
Pendler mit dem Fahrrad zur Arbeit. Um bis zum Jahr 2015 einen<br />
Anteil von 50 Prozent zu erzielen –, so das erklärte Ziel der Stadtverwaltung<br />
–, werden jährlich umgerechnet bis zu 13 Millionen<br />
Euro in neue Radwege und Radfahrstreifen investiert. In Paris<br />
haben sich Mietfahrräder innerhalb kürzester Zeit zu einem beliebten<br />
Verkehrsmittel entwickelt: Seit zwei Jahren sind in der Seine-<br />
Metropole 20.000 Mietfahrräder im Einsatz, durch die der Radverkehr<br />
in der Stadt um 50 Prozent gesteigert werden konnte.<br />
„Vorwärts in die Vergangenheit“ könnte das Motto des Stadtverkehrs<br />
im Jahr 2050 also lauten: Wir werden mehr zu Fuß und mit<br />
dem Fahrrad unterwegs sein und (hoffentlich) bessere öffentliche<br />
Verkehrsmittel nutzen. In Saudi-Arabien wird diese Entwicklung<br />
noch etwas anders umschrieben: „Mein Vater ist auf einem Kamel<br />
geritten. Ich fahre mit dem Auto, mein Sohn fliegt mit dem Flugzeug,<br />
sein Sohn wird auf einem Kamel reiten“, besagt eine dortige<br />
Weisheit. Kein Grund zur Panik, findet Jeff Kenworthy: „Die Menschen<br />
werden von dem lebenswerteren Umfeld in unseren Städten<br />
nur profitieren.“ 7<br />
TEXT: CHRISTINA HÖHN<br />
Mobilität in Zukunftsvisionen<br />
Wie wir uns morgen bewegen war seit jeher ein zentrales<br />
Thema von Science-Fiction-Filmen, angefangen<br />
beim Stummfilmklassiker „Metropolis“: Dort prägen<br />
bereits Fahrbahnen auf vielen Ebenen das Stadtbild,<br />
während Flugzeuge durch die Hochhausschluchten<br />
jagen. Modernität drückte sich für Regisseur Fritz Lang<br />
eben unter anderem in einer möglichst umfassenden<br />
Mobilität aus. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.<br />
Besonders beliebt sind Fahrzeuge, die zugleich<br />
fliegen, wie etwa bei „Blade Runner“ oder „Das fünfte<br />
Element“. Vollendet wird das Ziel grenzenloser Mobilität<br />
in allen Dimensionen dann beispielsweise bei den<br />
Flugmobilen der Star-Wars-Helden. Und für ganz lange<br />
Reisen träumen die Science-Fiction-Macher gleich<br />
vom „Beamen“ und lösen so die Mobilitätsprobleme<br />
auf elegante Art.7<br />
89
perspektiven_essay<br />
REALE UND VIRTUELLE<br />
RÄUME<br />
Weltweite Vernetzung und Digitalisierung<br />
verlagern Begegnungen zwischen<br />
Menschen zunehmend vom physischen<br />
in den virtuellen Raum. Durch Internet,<br />
Smartphone, Navigationssysteme & Co.<br />
verändert sich unser Gefühl für Zeit und<br />
Raum. Der Wunsch nach echter Begegnung<br />
aber bleibt.<br />
Früher waren Räume greifbar. Es galt: Nah<br />
ist, was nah liegt. Die weltweite Vernetzung<br />
hat unsere Vorstellung von Nähe verändert.<br />
Im Zeitalter von Globalisierung und<br />
Internet kann nah sein, was eigentlich fern<br />
ist – andererseits aber auch fern, was eigentlich<br />
nah sein sollte. Innerhalb weniger<br />
Jahre hat die Digitalisierung der Welt un-<br />
sere Raum- und Zeiterfahrung wieder einmal<br />
völlig verändert.<br />
Vermeintlich kleiner ist die Welt schon<br />
durch das Auto, das Flugzeug, das Telefon<br />
und das Fernsehen geworden. Das Internet<br />
hat diesen Prozess exponentiell beschleunigt.<br />
Heute kann jeder in verschiedenen<br />
Räumen zur gleichen Zeit anwesend<br />
sein. Dadurch ist der Rest der Welt noch<br />
viel näher gerückt, hat sich die Bedeutung<br />
der Begriffe Nähe und Nachbarschaft gewandelt.<br />
Nähe wird heute anders definiert,<br />
zum Beispiel so: Wie viele Klicks brauche<br />
ich, um von meiner Homepage zur Homepage<br />
eines Freundes zu kommen, und wie<br />
viele Freunde liegen dazwischen, die uns<br />
verbinden?<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
Chatrooms ersetzen den Plausch im Café,<br />
Teammeetings werden per Videokonferenz<br />
abgehalten, an die Stelle des gemeinsamen<br />
Einkaufsbummels tritt der Besuch<br />
einer der vielen Internetseiten, auf denen<br />
es praktisch alles zu kaufen gibt. Gearbeitet<br />
wird online von zu Hause aus oder von<br />
jedem anderen Ort der Welt, das Lebensumfeld<br />
des neuen Freundes der Tochter<br />
wird per Google Streetview überprüft, Orientierungssinn<br />
braucht es im Großstadtdschungel<br />
jetzt auch nicht mehr – gedankt<br />
sei dem Navigationssystem. Ist der Raum<br />
der Zukunft virtuell? Wenn ja, was heißt<br />
das für unser Weltverständnis und Heimatgefühl<br />
– und für die Qualität unserer Beziehungen?<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
Die Frage nach dem Einfluss des Internets<br />
auf das Gefühl der örtlichen Verbundenheit<br />
und die sozialen Beziehungen wird häufig<br />
pessimistisch beantwortet. Vor allem wird<br />
davor gewarnt, dass die Kommunikation<br />
über das Internet zu oberflächlicheren sozialen<br />
