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Magazin - ThyssenKrupp Elevator AG

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magazin<br />

TK<br />

Architektur


Gelebte Offenheit<br />

Fenster bieten Durchblick und Einblick,<br />

stehen für Offenheit und Transparenz,<br />

für eine Einladung zum Dialog. Genauso<br />

wie der weitläufige Campus des<br />

<strong>ThyssenKrupp</strong> Quartiers, der hier<br />

durch das ausgestanzte „Landschaftsfenster“<br />

des neuen Verwaltungssitzes<br />

erschlossen wird.<br />

Der neue Hauptsitz von <strong>ThyssenKrupp</strong><br />

in Essen ist Identifikationssymbol<br />

und Ausdruck der gelebten Unternehmenskultur<br />

in einem. Architektur<br />

und städtebauliches Konzept des<br />

Quartiers stehen gleichermaßen für<br />

Innovation und Zukunftsorientierung,<br />

Nachhaltigkeit und gesellschaftliche<br />

Verantwortung.<br />

Mit dem neuen Quartier erwacht ein<br />

lange brachliegendes, 230 Hektar<br />

großes Areal mitten im Herzen Essens<br />

zum Leben. Als Kernstück eines neu<br />

entstandenen Stadtteils verkörpert<br />

der offene Campus das dynamische<br />

Wechselspiel zwischen historischer<br />

Standortverbundenheit und gelebter<br />

Internationalität genauso wie den<br />

Wunsch nach Dialog und Bewegung.<br />

Die Gebäude des Quartiers sind<br />

rund um eine zentrale Wasserachse<br />

angelegt und laden – ebenso wie der<br />

neu entstandene Krupp-Park – zur<br />

Begegnung ein.<br />

Lesen Sie mehr zum Hintergrund und<br />

zur Bedeutung des Quartier-Neubaus<br />

auf den Seiten 46–65.


Hauptstadt der Hoffnung<br />

In Brasília konnten die Corbusier-<br />

Schüler Lúcio Costa und Oscar Niemeyer<br />

Ende der fünfziger Jahre einen<br />

Traum in Stahlbeton gießen: die Utopie<br />

einer funktionalen Stadt. Die innerhalb<br />

von nicht einmal vier Jahren<br />

aus dem Steppenboden gestampfte<br />

neue Hauptstadt Brasiliens verkörperte<br />

ein hehres Ziel: den klaren Bruch<br />

mit den chaotischen Zuständen und<br />

prägenden Klassenunterschieden<br />

in anderen brasilianischen Städten.<br />

Der französische Schriftsteller André<br />

Malraux nannte Brasília die „Hauptstadt<br />

der Hoffnung“. Die Stadt wurde<br />

nach dem Campus-Prinzip angelegt,<br />

mit getrennten Quartieren für Wohnen,<br />

Arbeiten und Freizeit, zwischen denen<br />

die Stadtbewohner auf breiten Autobahnen<br />

pendeln sollten. Aus der Luft<br />

betrachtet, gleichen die Umrisse<br />

Brasílias einem Flugzeug. Den Rumpf<br />

bildet die sogenannte monumentale<br />

Achse, an der die wichtigsten öffentlichen<br />

Gebäude stehen. Die beiden<br />

Flügel setzen sich aus über 100 sogenannten<br />

Superquadras zusammen,<br />

in sich geschlossenen Einheiten von<br />

elf bis zwölf Wohnblöcken, in denen<br />

jeweils bis zu 5.000 Personen leben<br />

können. Als architektonisches Projekt<br />

zählt Brasília heute zum Weltkultur-<br />

erbe der Unesco. Als urbaner Lebensraum<br />

ist es häufig kritisiert worden.<br />

Auf das explosive Wachstum Brasílias<br />

waren zumindest die öffentlichen<br />

Wege und Verkehrsmittel nicht ausgerichtet.<br />

Seit ihrer Einweihung vor<br />

fast genau 50 Jahren, am 21. April<br />

1960, ist die ursprünglich für 500.000<br />

Menschen geplante Stadt auf inzwischen<br />

2,6 Millionen Einwohner angewachsen.<br />

Diese aber schätzen Brasília<br />

für seine im Landesvergleich hohe<br />

Lebensqualität und vor allem seine<br />

saubere Luft, die auch eine Folge des<br />

vergleichsweise geringen Verkehrsaufkommens<br />

ist.


»Erst die Möglichkeit, einen Traum zu verwirklichen,<br />

macht unser Leben lebenswert.«<br />

Paulo Coelho, Schriftsteller


Ohne Licht ist alles nichts<br />

Licht interpretiert Körper und Räume, macht sie erlebbar und verleiht ihnen Farbe. Es fügt der Architektur eine vierte Dimension<br />

hinzu. James Turrell verwandelt Licht in Form. In seinen Werken setzt sich der einflussreichste Lichtkünstler der Gegenwart<br />

mit den vielfältigen Erscheinungsformen des natürlichen und künstlichen Lichts auseinander. Weltweit hat Turrell sogenannte<br />

„Skyspaces“ geschaffen, in denen er sich intensiv mit der Beziehung zwischen Licht und Raum beschäftigt. Für den amerikanischen<br />

Künstler ist Licht ein Werkstoff, den er formen und erfahrbar machen kann. Dass ihm dies gelingt, zeigen die häufigen<br />

Versuche von Betrachtern, das Licht seiner Installationen anzufassen.


»Lichter und Schatten enthüllen die Formen.«<br />

Le Corbusier, schweizerisch-französischer<br />

Architekt (1887–1965)


Entwurf einer humanistischen Weltsicht<br />

Die toskanische Stadt Pienza, die der Humanist Enea Silvio Piccolomini als Papst Pius II. (1458–1464)<br />

an seinem Geburtsort errichten ließ, gilt als die erste Idealstadt der Renaissance. Zum ersten Mal öffnet<br />

sich hier der städtische Binnenraum einer Piazza zur offenen Landschaft, zum ersten Mal in der<br />

Geschichte der neueren Baukunst werden hier Architektur und Natur als ein gegensätzliches und<br />

zugleich komplementäres Gegenüber begriffen. Ausgehend von Pienza, verbreitete sich die sogenannte<br />

humanistische Stadtplanung in andere italienische Städte und schließlich über ganz Europa.


»Die Qualität von Städten und Plätzen lässt sich am Reißbrett entwerfen,<br />

ihre Schönheit kommt durch die Zeit.«<br />

Renzo Piano, italienischer Architekt


»Wir wollten einen Raum schaffen, der Bewegung stimuliert, den Austausch von Wissen<br />

fördert und neue, immer wieder auch überraschende Möglichkeiten für den Einsatz<br />

innovativer Werkstoffe und Technologien aufzeigt.«


editorial<br />

Raum für Zukunft<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

Fast alles, was wir tun, tun wir in Räumen, die von Menschen geschaffen wurden. Wer<br />

Bauten und Städte gestaltet, gibt Menschen Raum für Begegnung und Austausch, für Entwicklung<br />

und Zukunft. Architektur ist damit im besonderen Maße vom Wesen der Gesellschaft bestimmt, in<br />

der sie entsteht: Architekten und Raumplaner gestalten Umwelt aus unseren Erwartungen heraus.<br />

Sie können uns aber auch mit neuen Ideen inspirieren und damit verändern.<br />

Angesichts dieser Herausforderung kann sich niemand dem weltweiten Wandel entziehen. Heute<br />

schlagen sich neue globale Entwicklungen und ein neues Verständnis von nachhaltiger Architektur,<br />

Städte- und Landschaftsplanung in vielfältigen und komplexen Anforderungen an Architekten<br />

und Raumplaner nieder. So wird weltweit um eine nachhaltige Nutzung der begrenzten räumlichen<br />

Kapazität und Energieressourcen unseres Planeten gerungen, arbeiten Architekten und Stadtplaner<br />

an der Lösung der drängendsten räumlichen Herausforderungen unserer Zeit.<br />

Wie finden wachsende Bevölkerungen in Zukunft genug Platz zum Leben und Arbeiten? Wie lässt<br />

sich eine Zersiedelung verlassener Landstriche vermeiden? Können wir<br />

das Bedürfnis nach einem Leben im Einklang mit der Natur auch in der<br />

Stadt verwirklichen? Architektur muss sich dem demographischen Wandel<br />

und einschneidenden Umweltveränderungen stellen und neue Konzepte<br />

entwickeln, die auch unter diesen Bedingungen Raum für Zukunft schaffen. Zugleich eröffnet der<br />

rapide technologische Fortschritt aber auch ungeahnte Möglichkeiten.<br />

Dass technologischen Innovationen bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen eine<br />

entscheidende Bedeutung zukommt, ist längst klar. Auch in der Architektur unterstützen sinnvolle,<br />

innovative Technologien das Streben nach Lebensqualität, Wirtschaftlichkeit und Zukunftsfähigkeit.<br />

Das neue Quartier des <strong>ThyssenKrupp</strong> Konzerns in Essen, das unsere Mitarbeiter in diesen Tagen<br />

beziehen, soll hier bewusst Zeichen setzen. Mit diesem für uns einzigartigen Bauprojekt haben<br />

wir einen Raum geschaffen, der Bewegung stimuliert, den Austausch von Wissen fördert und<br />

neue, immer wieder auch überraschende Möglichkeiten für den Einsatz innovativer Werkstoffe<br />

und Technologien aufzeigt. Wir haben damit einen Ort für Menschen und Ideen geschaffen. Als<br />

Herz unseres global vernetzten Unternehmens ist unser neuer Campus so Ausdruck des Selbstverständnisses<br />

unseres Konzerns genauso wie der Ansprüche, die wir an uns selbst stellen:<br />

Innovation und Nachhaltigkeit, Offenheit und Dialog.<br />

Es ist – und das spricht den Ingenieur in mir besonders an – ein Stück gebaute Technik. Der<br />

Philosoph Martin Heidegger sagte einmal: „In unserem Bauen und in der Weise, wie wir den<br />

gebauten Raum beleben, spiegelt sich unser Verständnis von Wirklichkeit.“ Die beste Architektur<br />

aber findet die richtige Balance zwischen Wirklichkeit und Vision, zwischen dem, was ist, und dem<br />

Mut, neue Wege zu beschreiten. Wie diese aussehen könnten, zeigen Ihnen einige der Beispiele in<br />

diesem <strong>Magazin</strong>. Wir laden Sie herzlich ein: Entdecken Sie mit uns die Lebensräume der Zukunft.<br />

Dr.-Ing. Ekkehard D. Schulz,<br />

Vorsitzender des Vorstands der <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>AG</strong><br />

11


12<br />

inhalt<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010<br />

Architektur<br />

ansichten<br />

30 Wie sehen Sie Architektur?<br />

Ansichten von Kazuyo Sejima und Alain Robert<br />

28 wissens_wert<br />

66 projekte_aktuell<br />

101 kreuz & quer<br />

102 rückblick<br />

92<br />

App-City: Verändert die<br />

erweiterte Realität unseren<br />

Blick auf neue Räume?<br />

46<br />

Das <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier in Essen ist das neue Herz des Konzerns<br />

und Symbol für dessen Entwicklung. Architektur und städtebauliches<br />

Konzept stehen gleichermaßen für Innovation und Zukunftsorientierung,<br />

Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Verantwortung. Ein Sonderteil<br />

zum neuen Hauptsitz.<br />

forum<br />

14 Schönheit hängt nicht von Geld ab<br />

Ein Gespräch mit Alain de Botton, Autor und Philosoph<br />

22 Welt in Zahlen<br />

Globale Metropolen gestern, heute und morgen<br />

24 Achtung Fußgänger<br />

Mit dem freiberuflichen Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar<br />

unterwegs durch Leipzig<br />

projekte<br />

34 Was kommt vor der Stadt?<br />

Ohne die richtige Infrastruktur läuft gar nichts<br />

40 Stoffe, aus denen Träume sind<br />

Neue Werkstoffe machen viele Ideen erst möglich<br />

74 Aufbruch in Amerika<br />

2010 eröffnet <strong>ThyssenKrupp</strong> zwei neue Produktionsstätten<br />

in Brasilien und in den USA<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


quartier<br />

40<br />

Neue Werkstoffe lassen Architektenträume<br />

Wirklichkeit werden.<br />

84<br />

Für die Mobilität der Zukunft spielt Autofahren<br />

wie bei „Blade Runner“ eine immer geringere Rolle.<br />

46 Von der Brache zum neuen Campus<br />

Eine Geschichte in Bildern<br />

48 „Bewegung und Aufbruch“<br />

Ein Gespräch über das neue <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier<br />

mit Ralph Labonte, Mitglied der Vorstands der <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>AG</strong><br />

55 Raum der Stille<br />

Ein Andachtsraum als Rückzugsort<br />

56 Die Macher<br />

Drei Beteiligte mit ihrem Blick auf das Projekt<br />

58 Auf eigene Stärken bauen<br />

Im neuen Quartier kommen einige der innovativsten Produkte<br />

des Konzerns zum Einsatz<br />

60 Eine „grüne Bühne“<br />

Bereits vor Fertigstellung erhielt das Quartier eines<br />

der renommiertesten Zertifikate für nachhaltiges Bauen<br />

62 Die Stadt in der Stadt<br />

Am Standort des neuen Quartiers wird bereits seit<br />

1818 Firmengeschichte geschrieben<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

24<br />

Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar<br />

lehrt uns das Wahrnehmen.<br />

96<br />

Ameisen sind wahre Baumeister – ihre Erforschung bietet<br />

faszinierende Einsichten auch für uns.<br />

perspektiven<br />

76 Megacitys und Schrumpfstädte<br />

Wie lassen sich Fläche, Verkehr, Energie und Wohnqualität<br />

in wachsenden und schrumpfenden Städten sichern und<br />

verbessern?<br />

80 Kinder sehen ihre Umwelt<br />

Schüler eines Essener Gymnasiums fotografieren ihre Umgebung<br />

84 Unterwegs im Jahr 2050<br />

Wie bewegen wir uns in der Stadt der Zukunft?<br />

90 Reale und virtuelle Räume<br />

Warum der Wunsch nach echter Begegnung bleibt – ein Essay<br />

92 Augmented Reality<br />

Neue Technologien verändern den Blick auf unsere Umwelt<br />

96 Faszinierende Bauten<br />

Ein Gespräch mit dem Insektenforscher Bert Hölldobler


14<br />

forum_gespräch<br />

HÄNGT<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


»SCHÖNHEIT<br />

NICHT VON GELD AB«<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

Architektur ist mehr als nur Funktion. Die Art, wie ein Haus<br />

gestaltet ist, sagt viel über Charakter und Sehnsüchte des Besitzers.<br />

Ein Gespräch mit Alain de Botton, Autor und Philosoph.<br />

15


16<br />

forum_gespräch<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

»Architekten sollten Experten darin sein,<br />

wie sich Gebäude auf unsere<br />

Psyche auswirken.«<br />

Alain de Botton<br />

17


18<br />

forum_gespräch<br />

»Die Idee des leeren Raums<br />

ist die große Faszination<br />

unserer Zeit.«<br />

Herr de Botton, eins Ihrer Bücher heißt „Glück und Architektur“.<br />

Kann ein Gebäude glücklich machen?<br />

Architektur ist keine Medizin. Von Medizin mag man wenig halten, und<br />

sie wirkt trotzdem. Anders verhält es sich mit der Architektur: Sie begünstigt<br />

eine Stimmung, aber zwingt sie uns nicht auf. Mit der Architektur<br />

ist es ein bisschen wie mit dem Wetter: Das Wetter hat einen erheblichen<br />

Einfluss auf unsere Stimmung, und viele Menschen ziehen<br />

aufgrund des Wetters in andere Länder. Wenn uns aber etwas Schlimmes<br />

passiert, hilft auch das schönste Wetter nicht – wir sind trotzdem<br />

bedrückt. Genauso können wir im siebten Himmel schweben, obwohl es<br />

in Strömen regnet. Meistens aber befinden wir uns auf der Stimmungsskala<br />

irgendwo zwischen diesen beiden Extremen, und dann kann das<br />

Wetter den Ausschlag für die eine oder die andere Richtung geben. In<br />

ähnlicher Weise kann uns die Architektur, die uns umgibt, optimistischer<br />

oder pessimistischer machen. Architekten sollten deshalb auch Experten<br />

darin sein, wie sich Gebäude auf unsere Psyche auswirken.<br />

„Living Architecture“: Das<br />

„In-Between House“<br />

(Jarmund/Vigsnaes Architects,<br />

Norwegen) fügt sich<br />

nahtlos in eine traditionelle<br />

Häuserreihe einer englischen<br />

Küstenlandschaft ein.<br />

Das „Long House“ von Michael und Patty Hopkins – moderner Ausdruck britischer<br />

Industrie- und Handwerkstradition<br />

Indem sie unsere Gebäude gestalten, nehmen Architekten also Einfluss<br />

auf uns persönlich?<br />

Architektur beeinflusst uns – obwohl wir meistens so tun, als sei das<br />

nicht der Fall. Die Menschen erfreuen sich an schönen Gebäuden, aber<br />

kein Politiker führt eine politische Kampagne unter dem Motto „Ich will<br />

die Welt schöner machen“. Architektur gilt immer als nachrangiges<br />

Thema.<br />

Liegt das nicht auch daran, dass es keine universell anerkannte<br />

Definition des Schönheitsbegriffs gibt?<br />

Dass sich Schönheit nicht definieren lässt, wird immer wieder behauptet,<br />

ist aber völlig falsch. Die vorherrschende Meinung, Schönheit sei<br />

eine Frage des Geschmacks, ist ein willkommenes intellektuelles Gerüst<br />

für Immobilienentwickler. Tatsächlich ist es nicht schwieriger zu definieren,<br />

was schön ist, als festzustellen, ob ein Buch gut ist. Im Idealfall sollte<br />

einem die Architektur natürlich nicht nur Schönheit, sondern auch<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


Komfort bieten – und vielen Architekten gelingt das auch. Architektur ist<br />

eine praktische Kunst. Die Kunst der Architektur liegt darin, Schönheit<br />

und Nutzwert zu bieten.<br />

Aber ist Schönheit in der Architektur nicht ein elitäres Konzept?<br />

Dass Schönheit ein teurer Luxus ist, den wir uns nicht leisten können,<br />

ist ein gefährliches Argument. Man muss sich nur einmal die aus Stein<br />

gebauten toskanischen Bauernhäuser anschauen, um zu erkennen,<br />

dass Schönheit sich auch mit einfachen Mitteln erreichen lässt. Umgekehrt<br />

sieht man zum Beispiel in Teilen Saudi-Arabiens oder in Moskau<br />

sofort, dass Reichtum keine Garantie für Schönheit ist. Derartige Beispiele<br />

zeigen, dass tatsächlich kein Zusammenhang zwischen Geld und<br />

Schönheit besteht. Geld eröffnet die Möglichkeit, Schönes zu gestalten,<br />

aber Schönheit hängt nicht von Geld ab. Letztlich zählen das Geschick<br />

und die Phantasie des Architekten. Schöne Architektur für alle sollte<br />

möglich sein. Ein schönes Haus zu bauen kostet nicht mehr, als ein<br />

hässliches Haus zu bauen.<br />

Warum fühlen sich Menschen zu bestimmten architektonischen<br />

Stilen hingezogen, zu anderen hingegen nicht?<br />

Tendenziell brauchen wir eine Architektur, die für Dinge steht, zu denen<br />

wir uns hingezogen fühlen, die aber in unserem Leben fehlen. Im Grunde<br />

genommen gibt es gegenwärtig nur zwei bedeutende architektonische<br />

Phantasien: die Ruhe und das Natürliche. Der Minimalismus – die<br />

Idee des leeren Raums – ist die große Faszination unserer Zeit. Und<br />

zwar einfach deshalb, weil unser Leben so kompliziert und überladen<br />

mit Dingen und Aktivitäten ist, dass wir uns nach Ruhe sehnen. Nach<br />

der Natur wiederum sehnen sich die Menschen, weil sie einen Gegenpol<br />

zu unserer technologisierten und industrialisierten Welt bildet.<br />

Es gibt mehr hochqualifizierte Architekten als je zuvor und herausragende<br />

Gegenwartsarchitektur. Trotzdem ist die Architektur im<br />

Alltag häufig alles andere als „schön“. Warum?<br />

Zum einen spielen Architekten bei der Gestaltung von Gebäuden eine<br />

immer geringere Rolle. Viele Immobilienentwickler greifen überhaupt<br />

nicht mehr auf Architekten zurück. Dort, wo es eine besonders attraktive<br />

Architektur gibt, ist das gesellschaftliche Engagement häufig sehr<br />

stark ausgeprägt. Zum Beispiel bedurfte es einer enormen kollektiven<br />

Anstrengung und einer Unmenge von Regeln etwa zur Größe und Platzierung<br />

von Gebäuden, damit Manhattan zu dem wurde, was es heute<br />

ist. Da war das politische Engagement vieler gefragt. Ähnlich ist es in<br />

den Niederlanden, wo es viel ansprechende Architektur gibt, weil den<br />

Holländern ihre Umwelt sehr wichtig ist. Auch hier gibt es viele Bestimmungen,<br />

wie und wo man bauen darf. Am schlimmsten hingegen sieht<br />

es oft dort aus, wo es gar keine Regeln gibt und die Gestaltung allein<br />

dem Markt überlassen wird. Architekten stehen jedoch auch der Gesellschaft<br />

gegenüber in der Verantwortung. Die Architektur ist kein privates<br />

Geschäft, sondern betrifft jeden von uns.<br />

Ohne den Einfluss der Religion gäbe es viele der großen architektonischen<br />

Meisterwerke der Welt nicht (die Pyramiden in Ägypten<br />

und Mexiko, die griechischen Tempel, die gotischen Kathedralen,<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

Alain de Botton<br />

Von der Kunst des Reisens über Glück und Architektur bis zum Freud<br />

und Leid der Arbeit – in seinen Büchern versucht Alain de Botton,<br />

philosophische Ideen, von der griechischen Philosophie bis zur<br />

Moderne, auf Probleme des Alltags und gesellschaftspolitische Fragen<br />

anzuwenden und allgemeinverständlich auf den Punkt zu bringen.<br />

Der gebürtige Schweizer lebt und arbeitet in London. 7<br />

Renaissance- und Barockbauten …). Heute ist die religiöse Architektur<br />

– zumindest in der westlichen Welt – in den Hintergrund<br />

gerückt. Was treibt die große Architektur jetzt an?<br />

Die religiöse Architektur hat den Architekten zu allen Zeiten besonders<br />

viel Freiraum geboten, weil Kirchen oder Tempel als reine Orte der Zusammenkunft<br />

frei von vielen praktischen Zwängen der Architektur sind.<br />

Neben vielen interessanten Formen wie dem Schrein oder der Tauf-<br />

3<br />

19


20<br />

forum_gespräch<br />

»Einsamkeit gehört zum Stadtleben.«<br />

3<br />

kapelle hat die Religion den Architekten zudem die Aufgabe gegeben,<br />

Emotionen zu wecken. Das ist etwas ganz anderes als die Gestaltung<br />

eines Bahnhofs. Manche meinen, dass die Zukunft der Architektur im<br />

Bau von Galerien und Museen liege. Ein großer Unterschied besteht allerdings<br />

darin, dass Galerien als Ausstellungsorte für Kunstwerke dienen.<br />

Wo aber die Kunst das wirklich Besondere ist, wird selbst das<br />

schönste Gebäude auf die Funktion eines Behältnisses reduziert, das es<br />

uns ermöglicht, uns an der dort ausgestellten Kunst zu erfreuen. Es ist,<br />

als ob wir heutzutage eine Rechtfertigung bräuchten, um schöne Gebäude<br />

zu errichten. Wir sollten bestimmte Formen neu erfinden und Architekten<br />

die Möglichkeit geben, großartige öffentliche Räume zu<br />

bauen, die keinem anderen Zweck dienen als dem, darin zu flanieren<br />

und die Gedanken wandern zu lassen. So weit sind wir aber noch nicht.<br />

In einem Interview vor etwa zehn Jahren sagten Sie, Städte<br />

könnten „sich mit ihrer Größe erdrosseln“. Seither sind die Städte<br />

überall auf der Welt geradezu explosionsartig gewachsen. Beunruhigt<br />

Sie diese Entwicklung?<br />

Sogar sehr. Das Leben in Gruppen liegt in der menschlichen Natur –<br />

aber nicht das Leben in riesigen Gruppen. Wird eine bestimmte Gruppengröße<br />

überschritten, setzen alle möglichen Dynamiken ein. Die zwischenmenschlichen<br />