Bindungen zwischen den Menschen<br />
führe, möglicherweise sogar zur Isolation<br />
und Entwurzelung des Einzelnen.<br />
Tatsächlich sollten die neuen elektronischen<br />
Kommunikationsmöglichkeiten, die<br />
sich seit Mitte der achtziger Jahre entwickelt<br />
haben, die Menschen aber nicht<br />
vereinzeln, sondern sie ganz im Gegenteil<br />
zusammenbringen. „Virtuelle Gemeinschaft<br />
– Soziale Beziehungen im Zeitalter<br />
des Computers“ hieß das Buch, mit dem<br />
der Amerikaner Howard Rheingold diese<br />
Idee im Jahr 1993 weltweit verbreitete.<br />
„Virtuelle Gemeinschaften sind soziale<br />
Zusammenschlüsse, die dann im Netz entstehen,<br />
wenn genug Leute diese öffentlichen<br />
Diskussionen lange genug führen<br />
und dabei ihre Gefühle einbringen, so dass<br />
im Cyberspace ein Geflecht persönlicher<br />
Beziehungen entsteht“, so Rheingolds<br />
Definition einer virtuellen Gemeinschaft,<br />
die man heute Online-, Net-, Cyber- oder<br />
E-Community nennen würde.<br />
Neue Beziehungsmuster<br />
Ganz sicher geht der Trend von der gruppen-<br />
hin zur netzwerkbasierten Gesellschaft.<br />
Und natürlich bedeutet das einen<br />
Wandel der sozialen Beziehungen. Persönliche<br />
Verbundenheit entsteht heute zunehmend<br />
durch gemeinsame Interessen. In<br />
unzählig vielen, gezielt auf die jeweilige<br />
Gruppe ausgerichteten Internetforen<br />
schweißen diese gemeinsamen Interessen<br />
jetzt Menschen selbst über Kontinente hinweg<br />
zusammen – Menschen, die in einer<br />
Welt ohne Internet nie voneinander gewusst<br />
hätten.<br />
Dadurch, dass man seine Gruppen nicht<br />
mehr wie traditionell zuerst in der Nachbarschaft<br />
oder der Dorfgemeinschaft sucht,<br />
lösen sich menschliche Gemeinschaften<br />
im Internetzeitalter aber keineswegs auf.<br />
Stattdessen findet ein Wandel statt in Richtung<br />
von Gemeinschaften, die sich an sozialen<br />
Netzwerken orientieren.<br />
Virtuelle Paralleluniversen<br />
Neben der realen Welt gibt es heute immer<br />
mehr virtuelle Paralleluniversen mit eigenen<br />
Umgangsregeln und Beziehungsformen.<br />
In sozialen Internetnetzwerken wie<br />
Facebook zum Beispiel sollte man den Begriff<br />
Freund besser in Anführungszeichen<br />
setzen – ein Freund ist hier jeder, der nicht<br />
explizit keiner ist. Das wiederum ist Teil der<br />
Verlockung: Das Potential für neue Freundschaften<br />
ist schier unglaublich. Weltweit<br />
sind mehr als 150 Millionen Menschen bei<br />
Facebook registriert, die Hälfte von ihnen<br />
ist angeblich täglich in diesem virtuellen<br />
„Lebensraum“ erreichbar.<br />
Doch der Wunsch nach echter Begegnung<br />
bleibt. Wer in einem dieser sozialen Netzwerke<br />
einen wirklichen „Seelenverwandten“<br />
kennenlernt, spätestens wer sich im<br />
Chat verliebt, wechselt schon bald vom virtuellen<br />
ins reale Leben. Greifbar und vor<br />
allem entwicklungsfähig wird jede zwischenmenschliche<br />
Beziehung immer noch<br />
erst durch die physische Begegnung. Genauso<br />
werden sicher auch die großen gemeinschaftlichen<br />
Räume in den Städten<br />
weiter eine wichtige Rolle spielen – Stadien<br />
und Konzertsäle genauso wie Gemeinschaftsveranstaltungen<br />
wie Skatenights,<br />
Marathons oder Theatervorstellungen.<br />
Und natürlich gemeinsame Unternehmungen<br />
mit echten Freunden – ohne Anführungszeichen.<br />
7<br />
TEXT: ANKE BRYSON |<br />
ILLUSTRATION: MARIO W<strong>AG</strong>NER<br />
91
92<br />
perspektiven_einblicke<br />
APP-CITY<br />
Unterwegs in einer neuen Stadt – das heißt sich orientieren, Sicherheitsrisiken erkennen, effiziente Wege<br />
planen und manchmal auch, sich dem Freizeitpotential widmen. Web 2.0, Navigationssysteme und<br />
andere Anwendungen der Augmented Reality helfen dabei. Doch wie verändert die „erweiterte Realität“<br />
unseren Blick auf neue Räume?<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
93
94<br />
perspektiven_einblicke<br />
AR-Applikationen für<br />
Geschäftsreisende<br />
Layar | www.layar.com<br />
Fotografiert der Nutzer die Umgebung, überblendet<br />
Layar das Kamerabild mit einer Folie, die die<br />
passenden Informationen dazu darstellt. Ob es sich<br />
dabei um architektonische Daten oder die Filialen<br />
einer Bank handelt, sucht der Nutzer aus. Web-2.0-<br />
Könnern steht es offen, selbst Folien zu erstellen.<br />
Aloqa | www.aloqa.com<br />
Bei Aloqa geht es weltweit um Nachtleben, Gastronomie,<br />
Partys und Shopping, also um alles rund<br />
um das Thema Freizeitgestaltung.<br />
Dopplr | www.dopplr.com<br />
Via Dopplr lässt sich mit wenigen Klicks feststellen,<br />
wer aus dem Freundes- oder Kollegenkreis<br />
gerade auf welcher Route unterwegs ist. Vor<br />
allem Vielreisende können damit überprüfen,<br />
ob im Nachbarabteil nicht gerade zufällig ein alter<br />
Bekannter sitzt.<br />
Wikitude | www.wikitude.org<br />
Der „World Browser“ ermöglicht es, Daten aus<br />
Wikipedia und diversen Web-2.0-Anwendungen auf<br />
Kamerafotos und Karten darzustellen.<br />
tagwhat | www.tagwhat.com<br />
Die Benutzer vergeben selbst sogenannte Tags<br />
zu selbstgewählten Orten und stellen sie anderen<br />
Tagwhat-Nutzern zur Verfügung.<br />
Mobeedo | www.mobeedo.com<br />
Mobeedo bietet eine Fülle von lokalen Informationen,<br />
von den besten Einkaufsmöglichkeiten bis<br />
zu historischen Daten zum ausgewählten Kartenausschnitt.<br />
Ubique<br />
Das Programm projiziert eine transparente Karte als<br />
Scheibe auf das Kamerabild. Dazu stehen Daten<br />
aus Wikipedia, Panoramio und aus der OpenStreet-<br />
Map-Datenbank zur Verfügung.<br />
Egal ob Caracas, Tokio oder Peking, im Grunde genommen<br />
ist es geradezu furchterregend einfach, eine<br />
fremde Stadt virtuell auf den Bildschirm eines Computers<br />
oder Smartphones zu zaubern: bei einer Stadtrundfahrt<br />
per Google Streetview oder Kontaktsuche<br />
über die sozialen Webnetzwerke Facebook oder Xing,<br />
während Applikationen wie Aloqa Gastronomie und<br />
Nachtleben (neben vielen anderen Aspekten) nach individuellen<br />
Vorlieben sortiert vorschlagen. Via Dopplr lässt sich schnell noch<br />
nachschauen, ob nicht schon einer da ist, den man kennt – ja vielleicht<br />
sogar zeitgleich im selben Zug sitzt!<br />
Verantwortlich für diese Revolution, die völlig andere Eroberung<br />
neuer Räume, ist das Web 2.0. Hinter diesem Schlagwort verbirgt<br />
sich ein ganzes Sammelsurium von kleinen Programmen und Plattformen,<br />
die es dem Internetnutzer ermöglichen, sich mit anderen<br />
Nutzern auszutauschen, selber Inhalte unproblematisch ins Netz zu<br />
stellen und individuell zusammengestellte Informationen mit zwei<br />
oder drei Mausklicks aus dem Internet zu beziehen. Ein ganz<br />
besonderer Teil des Web 2.0 ist die „Augmented Reality“ (AR), die<br />
„erweiterte Wirklichkeit“. Kleine Programme bestimmen dabei via<br />
Triangulation über drei Handymasten die genaue Position und<br />
Blickrichtung des Nutzers und liefern dem Smartphone in Echtzeit<br />
zusätzliche Informationen zum Sichtfeld. Die Realität wird also mit<br />
Einblendungen des im Web verfügbaren Wissens, zum Beispiel aus<br />
Wikipedia oder Google, unterlegt, erklärt – und interpretiert.<br />
Bei der Begegnung mit neuen Räumen, wie beispielsweise bei der<br />
Ankunft in einer neuen Stadt, sind die kleinen Helferprogramme<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
Vorreiter Japan<br />
In vielen Ländern Asiens übrigens kein unbekanntes<br />
Prinzip: Unterwegs in Japan? Selbst im kleinsten Gebirgsdorf<br />
liegt seit vielen Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit<br />
ein touristisches Pamphlet aus, das mit kleinen<br />
schwarzweißen Blöcken, den QR-Codes, versehen<br />
ist, die in codierter Form eine Webadresse enthalten:<br />
Schnell mal das Handy draufgehalten, schon werden die<br />
Infos von einer „Mobile Tagging Software“ verarbeitet,<br />
und die Infos und Karten erscheinen in Form von Webseiten<br />
auf dem Handybildschirm. 7<br />
erst einmal zweifellos praktisch. Die Frage „Wo liegt das Hotel?“ erfordert<br />
keine großflächigen Kämpfe mit dem Stadtplan, ein kleiner<br />
Tipp auf das Navigationsprogramm des Mobiltelefons genügt,<br />
schon spuckt die Maschine eine genaue Routenbeschreibung aus.<br />
Auch die Frage: „Welches Gebäude ist das?“ beantworten moderne<br />
Smartphones im Handumdrehen, sofern sie mit GPS, Kamera und<br />
Kompass ausgerüstet sind – mit Layar oder Wikitude, kleinen Browsern<br />
für Mobiltelefone, bei denen Bilder von der Kamera erfasst<br />
und in Echtzeit mit Zusatzinformationen zu dem Gezeigten unterlegt<br />
werden. Ein schneller Fingertipp, schon bekommt die Stadt Untertitel:<br />
Geschichtliche Hintergründe zu den umliegenden Gebäuden<br />
oder eine Lokalempfehlung lassen sich blitzschnell einblenden. In<br />
gar nicht so ferner Zukunft wäre es sogar denkbar, alle diese Funktionen<br />
mit einer Brille direkt in die persönliche Optik zu integrieren<br />
– und sogar die Gesichter fremder Menschen mit den Angaben aus<br />
Social-Networking-Datenbanken wie Facebook abzugleichen und<br />
damit automatisch auch die persönlichen Daten einzublenden!<br />
Komfort gegen Raumgefühl?<br />
All dies klingt praktisch – doch wie wirkt sich die Informationsflut<br />
auf die Wahrnehmung aus? Informationen gezielt aus dem Netz<br />
abzurufen bedeutet den Verzicht auf Zufälle und andere nicht planbare<br />
Situationen, wie die Irrfahrt durch eine fremde Stadt oder<br />