Bindungen lassen nach, und die Menschen werden<br />

unsozialer. Ich glaube, es gibt so etwas wie eine ideale Größe für eine<br />

Stadt, und verschiedene Leute haben auch schon versucht, diese zu definieren:<br />

Zum Beispiel könnte eine Stadt gerade die richtige Größe<br />

haben, wenn man sie an einem Tag zu Fuß durchqueren kann oder<br />

wenn man von einem hohen Punkt innerhalb der Stadt den Blick über<br />

die umliegenden Hügel und Landschaften schweifen lassen kann. Die<br />

beste Möglichkeit, eine Megacity zu bewältigen, könnte sein, sie in mehrere<br />

kleine Städte zu unterteilen. In gewisser Weise trifft das schon jetzt<br />

auf Städte wie Los Angeles oder Tokio zu. Tatsächlich sind das eher<br />

Ansammlungen von Nachbarschaften.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

„Living Architecture“:<br />

Das „Shingle House“<br />

des Glasgower Architektenbüros<br />

NORD besteht<br />

aus recycelten Materialien<br />

und kann sich –<br />

je nach Wunsch des<br />

Bewohners – der Außenwelt<br />

gegenüber öffnen<br />

oder verschließen.<br />

Der „Balancing Barn“ des holländischen Architekturbüros MVRDV<br />

Hilft Urbanisierung gegen Einsamkeit?<br />

Ganz und gar nicht. Wo viele Menschen auf einem Haufen leben, werden<br />

andere Menschen tendenziell eher als Bedrohung angesehen. Wo<br />

weniger Menschen zusammenleben, ist der Einzelne weniger bedrohlich<br />

und wird eher als potentieller Freund angesehen. Jemanden, dem man<br />

in der Stadt begegnet, begrüßt man eher nicht. Auf dem Land schon.<br />

Einsamkeit gehört zum Stadtleben. Manchmal kann diese Einsamkeit<br />

natürlich auch positiv sein, weil sie dem Einzelnen Anonymität und<br />

Schutz vor Gerede gibt. Wer aber Gemeinschaft sucht, findet diese eher<br />

im Dorf.<br />

„Eine neue Art, Architektur zu erleben“<br />

Alain de Botton gehört zu den Begründern der Initiative „Living Architecture“.<br />

Living Architecture hat außergewöhnliche – bekannte und<br />

weniger bekannte – Architekten mit dem Bau ungewöhnlicher Häuser<br />

an verschiedenen Orten in Großbritannien beauftragt, die als Ferienhäuser<br />

gemietet werden können. Living Architecture will „normalen“<br />

Menschen so ermöglichen, einen Eindruck davon zu bekommen, wie<br />

sich herausragende Architektur im Alltag anfühlt. „In Großbritannien<br />

hat es die Gegenwartsarchitektur sehr schwer“, sagt Alain de Botton.<br />

„Bei den großen modernen Bauwerken, die es hierzulande gibt, handelt<br />

es sich zumeist um Durchgangsorte, wie zum Beispiel Flughäfen,<br />

Museen und Bürogebäude. Die wenigen modernen Häuser, die es<br />

gibt, sind fast alle in Privatbesitz und der Öffentlichkeit nicht zugänglich.<br />

Wir hoffen, mit dieser Initiative einen kleinen Beitrag zur öffentlichen<br />

Debatte in diesem Bereich zu leisten und Bauherren zu etwas<br />

mehr Abenteuerlust zu ermutigen.“ Die „Living Architecture“-Häuser<br />

können ab Juni 2010 gemietet werden. 7<br />

„A Secular Retreat“ (weltliches Refugium) von Peter Zumthor<br />

Niemand weiß, wie unser Arbeits- und Lebensumfeld in 50 oder<br />

100 Jahren aussehen wird. Doch die meisten heute errichteten<br />

Gebäude werden dann noch stehen. Werden sie einem möglicherweise<br />

drastisch veränderten Umfeld noch gerecht werden?<br />

Sicher nicht alle. Aber die besten Gebäude sind flexibel. Einige der<br />

Industriebauten des 19. Jahrhunderts zum Beispiel dienten zunächst<br />

als Lagerhäuser, dann als Bürogebäude und schließlich als Wohnungen<br />

oder Kunstgalerien. Außerdem hat sich unsere Lebensweise bislang<br />

gar nicht so sehr verändert. Das Schlafzimmer, das Badezimmer, die<br />

Küche – das sind feste und seit langem bewährte Einheiten.<br />

Im Alter von 101 Jahren sagte der berühmte Architekt Oscar Niemeyer,<br />

ein Architekt müsse „überzeugt davon sein, die Welt zu einem<br />

besseren Ort machen zu können“. Würden Sie dem zustimmen?<br />

Absolut. Die Gestaltung eines Gebäudes sollte ein positiver Schritt sein,<br />

und als Architekt sollte man das Gefühl haben, seine Umwelt verschönern<br />

zu können. Seit jeher sind die besten Architekten Utopisten<br />

gewesen.7<br />

DAS INTERVIEW FÜHRTE ANKE BRYSON. | FOTOS (PORTRAITS): PHIL FISK<br />

21


22<br />

forum_welt_in_zahlen<br />

São Paulo<br />

Brasilien<br />

21,6 Mio<br />

19,9 Mio<br />

Mexico City<br />

Mexiko<br />

21,8 Mio<br />

21,2 Mio<br />

New York City<br />

USA<br />

20,4 Mio<br />

Globale Metropolen gestern,<br />

heute und morgen<br />

Die Stadt ist ein nahezu universales Phänomen.<br />

Städtische Kulturen sind unabhängig<br />

voneinander auf fast allen Kontinenten<br />

entstanden. Mit etwa 1 Million Einwohnern<br />

im Jahr 330 n. Chr. gilt Rom als erste<br />

Großstadt der Welt. Im Zuge der Verlegung<br />

bedeutender Hauptstadtfunktionen nach<br />

Konstantinopel im 4. Jahrhundert sowie<br />

des Zerfalls des Weströmischen Reiches im<br />

5. Jahrhundert sank die Bevölkerung bis<br />

zum Jahr 530 auf etwa 100.000. 350<br />

Jahre dümpelte Rom vor sich hin, bis es<br />

wieder erwachte, 1936 war die Million<br />

wieder überschritten, heute ist Rom mit<br />

seinen 2,6 Millionen Einwohnern zwar<br />

eine veritable Metropole, aber eine Kleinstadt<br />

im Vergleich mit Städten wie New<br />

York oder Mexico City – oder der Metro-<br />

Lagos<br />

Nigeria<br />

21,5 Mio<br />

Cordoba<br />

Kalifat von Cordoba<br />

450.000<br />

Jakarta<br />

Indonesien<br />

24,1 Mio<br />

20,8 Mio<br />

polregion Tokio, in der mehr als 31 Millionen<br />

Menschen leben, über ein Viertel der<br />

japanischen Gesamtbevölkerung. Mit<br />

Peking war bereits im 15. Jahrhundert eine<br />

asiatische Stadt größte Stadt der Welt.<br />

Folgt man den – leider auf uneinheitlichen<br />

Statistiken basierenden – Schätzungen,<br />

wird das 21. Jahrhundert das Jahrhundert<br />

des asiatischen Städtebooms sein.<br />

Rom<br />

Römisches Reich<br />

450.000<br />

Karthago<br />

Römisches Reich<br />

100.000<br />

Kairo<br />

Ägypten<br />

135.000<br />

Alexandria<br />

Römisches Reich<br />

250.000<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


Konstantinopel<br />

Byzanz<br />

300.000<br />

Antiochia<br />

Römisches Reich<br />

150.000<br />

Bagdad<br />

Irak<br />

250.000<br />

Neyshabur<br />

Persien<br />

125.000<br />

Mumbai<br />

Indien<br />

26 Mio<br />

21,2 Mio<br />

Anuradhapura<br />

Sri Lanka<br />

130.000<br />

Quellen: IDC, Emporis, Worldmapper.org.<br />

Delhi<br />

Indien<br />

25,8 Mio<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

Immer höher hinaus<br />

Im Skyline-Ranking von Emporis erhalten Städte je nach Anzahl und Geschossanzahl<br />

ihrer Hochhäuser Punkte. Die Faustformel: Je höher die Punktzahl, desto eindrucksvoller<br />

die Skyline. Mit 7.682 Hochhäusern und 128.548 Punkten liegt Hongkong hier ganz klar<br />

vor New York mit 5.845 Hochhäusern und gerade einmal 38.898 Punkten. Durch den<br />

Bauboom der letzten Jahre hat sich Dubai inzwischen Platz 10 gesichert. Sieben der Top<br />

10 Skylines befinden sich in Asien, keine in Europa.<br />

Dhaka<br />

Bangladesch<br />

22 Mio<br />

Angkor<br />

Kambodscha<br />

200.000<br />

Shanghai<br />

China<br />

19,2 Mio<br />

Luoyang<br />

China<br />

420.000<br />

Kaifeng<br />

China<br />

400.000<br />

Tokio<br />

Japan<br />

37,3 Mio<br />

31 Mio<br />

Seoul<br />

Südkorea<br />

24,5 Mio<br />

Kyoto<br />

Japan<br />

175.000<br />

Peshawar<br />

Pakistan<br />

120.000<br />

Stadtluft, Landluft<br />

Unten durch<br />

In vielen heutigen Metropolregionen<br />

ist das schnellste Verkehrsmittel<br />

die U-Bahn oder Metro.<br />

Das mit 408 Kilometern längste<br />

– und älteste – Streckennetz der<br />

Welt durchzieht das Erdreich<br />

unter London. New Yorks Subway<br />

folgt mit 386 Kilometern.<br />

Um den Nutzerrekord streiten<br />

sich die Moskauer und die Tokioter<br />

U-Bahn mit jeweils knapp<br />

8 Millionen Fahrgästen pro Tag.<br />

In Tokio sorgen sogenannte<br />

„U-Bahn-Stopfer“ dafür, dass die<br />

Pendler zu Stoßzeiten auf Tuchfühlung<br />

gehen. Aktuell betreiben<br />

rund 140 Städte weltweit eine<br />

Metro.<br />

Mehr als die Hälfte der weltweiten Bevölkerung drängt<br />

sich in den Städten dieser Welt – bei deutlichen Unterschieden<br />

von Land zu Land. Stadtstaaten wie Singapur<br />

nicht eingerechnet, hält Belgien mit 97 Prozent den<br />

aktuellen Urbanisierungsrekord, gefolgt von Kuwait<br />

und Island. Aber auch in Australien und Uruguay ist<br />

der Anteil der Stadtbewohner mit 92 Prozent hoch.<br />

Mit ebenfalls 92 Prozent haben Ost-Timor und Bhutan<br />

die relativ größte ländliche Bevölkerung; in Uganda<br />

und Äthiopien leben immerhin noch 85 Prozent der<br />

Menschen auf dem Land.<br />

100 n. Chr. 1000 n. Chr. 2010 2020<br />

100 n. Chr. 1000 n. Chr. 2010 2020<br />

23


24<br />

forum_reportage<br />

Bertram Weisshaar ist freiberuflicher Spaziergangsforscher. Er flaniert nicht durch die Landschaft,<br />

sondern inspiziert seine Umgebung. Seine These: Auf einem Spaziergang sieht man mehr als durch<br />

eine Windschutzscheibe.<br />

Unter den Sohlen knirscht der Splitt. Bertram Weisshaar<br />

schlendert von Parkdeck 10 zu Parkdeck 11 und wieder zurück zu Parkdeck<br />

10. Er fahndet dort nicht nach einem Auto, nein, er sucht nach<br />

Ruhe. Das Parkhaus liegt bloß wenige Schritte neben dem Hauptbahnhof.<br />

Doch niemand hetzt mit einem rumpelnden Rollkoffer, niemand<br />

bremst mit quietschenden Reifen. Weisshaar beugt sich über das<br />

Geländer. Er blickt auf die Dächer von Leipzig, auf die blauen Lettern der<br />

Stadtwerke, die rote Schrift der Sparkasse. Der Wind zerzaust seine<br />

Locken. In der Ferne rattern die Schnellzüge, bimmeln die Straßenbahnen,<br />

rumpeln die Lastwagen. Plötzlich hat das Parkhaus etwas von<br />

einer Ferieninsel. Wenigstens ein bisschen.<br />

Wer am Leipziger Hauptbahnhof zu einem Spaziergang aufbricht, steuert<br />

wahrscheinlich zuerst die Nikolaikirche an, dann vielleicht das Alte Rathaus,<br />

die Alte Börse und die Alte Waage. Allerdings kein Parkhaus.<br />

Doch Weisshaar ist kein gewöhnlicher Spaziergänger, sondern freiberuflicher<br />

Spaziergangsforscher. Leipzig ist ebenso sehr seine Wahl-<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


ACHTUNG<br />

FUSSGÄNGER<br />

heimat wie sein Forschungsfeld: „Überall gibt es Mikrolandschaften.“<br />

Damit meint er Parks und Kanäle, aber auch Industriebrachen und Leerflächen.<br />

Eine Frage treibt ihn an: „Wie kommen wir – in unseren eigenen<br />

Städten, nicht auf fernen Kontinenten – zu neuen Landschaften?“<br />

Dazu muss er eine neue Sicht auf die Stadt gewinnen. Etwa von einem<br />

Parkhaus aus.<br />

Für Georg Simmel wäre er wahrscheinlich ein Flaneur gewesen, für<br />

Marcel Proust ein Passant, für Oscar Wilde ein Dandy. Bertram Weiss-<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

haar jedoch nennt sich: Promenadologe. Anfang der neunziger Jahre<br />

hat er in Kassel bei Lucius Burckhardt studiert, dem Begründer der sogenannten<br />

Promenadologie. Der Soziologe Burckhardt erforschte, wie<br />

Menschen ihre Umwelt entdecken und durchmessen. Menschliche Wahrnehmung<br />

und Fortbewegung – daran sollte Stadtplanung sich ausrichten,<br />

fand er. Stadtentwicklung dürfe nicht allein die Autofahrer berücksichtigen.<br />

Weisshaar verbreitet Burckhardts Thesen in Vorträgen, bei<br />

Kongressen, in Seminaren. Er ist in Burckhardts Fußstapfen getreten.<br />

3<br />

25


forum_reportage<br />

3<br />

Unter den Sohlen knacken die Dornen. Brombeerranken<br />

überwuchern die Pflastersteine. Zum Verladebahnhof neben dem<br />

Parkhaus gelangt nur, wer ein Absperrgitter beiseiteschiebt. Die Anlage<br />

ist verwaist: Die Fensterscheiben sind zerbrochen, die Backsteinmauern<br />

bemalt. „See sunrise with no sleep at all“, hat jemand in schwarzer<br />

Schrift auf weißen Grund gesprüht. Das Vogelgezwitscher wird lauter,<br />

das Verkehrsrauschen leiser. Ist das schon eine Landschaft? Früher war<br />

die Definition nicht allzu schwierig – die Landschaft lag vor den Stadt-<br />

toren. „Jetzt wissen wir nicht mehr, wo die Stadt aufhört und wo das<br />

Land anfängt“, sagt Weisshaar. In der Stadt breiten sich Grünanlagen<br />

aus, auf dem Land Gewerbegebiete.<br />

In der Stadt hält sich die Landschaft bisweilen verborgen, hinter dem<br />

Verladebahnhof zum Beispiel. Da spaziert Bertram Weisshaar gerne an<br />

einem Flussufer entlang. Dazu muss er sich allerdings durch Brombeeren<br />

kämpfen, auf einem Holzbrett balancieren und über ein Matschstück<br />

rutschen. Erst dann stößt er auf die Parthe, einen winzigen Fluss, der im<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

Bertram Weisshaar<br />

erforscht und entwickelt Spaziergänge, um die Wahrnehmung<br />

der Menschen für ihre Umwelt zu schärfen.<br />

Glastener Forst entspringt und in die Weiße Elster mündet. Planer haben<br />

die Parthe nicht nur versteckt, sondern auch begradigt; das Wasser<br />

wälzt sich durch ein Bett aus Beton. Trotzdem findet Weisshaar dort ein<br />

Merkmal von Landschaft: Sogar in einer solchen Rinne kann er Natur<br />

entdecken, die sich nicht gänzlich bändigen lässt.<br />

Eigentlich hat der Verladebahnhof nichts mit dem Tiergarten flussabwärts<br />

zu tun. Das einzige Bindeglied zwischen ihnen ist das Wasser:<br />

Beide Orte liegen an der Parthe. Damit gehören sie zu einer Landschaft.<br />

Solche Zusammenhänge so herauszuarbeiten, dass sie sich jedem<br />

Spaziergänger sogleich erschließen – darin sieht Weisshaar die Aufgabe<br />

von Landschaftsarchitekten. Die Landschaft entsteht erst in den<br />

Köpfen. Das allerdings war schon immer so. Wer früher vor die Tore der<br />

Stadt trat, durchquerte einen Bach, kletterte auf einen Hügel, wanderte<br />

durch einen Wald. Auch diese Orte standen für sich. Erst der Spaziergänger<br />

verknüpfte all die verschiedenen Eindrücke zu einem Gesamtbild,<br />

nämlich der Landschaft.<br />

Unter den Sohlen splittert das Glas. Auf den Pflastersteinen<br />

am Flussufer sind ein paar Bierflaschen zersprungen. Andere<br />

Spaziergänger würden die Scherben womöglich ausblenden und sich<br />

lieber etwas Schönerem zuwenden, zum Beispiel der Basilikumpflanze,<br />

die im Terrakottatopf auf dem Fenstersims auf der anderen Flussseite<br />

wächst. Die fügt sich besser ins Bild. Bertram Weisshaar hingegen<br />

filtert seine Umgebung nicht. Wie gehen die Stadtplaner mit Flüssen<br />

um? Wie mit Fußgängern, mit Radfahrern und mit Autobesitzern? Mit<br />

solchen Fragen im Kopf streift Bertram Weisshaar nicht nur durch<br />

Leipzig, sondern auch durch Frankfurt, Hannover oder Lübeck. Häufig<br />

heuern die Städte ihn an. Dann führt er Gruppen zum Beispiel durch<br />

historische Altstädte – von Parkplatz zu Parkplatz. Dadurch kann er zweierlei<br />

zeigen: Zum einen beweist er, wie viel Platz Autos beanspruchen,<br />

zum anderen, wie sehr Autos die Sicht einschränken. Durch eine Windschutzscheibe<br />

können wir bloß Ausschnitte wahrnehmen, auf einem<br />

Spaziergang hingegen Einblicke bekommen. Manchmal kann Bertram<br />

Weisshaar keine Landschaft finden. Als er das Flussufer hinter sich<br />

lässt, biegt er in eine Hauptstraße ein. Auf acht Spuren brausen die<br />

Autos vorbei. Ein paar Schritte weiter zuckeln drei Straßenbahnen zur<br />

Haltestelle, Stoßstange an Stoßstange. Ein Spaziergänger könnte den<br />

Platz nicht kreuzen. Wer die Stadt zu Fuß erkunden möchte, muss sich<br />

auf Umwege gefasst machen. Dass Fußgänger aus den Innenstädten<br />

»Jetzt wissen wir nicht mehr, wo die Stadt aufhört und wo das Land anfängt.«<br />

verdrängt werden, beobachtet Weisshaar oft. Neben der großzügigen<br />

Hauptstraße etwa verläuft ein bescheidener Bürgersteig.<br />

Unter den Sohlen zerplatzen zwei Hagebutten. Bertram<br />

Weisshaar zieht den Reißverschluss am Rollkragen hoch, vergräbt<br />

die Hände in den Manteltaschen. Er hat noch ein bisschen Weg vor sich:<br />

„In jeder Stadt stecken hunderttausend Bilder.“ Davon will er noch einige<br />

ausfindig machen. 7<br />

TEXT: INKA WICHMANN | FOTOS: JÖRG GLÄSCHER<br />

27


28<br />

forum_wissens_wert<br />

Die Unvollendeten<br />

In der Geschichte der Architektur hat es immer<br />

wieder markante Bauwerke gegeben, die nicht<br />

fertiggestellt wurden – weil das Geld ausging,<br />

der Bauherr verstarb, eine Pestepidemie<br />

ausbrach oder sonst etwas Unerwartetes dazwischenkam.<br />

Manche dieser Bauwerke lassen<br />

sich auch im rudimentären Zustand nutzen,<br />

andere bleiben Mahnmalen gleich ungenutzt<br />

stehen. So zum Beispiel das 330 Meter hohe<br />

Ryugyong-Hotel in Pjöngjang, Nordkorea,<br />

das das höchste Hotel der Welt sein könnte,<br />

aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten und<br />

Konstruktionsfehlern bislang aber nicht fertiggestellt<br />

wurde und aktuell unbewohnbar ist.<br />

Andere Gebäude befinden sich dauerhaft im<br />

Bau. An Gaudís berühmter Sagrada Família<br />

in Barcelona, Spanien, wird seit den 1880er<br />

Jahren gebaut. Und wenn sich die Spanier ein<br />

Beispiel an den Deutschen nehmen, könnte<br />

es mit der Fertigstellung auch noch dauern:<br />

Bis zur Fertigstellung des Kölner Doms im Jahr<br />

1880 vergingen 632 Jahre. 7<br />

Gaudís berühmte<br />

Sagrada Família<br />

in Barcelona<br />

Raum und Klang<br />

Musik und Architektur sind<br />

eng miteinander verbunden.<br />

Ideengeschichtlich spielen<br />

mathematische und geometrische<br />

Überlegungen in beiden<br />

Traditionen eine wichtige<br />

Rolle: Intervall und Takt in der<br />

Musik, Grundriss und Raumverhältnisse<br />

in der Architektur.<br />

Goethe nannte die Architektur<br />

eine „stumme Musik“. Für<br />

den Philosophen Friedrich<br />

Wilhelm Schelling glich die<br />

Architektur einer „erstarrten“<br />

Musik.<br />

Tatsächlich ist Musik fast<br />

immer auch ein räumliches<br />

Erlebnis. In der Tradition der<br />

venezianischen Mehrchörigkeit<br />

nutzte beispielsweise der Komponist Karlheinz Stockhausen die Klangbewegung<br />

im Raum als kompositorisches Mittel. Als erster Konzertsaal überhaupt wurde<br />

die 1951 fertiggestellte Royal Festival Hall in London (Foto) nach akustischen<br />