Zufallsbekanntschaften. Erweitert die „erweiterte Realität“ tatsächlich<br />
den Horizont, oder vermindern Geoapplikationen das Gefühl für<br />
Raum und Orientierung? Für den Münchner Psychologen und<br />
Wahrnehmungsforscher Ansgar Bittermann trifft dies nur bedingt<br />
zu: „Technische Neuerungen ergänzen häufig langfristig nicht die<br />
bereits vorhandenen Fähigkeiten, sondern ersetzen sie. Unter Umständen<br />
gehen dabei eigene Erfahrungsmöglichkeiten verloren,<br />
andererseits wird die Welt kleiner: Dank der neuen Anwendungen<br />
ist es leichter, mentale Reisen anzustoßen.“ Zudem sind die Auswirkungen<br />
beileibe nicht bei jedem Nutzer gleich, so Bittermann:<br />
„Wie es sich genau auf den Einzelnen auswirkt, hängt von vielen<br />
Faktoren und dem persönlichen Typ ab. Introvertierten Menschen<br />
geben die Programme die Sicherheit, den neuen Raum in Ruhe zu<br />
erleben. Für sie sind die Applikationen der Augmented Reality oft<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
der Schlüssel zum Genuss. Extrovertierte Menschen haben eine<br />
höhere Reizschwelle. Sie brauchen mehr Input und sehen dieselben<br />
Programme eher als Verlust von Abenteuer.“<br />
Professor Dr. Heinrich Bülthoff vom Max-Planck-Institut für Biologische<br />
Kybernetik in Tübingen sieht vor allem die Entwickler der Programme<br />
in der Pflicht: „Das Web 2.0 und seine Applikationen sind<br />
wie ein Schwimmbad für einen Nichtschwimmer. Man kann darin<br />
ertrinken, man kann aber auch schwimmen lernen. Es geht darum,<br />
intelligente Informationen zur Verfügung zu stellen und diese auch<br />
intelligent zu nutzen. Wir brauchen eine ganz neue Generation von<br />
Entwicklern, die die Daten nach den Erkenntnissen der Kognitionsforschung<br />
aufbereiten – und zum Beispiel eine Karte integrieren,<br />
damit der Betrachter trotz Anweisungen den Überblick nicht verliert.“<br />
Insgesamt plädiert Prof. Bülthoff für einen unaufgeregten<br />
Umgang mit den neuen Medien: „Im Grunde genommen reist man<br />
mit den neuen Applikationen auch nicht anders als mit dem Reiseführer.<br />
Es sind die gleichen Informationen, die der Reisende abruft,<br />
nur ein wenig bequemer und wahrscheinlich auch aktueller.“<br />
Die Fremde trainieren<br />
Geht es nach Ansgar Bittermann, sind vor allem die Menschen entscheidend<br />
bei der Begegnung mit einer neuen Stadt. Der Psychologe<br />
entwickelte ein Paket von Online- und Mobiltrainings<br />
(www.globalemotion.de), die es dem Betrachter ermöglichen,<br />
Menschen aus fremden Kulturen nicht nur schneller unterscheiden<br />
zu lernen, sondern auch Emotionen besser zu erkennen. Mit einem<br />
klaren Ziel: „Der Kontakt mit ‚fremden‘ Gesichtern verunsichert<br />
Menschen, und wer unsicher ist, erwartet selten Gutes. Durch<br />
unser Programm wecken wir eine positivere Erwartung. Wir machen<br />
aus Fremden, also potentiellen ‚Feinden‘, Bekannte. Zudem<br />
brechen dadurch fremde, vermeintlich homogene Gruppen auf.<br />
Erst wenn man beispielsweise Chinesen als Individuen und nicht<br />
als geschlossene Gruppe wahrnimmt, ergibt sich eine Chance, ein<br />
Teil dieser Umwelt zu werden. Im Grunde genommen geben wir<br />
China ein Gesicht. Allein dadurch ändern viele Menschen ihre<br />
Haltung.“ Das wäre dann wirklich eine „erweiterte“ Realität. 7<br />
TEXT: FRANÇOISE HAUSER<br />
95
96<br />
perspektiven_interview<br />
BAUTEN<br />
FASZINIERENDE<br />
Ein Gespräch mit dem Insektenforscher Bert Hölldobler über Klimahäuser und<br />
Belüftungssysteme der Ameise, die Nachteile hierarchischer Organisationen und<br />
Diskriminierung bei Insekten und Menschen<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
Bert Hölldobler gilt als internationaler<br />
Spitzenforscher auf dem Gebiet der<br />
experimentellen Verhaltensphysiologie<br />
und Soziobiologie. Seine Arbeiten<br />
über soziale Insekten, besonders über<br />
Ameisen, brachten viele neue Erkenntnisse<br />
zur chemischen Kommunikation<br />
und zum Orientierungssinn von Tieren,<br />
zur Dynamik von Sozialstrukturen<br />
sowie zur Evolution von Tiergemeinschaften.<br />
Seit seiner Emeritierung<br />
2004 forscht Hölldobler an der<br />
Arizona State University in Tempe bei<br />
Phoenix, Arizona, wo er das „Center<br />
for Social Dynamics and Complexity“<br />
mitgegründet hat. Er gewann zusammen<br />
mit Edward O. Wilson den Pulitzer-Preis<br />
1991 für „The Ants“ (Die<br />
Ameisen). Zuletzt veröffentliche er –<br />
wiederum gemeinsam mit Edward Wilson<br />
– das Buch „The Superorganism:<br />
The Beauty, Elegance, and Strangeness<br />
of Insect Societies“ (auf Deutsch<br />
unter dem Titel „Der Superorganismus.<br />
Der Erfolg von Ameisen, Bienen,<br />
Wespen und Termiten“ erschienen).
98<br />
perspektiven_interview<br />
Herr Professor Hölldobler, sind Ameisen die Architekten der Tierwelt?<br />
Ich denke nicht, dass der Begriff Architekt ganz passend ist. Aber viele<br />
Ameisen- und Termitenarten errichten ganz erstaunliche Gebilde. Die<br />
komplexesten Bauten, die wir bislang kennen, sind diejenigen der Blatt-<br />
»Ähnlich, wie wir Bauwerke anhand ihres Stils bestimmen können,<br />
lassen sich Ameisenarten an ihren Nestern identifizieren.«<br />
schneiderameisen. Das sind riesige Gebilde, die bis acht Meter tief<br />
unter die Erde reichen und eine Fläche von 50 Quadratmetern einnehmen<br />
können. Dazu gehören auch bis zu 90 Meter lange Tunnel, die direkt<br />
aus dem Bau in die Futtergebiete führen. Das ist wirklich faszinierend.<br />
Es gibt jedoch nach wie vor auch noch viele Rätsel bei solchen<br />
Bauprojekten aus der Tierwelt. So ist völlig unklar, wie es Ameisen gelingt,<br />
unterirdisch kerzengerade Tunnel zu bauen. Hier beginnen wir erst<br />
jetzt mit der Forschung.<br />
Sehen die Nester einer bestimmten Ameisenart immer gleich aus?<br />
Zumindest gleichen sich die Nester einer bestimmten Art so sehr, dass<br />
Nestbauspezialisten unter den Ameisenforschern allein anhand des<br />
Aussehens eines Nestes die Art bestimmen können. Das gehört zu den<br />
Dingen, die uns Biologen an Ameisen so fasziniert: Wenn wir Arten beschreiben,<br />
schauen wir uns gewöhnlich<br />
beispielsweise die Merkmale<br />
ihrer Körper an. Aber hier<br />
können wir anhand des Produktes<br />
eines Tieres sagen, welche Art<br />
das hergestellt hat – ähnlich, wie<br />
wir bei menschlichen Bauwerken anhand ihres Stils die Entstehungszeit<br />
bestimmen können. Die Unterschiede bei uns Menschen sind allerdings<br />
vorwiegend zivilisatorisch bedingt, während die Ameisen sich mit ihren<br />
Bauten immer so gut wie möglich an ihren Lebensraum anpassen.<br />
Wie sieht diese Anpassung aus?<br />
In Europa etwa gibt es diese herrlichen großen Hügelbauten der Waldameisen.<br />
Das sind ganz raffinierte Bauwerke, die bis über zwei Meter<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
hoch werden. Wir sehen ja bloß den Hügel. Wenn man aber nach einem<br />
starken Regen solch ein Nest öffnet, sieht man, dass der Regen nur wenige<br />
Zentimeter in das Nest eindringt. Das heißt, die Zweiglein und Nadeln<br />
sind zu einem echten Schutzdach zusammengelegt. Die Nester<br />
sind sogar richtiggehend isoliert.<br />
Warum?<br />
So können die Ameisen nach der Winterpause, wenn es draußen noch<br />
relativ kühl ist, einen eigenen Wärmehaushalt aufbauen, also quasi heizen:<br />
Speichertiere verbrennen dafür ihren Fettkörper und können so<br />
Wärme erzeugen, die dank der guten Isolation im Hügel bleibt. Diese<br />
Technik – die im Grunde eine Art Klimahaus ist, das die Natur auf ihre<br />
eigene Art erfunden hat – ermöglicht es den hügelbauenden Ameisen,<br />
bis fast hinauf an den Polarkreis zu siedeln.<br />
Welche weiteren baulichen Leistungen der Ameisen faszinieren Sie<br />
besonders?<br />
Ein weiteres Beispiel sind die Belüftungssysteme, die Blattschneiderameisen<br />
entwickelt haben. Seit rund zwölf Millionen Jahren leben diese<br />
Ameisen in einer Symbiose mit Pilzen und anderen Mikroorganismen.<br />
Die von den Ameisen regelrecht gezüchteten Pilze produzieren allerdings<br />
tief unten im Nest eine Menge Kohlendioxid – und das muss hinaus.<br />
Das kann nur dank der Nestarchitektur gelingen, indem die wärmere<br />
Luft zusammen mit Kohlendioxid hinausströmt und kältere Luft<br />
einsinkt. Wie das genau funktioniert, wissen wir noch nicht. Ein Aspekt<br />
sind wohl die Abfallkammern für die Pilzreste im Nest: Diese sind um<br />
einige Grade wärmer und treiben dadurch offensichtlich die warme Luft<br />
nach oben.<br />
Sind feste Behausungen eine Voraussetzung dafür, dass sich sozial<br />
hochorganisiertes Leben überhaupt entwickeln kann?<br />
Bei hochentwickelten sozialen Systemen gibt es meist auch relativ komplexe<br />
Neststrukturen. Aber das muss nicht so sein. Die Heeresameisen<br />
in Afrika und Südamerika haben überhaupt keine festen Nester, sondern<br />
formen mit ihren Körpern Biwaks, etwa in Baumhöhlen – sie sind<br />
spezialisierte Nomadenjäger und zugleich sozial hoch entwickelt.<br />
Wie entscheiden Ameisen, ob und wohin sie umziehen?<br />
Die Entscheidungen der Ameisen werden von außen diktiert. So gibt es<br />
Arten mit kleinen Kolonien von vielleicht nur 100 Ameisen, die in hohlen<br />
Eichen leben. Solche Nester gehen aber relativ schnell kaputt –<br />
dann müssen die Ameisen umziehen. Jetzt folgt ein raffinierter Prozess,<br />