Berechnungen errichtet. Seit den sechziger Jahren setzten sich zunehmend<br />

Säle mit variabler Akustik für unterschiedliche Arten von Musik durch. Seit<br />

der Erfindung des Walkman – und seines Nachfolgers MP3-Player – kann jeder<br />

eigene „mobile Innenräume“ schaffen und mit sich tragen, um sich gegen<br />

(lästige) Außenräume abzuschirmen. 7<br />

Baumeister gibt es schon immer: Im Römischen<br />

Reich waren dies vor allem Militäringenieure, im<br />

Frühmittelalter Kleriker, im Spätmittelalter Handwerker<br />

und in der Renaissance Künstler, Bildhauer oder<br />

Wissenschaftler. Zu einer eigenen akademischen<br />

Disziplin wurde die Architektur erst im Zuge der<br />

Industrialisierung und der damit einhergehenden<br />

Fortschritte in der Bautechnologie sowie immer komplexeren<br />

Bauaufgaben.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


Die Architektendichte variiert weltweit<br />

stark: Japan hat einen fünfmal höheren<br />

Anteil von Architekten als Großbritannien,<br />

in Dänemark gibt es knapp doppelt so<br />

viele Architekten pro Einwohner wie in<br />

Deutschland. Wer als Architekt noch Aufgaben<br />

sucht, dürfte in Ländern wie China<br />

oder Indien noch viele Möglichkeiten<br />

haben.<br />

Der Drang nach oben<br />

Hochhäuser beflügeln Gefühle von Ohnmacht und Allmacht, je<br />

nachdem, ob man den schwindelerregenden Blick aus den Tiefen<br />

enger Wolkenkratzerschluchten in die Höhe wagt oder von ganz oben<br />

auf das Flirren der Menschenmassen und des Verkehrs herabschaut.<br />

Wann genau die Menschen auf die Idee kamen, Türme zu bauen, ist<br />

unklar. Beim ältesten archäologischen Turmfund handelt es sich um<br />

die Überreste des Turms von Jericho, datiert auf eine Zeit um 7.500<br />

v.Chr. Die Hochkulturen Mesopotamiens bauten ihre Tempelanlagen<br />

auf künstliche Stufenberge, um ihren Göttern besonders nah zu sein<br />

– zum Beispiel den „Turm zu Babel“, der 77 Meter maß<br />

und 600 v.Chr. fertiggestellt wurde. Gut 300 Jahre später<br />

wurde vor dem Hafen von Alexandria auf der Insel Pharos<br />

ein 140 Meter hoher Leuchtturm errichtet.<br />

Die nächsten hohen Türme wurden dann<br />

erst wieder im Mittelalter in Angriff genommen,<br />

als man mit hohen Kirchenbauten<br />

Gott ehren und Macht demonstrieren<br />

wollte. Der Beginn der heutigen<br />

„Wolkenkratzer-Rally“ geht auf<br />

das Ende des 19. Jahrhunderts<br />

zurück, als die Entwicklung<br />

des Stahlskelettbaus und die<br />

Erfindung des elektrischen<br />

Aufzugs den Bauherren<br />

völlig neue Möglichkeiten<br />

eröffneten. Angefangen<br />

mit New York und Chicago,<br />

schossen allerorten<br />

Wohn- und Bürotürme aus<br />

dem Boden. 7<br />

„Der Mensch braucht vor allem Raum<br />

und Licht und Ordnung“, sagte der Sohn<br />

eines Emaillierers von Uhrengehäusen und einer<br />

Musiklehrerin, den es nach einer Lehre zum Graveur<br />

und Goldschmied zur Malerei und Architektur zog.<br />

Als logische Konsequenz der rasanten technischen<br />

Entwicklung und des damit einhergehenden Wandels<br />

der Lebensgewohnheiten im frühen 20. Jahrhundert<br />

fordert der später aufgrund seiner radikalen Vorstellungen<br />

vielfach kontrovers diskutierte Architekt „eine<br />

fundamental neue Ästhetik“. In seinen „Fünf Punkten<br />

einer neuen Architektur“ erklärt er: „Es bleibt uns nichts<br />

mehr von der Architektur früherer Epochen, sowenig<br />

wie uns der literarisch-historische Unterricht an den<br />

Schulen noch etwas geben kann.“<br />

Die Aufgabe des Architekten sieht er im Erstellen von<br />

zweckmäßigen und wirtschaftlichen Entwürfen. Er<br />

nimmt die reine Funktionalität der Maschine zum Vorbild<br />

für die Gebäudegestaltung und orientiert sich an den<br />

Formen von Flugzeugen, Lokomotiven, Ozeandampfern<br />

und Automobilen. Dabei bekennt er sich umfassend zu<br />

den technischen Möglichkeiten der Zeit und setzt auf neue Baumaterialien<br />

wie Eisenbeton und Stahl. Von Ornamenten, die den Selbstzweck<br />

über die Funktion stellen, hält er nichts. Das Ergebnis seiner Architekturlehre<br />

sind klare und einfache Körper, die sich aus den geometrischen<br />

Grundformen des Rechtecks, Kreises und Quaders zusammensetzen.<br />

Als Stadtplaner setzt er auf strenge Funktionenteilung. In seinem Konzept<br />

einer „zeitgenössischen Stadt für drei Millionen Einwohner“ sollen<br />

die Menschen in riesigen<br />

Hochhäusern auf<br />

Stelzen inmitten weiter<br />

Grünanlagen wohnen,<br />

in anderen Stadtteilen<br />

in Bürotürmen arbeiten,<br />

in wieder anderen<br />

einkaufen und sich<br />

amüsieren. In die<br />

Realität umsetzen kann<br />

er seine städtebaulichen<br />

Vorstellungen,<br />

als ihn die Regierung<br />

des indischen Bundesstaates<br />

Punjab 1951<br />

als Berater für die<br />

Planung der neuen<br />

Hauptstadt Chandigarh<br />

beruft, die heute als<br />

Vorbild für indische<br />

Stadtplaner gilt. 7<br />

AUFLÖSUNG: SEITE 101<br />

WER WAR’S?<br />

29


30<br />

ansichten<br />

»Bislang mussten Architekten sich mit vielen unterschiedlichen Aspekten des Standorts<br />

auseinandersetzen, konzentrierten sich dabei aber immer auf reale Probleme<br />

wie etwa Werkstoffe oder die Form. Ich schätze, dass wir nun fast die Hälfte unseres<br />

Alltags in der Informationsgesellschaft verbringen. Und obwohl die Informationsgesellschaft<br />

unsichtbar ist, denke ich, dass Architektur sich darauf beziehen muss.«<br />

Kazuyo Sejima


Kazuyo Sejima führt gemeinsam mit<br />

Ryue Nishizawa das Architekturbüro<br />

SANAA in Tokio. Das Büro erhielt im<br />

Mai mit dem Pritzker-Preis 2010 die<br />

bedeutendste Auszeichnung für Architekten.<br />

Sejima ist außerdem Kuratorin<br />

der Architektur-Biennale 2010 in Venedig.<br />

Zu den bekanntesten Werken des<br />

Büros zählen das New Museum of<br />

Contemporary Art in New York und die<br />

Zollverein School of Management and<br />

Design in Essen.


32<br />

ansichten


»Ich hielt es für unmöglich, Hochhausfassaden mit bloßen Händen zu erklettern.<br />

Aber ich habe erkannt, dass das Unmögliche nur so lange unmöglich bleibt,<br />

bis man es möglich macht.«<br />

Alain Robert, französischer Fassadenkletterer


34<br />

projekte_infrastruktur<br />

WAS KOMMT VOR DER<br />

Entstehung und Wachstum von Städten hängen nicht nur von der baulichen Entwicklung über,<br />

sondern auch von der unter der Erde ab. Besonders für die infrastrukturelle Versorgung und<br />

Mobilität spielt die Stadt unter der Stadt eine entscheidende Rolle.<br />

Noch sieht man nur Straßen, Sand und Geröll. Am<br />

Horizont, kaum zu erkennen im Flirren der Hitze,<br />

ragen ein paar weiße Hallen auf. Etliche Kilometer<br />

ziehen sich die schwarzen Asphaltbänder durch<br />

den hellen Sand, durch die Einöde. Unter den<br />

Straßen aber ist schon alles vorbereitet für den Ansturm,<br />

den sich das Emirat Dubai im Wüstensand<br />

erhofft: Einen Steinwurf vom neuen Al Maktoum International<br />

Airport, der nach seiner Fertigstellung der größte der Welt sein<br />

wird, entsteht ein rund 30 Quadratkilometer großes Wirtschaftsareal,<br />

in dem Hunderte internationaler Unternehmen ein neues<br />

Zuhause finden oder eine arabische Dependance gründen sollen:<br />

das Dubai World Central. Noch steht hier nicht einmal eine Garage,<br />

aber längst hat man Wasser-, Abwasserrohre sowie Stromund<br />

Kühlleitungen verlegt. Glasfaserkabel wurden gleich paarweise<br />

im Boden versenkt, auf dass die Daten später ungestört in alle Welt<br />

fließen mögen. Bevor die Stadt wächst, ist die Infrastruktur schon<br />

da. In dem neuen Logistik- und Wirtschaftszentrum werden rund<br />

150.000 Menschen arbeiten, Bürogebäude mit 45 Etagen und<br />

25 Hotels errichtet. Und alle müssen mit Wasser, Strom und Kälte<br />

versorgt werden. Ohne eine leistungsfähige Infrastruktur ist das<br />

undenkbar. 3<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


STADT?<br />

Wo heute noch Wüste ist, könnte morgen eine<br />

futuristische Ökostadt stehen (siehe S. 38)<br />

– aber erst braucht es eine funktionsfähige<br />

Versorgungsinfrastruktur.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

35


36<br />

projekte_infrastruktur<br />

3 Das neue Finanzquartier vor den Toren Dubais ist eines der weltweit<br />

wohl imposantesten Bauvorhaben, aber längst nicht das einzige.<br />

Vor allem in China und Indien, aber auch in Afrika wachsen<br />

die Städte. In China wird heute ein Stadtquartier für 50.000 Menschen<br />

in nur drei Jahren aus dem Boden gestampft, oftmals dort,<br />

wo sich Großkonzerne ansiedeln. Im Jahr 2025 werden nach<br />

Schätzung der Unesco bereits 60 Prozent der Menschheit in<br />

Städten leben. All diese Menschen mit Strom oder sauberem Trinkwasser<br />

zu versorgen ist eine Herausforderung. Mehr denn je sind<br />

dafür intelligente und leistungsfähige Infrastrukturlösungen gefragt.<br />

Die beste Lösung für die Stromversorgung wäre die Nutzung regenerativer<br />

Energien. Doch Sonne und Wind werden die Metropolen<br />

der Welt mittelfristig nur zu einem Teil damit versorgen können. Bis<br />

dahin ist Erdgas eine ideale Alternative, denn es verbrennt deutlich<br />

sauberer als Kohle und lässt sich effizient in kleinen Kraftwerken in<br />

der Stadt zur gekoppelten Strom- und Wärmeerzeugung einsetzen.<br />

Was Deutschland betrifft, muss das Gas von weit her aus Russland<br />

und anderen asiatischen Regionen per Pipeline herbeigeschafft<br />

Mit Opus Caementitium,<br />

einem<br />

Vorgänger und<br />

Namensgeber<br />

des heutigen<br />

Zements, bauten<br />

schon die Römer<br />

ihre Aquädukte.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


werden. <strong>ThyssenKrupp</strong> hat dafür Spezialstähle entwickelt, die mit<br />

mehr als 2 Zentimetern Wandstärke besonders haltbar sind. Das<br />

Gas kann daher mit höheren Drücken durch die Pipeline gepumpt<br />

werden. So lässt sich mehr transportieren. Und noch etwas macht<br />

die Rohre besonders. Sie widerstehen hohen Konzentrationen an<br />

Schwefelwasserstoff im Erdgas, der ansonsten zu Rissen und<br />

Leckagen führen könnte.<br />

Infrastruktur, die mitwächst<br />

Eine der zurzeit drängendsten Fragen ist, wie sich die wachsende<br />

Weltbevölkerung und insbesondere die Menschen in den Städten<br />

künftig umweltfreundlich versorgen lassen. Eine Patentlösung, die<br />

noch dazu wirtschaftlich ist, gibt es zurzeit nicht. Doch haben Forscher<br />

in verschiedenen Ländern inzwischen ganz unterschiedliche<br />

Ansätze für die künftige Infrastruktur entwickelt. So entsteht in<br />

Stockholm mit Hammarby Sjöstad ein neuer Stadtteil für 25.000<br />

Menschen direkt am Wasser. Ein Großteil der für Heizung und<br />

Warmwasser benötigten Wärme wird aus der Vergasung von Klärschlamm<br />

und der Verbrennung von Müll gewonnen. Um den Auto-<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

»Die Zukunft ist eine kleinräumige<br />

Gliederung der Stadt in viele Zentren,<br />

die sich zum Teil selbst versorgen.«<br />

verkehr zu reduzieren, wurden eine Expressfährverbindung und<br />

neue Buslinien eingerichtet. Auch die österreichische Stadt Linz will<br />

mit ihrem neuen Stadtteil solarCity Kohlendioxid einsparen. Etwa<br />

die Hälfte des Warmwassers soll durch Solarkollektoren im Stadtteil<br />

erzeugt werden, der Rest wird über Fernwärmeleitungen angeliefert.<br />

Der Trend beim Städtebau und der Infrastruktur ist also klar: Es gilt,<br />

die Stadtgebiete möglichst dezentral und mitunter sogar autark zu<br />

versorgen. „Die Zeiten der großen Kanalisationen und Ausfallstraßen<br />

ist vorbei“, sagt Alexander Rieck, der in der Fraunhofer-Gesellschaft<br />

entsprechende Forschungs- und Entwicklungsergebnisse<br />

zusammenführt und in internationalen Großprojekten anwendet.<br />

„Die Zukunft ist eine kleinräumige Gliederung der Stadt in viele<br />

Zentren, die sich zum Teil selbst versorgen und in denen Menschen<br />

wohnen, einkaufen und arbeiten.“ Die Fraunhofer-Gesellschaft hat<br />

beispielsweise erforscht, wie sich ein solches Areal mit Wasser versorgen<br />

und vom Abwasser befreien lässt. Eine Lösung sind dünne<br />

Vakuumröhren, die fast ohne Wasser auskommen und die Fäkalien<br />

wie in der Zugtoilette absaugen. Feststoffe können dann vor Ort 3<br />

37


38<br />

projekte_infrastruktur<br />

Grundsolides Fundament<br />

Grundlage einer jeden Stadtinfrastruktur ist<br />

heute vor allem eines: Beton. Aus Beton<br />

werden Straßen gegossen, Gerippe von<br />

Hochhäusern errichtet, Eisenbahnbrücken<br />

geformt oder Tunnel unter der Stadt ausgekleidet.<br />

Kein anderer Baustoff wird weltweit<br />

so häufig eingesetzt wie dieser – die<br />

klassische Mischung aus Zement, Wasser<br />

und Sand. Allein in Deutschland verbaut<br />

man jährlich 35 Millionen Tonnen Zement.<br />

Zement wird in turmhohen Anlagen hergestellt,<br />

die mitunter höher als der Kölner<br />

Dom sind. Manche liefern täglich bis zu<br />

15.000 Tonnen.<br />

Die <strong>ThyssenKrupp</strong> Tochter Polysius ist auf<br />

den Bau dieser großen Werke spezialisiert<br />

und hat etliche Anlagen in den wachsenden<br />

Nationen dieser Welt errichtet. Sie<br />

liefern die Essenz für neue Infrastrukturen<br />

wie etwa Bahn- oder Metrostrecken, die<br />

verstopfte Straßen entlasten – oder auch<br />

für unterirdische Shoppingmalls, wie sie<br />

niederländische Architekten in Amsterdam<br />

planen, um die Grachten- und Giebelkultur<br />

über der Erde unangetastet zu lassen.<br />

Dank spezieller bauchemischer Zusätze<br />

sind Beton und Zement heute wahre Hochleistungsstoffe.<br />

Beim Tunnelbau vermengt man Zement<br />

mit Erstarrungsbeschleunigern. Damit<br />

verfestigt sich der Beton innerhalb von<br />

Sekunden, sobald ihn die Spritzmaschine<br />

an die Tunnelwand geschleudert hat. Man<br />

weiß, dass Zementwerke ungeheure Mengen<br />

an Brennstoff benötigen. Um wertvolle<br />

Rohstoffe wie Öl, Gas oder Kohle zu sparen,<br />

werden die Anlagen deshalb so ausgelegt,<br />

dass sie sich auch mit Reststoffen<br />

befeuern lassen – mit Abfall oder auch<br />

Altreifen. Und auch bei den Zementrohstoffen<br />

wird im Sinne der Umwelt gespart.<br />

Vielfach setzt man heute Hochofenschlacke<br />

aus der Eisenherstellung ein. Wie sich<br />

zeigte, verbessern diese Abfallstoffe die<br />

Eigenschaften des Zements sogar. Auch<br />

beim Straßenbau, zum Beispiel in schallschluckenden<br />

Flüsterasphalten, kommen<br />

Schlacken heute zum Einsatz. 7<br />

3<br />

leicht abgetrennt, getrocknet und verbrannt oder zu Biogas vergoren<br />

werden. Für die Toilettenspülung wird Regenwasser genutzt,<br />

das in riesigen unterirdischen Tanks gesammelt wird – einer Art<br />

kommunaler Zisterne.<br />

Auch Alexandra Lux vom Institut für sozial-ökologische Forschung<br />

in Frankfurt am Main glaubt daran, dass die Infrastruktur künftig<br />

eher kleinräumig strukturiert sein wird. „Niemand weiß genau, wie<br />

sich das Wachstum der Städte in Jahrzehnten fortsetzen wird. Statt<br />

große Versorgungsnetze zu bauen, ist es sinnvoller, ein System zu<br />

entwickeln, das mitwachsen kann und aus kleinen Versorgungsinseln<br />

besteht.“ Lux arbeitet unter anderem an Verfahren, mit<br />

denen sich der Wasserbedarf prognostizieren lässt. Was die<br />

Wasserversorgung selbst angeht, hat die staatliche australische<br />

Forschungsorganisation Csiro unlängst eine eindrucksvolle Lösung<br />

präsentiert: Sie will künftig während der Regenzeit das Wasser in<br />

wasserführende Schichten tief in der Erde, sogenannte Aquifere,<br />

pumpen, um damit bei Trockenheit den Bedarf zu decken.<br />

Autarkie auf kleinem Raum<br />

Einen kleinräumigen Autarkieansatz verfolgt auch das Emirat Abu<br />

Dhabi, Dubais Nachbar. Bis zum Jahr 2020 soll dort die erste<br />

Ökoretortenstadt der Welt, „Masdar City“, aus dem Wüstensand<br />

gestampft werden. Die von Stararchitekt Sir Norman Foster<br />

konzipierte 50.000-Einwohner-Gemeinde soll die erste CO2-freie<br />

Metropole der Welt sein, die erste, die sich die Energie für Strom,<br />

Klimakälte oder den Verkehr selbst aus Sonne und Wind erzeugt.<br />

Autos gibt es nicht. Stattdessen gleiten fahrerlose elektrische Fahrkokons<br />

im Kellergeschoss unter den Straßen entlang. Sie bringen<br />

die Bewohner und Arbeiter automatisch von A nach B. Einzig die<br />

Hochhäuser fehlen. Statt der heute auch in Abu Dhabi üblichen riesigen<br />

Wohn- und Bürokomplexe, zwischen denen die Temperaturen<br />

mittags auf 50 Grad steigen, sind für Masdar beschauliche,<br />

zwei-, dreigeschossige Häuser und enge schattige Gassen geplant,<br />

die kühl bleiben. Bei aller Fortschrittlichkeit findet Masdar<br />

damit zurück zum traditionellen Baustil der arabischen Wüstenregionen.<br />

Zwar hat die Wirtschaftskrise die Pläne der Scheichs<br />

durcheinandergewirbelt, so dass derzeit ein neuer Masterplan aufgestellt<br />

wird. Doch bislang gibt es keine andere Stadt weltweit, die<br />

die umweltfreundliche Versorgung derart weit treiben wird.<br />

Im 19. Jahrhundert begannen die europäischen Städte mit dem<br />

Bau moderner Kanalisationen, Anfang des 20. folgten Wasserleitungen<br />

und Stromnetze. Infrastruktur war lange Zeit Versorgung in<br />

großen Dimensionen. Natürlich ist das auch heute noch der Fall.<br />

Doch eines ist sicher: Für die Versorgung der Städte wird man<br />

künftig zunehmend verschiedene Technologien miteinander kombinieren.<br />

Die Infrastruktur diversifiziert sich und wird sich damit<br />

perfekt an die jeweiligen Bedingungen anpassen lassen – in Europa,<br />

in Asien, in einer neuen Stadt oder beim Umbau eines alten<br />

Zentrums. „Welche Ideen sich durchsetzen, wissen wir heute noch<br />

nicht“, sagt Alexander Rieck, „aber es werden viele sein, denn das<br />

Bevölkerungswachstum schafft einen riesigen Bedarf.“ 7<br />

TEXT: TIM SCHRÖDER<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


»Statt große Versorgungsnetze zu bauen, ist es sinnvoller,<br />

ein System zu entwickeln, das mitwachsen kann.«<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

Marode Wasserleitungen im Westen, fehlende<br />

Infrastruktur in den Entwicklungsländern –<br />

die Wasserversorgung bleibt eine der großen<br />

globalen Herausforderungen.<br />

39


40<br />

projekte_werkstoffe<br />

STOFFE,<br />

AUS<br />

Ob spektakuläre Bauprojekte oder der Schutz berühmter Denkmäler – erst dank moderner<br />

Werkstoffe wie neu entwickelter Stahlsorten, Titan und Stahl-Sandwichelementen können Architekten<br />

viele ihrer Ideen verwirklichen.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


DENEN TRÄUME SIND<br />

Effektvoll: Der Eingangsbereich des Porsche-Museums in Stuttgart, das in 16 Metern Höhe auf drei<br />

massiven Betonpfeilern ruht und vom Wiener Architekturbüro Delugan Meissl entworfen wurde.<br />

Der hier verwendete korrosionsbeständige Edelstahl von <strong>ThyssenKrupp</strong> „steigert räumlich die großzügige<br />

Öffnung des Eingangsbereichs und verstärkt die Interaktion von Besuchern und Gebäude“,<br />

wie Architekt Roman Delugan erklärt.<br />

41


42<br />

projekte_werkstoffe<br />

Als der Burj Khalifa Bin Zayed, kurz auch Burj-Tower genannt,<br />

am 4. Januar 2010 offiziell in Dubai eingeweiht<br />

wurde, hatte auch <strong>ThyssenKrupp</strong> Nirosta einen Grund<br />

zu feiern. Denn für die Fassade des 828 Meter hohen<br />

Turms griffen die Bauherren auf rund 400 Tonnen<br />

rostfreien Edelstahl aus dem Werk in Dillenburg<br />

zurück, der von der deutschen Partnerfirma Strukturmetall<br />

bearbeitet und ausgeliefert wurde. Das in sechsjähriger<br />

Bauzeit nach den Plänen des US-Architekten Adrian Smith errichtete<br />

Gebäude ist aber nicht nur das höchste der Welt, sondern es<br />

ist auch besonders widerstandsfähig – rostfreier Edelstahl trotzt<br />

den Umwelteinflüssen, denen der Burj-Tower durch die gleichzeitige<br />

Nähe von Meer und Wüste und die dadurch hervorgerufenen<br />

Temperaturschwankungen ausgesetzt ist. Zudem wurde die Oberfläche<br />

so bearbeitet, dass Gewicht eingespart wird und die Fassade<br />

nicht spiegelt, um die den Airport in Dubai anfliegenden Piloten<br />

nicht zu irritieren.<br />

Neue Werkstoffe verändern die Architektur<br />

Der Burj-Tower beweist wie zahlreiche andere spektakuläre Bauwerke<br />

vor ihm, wie die Entwicklung neuer oder die Verbesserung<br />

bekannter Werkstoffe die Möglichkeiten der Architektur immer wieder<br />

erweitern. Beton war so ein Baustoff, und zwar schon in der<br />

Antike. Die Römer versetzten ihn mit Travertin, Tuff- und Ziegelsplitt<br />

und konnten so vor 2.000 Jahren beim Bau des Pantheons die für<br />

die damalige Zeit gewaltige Spannweite von 43 Metern stützenfrei<br />

überwölben. Glas und Eisen sorgten dagegen Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

für Aufsehen, als der britische Architekt Joseph Paxton<br />

das Ausstellungsgebäude für die erste Weltausstellung 1851 in<br />

London – den sogenannten Crystal Palace – im Wesentlichen mit<br />

diesen beiden Werkstoffen bauen ließ. Schon bald darauf trat dann<br />

der Stahl seinen weltweiten Siegeszug an. Beim Bau des nach<br />

seinem Erbauer Gustave Eiffel benannten Stahlfachwerkturms anlässlich<br />

der Hundertjahrfeier der Französischen Revolution und der<br />

damit verbundenen Weltausstellung von 1889 ging es erneut<br />

um die Zurschaustellung eines modernen Baumaterials. Am eindrucksvollsten<br />

symbolisiert allerdings der Bau des Empire State<br />

Buildings 1930/31 in New York in einer Rekordzeit von 18 Monaten,<br />

wie sehr Stahl die Architektur in den Metropolen in aller Welt revolutioniert<br />

hat. Mit 381 Metern Höhe war das Empire State Building<br />

bis zum Bau des World Trade Centers mehr als 40 Jahre lang das<br />

höchste Gebäude der Welt.<br />

Stahl bleibt zukunftsfähig<br />

Zwar wurde mittlerweile schon mehrfach das Ende des Stahlzeitalters<br />

vorausgesagt, doch konstante Investitionen in dreistelliger Millionenhöhe<br />

allein durch die deutsche Stahlindustrie sorgen dafür,<br />

dass Stahl gegenüber neu entwickelten Verbundwerkstoffen wie<br />

glasfaserverstärktem Kunststoff oder Metallschäumen<br />

sowohl im Preis als auch bei den Materialeigenschaften<br />

konkurrenzfähig bleibt. So stieg die Zahl der in der<br />

Europäischen Stahlregistratur gelisteten Stahlsorten in<br />

den letzten Jahren kontinuierlich auf 2.379 marktrelevante<br />

Sorten. „Allein im Jahr 2009 kamen 86 neue<br />

Stahlsorten hinzu und damit fünf mehr als in den vorangegangenen<br />

vier Jahren zusammen“, so Wolfgang<br />

Schmitz von der Wirtschaftsvereinigung Stahl. Hinzu<br />

kommen weitere nicht registrierte Werkssondermarken<br />

und nichteuropäische Stähle. Neue Sorten sollen dabei<br />

entweder Gewichtseinsparungen bei gleichen Materialeigenschaften<br />

oder verbesserte Eigenschaften bei gleichem<br />

Gewicht erzielen. Das Wechselspiel von Materialforschung<br />

und -entwicklung und der Anpassung an die<br />

ständig steigenden Wünsche von Bauherren und Architekten<br />

haben über Jahrzehnte hinweg dafür gesorgt, dass immer<br />

höher gebaut wurde und immer gewagtere Entwürfe letztlich realisiert<br />

werden konnten.<br />

Vor allem die Kombination von Stahl und Beton hat dafür gesorgt,<br />

dass wie beim Bau des Burj-Towers in immer neue Dimensionen<br />

»Neue Werkstoffe sorgen dafür, dass immer gewagtere Entwürfe<br />

realisiert werden können.«<br />

vorgestoßen werden konnte. Die jüngste Entwicklung beim Beton<br />

ist sogenannter transluzenter, also bis zu einem gewissen Grad<br />

lichtdurchlässiger, Beton. Durch das Einlegen von optischen Fasern<br />

gelang es dem Ungarn Áron Losonczi, diese neuartigen Betonelemente<br />

herzustellen. Selbst bei bis zu 20 Metern Wanddicke sind<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

3


Beton | Bereits von den Römern<br />

beeindruckend im Pantheon in Rom<br />

eingesetzt, entwickelt sich auch dieser<br />

Werkstoff weiter und ermöglicht<br />

heute kühne Konstruktionen wie<br />

die Juscelino-Kubitschek-Brücke in<br />

Brasília.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

Edelstahl | Ob in der Fassade des neu<br />

erbauten Burj-Towers in Dubai oder zur<br />

Stabilisierung der Dresdner Frauenkirche<br />

– Architekten setzen das Material<br />

von <strong>ThyssenKrupp</strong> Nirosta für viele verschiedene<br />

Zwecke ein.<br />

43


44<br />

projekte_werkstoffe<br />

Glas | Nichts an<br />

Faszination verloren<br />

hat für Architekten<br />

das transparente<br />

Material<br />

Glas – wie hier<br />

in der berühmten<br />

Pyramide von<br />

Ieoh Ming Pei vor<br />

dem Louvre (Bild<br />

links) oder<br />

als Dach des um<br />

1900 errichteten<br />

Grand Palais,<br />

ebenfalls in Paris<br />

(Bild Mitte links).<br />

Titan | Unverwüstlich: Titan verwittert auch unter ungünstigen Witterungsbedingungen<br />

kaum und wird immer häufiger in Fassaden genutzt. So besteht die Kuppel des neuen<br />

Nationaltheaters in Peking (Bild Mitte rechts) teilweise aus dem Werkstoff. Und schon<br />

vor 20 Jahren lieferte <strong>ThyssenKrupp</strong> Titanium 30 Tonnen des Werkstoffs für die<br />

Türen der Hassan-II.-Moschee in Casablanca, die so perfekt vor Korrosion durch die<br />

aggressive Meeresluft geschützt sind.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


3<br />

dabei noch Licht und Schatten zu erkennen. In Mexiko-Stadt wird<br />

dieser Baustoff zurzeit das erste Mal im großen Stil von den Architekten<br />

Ebner + Sánchez beim Erweiterungsbau der Firmenzentrale<br />

des mexikanischen Bauunternehmens ICA eingesetzt. Das 120<br />

Meter lange, auf wenigen Stützen ruhende Gebäude soll eine um-<br />

laufende Fassade mit Lamellen aus dem transluzenten Beton erhalten.<br />

Neben Stahl und Beton ist vor allem Titan ein Werkstoff, der<br />

hervorragende mechanische Eigenschaften besitzt, zudem sehr<br />

korrosionsbeständig ist und in der modernen Architektur den Bau<br />

aufsehenerregender Bauwerke ermöglicht.<br />

Das 1997 fertiggestellte und mit einer Titanbeschichtung<br />

versehene Guggenheim-Museum<br />

in Bilbao ist das bekannteste, aber bei<br />

weitem nicht einzige Bauwerk, das auf diese<br />

Weise glänzen kann. So verwendete der japanische<br />

Architekt Kisho Kurokawa beim zwei<br />

Jahre später eröffneten Erweiterungsbau des<br />

Van Gogh Museums in Amsterdam ebenfalls<br />

Titan in Verbund mit Aluminium, um dem<br />

elliptisch geformten Baukörper mehr Glanz<br />

gegenüber dem nüchternen, viereckigen<br />

Hauptgebäude zu verleihen. Neben Exklusivität<br />

und Glanz punktet Titan bei Bauherren<br />

und Architekten vor allem mit seiner Unverwüstlichkeit:<br />

Weil es sich bei Kontakt mit<br />

Sauerstoff mit einer dünnen, transparenten<br />

Oxidschicht umgibt, die fast gar nicht mehr<br />

reagiert, verwittert es auch unter ungünstigen<br />

klimatischen Verhältnissen kaum. Ein Umstand,<br />

der auch die Bauherren des Glasgower<br />

Museums der Wissenschaft bewogen hat, für<br />

den Bau inklusive des angegliederten IMAX-Kinos eine Titanummantelung<br />

für Dach und Fassade zu wählen.<br />

Rostfreier Edelstahl und Titan kommen aber nicht nur für moderne<br />

Bauvorhaben in Betracht, sondern auch an ganz unerwarteter Stelle<br />

zum Einsatz. Dort wo Hitze, Kälte und Korrosion über Jahre die<br />

Bausubstanz von antiken, mittelalterlichen oder Gebäuden aus jün-<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

geren Epochen zerstören, bieten die modernen Werkstoffe die<br />

Chance, dem Verfall entgegenzuwirken. „Normalerweise wird Edelstahl<br />

nur mit moderner Architektur in Verbindung gebracht“, sagt<br />

Gert Weiß, Leiter Produktservice bei <strong>ThyssenKrupp</strong> Nirosta. „Dabei<br />

kann er auch alte Gebäude auf Vordermann bringen, ohne ihnen<br />

»Ob Kölner Dom, Akropolis oder Markuskirche: Stahl und Titan können<br />

auch alte Gebäude wieder auf Vordermann bringen.«<br />

einen völlig neuen Charakter zu verleihen.“ Wie etwa den Kölner<br />

Dom, bei dem für einen auf 100 Metern Höhe liegenden Besucherrundgang<br />

die alten und stark korrodierten Eisenträger durch<br />

Träger aus Edelstahl ersetzt wurden. Auch die Konstruktion der<br />

Dresdner Frauenkirche und das Reiterstandbild vor dem Bremer<br />

Rathaus wurden durch Befestigungselemente aus Nirosta-Stählen<br />

stabilisiert. „Bei diesen Anwendungsbeispielen sticht nicht die<br />

technische Ästhetik des Materials hervor, sondern seine Funktionalität“,<br />

so Weiß weiter.<br />

Moderner Denkmalschutz aus Stahl und Titan<br />

Das gilt auch für den verborgenen Einsatz von Titan auf der Akropolis<br />

in Athen. Dort wurde schon vor Jahren der ursprünglich für<br />

die Restauration eingesetzte Stahl durch Titanstäbe von Thyssen<br />

Krupp Titanium ersetzt, um die korrosionsbedingte Zerstörung des<br />

Marmors in den weltberühmten Tempelsäulen zu verhindern. Auch<br />

an der Rettung des Wahrzeichens von Venedig, des Campanile di<br />

San Marco, vor dem Verfall ist <strong>ThyssenKrupp</strong> Titanium beteiligt.<br />

Der Campanile, ein freistehender Glockenturm des Markusdoms auf<br />

der gegenüberliegenden Seite des Markusplatzes, wurde erstmals<br />

im 10. Jahrhundert errichtet, stürzte 1902 ein und wurde anschließend<br />

wiederaufgebaut. Das Fundament des fast 100 Meter<br />

hohen Turms besteht jedoch aus Holzpfählen, die im Laufe der Zeit<br />

durch das Salzwasser marode wurden. Außerdem greifen aufgrund<br />

des steigenden Meeresspiegels Hochwasser und Überschwemmungen<br />

die Bausubstanz an. Dadurch können Risse entstehen,<br />

und der Markus-Turm könnte sich seitlich neigen oder erneut einstürzen.<br />

In einem aufwendigen Verfahren wird in einer Bauzeit von<br />

zwei Jahren bis Ende 2011 eine Titankonstruktion in dreieinhalb<br />

Metern Tiefe unter Wasser um das bisherige Fundament herum<br />

gespannt, die das Bauwerk langfristig stabilhalten soll. 7<br />

TEXT: CHRISTOPH NEUSCHÄFFER<br />

45


46<br />

2008<br />

projekte_quartier<br />

2007


2009<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

Aus Träumen wird Wirklichkeit: Im Zeitraffer zeigen 52 Bilder,<br />

wie in rund zweieinhalb Jahren aus einer Industriebrache am<br />

Rande der Essener Innenstadt der weitläufige Campus des<br />

neuen <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartiers entstanden ist. Im Sommer<br />

2010 ziehen die Mitarbeiter in die neue Konzernzentrale von<br />

<strong>ThyssenKrupp</strong> ein. Das markante, zentrale Gebäude Q1 etwas<br />

links von der Blickachse steht mit seinem großen Panoramafenster<br />

ebenso wie der Campus insgesamt für Offenheit und<br />

die Einladung zum Dialog. Welche Besonderheiten das Quartier<br />

außerdem noch aufweist, wie sich Innovation und Zukunftsorientierung<br />

des Konzerns darin widerspiegeln und warum das<br />

230 Hektar große Areal auch aus historischer Sicht so interessant<br />

ist, steht auf den folgenden Seiten.<br />

2010<br />

47


48<br />

quartier_interview<br />

»BEWEGUNG<br />

Ein Gespräch über das neue <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier in Essen mit Ralph Labonte, Personalvorstand<br />

der <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>AG</strong>, der das Projekt federführend betreut hat.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


UND AUFBRUCH«<br />

Herr Labonte, 2006 startete <strong>ThyssenKrupp</strong> einen internationalen<br />

Architektenwettbewerb für das neue <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier, Mitte<br />

2007 war der erste Spatenstich. Nun ziehen die Mitarbeiter des<br />

Konzerns ein. Was bedeutet ein derart großes Projekt, das Tausende<br />

von Menschen an einem neuen Standort versammelt, für <strong>ThyssenKrupp</strong>?<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

Nach zwei Jahren Bauzeit fand am 17. Juli 2009 das Richtfest der<br />

Konzernzentrale im neuen <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier statt. Im Namen<br />

des Vorstands dankte Ralph Labonte all jenen, die mit viel<br />

Know-how dazu beigetragen haben, dass hier ein Stadtteil und<br />

alter Industriestandort zu neuem Leben erweckt wurde.<br />

Um es gleich zu Beginn zu sagen: Wir sind froh und stolz, nun in ein architektonisch<br />

so gelungenes Quartier einzuziehen, das genau auf unsere<br />

Anforderungen zugeschnitten ist. Es macht auf vielfältige Weise deutlich,<br />

wie wir uns sehen und was uns wichtig ist. Es ist somit Ausdruck<br />

unseres Selbstverständnisses. Mit der Rückkehr ins Ruhrgebiet bekennen<br />

wir uns klar zu der Region, in der <strong>ThyssenKrupp</strong> und seine beiden<br />

3<br />

49


50<br />

quartier_interview<br />

Ein Quartier für<br />

2.000 Mitarbeiter<br />

Im neuen Quartier in Essen konzentriert <strong>ThyssenKrupp</strong><br />

seine Verwaltungsstandorte – neben<br />

dem zweiten Firmensitz in Duisburg. Der gesamte<br />

Krupp-Gürtel umfasst 230 Hektar. Er<br />

grenzt an die westliche Essener Innenstadt und<br />

erstreckt sich auf 7 Kilometer Länge bis nach<br />

Norden. Auf dem Campus des <strong>ThyssenKrupp</strong><br />

Quartiers arbeiten seit Juni 2010 etwa 2.000<br />

Mitarbeiter. Gestaltet wurde das Quartier nach<br />

einem Entwurf von Chaix & Morel et associés,<br />

Paris/JSWD Architekten und Planer, Köln.<br />

Das Bürokonzept wurde in Zusammenarbeit<br />

mit dem Fraunhofer Institut entwickelt, wobei<br />

die Wünsche der Mitarbeiter berücksichtigt<br />

wurden. 7<br />

Das „Schale-Kern“-Prinzip<br />

Die Grundkonzeption aller Campus-Gebäude<br />

folgt der „Architektur der räumlich erlebbaren<br />

Mitte“ als Zeichen für Dialog und Kommunikation.<br />

Dabei gilt das Prinzip „Schale – Kern“:<br />

Alle Gebäude bestehen aus mindestens zwei<br />

L-förmigen Einzelbaukörpern, die jeweils eine<br />

gemeinsame Mitte umschließen. Damit entstehen<br />

zwei Fassadentypen – ein in die Mitte,<br />

in Richtung der Höfe und Atrien, orientierter<br />

Fassadentypus (der „Kern“) und einer, der<br />

Bezug zu den äußeren Freianlagen aufnimmt<br />

(die „Schale“). Dabei bilden die mit warmen,<br />

sonnigen Farbtönen gestalteten Bleche des<br />

„Kerns“, die in den Abend- und Nachtstunden<br />

illuminiert werden, einen starken Kontrast<br />

zur rauen, metallischen äußeren „Schale“. 7<br />

3<br />

Ein neuer, grüner Stadtteil: links der neue Krupp-Gürtel, rechts die Essener Innenstadt,<br />

verbunden durch den neuen Berthold-Beitz-Boulevard.<br />

Vorgängerunternehmen ihre Wurzeln haben. In Essen hat 1811 die Konzerngeschichte<br />

mit einer kleinen Gussstahlfabrik namens Krupp begonnen<br />

und hier wird sie jetzt fortgeschrieben. Das ist etwas Besonderes.<br />

Denken Sie nur an die Standortverlagerungen anderer Unternehmen,<br />

auch ins Ausland. Außerdem steht ein Umzug immer auch für Bewegung,<br />

für Aufbruch. Ich denke, ich spreche für alle Konzernmitarbeiter,<br />

wenn ich sage, dass wir uns dieser historischen Dimension bewusst<br />

sind. Ich bin gespannt, welche Dynamik das bei uns allen bewirkt.<br />

Welche Bedeutung hat der Standort einer Konzernzentrale heute<br />

überhaupt noch?<br />

Ein Standort ist immer auch ein Signal der Verbundenheit mit einer<br />

Stadt, einer Region. Wo sich ein Unternehmen ansiedelt, ist gerade in<br />

einer globalisierten Welt von großer Bedeutung und hohem symbolischen<br />

Wert – für das Unternehmen selbst, für seine Mitarbeiter und<br />

natürlich für den jeweiligen Ort. Auch ein international vernetzter Kon-<br />

Baudimensionen_1<br />

Baustelle<br />

über 300 am Bau beteiligte Unternehmen<br />

max. rund 1.600 Beschäftigte auf der Baustelle<br />

mehrere hundert Baufahrzeuge pro Tag<br />

13 Kräne (max. zeitgleicher Einsatz)<br />

450.000 m 3 bewegte Bodenmassen<br />

ca. 3 km Bauzaun<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


zern wie <strong>ThyssenKrupp</strong> mit Standorten auf fünf Kontinenten braucht<br />

eine solche zentrale Verwaltung – als Herz des Konzerns und Symbol für<br />

dessen Entwicklung.<br />

Das städtebauliche Campus-Konzept soll auch – zumindest teilweise<br />

– eine Öffnung nach außen bringen. Ist es nicht trotzdem<br />

eher wahrscheinlich, dass sich das Quartier zu einem Mikrokosmos<br />

für die dort Beschäftigten entwickelt?<br />

Nein, das denke ich nicht – das Quartier ist ja eingebettet in eine sehr<br />

umfassende städtebauliche Entwicklung. Vor elf Jahren schon entstand<br />

der Rahmenplan für den sogenannten Krupp-Gürtel, das Entwicklungsareal,<br />

das zwischen der Essener Innenstadt und dem Stadtteil Altendorf<br />

in weiten Teilen über Jahrzehnte brach lag. Mit der schieren Größe von<br />

rund 230 Hektar handelt es sich dabei um das größte innenstadtnahe<br />

Entwicklungsareal in Deutschland. Ziel damals wie heute war es, die<br />

Innenstadt zu erweitern und diese mit dem Stadtteil Altendorf zu verknüpfen.<br />

Mit der Entscheidung, die Verwaltungseinheiten von Thyssen<br />

Krupp im Herzen dieses Entwicklungsareals zu konzentrieren, haben wir<br />

in Essen eine städtebauliche Dynamik in Gang gesetzt. So hat die Stadt<br />

parallel den ersten Bauabschnitt des Berthold-Beitz-Boulevards und<br />

des Nordteils des Krupp-Parks in Angriff genommen und bereits den<br />

Bürgern der Stadt übergeben. Ich bin sehr zuversichtlich, dass auch die<br />

Öffentlichkeit unseren Campus entdecken wird – und so ein lebendiger<br />

Austausch des Konzerns mit seiner Umgebung entsteht. Indem wir<br />

den Campus so offen gestalten, wollen wir ein Zeichen setzen,<br />

gerade in einer Zeit, in der Sicherheitskontrollen schon fast überhandnehmen.<br />

Wir haben keinen Zaun und keine Mauer gebaut, damit diese<br />

immense Fläche nicht nur den Mitarbeitern zur Verfügung steht. Dass<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

3<br />

Ein Ort zum Arbeiten und zum Verweilen: der neue Campus<br />

Unter der Erde<br />

Auch unter dem „grünen Teppich“ des <strong>ThyssenKrupp</strong><br />

Campus ist allerhand los: Unter<br />

Tage ist ein raffiniertes Logistiksystem entstanden.<br />

Großzügig dimensionierte unterirdische<br />

Garagen verbinden alle Gebäude in einem<br />

ausgeklügelten Verkehrssystem und sorgen<br />

so dafür, dass der gesamte Campus autofrei<br />

bleibt – Ver- und Entsorgung, Anlieferung<br />

und Abholung finden unter der Erde statt,<br />

Müllfahrzeuge oder Küchenwagen werden auf<br />

dem Campus nicht zu sehen sein. Jedes Gebäude<br />

lässt sich unterirdisch einzeln anfahren.<br />

Niemand muss also bei schlechtem Wetter<br />

oberirdisch über den Campus laufen. 7<br />

51


52<br />

quartier_interview<br />

Eine starke Gemeinschaft<br />

Den Wettbewerb zum <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier<br />

hat eine Arbeitsgemeinschaft des Pariser Architekturbüros<br />

Chaix & Morel et associés und<br />

des Kölner Architekturbüros JSWD Architekten<br />

gewonnen. Die Büros sind freundschaftlich<br />

miteinander verbunden; eine Reihe von Vorhaben<br />

sind bereits aus gemeinsamen Entwürfen<br />

entstanden, darunter der neue Hauptbahnhof<br />

von Luxemburg.<br />

Das Kölner Architekturbüro JSWD besteht<br />

seit dem Jahr 2000. Die vier Partner Jürgen<br />

Steffens, Olaf Drehsen sowie Konstantin und<br />

Frederik Jaspert leiten ein Büro mit rund 50<br />

Mitarbeitern. Als eine seiner besonderen Stärken<br />

sieht JSWD den „ausgeprägten Sinn für<br />

das Planen in stadträumlichen Dimensionen“.<br />

Mit wenigen, aber klar definierten Elementen<br />

schaffen die Architekten eindeutige Gebäudeund<br />

Freiraumhierarchien. Das charakterisiert<br />

auch das <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier: Gebäude<br />

und umgebende Landschaft sind gleichberechtigte<br />

Teile eines räumlichen Ganzen; erst<br />

eingebettet in die Grün- und Platzräume des<br />

Campus entfalten die einzelnen Bausteine ihre<br />

volle Wirkung.<br />

Das Atelier d’architecture Chaix & Morel et<br />

associés, gegründet 1983, umfasst zurzeit ein<br />

Team von acht Partnern (Philippe Chaix, Jean-<br />

Paul Morel, Rémy Van Nieuwenhove, Walter<br />

Grasmug, Anabel Sergent, Denis Germond,<br />

Benoit Sigros und Rémi Lichnerowicz) und<br />

30 Mitarbeitern. Als Entwurfsprioritäten gelten<br />

für das Büro das ökologisch nachhaltige<br />

Bauen und Planen, die Suche nach architektonischen<br />

Ausdrucksformen mit starker Identität<br />

sowie die Anwendung innovativer Techniken<br />

in der Planung und Entwicklung von Gebäuden.<br />

Zu seinen Gestaltungsprinzipien zählt<br />

Chaix & Morel eine Architektur von nüchterner<br />

Eleganz, eine kontextuelle Formensprache und<br />

einen subtilen Umgang mit natürlichem Licht.<br />

Das Atelier engagiert sich derzeit verstärkt<br />

außerhalb Frankreichs, nicht zuletzt dank der<br />

intensiven Zusammenarbeit mit anderen Architekten<br />

im Ausland. Mit dem <strong>ThyssenKrupp</strong><br />

Quartier hat Chaix & Morel et associés erstmals<br />

im Rahmen einer solchen Konstellation<br />

ein Projekt großen Maßstabs verwirklicht. 7<br />

3<br />

wir die Einladung zum Dialog ernst meinen, zeigt auch die Gestaltung<br />

des Forums: Es soll ein Ort der Gespräche und des Austauschs sein.<br />

Welchen Blick bzw. welche Einschätzung erhoffen Sie sich von<br />

Ihren Gästen und Nachbarn in Essen? Erwarten Sie eine städtebauliche<br />

Entwicklung wie wir sie in den letzten Jahren in Deutschland<br />

beispielsweise am Potsdamer Platz in Berlin oder in der Hamburger<br />

HafenCity erlebt haben?<br />

Das wird die Zukunft zeigen. Vergleiche dieser Art sind immer mit gewissen<br />

Unwägbarkeiten verbunden, weil die Gegebenheiten in jeder<br />

Stadt andere sind. Essen und das Ruhrgebiet haben in den vergangenen<br />

Jahrzehnten einen umfassenden Strukturwandel durchgemacht,<br />

der bis heute anhält – und sich übrigens auch in der Wahl zur diesjährigen<br />

Kulturhauptstadt Europas widerspiegelt. Der Entwicklungsprozess,<br />

mit dem die Zukunft dieser Region gesichert werden sollte, war alles<br />

andere als einfach und vielerorts mit schmerzhaften Entscheidungen<br />

verbunden. In diesem Zusammenhang ist unsere Standortentschei-<br />

»Die Einladung zum Dialog<br />

meinen wir ernst.«<br />

dung auch ein Signal, dass wir an die Zukunft der Region glauben. Eine<br />

solche Einschätzung erhoffe ich mir auch von unseren Gästen und<br />

Nachbarn. Die Grundlagen für eine lebendige städtebauliche Entwicklung<br />

– die man nie ganz genau steuern kann und die sich deshalb auch<br />

nicht genau vorhersagen lässt – sind mit dem Rahmenplan und dem<br />

<strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier gelegt. Jetzt kommt es darauf an, was wir und<br />

alle anderen daraus machen. Das wird spannend.<br />

Architektur ist immer auch ein Selbstbild dessen, der sie „bewohnt“.<br />

Was sagt der Quartierneubau über <strong>ThyssenKrupp</strong> aus?<br />

Welche Botschaft soll das Quartier nach außen vermitteln, welche<br />

Zeichen setzen?<br />

Wir sind in erster Linie ein Technologiekonzern: Wir leben von den Ideen<br />

hochqualifizierter Ingenieure, die unsere Produkte und unser Know-how<br />

in die Welt tragen. Dafür sind Wissensaustausch und Dialog essentiell –<br />

das zeigen wir etwa mit der Campusstruktur und der Öffnung nach<br />

außen. Wir wollen grundsätzlich Transparenz und Offenheit signalisieren.<br />

Das beweisen unter anderem die Fassaden. Das zentrale<br />

Q1-Gebäude zum Beispiel hat große fensterartige Öffnungen, die<br />

„Landschaftsfenster“. Darüber hinaus spiegelt das Quartier die gelebte<br />

Baudimensionen_2<br />

Baustoffe<br />

90.000 m 3 Beton<br />

23.000 t Stahl<br />

28.600 m 2 Teppich<br />

16.300 m 2 Glasflächen<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


Symbol einer neuen Zukunft von <strong>ThyssenKrupp</strong> in Essen: Mit dem Spatenstich am 12. Juni 2007<br />

begannen die Bauarbeiten für das Quartier. Von links: Dr. Gerhard Cromme, Vorsitzender<br />

des <strong>ThyssenKrupp</strong> Aufsichtsrats, Dr. Wolfgang Reiniger, Oberbürgermeister der Stadt Essen,<br />