der unglaublich an unsere Art erinnert, kollektive Entscheidungen zu<br />
fällen: das sogenannte Quorum Sensing. Die Ameisen senden Späher<br />
aus, die unterschiedliche Standorte erkunden. Wenn sich dann eine<br />
bestimmte – kritische – Anzahl von Spähern in einem möglichen Nest<br />
versammelt, zieht die gesamte Kolonie dorthin um: Das Quorum, also<br />
die Masse, entscheidet. Über solche Entscheidungsprozesse in der<br />
Ameisenwelt ist aber längst noch nicht alles bekannt.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
Gibt es noch andere Beispiele dafür, wie Ameisen oder andere<br />
sozial lebende Insekten Lösungen für Probleme gefunden haben,<br />
die auch uns beschäftigen?<br />
Eine ganze Menge. So hatten wir kürzlich ein gemeinsames Symposium,<br />
an dem unter anderem Designer, Architekten und Computerspezialisten<br />
beteiligt waren. Die Architekten interessierten sich etwa dafür,<br />
wie es Termiten gelingt, besonders feste und dennoch luftdurchlässige<br />
Wände zu errichten. Der Sprecher einer Fluggesellschaft schilderte, wie<br />
sein Unternehmen bei der Organisation des Gepäcktransports an Flug-<br />
»Hoch entwickelte Gesellschaften arbeiten<br />
nicht hierarchisch.«<br />
häfen von Ameisen gelernt hat, die ja ihr Futter aus unendlich vielen<br />
Richtungen in die Zentrale, das Nest, transportieren. Ein Betrieb in<br />
Norditalien wiederum hat sich bei futtersuchenden Ameisen abgeschaut,<br />
wie er seine Transportfahrzeuge so organisiert, dass sie Waren<br />
auf den jeweils günstigsten Wegen liefern. Und Telefongesellschaften in<br />
Großbritannien und Frankreich können Rufverbindungen in ihren Netzwerken<br />
schneller herstellen, indem sie sogenannte virtuelle chemische<br />
Signale an Netzwerkweichen deponieren – genau wie es Ameisen mit<br />
echten chemischen Signalen tun, um Netzgenossen den besten und<br />
kürzesten Weg beispielsweise zu einem Futterplatz zu weisen.<br />
Ist das vernetzte Arbeiten der Ameisen ein Vorbild für uns?<br />
Zumindest lautet eine unserer Erkenntnisse: Hochentwickelte Gesellschaften<br />
arbeiten nicht hierarchisch, sondern nur die primitiven sozialen<br />
Systeme sind hierarchisch organisiert – und diese Kolonien wachsen<br />
nicht sehr stark, sind nicht sehr effizient. Die hochentwickelten<br />
sozialen Systeme bei Ameisen arbeiten hingegen wie Netzwerke oder<br />
3<br />
99
100<br />
3<br />
Cluster. Manche Ökonomen sind erstaunt darüber, dass die Natur die<br />
Idee von Clustern, die netzwerkartig verbunden sind und nicht von einer<br />
direktiven Kraft gesteuert werden, bereits seit Millionen Jahren sehr<br />
erfolgreich verwirklicht hat. Aber nicht in jeder Hinsicht sollten wir uns<br />
an der Welt der Ameisen ein Vorbild nehmen – es gibt für mich als Soziobiologen<br />
auch eine bittere Wahrheit, die ich aus meinen Forschungen<br />
ziehe.<br />
Welche?<br />
Wo immer es in der Natur hochentwickelte soziale Systeme mit großer<br />
Kooperationsbereitschaft innerhalb der Gemeinschaft gibt, sind auch<br />
immer die Diskriminierung und der Ausschluss von Mitgliedern anderer<br />
Gemeinschaften derselben Art besonders hoch. Ganz einfach, weil<br />
Gemeinschaften und nicht mehr Individuen um limitierte Ressourcen<br />
konkurrieren. Ein solches System, in dem die Gemeinschaft alles und<br />
das Individuum nichts zählt, sollten wir nicht anstreben.<br />
Hat Diskriminierung auch beim Menschen einen biologischen<br />
Hintergrund?<br />
Zumindest, so glaube ich, schlummert die Tendenz dazu noch immer in<br />
uns, als ein Erbe des archaischen Menschen. Für den hatte die Diskriminierung<br />
der Mitglieder anderer Gemeinschaften einen Anpassungswert.<br />
Das müssen wir erkennen und lernen, mit diesem evolutionären<br />
Erbe umzugehen. Um es mit dem Philosophen David Hume zu sagen:<br />
Was ist, diktiert nicht, was sein sollte. Wir sind soziale Wesen, Primaten.<br />
Aber unsere Gemeinschaft ist, verglichen mit der der Ameisen, un-<br />
»Die Entscheidungsprozesse bei Ameisen<br />
erinnern unheimlich an uns.«<br />
glaublich primitiv. Was uns komplex macht, ist das, was wir kulturell geschaffen<br />
haben. Ethik und Moral benötigen keine evolutionsbiologische<br />
Rechtfertigung. Vielmehr muss die Moralphilosophie versuchen, dieses<br />
Erbe zu überwinden. Wir sollten versuchen, von klein auf die Vielfalt des<br />
Lebens und der Menschen zu zelebrieren. 7<br />
DAS GESPRÄCH FÜHRTE ALEXANDER SCHNEIDER.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
kreuz & quer<br />
Fünf Fragen – fünf Lösungen – fünf Gewinne<br />
Von spektakulären Großbauten und Symbolen der Macht bis hin zu<br />
U-Bahnen, Wasserleitungen und Kanalisationen: Das Grundbedürfnis<br />