Prof. Dr. Berthold Beitz, Ehrenvorsitzender des <strong>ThyssenKrupp</strong> Aufsichtsrats, Ministerpräsident<br />

Jürgen Rüttgers, Dr. Ekkehard Schulz, Vorsitzender des Vorstands der <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>AG</strong>, und<br />

Ralph Labonte, Mitglied des Vorstands der <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>AG</strong>.<br />

Innovationskultur unseres Konzerns wider. Das zeigt sich auf den ersten<br />

Blick in Dingen wie der Feinblechfassade oder der weltweit einmaligen<br />

Sonnenschutzkonstruktion, die wir im eigenen Hause entwickelt haben.<br />

Aber auch auf den zweiten und dritten Blick werden Mitarbeiter und<br />

Gäste hier viele Innovationen entdecken. Als globaler Technologiekonzern<br />

sieht sich <strong>ThyssenKrupp</strong> außerdem in der Pflicht, an der Gestaltung<br />

eines nachhaltigen Lebensumfelds für die heutige und kommende<br />

Generationen mitzuwirken – und das fängt natürlich im eigenen Hause<br />

an. Die besonders nachhaltige Bauweise des Quartiers ist mit einem<br />

renommierten Vorzertifikat bereits bestätigt worden.<br />

Wie werden die Nutzer das Quartier erleben? Welche Arbeits- und<br />

Lebensumgebung finden sie vor?<br />

Auch hier sind wieder die Stichworte Transparenz und Offenheit zu nennen.<br />

Die geschosshohen Verglasungen vermitteln Großzügigkeit: Sie<br />

sorgen für höchstmöglichen natürlichen Lichteinfall und damit ein helles,<br />

freundliches Arbeitsambiente. Die Böden, Decken und Büromöbel<br />

aus hellen Materialien verstärken die Wirkung des Lichts im Inneren der<br />

Gebäude. Die Wasserachse, der Flanier-Boulevard und die offene Campus-Struktur<br />

schaffen ein inspirierendes Arbeitsumfeld. Hierzu tragen<br />

auch die Grünflächen bei, auf denen man ebenso arbeiten wie verweilen<br />

kann. Mit dem nicht religiös orientierten „Raum der Stille“ bieten wir<br />

unseren Mitarbeitern zudem eine Rückzugsmöglichkeit aus dem hektischen<br />

Arbeitsalltag. Das alles drückt unsere Vorstellung von zukunftsorientierten<br />

Arbeitsplätzen aus. Sicher wird die Konzentration von bislang<br />

getrennten Standorten für einige zu Veränderungen im bisherigen<br />

Tagesablauf führen. Aber wir haben auch in der Vergangenheit schon<br />

den einen oder anderen Umzug gemeistert und werden das auch diesmal<br />

tun.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

3<br />

Allee der Welten<br />

In der Allee der Welten vor dem Forum spiegelt<br />

sich die Internationalität und globale Ausrichtung<br />

der <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>AG</strong>. Die 68 hier gepflanzten<br />

Bäume stammen aus fünf Kontinenten.<br />

Beim der Auswahl wurde bewusst darauf<br />

geachtet, ein bezüglich Wuchs und Belaubung<br />

möglichst vielfältiges Ensemble entstehen<br />

zu lassen. Ähnlich wie seinerzeit im Essener<br />

Hügel-Park, wo die Familie Krupp ebenfalls<br />

Bäume aus aller Herren Länder pflanzte,<br />

wurden keine Baumschösslinge eingepflanzt,<br />

sondern bereits größere Exemplare, um<br />

zeitgleich mit dem Einzug die gewünschte Gesamtwirkung<br />

zu erzielen. 7<br />

Neuland in der Stadt<br />

Mit dem langfristig angelegten Projekt Krupp-<br />

Gürtel entsteht mitten in der Essener Innenstadt<br />

ein neues urbanes Viertel, das Räume für<br />

Arbeiten, Freizeit und Kultur bieten soll. Dabei<br />

spielen die Bedürfnisse und Potentiale der<br />

bestehenden Nachbarschaften eine zentrale<br />

Rolle: Anbindungen und Verknüpfungen<br />

werden aufgegriffen, Übergänge geschaffen<br />

und mit den Qualitäten des Krupp-Gürtels die<br />

umliegenden Quartiere gestärkt. Der nach Fertigstellung<br />

des Südabschnitts rund 22 Hektar<br />

große, vom Landschaftsarchitekten Andreas<br />

Kipar gemeinsam mit den Bürgern der angrenzenden<br />

Stadtteile gestaltete Krupp-Park bietet<br />

viel Platz für Freizeit und Erholung. 7<br />

53


54<br />

quartier_interview<br />

Panoramafenster<br />

Das Atrium des zentralen Q1-Gebäudes ist das<br />

Herz des <strong>ThyssenKrupp</strong> Campus – und wer<br />

den Campus betritt, kann sehen, wie es<br />

schlägt. Denn zwei gut 25 Meter breite und<br />

28 Meter hohe Fenster öffnen von Süden und<br />

Norden den Blick in den Innenraum. Da es<br />

weder Fensterrahmen noch -sprossen gibt, ergibt<br />

sich zunächst der Eindruck, als bestünden<br />

die Landschaftsfenster aus einer einzigen,<br />

riesigen Glasscheibe. Wie wurde diese maximale<br />

Transparenz erreicht? Ziel musste unter<br />

anderem sein, so wenig einzelne Glasscheiben<br />

wie möglich zu verwenden, um die Fenster<br />

mit möglichst wenig Silikonfugen zu unterbrechen.<br />

Ergebnis dieser Überlegungen sind<br />

Isolierglasscheiben, die je 2,15 Meter breit und<br />

3,60 Meter hoch sind. Eine entscheidende<br />

Rolle spielte außerdem eine möglichst schlanke<br />

Tragkonstruktion für die Fenster, so dass<br />

die Ingenieure eine vertikal und horizontal vorgespannte<br />

Seilfassade wählten. Daran sind<br />

die Scheiben mittels Klemmhalter punktförmig<br />

gelagert. Die Landschaftsfenster sorgen so<br />

nicht nur für Transparenz, sondern wirken<br />

zugleich als technische Meisterleistung aus<br />

Stahl und Glas und somit als Zeichen der Innovationskraft<br />

von <strong>ThyssenKrupp</strong>. 7<br />

3<br />

Welches waren die größten Herausforderungen im Zusammenhang<br />

mit dem Neubau? Was hat Sie in der Projektphase am meisten<br />

überrascht?<br />

Das Bauprojekt insgesamt war eine logistische Herausforderung. Wir<br />

haben etwa eine Hochspannungsleitung verlegt, die das Gelände<br />

durchschnitt – ein in Deutschland einzigartiger Vorgang. Außerdem<br />

haben wir das gesamte Gebiet mit Brecheranlagen durchpflügt, um<br />

Fundamente der Gussstahlfabrik abzuräumen und den Boden für die<br />

Umsetzung der Wasserachse absolut glatt einzuebnen. Gut bewältigt<br />

haben wir auch andere kleinere und größere Überraschungen, wie zum<br />

Beispiel die Notlandung eines Kleinflugzeugs auf unserem Baugelände.<br />

Welche Elemente des Quartiers empfinden Sie als besonders<br />

ungewöhnlich im Vergleich mit anderen, ähnlich gelagerten Projekten?<br />

Zum einen ist das der architektonische Gesamtauftritt: Unsere Struktur<br />

ist nun so flexibel, dass wir auf dynamische Veränderungsprozesse innerhalb<br />

des Konzerns reagieren können. Ungewöhnlich ist sicher auch<br />

das Gesamtkonzept mit einem Drittel befestigter Fläche und einem<br />

Anteil von zwei Dritteln unversiegelter Grünflächen. Die tragen mit rund<br />

700 Bäumen und der großzügig angelegten Wasserfläche dazu bei, das<br />

Kleinklima des gesamten Geländes erheblich zu verbessern. Vielleicht<br />

einzigartig ist der Einsatz eigener Produkte, die wir zum Teil speziell für<br />

das Quartier entwickelt haben. Auf diese Weise haben wir eine Corporate<br />

Architecture geschaffen, eine identitätsstiftende Baukultur, die die<br />

neue Konzernzentrale in Essen unverwechselbar macht.<br />

Abschließend Ihre ganz persönliche Einschätzung: Angenommen,<br />

wir sind im Jahre 2030. Wird Ihnen der Umzug ins Quartier als ein<br />

Epochenwechsel für den Konzern erscheinen?<br />

Ein Epochenwechsel wäre sicher zu viel gesagt. Mit dem Umzug wird<br />

aus <strong>ThyssenKrupp</strong> kein grundlegend anderes Unternehmen. Aber wenn<br />

man Gewohntes auf den Prüfstand stellt, wie wir das mit diesem<br />

Bauprojekt getan haben, entstehen immer auch neue Ideen. Mit dem<br />

Quartier haben wir die Unternehmensidentität und die Ansprüche, die<br />

wir an uns selbst haben – Innovation und Nachhaltigkeit, Offenheit und<br />

Wissensvernetzung – baulich umgesetzt. Das sorgt auch für neue Impulse<br />

und Aufbruchstimmung. Insofern meine ich schon, dass wir auf<br />

diesen Umzug als eine wichtige Wegmarke, vielleicht sogar den Beginn<br />

eines neuen Kapitels der Konzerngeschichte zurückblicken werden. 7<br />

Baudimensionen_3<br />

Infrastruktur<br />

320.000 laufende Meter elektrische Leitungen<br />

9.000 laufende Meter Wasserrohre<br />

29 Aufzüge, Fahrtreppen und Hebebühnen<br />

ca. 3 km Erdsonden (Geothermie)<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


Raum der Stille<br />

Mensch werde wesentlich: denn wenn die Welt vergeht, so fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht.<br />

Angelus Silesius<br />

3 Mit diesen Worten könnte man einen Andachtsraum im Thyssen<br />

Krupp Quartier in Essen beschreiben. Ein Konzern versucht, zukunftsfähige<br />

Strukturen zu schaffen und eröffnet seinen visionären Grundlagen<br />

Räume. Fundament jeder Unternehmung sind die Menschen.<br />

Jene, für die ein Unternehmen da ist – die Zielgruppe sozusagen – und<br />

jene, mit denen ein Unternehmen da ist – die Handelnden. Ein Raum<br />

der Stille und der Andacht sollte beide Gruppen einladen, innezuhalten,<br />

sich zu stärken und dann die Wege des Alltags und des Geschäfts<br />

weiterzugehen. Die kleine Rast in der Hetze des Betriebs – das war und<br />

ist die Funktion der Wegekapellen. Diese kleinen Bauwerke sind für alle<br />

sichtbar da, laden ein, aber man kann sie auch liegen lassen und<br />

vorbeigehen. Vielleicht kann das ein Akzent des Raumes der Stille sein.<br />

Ein Andachtsraum kann im Kontext einer Verwaltungszentrale nur<br />

Akzent sein, sollte nicht mit einem Schwerpunkt verwechselt werden.<br />

Ein „Raum im Raum“ also – in diesem Sinne ein Symbol, das Zusammenhänge<br />

anklingen lässt, aber nicht ausformuliert. Wo sollte im Kontext<br />

des Bauwerks ein solcher Raum liegen? Für Suchende müsste er<br />

sichtbar und auffindbar sein, für Einkehrende (ver-)bergend.<br />

Der Mensch wird in den Worten Angelus Silesius verstanden als jemand,<br />

der bezogen ist. Der Mensch strebt über sich hinaus. Seiner<br />

Sehnsucht nach dem Größeren, nach dem Anderen wird Raum geschenkt.<br />

Was überdauert den Zufall und bleibt? Manchmal stellt sich ja<br />

die Frage inmitten aller geschäftigen Vergänglichkeit. Ein Raum der<br />

Stille sollte den Besucher aufrichten zu seiner wahren Fähigkeit und<br />

Kraft, müsste dafür also eine Richtung und Höhe nach oben haben.<br />

Pater Abraham Fischer<br />

aus der Abtei Königsmünster<br />

beriet Thyssen<br />

Krupp bei der Einrichtung<br />

des „Raums der<br />

Stille“.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

Ein Raum für Rückzug und Austausch<br />

Der „Raum der Stille“ lädt alle Mitarbeiter und Gäste des<br />

<strong>ThyssenKrupp</strong> Quartiers zum friedlichen Verweilen ein. Er<br />

dient der Meditation, der Sammlung und dem Rückzug, aber<br />

auch dem interkulturellen, überkonfessionellen Austausch.<br />

Tatsächlich besteht der Raum der Stille aus einer Raumfolge<br />

mit einem Vorraum und einem daran angrenzenden Hauptraum,<br />

in dem ein großer quadratischer Kubus zu schweben<br />

scheint. Wände und Boden des Raums sind in einem<br />

weißen, leicht marmorierenden, glatten mineralischen Putz<br />

gehalten. Das Innere des schwebenden Kubus hingegen ist<br />

mit Titanspindeln verkleidet, die erst dann wahrzunehmen<br />

sind, wenn man unter den Kubus tritt. So entsteht ein spannungsvoller<br />

Gegensatz zu den glatt verputzten Wänden. 7<br />

Angesichts der vielfältigen Formen menschlicher Suche kann ein<br />

„Raum der Mitte“ im Kontext eines weltweit verzweigten Konzerns keine<br />

für alle gültigen Antworten anbieten. Seine Funktion kann es lediglich<br />

sein, die Frage des Menschen nach sich selbst und seiner Zukunft offen<br />

zu halten. Ein solcher Raum sollte neutral sein – nichts vorgeben an<br />

verfasster Religion –, zugleich aber den Besucher ganz persönlich<br />

ansprechen. Die Frage des Menschen nach sich selbst wäre das<br />

Thema. Eine wie auch immer geartete<br />

Gottesvorstellung kann daraus erwachsen<br />

– oder aber auch nicht. Der Raum sollte<br />

also in höchsten Maß befreien und niemanden<br />

in seiner Innerlichkeit bestimmen.<br />

Gleichfalls sollte der Ort gestaltet sein,<br />

aber darin freilassen und nicht bevormunden.<br />

Allein die Existenz eines solchen<br />

Raumes hat eine Bedeutung, gibt Hinweise<br />

über das Menschenbild eines Bauherrn.<br />

Ein Raum der Stille sieht den Menschen<br />

nicht nur als Wirtschaftsfaktor. Diese Sicht<br />

hat etwas Nachhaltiges und stellt die Frage<br />

nach der Zukunft eines deutschen Konzerns.<br />

Einst wurden aus Rohstoffen Halbzeuge<br />

gefertigt, dann Produkte, schließlich<br />

Innovationen und Technik. Vielleicht in<br />

Zukunft auch Visionen „für das Wesen, das<br />

besteht“? 7<br />

TEXT: PATER ABRAHAM FISCHER OSB<br />

55


56<br />

quartier_menschen<br />

DIE MACHER<br />

Auf die eine oder andere Weise hat der Quartierbau<br />

insgesamt weit über 1.000 Mitarbeiter<br />

beschäftigt. Wie ihr Baualltag aussah, haben<br />

uns drei von ihnen erzählt.<br />

Jürgen Nageldick<br />

Projektleiter Fördertechnik<br />

3 Jürgen Nageldick bringt Menschen hoch hinaus: Er kümmert sich<br />

als Projektleiter um die Aufzüge und Fahrtreppen im <strong>ThyssenKrupp</strong><br />

Quartier. Er ist von Anfang bis Ende in das Projekt eingebunden, von der<br />

ersten Technikbesprechung bis zur abschließenden Bauherrenabnahme.<br />

Seit 2002 arbeitet der Maschinenbautechniker aus dem Münsterland<br />

für <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>Elevator</strong>. Er hat schon viele Projekte betreut, hat<br />

in Walldorf einen Softwarehersteller, in Mannheim ein Bekleidungshaus<br />

und in Essen ein Einkaufszentrum mit Aufzügen und Fahrtreppen ausgestattet.<br />

Diesmal ist Nageldick für 22<br />

Aufzüge zuständig – und außerdem<br />

für drei Fahrtreppen, einen Plattform-<br />

den Campus.«<br />

lift sowie drei Scherenhebebühnen.<br />

Knapp 30 Anlagen insgesamt. Eine<br />

solche Materialmenge transportiert niemand im Handumdrehen. „Es<br />

sind 50 bis 60 Anlieferungen notwendig“, schätzt Jürgen Nageldick. Die<br />

Baustellenlogistik stellt ihn vor große Herausforderungen. Einfahrtsgenehmigungeneinholen,<br />

Mitarbeiterausweise<br />

beschaffen – sonst dürfen<br />

die Transporter die<br />

Schranke nicht passieren.<br />

Das verschlingt Zeit.<br />

Außerdem gibt es auf der<br />

Baustelle aufgrund der<br />

Innenstadtlage kaum Lagerfläche.<br />

„Da muss man<br />

geschickt koordinieren“,<br />

sagt der 38-Jährige.<br />

Dabei unterstützt ihn ein<br />

sogenannter Auftragsabwickler.<br />

Darüber hinaus<br />

gehören unter anderem<br />

eine Projektassistentin,<br />

ein Montageleiter und<br />

rund zehn Monteure zum<br />

Team. Sie wirken im<br />

Quartier an einer großen<br />

technischen Herausforderung<br />

mit. Im Verwaltungsgebäude<br />

Q1 – dem mit 16<br />

Haltestellen höchsten Gebäude<br />

– setzt <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>Elevator</strong> drei Panorama-Aufzüge ein. Zwei<br />

dieser Anlagen bilden ein TWIN-System: „Die beiden Aufzugskabinen<br />

fahren unabhängig voneinander im gleichen Schacht“, erläutert Nageldick.<br />

So sparen die Bauherren Platz, die Passagiere Zeit. Jürgen Nageldick<br />

hat allen Grund, stolz zu sein: „Das neue Quartier wird ein schöner<br />

Arbeitsplatz. Ich freue mich auf den Campus.“ 7<br />

»Ich freue mich auf<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


Willi Döring<br />

Küchenchef<br />

3 Willi Döring verkauft dienstags Hähnchen, donnerstags Erbsensuppe,<br />

freitags Pangasiusfilet. „Dienstag ist Geflügeltag, Donnerstag<br />

ist Eintopftag, Freitag ist Fischtag“, sagt er. Freilich tischt Willi Döring in<br />

seiner Imbissbude nicht nur ein Mittagsmenü auf. Sondern auch<br />

Currywurst, Bockwurst und Krakauer Wurst. Wer auf seine Gesundheit<br />

Wert legt, isst dazu noch ein Schälchen Krautsalat. Seit Mai 2008 bewirtet<br />

Willi Döring mit drei Kollegen die Bauarbeiter des <strong>ThyssenKrupp</strong><br />

Quartiers. In diesem Zeitraum haben sie ungefähr 20.000 Würstchen<br />

über den Tresen geschoben.<br />

Maurer, Elektriker, Schweißer –<br />

sie alle stärken sich an den Steh-<br />

nicht alle Tage!« tischen oder auf den Holzbänken.<br />

Die Speisekarte hat Willi<br />

Döring in drei Sprachen ausgehängt: auf Deutsch, Polnisch und Türkisch.<br />

Aus Deutschland, Polen und der Türkei stammen die meisten<br />

Bauarbeiter. Doch Willi Döring hört auch viel Portugiesisch und Italienisch,<br />

Rumänisch und Bulgarisch. Männer aus rund 20 verschiedenen<br />

Nationen arbeiteten auf der Baustelle, schätzt er. Der gelernte Koch will<br />

allen Geschmacksvorlieben gerecht werden. Wer kein Schweinefleisch<br />

essen darf, kann etwa zwischen Rinderhacksteak, Geflügelfrikadelle<br />

und Fischfilet wählen. Morgens um acht sperrt Willi Döring die Imbissbude<br />

auf, damit sich die erste Schicht mit heißem Kaffee und belegten<br />

Brötchen versorgen kann. Um 15.30 Uhr ist eigentlich Schluss. Doch<br />

während er die Wärmeplatte schrubbt, bekommen Nachzügler gerne<br />

noch ein Schweineschnitzel. Willi Döring – 55 Jahre alt, seit 34 Jahren<br />

bei <strong>ThyssenKrupp</strong> – hat keinen weiten Nachhauseweg: Er wohnt zwei<br />