des Menschen, ein festes Dach über dem Kopf zu haben, drückt sich<br />
in ganz unterschiedlichen Facetten aus. Wir haben fünf Aspekte dieses<br />
weiten Feldes genauer beleuchtet und stellen Ihnen hierzu jeweils eine<br />
Frage. Wer die richtigen Lösungen findet, kann mit etwas Glück zu den<br />
Gewinnern unseres Preisrätsels gehören. Und so geht’s: Zu jeder Frage<br />
gibt es nur ein Lösungswort. Lösen Sie die Fragen in beliebiger Reihenfolge,<br />
und tragen Sie die jeweiligen Lösungswörter in das Kreuzworträtselraster<br />
ein – wo, das müssen Sie selbst herausfinden.<br />
1<br />
Unter allen Einsendern einer<br />
richtigen Lösung verlosen wir<br />
fünf Gutscheine im Wert<br />
von je 100 Euro für amazon.de.<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />
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3 10<br />
2<br />
8<br />
6<br />
7 9<br />
Setzen Sie die Buchstaben, die in mit Ziffern versehenen Kästchen<br />
stehen, in die richtige Reihenfolge, und Sie erhalten das Lösungswort.<br />
Schicken Sie eine E-Mail mit dem Lösungswort an:<br />
thyssenkrupp_magazin@faz-institut.de.<br />
Oder schicken Sie eine Postkarte an:<br />
F.A.Z.-Institut<br />
Redaktion <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>Magazin</strong><br />
Postfach 20 01 63<br />
60605 Frankfurt am Main<br />
Einsendeschluss ist der 31. Oktober 2010. Alle Gewinner werden schriftlich<br />
benachrichtigt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />
Und nun viel Spaß!<br />
Frage_1<br />
Das Centre Pompidou war sein Durchbruch.<br />
Seither hat der Architekt aus<br />
Genua fast überall auf der Welt Spuren<br />
hinterlassen, unter anderem in Osaka,<br />
Parma und Berlin. Kürzlich wollte er in<br />
Mailand 90.000 Bäume pflanzen –<br />
der Dirigent Claudio Abbado hatte<br />
seine Rückkehr an die Scala an diese<br />
Bedingung geknüpft. Diesen Plan<br />
konnte der Architekt nicht umsetzen.<br />
Mailand leide an Geldnot, gab die<br />
Bürgermeisterin an. Also stürzte sich<br />
der Gesuchte in ein anderes Projekt:<br />
In London arbeitet er am höchsten<br />
Wolkenkratzer Westeuropas. Gesucht<br />
ist der Nachname.<br />
Frage_2<br />
London hält den Weltrekord: Das<br />
U-Bahn-Netz umfasst 408 Streckenkilometer.<br />
Kein Wunder, dass sich ein<br />
Wettbewerb gerade dort durchsetzen<br />
konnte: Beim sogenannten Tube<br />
Challenge müssen die Teilnehmer in<br />
kürzester Zeit alle U-Bahn-Stationen<br />
ansteuern – das sind derzeit 275. Ins<br />
Herz geschlossen haben die Londoner<br />
ihre Tube von Anfang an. Schon Mitte<br />
des 19. Jahrhunderts ächzte die Stadt<br />
unter dem Verkehr. Am 10. Januar<br />
1863 konnten die Pendler aufatmen:<br />
Zwischen Farringdon und Paddington<br />
wurde die erste U-Bahn-Linie eröffnet.<br />
Wie lautet der Name dieser „Line“?<br />
Auflösung der Seite<br />
„forum_wissens_wert“:<br />
Die gesuchte Person<br />
aus „Wer war’s“: Le Corbusier<br />
Frage_3<br />
In keinem anderen Film spielt die<br />
„Stadt unter der Stadt“ eine derart<br />
große Rolle wie in dem Klassiker<br />
„Der dritte Mann“. Orson Welles als<br />
Bösewicht Harry Lime flüchtet am<br />
Schluss des Streifens durch die<br />
Kanalisation von Wien – und wird<br />
schließlich von seinem alten Freund<br />
Holly Martins erschossen. Denn<br />
Martins hatte entdeckt, dass Lime<br />
gestreckte Medikamente verschob,<br />
die Kinder dauerhaft schädigten. Mit<br />
welcher Arznei handelte Harry Lime<br />
im Wien der Nachkriegszeit?<br />
Frage_4<br />
Ihr Gesamtgewicht beträgt etwa 180<br />
Tonnen. Sie wirkt elegant und<br />
zerbrechlich. Kein Wunder, denn die<br />
Glaspyramide am Eingang des Louvre<br />
in Paris besteht aus vielen Hunderten<br />
rautenförmigen und dreieckigen Glassegmenten.<br />
Vorbild für das Bauwerk,<br />
das der chinesisch-amerikanische<br />
Architekt Ieoh Ming Pei zwischen<br />
1985 und 1989 erschuf, war die große<br />
Pyramide von Gizeh. Wer erteilte dem<br />
Architekten den Auftrag, mit dieser<br />
Pyramide einen neuen Eingang für<br />
das größte Museum der Welt zu entwerfen?<br />
Gesucht ist der Nachname.<br />
Frage_5<br />
Städtebau und Versorgung waren<br />
schon immer eng miteinander verknüpft.<br />
In puncto Wasserversorgung<br />
haben die Römer mit ihren Aquädukten<br />
ein besonderes Erbe hinterlassen,<br />
sowohl in technischer als auch in<br />
architektonischer Hinsicht. Bis zu<br />
100 Kilometer weit führten diese<br />
Wasserleitungen meist unterirdisch,<br />
teilweise aber auch über gigantische<br />
Brücken in größere Städte des Römischen<br />
Reichs. Eine der am besten<br />
erhaltenen Wasserbrücken aus der<br />