Kilometer entfernt. So kann er auch in seiner Freizeit bisweilen über das<br />

Gelände streifen, um sich die Bauarbeiten anzugucken. „So etwas sieht<br />

man schließlich nicht alle Tage!“, sagt er. „Die Betonfahrzeuge! Die<br />

Stahlträger! Und dann auch noch die hohen Kräne!“ 7<br />

»So etwas sieht man<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

Georg Lummel<br />

Spenglermeister<br />

3 Wenn irgendwo Fassaden<br />

im Sonnenlicht glänzen, sich<br />

auch ungewöhnliche Formen<br />

mit Titan, Edelstahl oder<br />

Feinblechen schmücken, dann<br />

hatte womöglich Georg Lummel<br />

seine Hände im Spiel.<br />

So auch beim Gebäude Q1<br />

und dem Forumgebäude des<br />

<strong>ThyssenKrupp</strong> Quartiers: Der<br />

Spenglermeister war mit seinem<br />

Unternehmen, der Lummel<br />

GmbH & Co. KG aus<br />

Karlstadt am Main, dafür verantwortlich,<br />

die hochwertigen<br />

Stahlbleche anzubringen, die<br />

mit ihrem an Champagner erinnernden<br />

Farbton wesentlich zum äußeren Erscheinungsbild der<br />

Gebäude beitragen. Das war nicht das erste Mal, dass Georg Lummel<br />

mit <strong>ThyssenKrupp</strong> zusammenarbeitet: Die spektakulären Edelstahlfassaden<br />

der Bauten von Frank O. Gehry im Düsseldorfer „Neuen Zollhof“<br />

oder im Eingangsbereich<br />

des neuen Porsche-Museums<br />

in Stuttgart hat das<br />

nicht gedacht, dass renommierte Unternehmen<br />

ebenfalls angebracht. Doch,<br />

die Feinbleche so<br />

so sagt Lummel, „jedes<br />

Objekt ist einzigartig. Beim<br />

gut aussehen können.«<br />

<strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier war<br />

eine Herausforderung beispielsweise,<br />

dass jedes Feinblech sich einzeln herausnehmen lassen<br />

muss, falls ein Schaden auftritt.“ Kompliziert war auch die Abstimmung<br />

der Beteiligten untereinander, wie Lummel erzählt: „Teilweise treffen<br />

sich im Gebäude vier unterschiedliche Fassadentypen an einer Stelle.<br />

Das bedeutet: Die beteiligten Fassadenbauer müssen gleich gut und<br />

genau arbeiten, damit sich alle mit einer Abweichung von maximal zehn<br />

Millimetern am festgelegten Ort treffen.“ Mit dem Ergebnis ist Georg<br />

Lummel sehr zufrieden. „Ich hätte vorher nicht gedacht, dass die Feinbleche<br />

so gut aussehen können, denn für solche Fassaden nimmt man<br />

sonst eher Aluminium.“ Doch, so sagt er selbstbewusst, „wenn man es<br />

richtig macht, ist das Material auch für repräsentative Gebäude sehr gut<br />

geeignet.“ Teilweise haben bis zu 16 Mitarbeiter seines Unternehmens<br />

an den Fassaden gearbeitet. Nun ist Lummel froh, dass die Arbeiten so<br />

gut wie abgeschlossen sind. Denn anstrengend war das Projekt schon,<br />

meint er. „Das ist eigentlich fast immer so: Während man baut, ist es<br />

auch mal nervenzehrend. Aber hinterher ist man stolz und freut sich<br />

über das gute Feedback.“ 7<br />

»Ich hätte vorher<br />

57


58<br />

quartier_materialien<br />

AUF EIGENE STÄRKEN BAUEN<br />

Produkte von <strong>ThyssenKrupp</strong> – von Aufzügen und Fahrtreppen bis zu Werkstoffen wie Edelstahl oder<br />

Titan – finden sich in vielen Gebäuden dieser Welt. Dass deshalb auch im <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier<br />

besonderer Wert darauf gelegt wurde, im Neubau die eigene Innovationskraft und technische Kompetenz<br />

unter Beweis zu stellen, versteht sich da von selbst.<br />

Glänzende Idee<br />

Das Sonnenschutzsystem gibt dem Hauptgebäude sein Gesicht –<br />

und ist eine weltweit einzigartige Lösung.<br />

3 Die besten Ideen kommen<br />

häufig wie von allein. Ein Beispiel<br />

hierfür ist das Sonnenschutzsystem<br />

für die neue Hauptverwaltung.<br />

Der Anstoß für die<br />

innovative Lösung kam auf einer<br />

gemeinsamen Sitzung mit dem<br />

Pariser Architekturbüro Chaix &<br />

Morel et associés und dem Kölner<br />

Büro JSWD Architekten. Als<br />

die Sonne in den Sitzungsraum<br />

schien, hielten sich die Teilnehmer<br />

automatisch eine Hand<br />

waagerecht über die Augen, um<br />

sich vor dem Licht zu schützen.<br />

Und genau so funktioniert auch<br />

der Sonnenschutz in Essen: Auf<br />

einer vertikalen Mittelachse sitzen links und rechts gut 7 Zentimeter<br />

lange und 2 Millimeter dünne Edelstahllamellen – sie sind quasi<br />

die vor der Sonne schützende Hand. Die Achse kann<br />

rotieren und so die Lamellen stufenlos am Sonnenstand ausrichten.<br />

Hinzu kommt ein weiterer Clou: Um den Sonnenschutz bei<br />

Bedarf vollständig zu öffnen, lassen sich die Lamellen nach vorne<br />

zusammenfahren.<br />

Dieses speziell angefertigte Sonnenschutzsystem bildet die<br />

optische Visitenkarte des Gebäudes. Denn die insgesamt rund<br />

400.000 Lamellen geben dem Bau ein Gesicht, das sich je nach<br />

Sonneneinfall wandelt – an sonnigen Tagen im Hochsommer oder<br />

bei Sturm ist die Fassade zum Beispiel komplett geschlossen und<br />

leuchtet silbrig, während sie an bedeckten Tagen den Blick auf die<br />

Glasfassade darunter freigibt. Die von <strong>ThyssenKrupp</strong> Nirosta aus<br />

einem Chrom-Nickel-Molybdän-Edelstahl gefertigten Elemente<br />

wurden auf einer Seite geschliffen, auf der anderen Seite gestrahlt.<br />

Dadurch erscheinen die Lamellen je nach Blickwinkel und Lichteinfall<br />

matt oder glänzend – und lenken das einfallende Licht so nach<br />

innen, dass es in den Büros auch bei geschlossenem Sonnenschutz<br />

hell genug ist.<br />

Die Herstellung des neuartigen Sonnenschutzsystems war anspruchsvoll.<br />

Nach der Bearbeitung der Metallstreifen durch <strong>ThyssenKrupp</strong><br />

Umformtechnik montierte eine Spezialfirma aus Südtirol<br />

je 116 bis 160 Lamellen auf den Achsen zu elektronisch angetriebenen<br />

Lamellenpaketen. Dabei kam es darauf an, dass die Lamellen<br />

in der Mittelachse beweglich bleiben und exakt auf die Signale<br />

des elektrischen Antriebs reagieren. Der ist clever programmiert:<br />

Die Steuerung kennt nicht nur den jahreszeitlichen Sonnenstand,<br />

sondern weiß dank der Daten aus einer Wetterstation auf dem<br />

Dach des neuen Hauptgebäudes auch, wie das Wetter gerade ist –<br />

Voraussetzung, um einen rundum guten Sonnenschutz zu gewährleisten.<br />

Ein weiteres Plus: Auch wenn die Lamellen vor der Fassade<br />

sitzen, können die Mitarbeiter jederzeit die Fenster öffnen. Nur<br />

eine schützende Hand vor dem Licht der Sonne, die brauchen sie<br />

nun nicht mehr. 7<br />

8 8<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


Es muss nicht immer Aluminium sein<br />

Für eine repräsentative Fassade lässt sich auch Feinblech einsetzen –<br />

wenn es entsprechende Eigenschaften mitbringt.<br />

3 Im allgemeinen Sprachgebrauch galt<br />

Blech bislang nicht eben als besonders<br />

hochwertig – das Wort „Blechkarosse“ ist<br />

noch eines der freundlicheren Beispiele<br />

hierfür. Aber: Wie man sich doch täuschen<br />

kann! Denn die in einem Champagnerton<br />

edel schimmernden Metallelemente an<br />

den Gebäuden des <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartiers<br />

und im Inneren des im Mittelpunkt<br />

stehenden zentralen Q1-Gebäudes bestehen<br />

aus nichts anderem als: Stahlblech.<br />

Zugegebenermaßen aber nicht aus irgendeinem<br />

Stahlblech, sondern aus einem<br />

im Coil-Coating-Verfahren organisch beschichteten<br />

hochwertigen Feinblech. Bislang<br />

waren derartige Stahlbleche im<br />

Wesentlichen für die Fassaden klassischer<br />

Industriehallen und Bürogebäude gedacht,<br />

bei denen es auf die Funktionalität ankam.<br />

Speziell bei <strong>ThyssenKrupp</strong> werden diese<br />

Stahlbleche außerdem ökologischen Kriterien<br />

gerecht und können durch die Farbge-<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

staltung der Umgebung attraktiv angepasst<br />

und eingesetzt werden. Doch das<br />

hier verwendete schmelztauchveredelte<br />

Feinblech eröffnet völlig neue Anwendungsmöglichkeiten.<br />

Es lässt sich nicht nur<br />

hervorragend umformen, schweißen und<br />

lackieren, sondern genügt auch allen<br />

Ansprüchen an eine repräsentative und<br />

deutlich wahrnehmbare Farbanmutung.<br />

Denn die im neuen <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier<br />

bis zu 3 Meter langen und bis zu 67 Zentimeter<br />

breiten, abgekanteten Stahlpaneele<br />

sind wind-, wetter- und lichtbeständig, zugleich<br />

sind ihre Oberflächen besonders<br />

eben. Innovativ ist auch der Herstellungsprozess.<br />

Hierbei wird dem schmelztauchveredelten<br />

Feinblech in der Zinkschmelze 1<br />

Prozent Magnesium beigefügt. Dadurch<br />

kann die Schichtdicke auf dem Blech – bei<br />

noch besserem Korrosionsschutz – dünner<br />

ausfallen, so dass der wertvolle Rohstoff<br />

Zink sparsamer verwendet werden kann.<br />

Grüner aufwärtsfahren<br />

Kostengünstig und edel: die Feinblechfassade<br />

des neuen <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartiers<br />

Hinzu kommt, dass das beschriebene Feinblech<br />

mit 0,8 bis 1,2 Millimetern Dicke<br />

deutlich dünner und dadurch kostengünstiger<br />

ist als ein vergleichbares Fassadenelement<br />

aus Aluminium (in der Regel mindestens<br />

3 Millimeter). Fassaden aus<br />

oberflächenveredeltem Feinblech sind also<br />

günstig und zugleich edel. 7<br />

Aufzüge und Fahrtreppen im Quartier sind von <strong>ThyssenKrupp</strong> und besonders umweltfreundlich.<br />

Aufzugsmontage im Quartier<br />

3 Umweltgerechte Aufzüge? Höchstens<br />

der Strom für den Antrieb, der kann aus erneuerbaren<br />

Energien stammen, glauben<br />

die meisten. Doch die Aufzüge im <strong>ThyssenKrupp</strong><br />

Quartier – die selbstverständlich<br />

ebenso wie die Fahrtreppen von Thyssen<br />

Krupp stammen – weisen gleich eine<br />

ganze Reihe von Besonderheiten auf, die<br />

dem Anspruch des Konzerns an nachhaltiges<br />

Bauen gerecht werden. So wandeln<br />

die sechs Aufzüge im Q1-Gebäude die<br />

Energie, die beim Abbremsen der Kabinen<br />

entsteht, in elektrische Energie um und<br />

speisen diese wieder ins Stromnetz ein.<br />

Darunter befinden sich zwei besonders effiziente<br />

TWIN-Anlagen, bei denen zwei Kabinen<br />

übereinander und unabhängig von-<br />

einander im selben Schacht fahren. Viele<br />

der insgesamt 27 Anlagen setzen LED-<br />

Leuchten ein, die ebenfalls viel Energie –<br />

und damit CO2-Ausstoß – einsparen und<br />

zudem eine deutlich längere Lebensdauer<br />

als herkömmliche Glühbirnen haben.<br />

Ein weiterer umweltfreundlicher Vorteil:<br />

Fast alle Aufzugskabinen sind für die Fahrt<br />

im Schacht mit einer speziellen Rollenführung<br />

ausgestattet. Dadurch sind keine<br />

geölten Schienen nötig – und es landet<br />

kein Öl im Schacht, das entsorgt werden<br />

müsste. Die Fahrtreppen wiederum verbrauchen<br />

weniger Energie, weil sie sich<br />

„intermittierend“ betreiben lassen – also<br />

automatisch anhalten, wenn niemand sie<br />

braucht. 7<br />

59


60<br />

quartier_nachhaltigkeit<br />

EINE „GRÜNE BÜHNE“<br />

Das <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier wurde bereits vor Fertigstellung mit einem der<br />

renommiertesten Zertifikate für nachhaltiges Bauen ausgezeichnet.<br />

Der Gedanke des nachhaltigen Bauens wird immer populärer.<br />

Bei internationalen Großprojekten ist geradezu ein<br />

Wettbewerb darum entbrannt, welches Gebäude am<br />

ehesten modernen Energieeffizienzkriterien und anderen<br />

Aspekten der Nachhaltigkeit gerecht wird. Auch viele<br />

Immobilieninvestoren berücksichtigen das inzwischen<br />

bei ihren Anlageentscheidungen. Kein Wunder also, dass<br />

beim Bau des neuen <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartiers das Thema Nachhaltigkeit<br />

ebenfalls von Anfang an ganz oben auf der Agenda stand – schließlich<br />

dokumentiert der Konzern so sein Engagement im Bereich der<br />

Nachhaltigkeit und seine Umweltkompetenz und kann damit im globalen<br />

Wettbewerb punkten.<br />

Wie aber lässt sich – angesichts eines nicht immer klar zu fassenden<br />

Nachhaltigkeitsbegriffs – messen, ob ein Bau tatsächlich wichtige Maßstäbe<br />

der Nachhaltigkeit berücksichtigt? Orientierung bieten Zertifizierungen,<br />

die weltweit zur Beurteilung der „grünen Bühnen“ der Unter-<br />

nehmen vergeben werden. Eines der renommiertesten<br />

Vorzertifikate hat <strong>ThyssenKrupp</strong> bereits im vergangenen<br />

Jahr erhalten: Auf der internationalen Immobilienmesse<br />

„Expo Real“ prämierte die Deutsche Gesellschaft für<br />

Nachhaltiges Bauen (DGNB) das neue Quartier<br />

allein aufgrund der Planung mit dem „Vorzertifikat in<br />

Gold“ – eine „Absichtserklärung, den Bau nach Abschluss<br />

aller Arbeiten mit dem ,endgültigen’ Zertifikat in<br />

Gold auszeichnen zu lassen, sofern die von der DGNB<br />

geforderten Nachhaltigkeitskriterien eingehalten werden“,<br />

wie Gerhard Hoffmann, Geschäftsführer des Instituts<br />

für angewandte Energiesimulation und Facility<br />

Management (ifes), erklärt. Er hat im Auftrag von <strong>ThyssenKrupp</strong><br />

das Gebäude auditiert und seine Ergebnisse an<br />

die DGNB zur Prüfung übergeben. Neben der Ökobilanz<br />

kam es dabei vor allem auch auf ökonomische, soziale und<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


funktionale Gesichtspunkte an, wie etwa die Gesamtkosten für das<br />

Projekt, den Bürokomfort für die Mitarbeiter oder die vielfältige<br />

Nutzbarkeit des Gebäudes. „Sämtliche Säulen des modernen<br />

Nachhaltigkeitsbegriffs werden damit abgedeckt“, erklärt<br />

Hoffmann.<br />

Rundum gutes Klima<br />

Bemerkenswert ist beispielsweise der geringe Primärenergieverbrauch<br />

des neuen Quartiers: Das Gebäude unterschreitet<br />

die Vorgaben der Energieeinsparverordnung<br />

2007 um 20 bis 30 Prozent, unter anderem dank einer<br />

hohen Wärmerückgewinnung – der Energiegehalt der<br />

Abluft wird genutzt, um die frische Zuluft zu temperieren.<br />

Ein nachhaltiges Energie- und Klimakonzept<br />

sorgt für die thermische Behaglichkeit. Ebenfalls<br />

umwelt- und ressourcenschonend sind der Ein-<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

Viele Zertifikate – ein Ziel<br />

Warum es gerade bei Gebäuden so wichtig ist, die Nachhaltigkeit<br />

im Blick zu behalten, macht eine Zahl deutlich: Sie<br />

stehen für 40 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs. Im<br />

Rahmen der Klimadiskussion hat daher das Thema Nachhaltigkeit<br />

von Gebäuden erheblich an Bedeutung gewonnen,<br />

was dazu geführt hat, dass die Bau- und Immobilienwirtschaft<br />

zahlreiche Zertifizierungssysteme nutzen kann, um die<br />

Einhaltung nachhaltiger Prinzipien beim Bau und Betrieb von<br />

Gebäuden zu dokumentieren. Das Zertifikat der Deutschen<br />

Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) ist das erste in<br />

Deutschland entwickelte Qualitätssiegel. Zu den weiteren<br />

Zertifizierungssystemen zählen beispielsweise BREEAM (BRE<br />

Environmental Assessment Method) aus Großbritannien oder<br />

LEED (Leadership in Energy and Environmental Design)<br />

aus den Vereinigten Staaten. Die Beurteilungsmaßstäbe sind<br />

allerdings keineswegs einheitlich. So bewertet der US-amerikanische<br />

Nachhaltigkeitsstandard LEED zwar die ökologischen<br />

Aspekte, legt aber dafür im Gegensatz zum Gütesiegel<br />

der DGNB parallel nicht auch noch größeren Wert auf die<br />

ökonomischen und soziokulturellen Komponenten. Für den<br />

Bauherrn empfiehlt es sich daher, im Vorfeld genau zu überprüfen,<br />

welches Gütesiegel welche Aspekte dokumentiert. 7<br />

satz von Geothermie zur Kühlung und zur Vorheizung der Fußbodenheizung<br />

im Atrium, schadstoffarme Baumaterialien, eine komfortable<br />

Blend- und Sonnenschutztechnik sowie ein besonderes Wassertrennsystem,<br />

bei dem unter anderem Regenwasser auf den Dächern der Gebäude<br />

auf dem Campus gesammelt und vom Schmutzwasser getrennt<br />

in den Teich des Krupp-Parks geleitet wird.<br />

„Aufgrund der Vielzahl der Vorzüge und der optimalen Umsetzung der<br />

Nachhaltigkeitskriterien stand es außer Frage, das Vorzertifikat in Gold<br />

verliehen zu bekommen“, sagt Hoffmann. Das neue <strong>ThyssenKrupp</strong><br />

Quartier zählt somit zu den wenigen Bauten in Deutschland, die dieses<br />

Gütesiegel erhalten haben. Und dessen Wert ist, so sagt Hoffmann,<br />

nicht zu unterschätzen: „Das DGNB-Zertifikat besitzt im internationalen<br />

Vergleich ein hohes Renommee, da es auch explizit den gesamten<br />

Lebenszyklus eines Gebäudes inklusive eines späteren Rückbaus oder<br />

Abrisses berücksichtigt.“ 7<br />

TEXT: JAN VOOSEN<br />

61


62<br />

quartier_historie<br />

1819 | Wie alles anfing: der neu erbaute Schmelzbau der Gussstahlfabrik Fried. Krupp in Essen. Das kleinere<br />

Gebäude diente zunächst als Aufseherhaus, dann als Wohnhaus für die Familie Krupp.<br />

1800<br />

DIE STADT IN DER<br />

Es wuchs und blühte, zerfiel und wird nun wiederentdeckt: das alte Werksgelände der Kruppschen<br />

Gussstahlfabrik in Essen. Wo heute das neue <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier entsteht, wird bereits seit 1818<br />

Firmengeschichte geschrieben.<br />

S<br />

1810<br />

o müssen versunkene Städte aussehen. Üppige Vegetation<br />

überwuchert ein unüberschaubares Gelände. Verlassene<br />

Straßen und Plätze verschwinden zunehmend unter<br />

wild wachsenden Büschen. Kaskaden von Efeu und wildem<br />

Wein bedecken Wälle und Mauern. Vereinzelt stehen<br />

noch verwitterte Backsteingebäude mit blinden oder zerbrochenen<br />

Fenstern. Anderswo sind von der ehemaligen<br />

Bebauung nur noch Fundamente, Grundmauern und Fußböden zu<br />

sehen. Schlanke Birkenstämme wachsen zwischen verrosteten Bahnschienen<br />

und Versorgungsleitungen. Aus den Rissen im Asphalt<br />

sprießen Gräser und Halme, die den Boden beständig weiter aufreißen.<br />

Wer im Jahr 2000 das historische Werksgelände der Firma Krupp in<br />

Essen besuchen wollte, unternahm eine Reise ins Niemandsland. Trotz<br />

der attraktiven Lage in unmittelbarer Nähe zur Essener Innenstadt –<br />

1820<br />

1830<br />

deren Hochhäuser und das Rathaus in Sichtweite – lag das Gebiet fast<br />

vollkommen brach. Dass hier einmal Menschen tätig waren, die Häuser<br />

benutzt und die Schienen befahren wurden, lag offensichtlich viele<br />

Jahrzehnte zurück. Die Dimensionen der Überbleibsel jedoch ließen erkennen,<br />

dass hier einst eine ganze Stadt gestanden hatte: die „Fabrikstadt“<br />

der Kruppschen Gussstahlfabrik. Mehr als 100 Jahre lang, bis in<br />

die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde hier die Geschichte der<br />

Firma Krupp geschrieben.<br />

Von einer Keimzelle …<br />

1861 | Rasches Wachstum nach 1850: ein frühes<br />

Verwaltungsgebäude der Gussstahlfabrik mit<br />

„Uhrturm“<br />

Wie bei jeder Stadt beginnt auch das rasante Wachstum der Gussstahlfabrik<br />

mit einer Keimzelle: 1818 errichten der junge Unternehmer Friedrich<br />

Krupp und zwei Teilhaber eine neue Gussstahlanlage in Altendorf,<br />

einer Gemeinde westlich des Ortes Essen. Zwei Jahre zuvor war es<br />

1840<br />

1850<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


1860<br />

1910 | Ein Luftbild zeigt, wie gewaltig sich die Krupp-Werke ausgedehnt haben. Das neue <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier liegt genau im Zentrum dieser Aufnahme.<br />

STADT<br />

ihnen erstmals gelungen, hochwertigen Gussstahl herzustellen. Die<br />

neue Produktionsstätte besteht aus wenigen Fachwerkgebäuden. Auch<br />

ein Aufseherhaus gehört dazu, das der Familie später als Wohnhaus<br />

dient und als Kruppsches Stammhaus bekannt wird. Die Gegend ist<br />

eher ländlich, Felder umgeben die kleine Fabrik, und auch das nahe<br />

Essen – im Jahr 2000 die größte Stadt im Ballungsraum Ruhrgebiet –<br />

zählt zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 3.500 Einwohner.<br />

Neben Firmengründer Friedrich Krupp erweist sich vor allem dessen<br />

Sohn Alfred, der den Betrieb 1826 nach dem Tod des Vaters übernimmt,<br />

als äußerst geschäftstüchtig. Die kleine Firma wächst rasant,<br />

besonders ab den 1850ern. In diese Zeit fallen für Krupp wichtige Entwicklungsschritte,<br />

wie etwa die Erfindung des nahtlosen Eisenbahnreifens<br />

1853. Von 74 Mitarbeitern im Jahr 1848 vergrößert sich die Belegschaft<br />

im Essener Werk auf 30.000 Beschäftigte kurz vor der<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