Römerzeit ist in Südfrankreich zu finden<br />
und misst rund 49 Meter Höhe.<br />
Nach welchem französischen Département<br />
ist sie benannt?<br />
101
102<br />
rückblick<br />
Globale Ansichten können der Blick des<br />
deutschen Fotografen auf die Gastheimat<br />
Shanghai sein oder das Streitgespräch<br />
zwischen Globalisierungsbefürworter und<br />
Globalisierungsskeptiker. Dieses <strong>Magazin</strong><br />
handelt genauso von interkulturellen<br />
Grenzgängen wie von grenzüberschreitendem<br />
Brückenbau. Es geht um Wissenschaftler<br />
und Entwicklungsingenieure,<br />
die der Technik in einer zunehmend vernetzten<br />
Welt durch neue Verfahren und<br />
Werkstoffe neue Wege öffnen und helfen,<br />
globale Probleme wie die Wasserknappheit<br />
zu bekämpfen, aber auch um den<br />
Eintritt in neue Märkte. Internationalität<br />
bedeutet, gemeinsame Ansätze über<br />
Ländergrenzen hinweg zu verfolgen und<br />
gemeinsame Ziele auf unterschiedlichem<br />
Wege zu erreichen – und dabei voneinander<br />
zu lernen. 7<br />
impressum<br />
Herausgeber<br />
<strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>AG</strong>, Dr. Jürgen Claassen,<br />
<strong>ThyssenKrupp</strong> Allee 1,<br />
45143 Essen,<br />
Telefon: +49 201 844-0<br />
Projektleitung bei <strong>ThyssenKrupp</strong>: Barbara Scholten<br />
Der Inhalt der Beiträge gibt nicht in jedem Fall<br />
die Meinung des Herausgebers wieder.<br />
Nachdruck nur mit Quellenangabe und Belegexemplar.<br />
Umwelt ist alles, was uns umgibt und<br />
unser Leben bestimmt – der Klimawandel,<br />
den ein bekannter Forscher in diesem<br />
<strong>Magazin</strong> kommentiert, genauso wie die<br />
Elemente Sonne, Wind und Wasser als<br />
gleichermaßen nützliche und unberechenbare<br />
Naturkräfte und der demographische<br />
Wandel genauso wie die vielfältigen<br />
„Stressoren“, die unser soziales Umfeld<br />
beeinflussen. Ein Stahlwerk, das den<br />
Umweltschutz nicht an den Schluss stellt,<br />
ist ebenso Thema wie Kulturdolmetscher,<br />
die in einer globalisierten Umwelt für<br />
den richtigen Ton sorgen. Wie wir uns<br />
den Umweltherausforderungen unserer<br />
Zeit stellen, zeigen vielfältige technische<br />
Lösungen wie das Speichern von Treibhausgasen,<br />
die Energiegewinnung aus<br />
Pflanzen oder der Schutz vor Naturkatastrophen.<br />
7<br />
Das aktuelle <strong>Magazin</strong> und bereits erschienene <strong>Magazin</strong>e können Sie unter www.thyssenkrupp.com<br />
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Verlag und Redaktion: F.A.Z.-Institut für Management-, Markt- und<br />
Medieninformationen GmbH, Mainzer Landstraße 199,<br />
60326 Frankfurt/Main, Telefon: +49 69 75 91-0, Fax: +49 69 75 91-1966<br />
Geschäftsführung: Volker Sach, Dr. André Hülsbömer<br />
Projektleitung: Ludger Kersting<br />
Redaktion: Anke Bryson (verantwortlich), Alexander Schneider<br />
Art Director: Wolfgang Hanauer<br />
Autoren: Sarah Bautz, Anke Bryson, Christina Höhn, Christoph Neuschäffer,<br />
Tim Schröder, Alexander Schneider, Margit Uber, Jan Voosen, Inka Wichmann<br />
TK<br />
Perspektiven haben heißt Zukunft haben,<br />
Perspektiven aufzeigen heißt Ziele finden,<br />
für die sich der Einsatz lohnt, neue Impulse<br />
geben, Zukunftspotentiale identifizieren<br />
und entwickeln – mit technischen Lösungen<br />
für die drängendsten Herausforderungen<br />
der Menschheit genauso wie durch<br />
die Förderung eines Umfelds, das offen ist<br />
für neue Ideen und in dem jeder Einzelne<br />
seine Potentiale ausschöpfen kann. Von<br />
der Idee über die Innovation bis zur Technikfolgenabschätzung<br />
– in diesem <strong>Magazin</strong><br />
kommen Tüftler genauso zu Wort wie<br />
Zukunftsforscher, geht es um Produkte,<br />
die unseren Alltag revolutionieren können,<br />
genauso wie um die Gestaltung der<br />
Lebensräume der Zukunft. Wie sich ein<br />
Perspektivwechsel auf unser Wertesystem<br />
auswirken kann, berichtet der Astronaut<br />
Thomas Reiter. 7<br />
Bildquellen: archinform (S. 92–95), CAEPSELE (S. 22–23), Cinetext (S.84–<br />
89), CPG Group (S. 72), Phil Fisk (S. 14–15, 19), Fnoxx (S. 8–9), Fotolia.com<br />
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36–37, 92–93), layar (S. 92–95), livingarchitecture.com (S. 16–18, 20–21),<br />
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28–35, 40–45), Stadtbildstelle Essen (S. 62–65), The Image Bank (S. 96–97),<br />
Frank Vinken (S. 73), wikitude (S. 92–95)<br />
Litho: Goldbeck Art, Frankfurt/Main, Druck: Kuthal Druck, Mainaschaff<br />
TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni
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