1870<br />

1880<br />

1890<br />

Um 1900 | Zwerg unter<br />

Riesen: das Kruppsche<br />

Stammhaus im Betriebsgelände<br />

Jahrhundertwende. Ebenso sprunghaft wächst auch das Werksgelände.<br />

Neue Gebäude für Verwaltung und Produktion werden gebaut,<br />

ebenso ein eigenes Verkehrsnetz mit Schienen und Straßen. Das kleine<br />

Stammhaus verschwindet zunehmend inmitten immer neuer und<br />

immer größerer Produktionsanlagen. Zwischen den Jahren 1861 und<br />

1873 vergrößert sich die Gesamtfläche auf das Zwanzigfache, von 18<br />

auf 360 Hektar. Zwei Jahre später ist allein die überdachte Fläche so<br />

groß wie der Essener Stadtkern.<br />

… zu einem Wald von Schornsteinen<br />

Auf diese Weise wächst Krupp im Zuge der Industrialisierung zu einer<br />

„Stadt in der Stadt“ heran, übrigens parallel zur Stadt Essen, die ihrerseits<br />

kurz vor der Jahrhundertwende ihren 100.000sten Einwohner<br />

registriert. 1889 veröffentlicht Diedrich Baedeker seine Eindrücke von<br />

1900<br />

1910<br />

3<br />

63


64<br />

3<br />

1920<br />

quartier_historie<br />

1920 | Eine Industriekathedrale: Die Krupp-Maschinenbau-Halle 9 auf einem zeitgenössischen Gemälde von Otto Bollhagen<br />

einem Besuch der Fabrik in dem Buch Alfred Krupp und die Entwicklung<br />

der Gußstahlfabrik zu Essen: „Schon der Wald von Schornsteinen,<br />

die unaufhörlich Rauchwolken in die Atmosphäre senden, die Wasserschächte<br />

und sonstigen Hochanlagen […] sagen uns, dass wir es<br />

mit einem Werk von erstaunlichem räumlichem Umfange und von ganz<br />

außergewöhnlicher Ausdehnung zu thun haben, einer wahren Fabrik-<br />

Stadt.“ Baedeker verzeichnet auch statistische Angaben über das Werk:<br />

44 Kilometer normalspurige und 29 Kilometer schmalspurige Werkseisenbahn<br />

zählt er auf. Für die Produktion nennt er 1.195 Öfen, 286<br />

Dampfkessel, 21 Walzenstraßen, 370 Dampfmaschinen, 92 Dampfhämmer,<br />

361 Kräne und 1.724 Werkzeugmaschinen. Zudem gebe es<br />

80 Kilometer Telegraphen- und 140 Kilometer Telefonleitungen sowie<br />

werkseigene Wasserwerke und eine 64 Mann starke Berufsfeuerwehr.<br />

Im Unterschied zu einer Stadt allerdings ist die Fabrik kein öffentlicher<br />

1930<br />

1940<br />

1930 | Schaltstelle<br />

des Konzerns: die<br />

Hauptverwaltung an<br />

der Altendorfer Straße<br />

1950<br />

Raum. Die Fabrikstadt trennt Altendorf, das 1901 in die Großstadt eingemeindet<br />

wird, von der nahen Essener Innenstadt. Lediglich zwei<br />

Querverbindungen, die Frohnhauser und die Altendorfer Straße, verbinden<br />

die beiden Stadtteile und können von Fußgängern, Straßenbahn<br />

und Autos genutzt werden – rechts und links von Mauern umgeben.<br />

Sogar mit dem werkseigenen Schienennetz gibt es keine Berührungspunkte:<br />

Es wird über zahlreiche Bücken geleitet, die die Straße überspannen.<br />

Geheimnisvolles Leben und Treiben<br />

Zwar bestimmt die Fabrik das Stadtbild, die Bürger sehen die Schornsteine,<br />

atmen den Rauch und hören den Lärm der Produktion, der<br />

Dampfhämmer und der Geschütze, die hier nicht nur produziert, sondern<br />

auf dem werkseigenen Schießstand auch unmittelbar getestet<br />

1960<br />

1950 | Folgen des<br />

Krieges: Ruinen in<br />

der Nähe der Krupp-<br />

Hauptverwaltung<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

1970


»Bis 2006 ist das<br />

Gelände ein blinder<br />

Fleck auf dem<br />

Stadtplan, ein<br />

unzugänglicher,<br />

vielleicht<br />

vergessener Ort.«<br />

1980<br />

werden. Doch was hinter den Mauern vorgeht, bleibt den Nicht-Kruppianern<br />

verborgen. Sie können, so Diedrich Baedeker, lediglich „das<br />

Geräusch des geheimnisvollen Lebens und Treibens, das hinter den<br />

rauchgeschwärzten Mauern dort pulsiert“, wahrnehmen.<br />

Eine Art Niemandsland mitten in einem urbanen, dichtbesiedelten<br />

Raum – das bleibt das Krupp-Gelände auch dann, als es schon lange<br />

nicht mehr für die Produktion genutzt wird. Die beiden Weltkriege<br />

bringen der Firma ein wechselhaftes Geschick zwischen Wachstum und<br />

Verlusten, Um- und Neubauten, „ziviler“ und Rüstungsproduktion. Letztere<br />

macht die Firma im Zweiten Weltkrieg verstärkt zum Ziel alliierter<br />

Bombardements. Nach Ende des Krieges ist etwa ein Drittel von 1,5 Millionen<br />

Quadratmetern bebauter Fläche vollständig zerstört, ein weiteres<br />

Drittel in Teilen. Viele der noch funktionstüchtigen Anlagen werden<br />

demontiert und als Reparationsleistungen ins Ausland gebracht.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

1990<br />

2010 | Eine Vision wird Realität: Das neue Quartier steht.<br />

2000<br />

Zwar siedeln sich in den fünfziger Jahren wieder Firmen auf dem alten<br />

Betriebsgelände an. Der Großteil des Gebietes der alten Gussstahlfabrik<br />

liegt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch brach. Die verbleibenden<br />

Bauwerke sind verwaist. Es gibt nur wenige Zwischennutzungen<br />

oder neue Bauvorhaben, vorrangig an den Rändern des Geländes. Wild<br />

wucherndes Grün erobert sich das Gebiet zurück. Menschen bleiben<br />

dem Ort eher fern. Für viele ist das Gelände ein „blinder Fleck“ auf dem<br />

Stadtplan, ein unzugänglicher, vielleicht vergessener Ort. Erst nach der<br />

Jahrtausendwende gerät mit dem „Krupp-Gürtel“ die Idee einer systematischen<br />

Neunutzung an die Öffentlichkeit. 2006 fällt der Beschluss<br />

der <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>AG</strong>, hier das <strong>ThyssenKrupp</strong> Quartier zu errichten. Mit<br />

seinem Campus-Konzept soll es aus der zunächst verbotenen und später<br />

vergessenen Stadt ein neues, öffentliches Stück Essen machen. 7<br />

TEXT: SARAH BAUTZ<br />

2010<br />

Um 2006 | Im Dornröschenschlaf:<br />

Das Gelände<br />

wirkt wie ein Überrest<br />

einer vergangenen Zivilisation.<br />

2020<br />

65<br />

2030


66<br />

projekte_stadion


Leichte Bauelemente<br />

für anspruchsvolle Architektur<br />

Mit seinen Kuppeln, die aus vielen<br />

kleinen, durch eine filigrane<br />

Fachwerkkonstruktion verbundenen<br />

Dreiecken bestehen, ahmt<br />

das Anfang Mai 2010 eingeweihte<br />

Melbourne Rectangular<br />

Stadium Konstruktionsprinzipien<br />

der Natur nach. Die australischen<br />

Architekten Cox Architects<br />

and Planners lehnten die äußere<br />

Gestalt ihres als „bioframe“<br />

bezeichneten Entwurfs an die<br />

Gestalt der geodätischen Kuppeln<br />

des amerikanischen Architekten<br />

Richard Buckminster<br />

Fuller aus den vierziger Jahren<br />

an. <strong>ThyssenKrupp</strong> lieferte mit<br />

Hoesch isowand vario ® ein spezielles<br />

Stahl-Sandwichelement,<br />

das auf rund 25.000 Quadratmetern<br />

Stadiondachfläche ver-<br />

baut wurde und über erstklassigeWärmedämmungseigenschaften<br />

bei geringem Eigengewicht<br />

verfügt.<br />

Die leichte Sandwichkonstruktion<br />

des Daches ermöglicht es, die<br />

mehr als 30.000 Zuschauerplätze<br />

mit halb so hohem Materialeinsatz<br />

gegen Wind und Wetter<br />

zu schützen wie bei einer konventionellen<br />

Konstruktion mit<br />

einem sogenannten Kragdach.<br />

Das geringe Eigengewicht war<br />

wichtig, um die stützenfreie<br />

Überwindung von Spannweiten<br />

von bis zu sechs Metern zu<br />

ermöglichen. Bei aller Leichtig-<br />

keit kam es aber auch auf gute<br />

Dämmungseigenschaften an,<br />

damit es die Zuschauer auch bei<br />

den heißen australischen Sommertemperaturen<br />

unter dem<br />

Stadiondach aushalten. Den von<br />

den Architekten ausgewählten<br />

Farbton „whisper white“ hat<br />

<strong>ThyssenKrupp</strong> Steel Europe mit<br />

einer hochwertigen PVDF-Beschichtung<br />

(Polyvinylidenfluorid)<br />

umgesetzt. Die Kunststoffschicht<br />

ist 25 Mikrometer dick und sorgt<br />

mit ihrer hohen chemischen<br />

und thermischen Beständigkeit<br />

dafür, dass die Oberfläche<br />

Umwelteinflüssen und Sonneneinstrahlung<br />

dauerhaft und ohne<br />

Qualitätsverluste standhält.


68<br />

projekte_brücke


Flussüberquerung<br />

in der Schwebe<br />

„Schwebendes Floß“ nannten<br />

Arch&More, die Architekten der<br />

neuen Ybbsbrücke, ihren Entwurf.<br />

Mit einem hängenden<br />

Tragwerk, das bei Benutzung<br />

leicht in Bewegung gerät, soll<br />

die inmitten einer Naturlandschaft<br />

in der niederösterreichischen<br />

Region Mostviertel errichtete<br />

Brücke schon in ihrer<br />

Gestaltung widerspiegeln, was<br />

wir bei einer Brückenüberquerung<br />

spüren – das „sichere,<br />

genießende und erholende Moment<br />

an den Ufern“ genauso<br />

wie das „leichte, erhebende Moment<br />

während der Überquerung<br />

der Brücke“.<br />

Zwei markante, bei Dunkelheit<br />

beleuchtete Uferrahmen bilden<br />

für Fußgänger oder Radfahrer<br />

das Tor zur Brücke. Die 13 Meter<br />

hohen Durchgänge aus Stahl<br />

ruhen auf Stahlbetonfundamenten<br />

in der Größe von Wohnhäusern<br />

und tragen eine filigrane,<br />

auf Seilen hängende, drei Meter<br />

breite Fahrbahn, die in 16 Metern<br />

Höhe über den Fluss führt.<br />

Dass die Brücke mit einer<br />

Spannweite von 92 Metern so<br />

schlank und elegant ausfallen<br />

konnte, ist hier dem Einsatz der<br />

zugleich leichten und belastbaren<br />

Hoesch Additiv Decke ®<br />

zu verdanken. Das innovative<br />

und besonders ressourcensparende<br />

Bausystem aus dem<br />

<strong>ThyssenKrupp</strong> Konzern wird ansonsten<br />

vor allem im Parkhausund<br />

Geschossbau verwendet.<br />

www.hoesch.at


70<br />

projekte_aktuell<br />

Bauen mit dem Wesen der Farbe<br />

3 Farbigkeit erzeugt Stimmungen, ganz<br />

ähnlich wie Musik. Diese Verwandtschaft<br />

drückt sich schon darin aus, dass wir von<br />

Farbtönen, Klangfarben oder auch Farbklängen<br />

sprechen. Der Einzelhandel nutzt<br />

diesen emotionalen Einfluss von Farben,<br />

um Wohlbefinden und Kauflust der Käufer<br />

zu steigern, während in vielen Bürogebäuden<br />

helle Farbtöne für ein Offenheit<br />

signalisierendes und kreativitätsförderndes<br />

Arbeitsumfeld sorgen. Als Pionier und<br />

Experte auf diesem Gebiet hat der Farbdesigner<br />

Friedrich Ernst v. Garnier, der<br />

diese Profession vor 40 Jahren ins Leben<br />

rief, bereits viele trostlose Plattenbauten<br />

in Ostdeutschland freundlicher gestaltet.<br />

Seine Spezialität aber sind Industrieanlagen.<br />

Seit vielen Jahren tragen seine<br />

»Farbe ist Licht. Licht ist Wärme. Wärme ist Energie.<br />

Energie ist Leben. Leben ist Farbe.«<br />

Friedrich Ernst v. Garnier<br />

Farben dazu bei, die Arbeitsatmosphäre<br />

in den Werken von <strong>ThyssenKrupp</strong> zu verbessern<br />

– und schaffen so eine Umgebung,<br />

in der die Mitarbeiter lieber (und<br />

besser) arbeiten. Zuletzt gestaltete v.<br />

Garnier die Farbgebung des neuen Stahlwalzwerks<br />

in Alabama. Dort sind die Hallen<br />

vor allem in Rot und verschiedenen<br />

„Blau, Grün und Braun spiegeln<br />

die Farben des Himmels<br />

und der Erde wider und verhelfen<br />

selbst großvolumigen<br />

Industriebauten wie Produktionshallen<br />

zu harmonischen<br />

Erscheinungsbildern.“<br />

Friedrich Ernst v. Garnier<br />

Blautönen gehalten. „Das Wichtigste ist,<br />

mit dem Wesen der Farbe zu bauen“, sagt<br />

v. Garnier, der dafür das Konzept der<br />

„Organischen Farbigkeit“ entwickelt hat:<br />

Ebenso wie in der Natur sorgen demzufolge<br />

erst mehrtönige Farbklänge statt<br />

monochromer Flächen für unser Wohlbefinden.<br />

So lassen sich mit farbigen<br />

Stahlteilen beispielsweise auch klotzige<br />

Industriebauten sanft in ihre Umgebung<br />

einpassen. In den vergangenen Jahren<br />

hat v. Garnier etwa 20 Kollektionen von<br />

Bauten-Farbigkeiten entworfen und ist<br />

unter anderem zweimal mit dem Europäischen<br />

Stahlbaupreis ausgezeichnet worden,<br />

außerdem mit dem Deutschen Fassadenpreis<br />

und dem chinesischen „Luban<br />

2004“, dem renommiertesten Architekturpreis<br />

für Industriebauten in China. 7<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


Viel Bewegung<br />

in der Wüste<br />

3 Wo einst nur Sand war, soweit man sehen<br />

konnte, entstehen heute einige der spannendsten<br />

städtebaulichen Projekte unserer Zeit. Manche,<br />

wie die Ökostadt Masdar in Abu Dhabi, sind noch<br />

Vision, andere, wie Lusail City in Qatar, stehen kurz<br />

vor der Fertigstellung. Die neue Küstenstadt Lusail<br />

wächst derzeit im Nordosten Dohas, der Hauptstadt<br />

von Qatar, aus einer bislang kaum bebauten Wüstenfläche<br />

empor. Auf dem rund 35 Quadratkilometer<br />

großen Areal sollen einmal 200.000 Menschen<br />

leben, arbeiten und ihren Urlaub verbringen. Anders<br />

als bei der weiter südlich bereits realisierten<br />

künstlichen Insel The Pearl wird Lusail aus dem<br />

natürlich gewachsenen Küstenabschnitt herausmodelliert,<br />

Wasserflächen und Kanäle dabei vom<br />

Meer her ausgegraben. Ziel der Planer der Retortenstadt<br />

war eine ausgewogene und bedarfsgerechte<br />

Unterbringung der wichtigsten städtischen<br />

Funktionen. Neben Verwaltung, Einzelhandel, Freizeit-<br />

und Bildungseinrichtungen, Erholungsflächen,<br />

Freizeithäfen und wassernahen Luxushotels entstehen<br />

Wohnquartiere auf vorwiegend niedrig bebauten,<br />

begrünten Flächen. <strong>ThyssenKrupp</strong> unterstützt<br />

die Mobilität in der Planstadt mit insgesamt 124<br />

Förderanlagen in vier zentralen Parkhäusern, die<br />

an das Metro-System der Stadt angebunden sind.<br />

Pro Parkhaus werden drei Panorama-Aufzüge und<br />

ein Feuerwehraufzug, 16 Fahrtreppen sowie jeweils<br />

neun beziehungsweise sechs Fahrsteige geliefert. 7<br />

Futuristisch parken in Lusail City<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

MyZeil Frankfurt am Main: die höchste Fahrtreppe in einem deutschen Einkaufszentrum<br />

Vielschichtiges Shoppingerlebnis<br />

3 Seit Februar 2009 rühmt sich die<br />

in die Jahre gekommene Einkaufsmeile<br />

der deutschen Finanzmetropole<br />

Frankfurt am Main einer „neuen<br />

Shoppingdimension“: MyZeil, Prototyp<br />

der städtischen Einkaufsgalerie<br />

neuester Prägung, zieht die Passanten<br />

schon von außen in den Bann.<br />

Einem schwarzen Loch ähnelnd, öffnet<br />

sich ein riesiger Trichter in der<br />

gläsernen Fassade und gibt den Blick<br />

in den Himmel frei. Innen setzt sich<br />

der furiose Eindruck fort: Der gläserne<br />

Trichter aus der Fassade wird<br />

hier zum Himmel. Mit vielschichtigen<br />

Ebenen, einer spannungsreichen<br />

Linienführung und ungewohnten<br />

Perspektiven hat der italienische Architekt<br />

Massimiliano Fuksas ein ungewöhnliches<br />

Raumerlebnis geschaffen.<br />

Auch <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>Elevator</strong> hat<br />

mit der Fertigung und Montage der<br />

höchsten Fahrtreppe in einem deutschen<br />

Einkaufszentrum einen wichti-<br />

gen Designbeitrag geleistet: Im Sog<br />

des Trichters bringt die 47 Meter<br />

hohe Anlage die Besucher vom Erdgeschoss<br />

direkt in den vierten Stock.<br />

Hier öffnet sich der Blick auf die<br />

Frankfurter Skyline und – über die<br />

Brüstung nach unten – auf das geschäftige<br />

Treiben von einem Dutzend<br />

Fahrtreppen, die unablässig Menschenströme<br />

kreuz und quer nach<br />

oben und unten transportieren. Für<br />

das neben MyZeil aus drei weiteren<br />

Gebäudeteilen bestehende Bauprojekt<br />

„PalaisQuartier“ liefert Thyssen<br />

Krupp <strong>Elevator</strong> insgesamt 28 Fahrtreppen<br />

sowie 48 Aufzüge, darunter<br />

den weltweit 100. TWIN. Zusammen<br />

mit sieben herkömmlichen Aufzügen<br />

und der gemeinsamen Zielauswahlsteuerung<br />

sorgt der TWIN mit seinen<br />

zwei Kabinen in einem Schacht dafür,<br />

dass die Hotelgäste ohne Wartezeiten<br />

zu ihren Zimmern und Suiten im 96<br />

Meter hohen Hotelturm gelangen. 7<br />

71


72<br />

projekte_aktuell<br />

Außen alt, innen neu<br />

3 „Arbeitsraum, Lebensraum, Erlebensraum“<br />

lautet das Motto des Projektes<br />

„Zeitenströmung“ in Dresden. Auf 60.000<br />

Quadratmetern ist hier der „größte Treffpunkt<br />

für Oldtimerliebhaber, Kunst- und<br />

Kulturbegeisterte in Sachsen“ errichtet<br />

worden. Auf dem Gelände der ehemaligen<br />

Strömungsmaschinenwerke werden jetzt<br />

Serviceleistungen rund um das Automobil<br />

angeboten, ergänzt durch ein umfangrei-<br />

Grüner geht’s nicht<br />

ches Gastronomie- und Freizeitangebot,<br />

die Probebühnen des Staatsschauspiels<br />

Dresden sowie Büroräume. Direkt beteiligt<br />

an der erfolgreichen Wiederbelebung des<br />

seit 1995 weitgehend brachliegenden<br />

Fabrikgeländes war <strong>ThyssenKrupp</strong><br />

Xervon. Die <strong>ThyssenKrupp</strong> Tochter war für<br />

die Entkernung und den denkmalgerechten<br />

Neuaufbau eines dreigeschossigen<br />

Gebäudekomplexes der Ende 1800 als<br />

Historische Bausubstanz mit<br />

modernsten Funktionalitäten in<br />

der Dresdner „Zeitenströmung“<br />

Kaserne erbauten Liegenschaft zuständig.<br />

Insgesamt mussten 400 Quadratmeter<br />

Dachfläche, 300 Quadratmeter Innenwände<br />

und ebenso viele Quadratmeter Holzbalkendecken<br />

rückgebaut und entsorgt<br />

werden. Stehen blieben nur die Außenhülle,<br />

der massive Treppenhauskern sowie<br />

zwei gusseiserne Säulen mit gemauerten<br />

Bögen, die als historische Bausubstanz<br />

erhalten bleiben sollten. Grundlage für<br />

die Instandsetzung war die von den<br />

Xervon-Ingenieuren entwickelte und auf<br />

die spätere Nutzung als Räumlichkeiten<br />

für ein exklusives Fitnessstudio, eine<br />

Werkswohnung und Büroräume abgestimmte<br />

Ausführungsplanung. Auf Basis<br />

der Genehmigungsplanung haben die<br />

Sanierungsexperten die komplette Feinplanung<br />

für die Bereiche Medienführung,<br />

Heizung, Sanitär und Elektro erarbeitet<br />

und auch die statische Berechnung der<br />

Umbaumaßnahme organisiert. Nach nur<br />

sechsmonatiger Sanierung war das Werk<br />

vollendet – mit dem äußeren Charme<br />

der Vergangenheit und neuen inneren<br />

Werten. 7 www.zeitenstroemung.de<br />

3 In Singapur entsteht mit Solaris der „Businesspark der Zukunft“, ein Gebäude, das – so der O-Ton der Architekten<br />

– „die erholsame Wirkung des Tageslichts, der natürlichen Belüftung und einer gedeihenden Flora und Fauna ins Arbeitsumfeld<br />

bringt“. Fauna? Ja, tatsächlich. Auf 8.000 Quadratmetern durchgängig begrünter Fläche soll sich eine<br />

vielfältige Pflanzenwelt mit allen dazugehörigen Mikroorganismen frei entfalten dürfen. Rund um die zwei Gebäudekomplexe,<br />

die durch ein großes, natürlich belüftetes Atrium verbunden sind, schlängeln sich 3 Meter breite Landschaftsterrassen<br />

spiralförmig entlang der Außenfassade nach oben. Auf 1,5 Kilometer Länge verbinden diese<br />

den ebenerdigen one-north Park mit den kaskadenförmig angelegten Dachgärten. Aber auch von innen ist<br />

hier alles grüner als sonst: Der Energieverbrauch des mit dem höchsten Umweltsiegel<br />

der Stadt Singapur ausgezeichneten Gebäudes wird um 36 Prozent unter dem vergleichbarer<br />

bestehender Bürogebäude liegen. Entsprechend wichtig war<br />

es, dass auch die von <strong>ThyssenKrupp</strong> gelieferten 16 Aufzüge den hohen<br />

Umweltansprüchen genügen. Eine intelligente Software versetzt die<br />

Steuerung und Kabinenbeleuchtung in den energiesparenden Stand-by-<br />

Modus, sobald die Aufzüge eine bestimmte Zeit nicht benutzt werden. 7<br />

Landschaft mitten<br />

in der Großstadt:<br />

„Solaris“ Singapur


„Das schönste Museum der Welt“<br />

3 „Ein Geschenk an die Essener Bürger,<br />

ganz im Sinne Alfried Krupps“, nannte<br />

Berthold Beitz, der Kuratoriumsvorsitzende<br />

der Alfried Krupp von Bohlen und<br />

Halbach-Stiftung, das größte Einzelprojekt,<br />

das die Krupp-Stiftung je getragen<br />

hat: den Neubau des Museum Folkwang<br />

in Essen. Der nach dem Entwurf von<br />

David Chipperfield Architects, Berlin/London,<br />

errichtete und von der Krupp-Stiftung<br />

als alleiniger Förderin mit 55 Millionen<br />

Euro finanzierte Neubau wurde in nur<br />

23 Monaten Bauzeit errichtet. Rechtzeitig<br />

zum Beginn des Kulturhauptstadtjahres<br />

Ruhr.2010 öffnete das in neuem Glanz<br />

erstrahlende Museum im Januar 2010<br />

seine Türen.<br />

Chipperfields Neubau ergänzt den denkmalgeschützten<br />

Altbau von 1960 und<br />

erweitert die Ausstellungsfläche des Mu-<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

seums auf rund 7.000 Quadratmeter.<br />

Helle Räume, klare Wege, großzügige<br />

Sichtachsen – im neuen Museum Folkwang<br />

kommen die Werke der eindrucksvollen<br />

Sammlung in lichten Räumen zur<br />

Geltung, Räumen, die zur Begegnung<br />

mit Kunst, aber auch zur Diskussion und<br />

zum gesellschaftlichen Austausch einladen.<br />

„Das Museum Folkwang mit seinen<br />

sozialen und kulturellen Ambitionen wird<br />

ein leicht zugänglicher, öffentlicher Ort in<br />

der Stadt sein. Die Architektur bildet einen<br />

ruhigen Hintergrund für die Sammlungen.<br />

Atmosphärisch dominieren Licht und<br />

Offenheit, aber auch Konzentration“,<br />

erläuterte Chipperfield seinen Entwurf.<br />

„Das schönste Museum der Welt“ heißt<br />

die erste große Sonderausstellung im<br />

Neubau, für die erstmals seit mehr als<br />

70 Jahren Meisterwerke des Museum<br />

Begegnung im lichten Raum: der Architekt<br />

David Chipperfield (links) und Prof. Dr. Berthold<br />

Beitz, Vorsitzender des Kuratoriums der Alfried<br />

Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung,<br />

in der neuen Ausstellungshalle des Museum<br />

Folkwang<br />

Folkwang wieder vereint und die spektakuläre<br />

Sammlung aus der Zeit vor 1933<br />

rekonstruiert wurden. In den zwanziger<br />

und frühen dreißiger Jahren gehörte das<br />

Museum Folkwang zu den bedeutendsten<br />

Sammlungen moderner und zeitgenössischer<br />

Kunst weltweit. Paul J. Sachs,<br />

Mitbegründer des MoMA in New York,<br />

soll es 1932 bei einem Besuch in Essen<br />

„das schönste Museum der Welt“ genannt<br />

haben. Dass es wieder zu seinem<br />

alten Ruhm zurückkehrt, dazu will zumindest<br />

auch Chipperfield seinen Beitrag<br />

geleistet haben: „Ein Museum um eine<br />

bedeutende Sammlung herum zu bauen<br />

ermutigt mich, Architektur als Werkzeug<br />

zu verstehen und nicht als etwas, das sich<br />

selbst genügt“, sagte er anlässlich der<br />

Neueröffnung des Museums. 7<br />

www.museum-folkwang.de<br />

73


74<br />

projekte_stahlwerke<br />

AUFBRUCH<br />

IN AMERIKA<br />

2010 startet <strong>ThyssenKrupp</strong> die beiden neuen<br />

Produktionsstätten in Brasilien und in den USA.<br />

Die Stahlhütte im brasilianischen Bundesstaat<br />

Rio de Janeiro und das Verarbeitungswerk bei<br />

Mobile im US-Bundesstaat Alabama schaffen<br />

viele neue Arbeitsplätze – und stärken die Position<br />

von <strong>ThyssenKrupp</strong> in wichtigen Märkten.<br />

Größtes privates Investitionsprojekt in Südamerika, zeitweise<br />

die größte private Baustelle in den USA: Allein<br />

diese Tatsachen verdeutlichen die Dimension der beiden<br />

amerikanischen Großprojekte von <strong>ThyssenKrupp</strong>. Durch<br />

den Bau der Stahlhütte im brasilianischen Bundesstaat<br />

Rio de Janeiro rückt der Konzern noch näher an Rohstoffe<br />

heran; die Errichtung des hochmodernen Werks<br />

mit Walz- und Veredelungslinien bei Mobile (Alabama) stärkt seine Wettbewerbsposition<br />

in wichtigen Absatzmärkten.<br />

Die Arbeiten am Standort in Brasilien sind nun sehr weit fortgeschritten.<br />

Der Produktionsstart ist für das dritte Quartal 2010 geplant. Fünf Millio-<br />

nen Tonnen Stahl pro Jahr sollen künftig von hier aus in Form hochwertiger<br />

Brammen an das neue Werk in Alabama und zu den deutschen<br />

Standorten von <strong>ThyssenKrupp</strong> geliefert werden. Dort wird der Stahl dann<br />

weiterverarbeitet. Auf der Baustelle in der Bucht von Sepetiba waren<br />

zeitweise bis zu 23.000 Menschen beschäftigt. In der Betriebsphase<br />

werden direkt 3.500 neue Arbeitsplätze in der Stahlproduktion entstehen.<br />

Hinzu kommt etwa die vierfache Zahl an Arbeitsplätzen, die in anderen<br />

Branchen indirekt gesichert werden. Zudem sind durch die Investition<br />

von <strong>ThyssenKrupp</strong> Ausbildungsstätten entstanden. Von der Industrialisierung<br />

wird diese sozial schwache Region also erheblich profitieren.<br />

Wichtige Glieder in der globalen Wertschöpfungskette<br />

Ausschlaggebend für die Wahl des Standorts waren insbesondere<br />

Logistikvorteile: zum einen durch den direkten Zugang zum Atlantischen<br />

Ozean, zum anderen durch die dort endende Eisenbahnlinie für den<br />

Transport von Eisenerz. Die Erzlagerstätten im brasilianischen Bundesstaat<br />

Minas Gerais liegen vergleichsweise nah und stellen eine Versorgung<br />

mit hoher Qualität sicher. Darüber hinaus gab das positive Umfeld<br />

für die Rekrutierung von qualifiziertem Personal den Ausschlag für die<br />

Standortwahl. Auf einer Fläche von 9 Quadratkilometern stehen nun<br />

eine Kokerei, eine Sinteranlage, zwei Hochöfen, ein Oxygenstahlwerk<br />

mit Stranggießanlagen, ein eigenes Kraftwerk und ein Hafen – ein komplettes<br />

Hüttenwerk ist aus dem Nichts entstanden und wird bald eine<br />

wichtige Rolle in der globalen Wertschöpfungskette von <strong>ThyssenKrupp</strong><br />

einnehmen.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


Das größte Investitionsprojekt in Südamerika: Ab Herbst 2010 sollen in der Bucht von Sepetiba in Brasilien<br />

rund 5 Millionen Tonnen Stahl pro Jahr produziert werden.<br />

Das gilt auch für das neue Werk in Calvert bei Mobile in Alabama: Ebenfalls<br />

voraussichtlich ab dem dritten Quartal 2010 können hier in den auf<br />

der „grünen Wiese“ errichteten Anlagen aus den brasilianischen Brammen<br />

Stahlbänder gewalzt werden. Hierzu stehen eine Warmbreitbandstraße,<br />

ein Kaltwalzwerk und Feuerbeschichtungslinien zur Verfügung.<br />

Ein Teil des Warmbands wird zu Edelstahl-Flachprodukten weiterverarbeitet.<br />

Das geschieht entweder in speziellen Anlagen am gleichen<br />

Standort oder im Edelstahlwerk <strong>ThyssenKrupp</strong> Mexinox im mexikanischen<br />

San Luis Potosí. Die Fertigprodukte werden an Abnehmer in den<br />

USA, Kanada und Mexiko geliefert – eine deutliche Stärkung der Position<br />

von <strong>ThyssenKrupp</strong> in der nordamerikanischen Freihandelszone<br />

NAFTA.<br />

Für die Ansiedlung in Mobile sprach, dass das Werk nur wenige Kilometer<br />

vom Hafen von Mobile am Golf von Mexiko entfernt liegt und sich<br />

das mexikanische Edelstahlwerk von hier aus ebenfalls gut erreichen<br />

lässt. Die in Brasilien produzierten Brammen können – nachdem sie an<br />

einem eigens errichteten Terminal im Tiefseehafen von Mobile auf kleinere<br />

Schiffe umgeladen werden – über den Fluss Tombigbee auf dem<br />

Wasserweg direkt bis zum neuen Standort geliefert werden.<br />

Produktentwicklung im Fokus<br />

Mit der Investition gibt <strong>ThyssenKrupp</strong> einen wichtigen Impuls für die<br />

regionale Wirtschaft: Bis zu 2.700 direkte Jobs sollen durch das Werk<br />

neu entstehen, mit mit vier Mal so vielen zusätzlichen indirekten Jobs<br />

rechnet man bei Zulieferern, Hotels, Restaurants und vielen weiteren<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

Dienstleistern. Gut für Alabama, wo sich auch andere globale Konzerne<br />

wie Degussa, Ciba, Hyundai und Honda niedergelassen haben. Den<br />

Gouverneur von Alabama, Bob Riley, hat am meisten beeindruckt, wie<br />

viel <strong>ThyssenKrupp</strong> in die Entwicklung neuer Produkte investiert. „Das<br />

hat uns alle davon überzeugt, dass sich ein Konzern bei uns ansiedelt,<br />

der in der Produktentwicklung immer führend sein wird“, so Riley. Der<br />

indianische Name Alabama bedeutet übrigens manchen Forschern<br />

zufolge in etwa „hier lebe ich“. Das gilt nun auch für <strong>ThyssenKrupp</strong>. 7<br />

TEXT: ALEXANDER SCHNEIDER<br />

Über den Golf von Mexiko ist das neue Verarbeitungswerk in Alabama in die<br />

globale Wertschöpfungskette von <strong>ThyssenKrupp</strong> eingebunden.<br />

75


76<br />

perspektiven_stadt der zukunft<br />

MEGACITYS UND<br />

SCHRUMPFSTÄDTE<br />

Die Zukunft der Menschheit liegt in den Städten. Aber was ist die Stadt der Zukunft? Wie lassen<br />

sich Fläche, Verkehr, Energie und Wohnqualität in wachsenden und schrumpfenden Städten sichern<br />

und verbessern?<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


A 3<br />

uf YouTube gibt es ein Video, das aus einem fahrenden Auto<br />

heraus aufgenommen ist. Drei lange Minuten sind verfallende<br />

Wohnblocks, verlassene Einfamilienhäuser und Bauruinen<br />

zu sehen. Nur wenige Menschen bevölkern die<br />

trostlose Szenerie, die an Bilder aus Bürgerkriegsgebieten<br />

erinnert. Doch das hier ist weder Grosny noch Bagdad,<br />

sondern Amerikas ehemalige Boomtown Detroit.<br />

Wo noch bis Anfang der fünfziger Jahre die Produktion der Big Three –<br />

Chrysler, Ford und General Motors – für ein anhaltendes Wirtschafts-<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

wachstum sorgte, wirken heute ganze Viertel wie die Kulisse für einen<br />

Endzeitfilm. Tatsächlich liegt ein Drittel der gesamten Stadtfläche brach;<br />

etwa 4.000 Bauten stehen leer, Straßenschilder rosten, und auf den<br />

Bürgersteigen wächst Gras.<br />

Der krasse Niedergang von Detroit infolge wirtschaftlicher Probleme<br />

und sozialer Spannungen gilt Stadtplanern als Musterbeispiel für<br />

„Shrinking Cities“. Wenn Städte aufgrund von Abwanderung und Bevölkerungsrückgang<br />

schrumpfen, hat das natürlich nicht immer derart<br />

drastische Folgen wie im Fall der ehemals prosperierenden Motor City.<br />

77


78<br />

perspektiven_stadt der zukunft<br />

3<br />

Gleichwohl wird das Phänomen weithin unterschätzt, nicht zuletzt,<br />

weil in den urbanistischen Debatten der vergangenen Jahre das<br />

Augenmerk vor allem auf das Wachstum der Megapolen gerichtet<br />

war. Doch ob Russland oder China, Belgien oder Finnland: Überall<br />

schrumpfen Städte. Deutschland bildet da keine Ausnahme. In<br />

Ostdeutschland gibt es Gemeinden, schreiben die Autoren Jeremy<br />

Gaines und Stefan Jäger in Ein Manifest für nachhaltige Stadtplanung,<br />

„die so entvölkert sind, dass man dort einmal die Woche mit<br />

Trinkwasser die Kanalisation spülen muss“. Bestes Beispiel ist<br />

Dessau, das seit der Wende so stark schrumpft wie kaum eine andere<br />

Kommune in unserem Land. Ganze Viertel wirken verlassen,<br />

Gründerzeitfassaden bröckeln, Schulen und Geschäfte stehen leer.<br />

In der Bauhaus-Stadt will man nun die leistungsfähigsten Quartiere<br />

als sogenannte „Stadtinseln“ zwischen gestalteten Land-<br />

»Stadtentwicklungspolitik<br />

ist Friedenspolitik für die<br />

Zukunft.«<br />

schaftszügen entwickeln. Ob das Konzept tragfähig ist, wird die<br />

Zukunft zeigen. Lösungen sind jedenfalls dringend gefragt: Bereits<br />

2020 wird jeder zweite Landkreis in Deutschland mit sinkenden<br />

Einwohnerzahlen konfrontiert sein.<br />

Dessen ungeachtet verschwinden hierzulande jährlich knapp 380<br />

Quadratkilometer Landschaft unter Vorstädten und Straßen. Eine<br />

paradoxe Situation, zumal sich die Bedingungen für ein Leben in<br />

der Peripherie mit zunehmender Ressourcenknappheit grundlegend<br />

ändern werden. Den vorhandenen Raum sinnvoll nutzen,<br />

lautet die stadtplanerische Devise der Zukunft. „Europas Metropo-<br />

Buchtipps zum Thema<br />

Jeremy Gaines und Stefan Jäger: Albert<br />

Speer & Partner. Ein Manifest für nachhaltige<br />

Stadtplanung. Prestel. In einer<br />

Zeit der globalen Erwärmung gewinnt die<br />

Entwicklung eines ressourcenschonenden<br />

Städtebaus an Bedeutung. Ausgehend<br />

von den Projekten des Büros Albert Speer<br />

& Partner, formulieren die beiden Autoren<br />

Jeremy Gaines und Stefan Jäger ein zukunftsweisendes<br />

Konzept für den umweltverträglichen<br />

Städtebau.<br />

Wiederkehr der Landschaft/Return of<br />

Landscape. Das anlässlich einer Ausstellung<br />

in der Berliner Akademie der Künste<br />

erschienene Buch stellt Las Vegas und<br />

Venedig in den Mittelpunkt – zwei sehr<br />

verschiedene Städte, die eine Geschichte<br />

von kluger Landschaftsnutzung und von<br />

überheblicher Eroberung erzählen, von<br />

zukunftsfähigen und von gescheiterten<br />

Strategien der Stadtentwicklung. Namhafte<br />

Autoren zeigen Möglichkeiten auf,<br />

die Stadt des 21. Jahrhunderts aus der<br />

Landschaft heraus zu entwickeln.<br />

len dürfen kein neues Land für ihre Weiterentwicklung verbrauchen<br />

– sie verfügen bereits über genug Land, das nur regeneriert<br />

werden muss“, konstatieren Jeremy Gaines und Stefan Jäger.<br />

„Andernfalls werden sie nicht überleben.“<br />

Balanceakt Stadtentwicklung<br />

Völlig anders stellt sich die Situation in vielen Schwellenländern<br />

dar. Allein in China werden – so das Greenpeace-<strong>Magazin</strong> – „bis<br />

2030 rund 400 Millionen Menschen in Städte ziehen, genauer: in<br />

mehr als 240 Großstädte, die es noch gar nicht gibt“. Laut UNO<br />

werden im Jahr 2050 über 75 Prozent der Weltbevölkerung in<br />

Metropolen leben. Die gigantischen Stadtkonglomerate, für die<br />

man bei der UNO den Begriff Metacitys kreiert hat, werfen komplexe<br />

urbanistische Fragen auf: Wie sollen immer mehr Menschen auf<br />

einer gleichbleibenden Fläche menschenwürdig leben? Welche<br />

Auswirkungen haben unterschiedliche Bildungsstandards auf die<br />

soziale Balance? Wie kann man ökonomische Stabilität und eine<br />

hohe Umweltqualität erreichen? Vor allem aber: Wie lässt sich verhindern,<br />

dass Städte ungebremst Ressourcen verschlingen und<br />

auf Kosten ihres Umlands leben?<br />

Klaus Töpfer, ehemaliger Leiter des UN-Umweltprogramms, spricht<br />

in seinem Essay Der Chaosplanet von drei Säulen einer nachhaltigen<br />

Städteentwicklung: wirtschaftlicher und gesellschaftlicher<br />

Stabilität sowie ökologischer Nachhaltigkeit. „Stadtentwicklungspolitik,<br />

die die Funktion von Stadt schafft und erhält, ist ... auch<br />

eine Friedenspolitik für die Zukunft“, schreibt Töpfer. „Wenn sie<br />

nicht Arbeit, Entwicklung, sozialen Ausgleich und ökonomische<br />

Stabilität ermöglicht, wird es eine friedliche Entwicklung auf unserem<br />

Planeten nicht geben.“<br />

Auch wenn sich die Megacitys in ihrem Erscheinungsbild zunehmend<br />

gleichen – Fachleute sprechen von einer Globalisierung der<br />

Stadtstrukturen –, so ist doch jede von ihnen ein eigener Kosmos<br />

mit unverwechselbaren natürlichen und kulturellen Gegebenheiten.<br />

Konzepte, die in Mexico City funktionieren, lassen sich nicht so ohne<br />

The Endless City. The Urban Age Project<br />

by the London School of Economics<br />

and Deutsche Bank’s Alfred Herrhausen<br />

Society. Phaidon. The Endless City präsentiert<br />

die Forschungsergebnisse des<br />

„Urban Age Project“, einer von der<br />

London School of Economics und der<br />

Alfred Herrhausen Gesellschaft der Deutschen<br />

Bank initiierten Untersuchung.<br />

Der 500 Seiten starke Wälzer liefert einen<br />

soliden Überblick über den aktuellen<br />

Stand der klassischen Stadtentwicklungspolitik.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


weiteres auf Jakarta anwenden – und umgekehrt. Vermutlich sind<br />

die Hyperstädte des 21. Jahrhunderts ohnehin nicht mit zentraler<br />

Planung in den Griff zu bekommen. Klaus Töpfer ist davon überzeugt,<br />

dass sich innerhalb der Megacitys dörfliche Funktionen bilden<br />

werden. Umgekehrt, so der Gründungsdirektor des Institute for<br />

Advanced Sustainability Studies in Potsdam, müssten städtische<br />

Funktionen im ländlichen Raum erfüllt werden, „wenn es uns gelingen<br />

soll, den Zustrom von Menschen aus den ländlichen Regionen<br />

in die Stadt abzubremsen“. Der hält unterdessen unverändert<br />

an. In der Hoffnung auf ein besseres Leben strömen Jahr für Jahr<br />

Millionen von Menschen in die Turbocitys Asiens und Afrikas.<br />

Landwirtschaft in der Stadt<br />

Die einzige Lösung für den durch Migrationsbewegungen und<br />

Bevölkerungswachstum ausgelösten „Highspeed Urbanism“ heißt<br />

Verdichtung; allein so lassen sich (Waren-)Wege verkürzen, Ressourcen<br />

schonen und Energie einsparen. Dem Bauen in die Höhe<br />

sind dabei allerdings Grenzen gesetzt. Für „unwirtschaftlich und<br />

überflüssig“ hält Albert Speer jr. Bauten von mehr als 400 Metern<br />

Höhe, wie er in einem Interview die prestigeträchtige Jagd nach<br />

immer neuen Höhenrekorden kommentierte. Vielmehr interessiert<br />

den renommierten Architekten, der mit seinen Partnern Büros in<br />

Frankfurt am Main und Shanghai unterhält, das Thema Nachhaltigkeit.<br />

Hinter dem zugegebenermaßen schwammigen Begriff verbirgt<br />

sich die Notwendigkeit, die Fähigkeit der Megacitys zur Selbstregeneration<br />

zu stärken. Denn der Missbrauch der Landschaft als<br />

Verfügungsmasse des boomenden Städtebaus hat in der Vergangenheit<br />

Umweltprobleme von erheblichem Ausmaß hervorgebracht<br />

– globale Erwärmung, Wasserknappheit, Nahrungsmangel<br />

und Artenverlust sind ja längst traurige Gewissheit. Die Städte von<br />

morgen dürfen sich nicht weiter auf Kosten der Landschaft profilieren,<br />

sondern müssen aus ihr heraus entwickelt werden. Ihre<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

Zukunftsfähigkeit hängt nicht zuletzt davon ab, ob fruchtbare<br />

Böden im Umland vor Bebauung geschützt werden können. Das<br />

United Nations Development Programme wirbt bereits seit Mitte<br />

der neunziger Jahre für urbane Landwirtschaft.<br />

Doch kann man tatsächlich einen Teil unserer Nahrungsproduktion<br />

in die Großstadt verlagern – bereits existierende Modelle wie die<br />

„Community Gardens“ in Chicago oder grüne Hinterhofidyllen in<br />

Kreuzberg mal ausgenommen? Wenn es nach dem belgischen<br />

Architekten Vincent Callebaut geht, zieht die Landwirtschaft demnächst<br />

in den Wolkenkratzer ein. „Dragonfly“ nennt der Visionär<br />

sein für New York City entwickeltes Projekt an der Südspitze von<br />

Roosevelt Island. Seine „Metabolic Farm“ propagiert die Rückkehr<br />

zur traditionellen Landwirtschaft in einem futuristisch anmutenden<br />

Kontext.<br />

An zwei Startrampen ähnelnden Türmen, in denen Menschen wohnen<br />

und arbeiten sollen, schließen sich zwei gigantische Flügel für<br />

die landwirtschaftlichen Nutzflächen an. Auf übereinanderliegenden<br />

Etagen werden Tiere gehalten, um die Versorgung der<br />

Bewohner mit Fleisch, Milch und Eiern zu garantieren. Sogar Ackerland<br />

soll es geben, Reisfelder und Obstgärten. Windturbinen<br />

erzeugen die nötige Energie; Hightechaußenhäute sorgen für die<br />

Klimaregulation. Callebaut hat seinen grünen Riesen als autarkes<br />

System konzipiert: als einen lebenden Organismus, in dem nicht<br />

der kleinste Humuskrümel verlorengeht, sondern dem ewigen<br />

Naturkreislauf zugeführt wird. Die Bewohner von Dragonfly produzieren<br />

ihr eigenes Wasser; ihr Abfall ist biologisch abbaubar. Vielleicht<br />

tauschen sie ihre Erfahrungen als Big-Apple-Bauern ja eines<br />

Tages mit den Leuten von Lilypad aus, jener schwimmenden Stadt,<br />

die Callebaut als eine mögliche Antwort auf den drohenden Anstieg<br />

des Meeresspiegels entworfen hat. Bilder davon gibt es übrigens<br />

auf YouTube zu sehen. 7<br />

TEXT: MARGIT UBER | ILLUSTRATIONEN: MARIO W<strong>AG</strong>NER<br />

79


80<br />

perspektiven_lebenswelt<br />

„Die Essener Volkshochschule<br />

auf dem Burgplatz leuchtet<br />

nachts in kräftigen Farben, die<br />

die Innenstadt aufhellen. Dieses<br />

Bild mag ich besonders, weil<br />

das Gebäude eher kompakt ist<br />

und tagsüber nicht auffällt. Dann<br />

ist es praktisch nur ein voller<br />

Würfel aus Glas, so scheint es.<br />

Sein wahres Gesicht zeigt es erst<br />

nachts: Dann leuchtet es in bunten<br />

Regenbogenfarben dem<br />

Himmel entgegen und macht mit<br />

seinem bunten Lichterspiel auf<br />

sich aufmerksam.“<br />

C Franziska Sieg<br />

KINDER SEHEN IHRE<br />

C<br />

UMWELT<br />

Was nehmen junge Menschen an ihrer Stadt wahr? Und wie sehen und beurteilen sie Architektur?<br />

Das <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>Magazin</strong> bat Schülerinnen und Schüler der neunten Jahrgangsstufe des Gymnasiums<br />

Essen-Werden, in ihrer Umgebung zu fotografieren und ihre Aufnahmen zu kommentieren.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

„Das Haus der Technik gegenüber dem Essener Hauptbahnhof<br />

finde ich total beeindruckend, vor allem wegen des kuppelförmigen<br />

Durchgangs. Durch seine Bauart wirkt es modern, durch<br />

die Ziegelsteine gleichzeitig alt. Ich könnte es mir stundenlang<br />

anschauen, so interessant finde ich es.“<br />

C Annika Albertz<br />

„Auf den ersten Blick sieht das Pressezentrum Messe-Essen<br />

aus wie ein Schiff. Durch seine klaren Linien und seine<br />

eigenartige Form und Bauweise sticht es auf alle Fälle aus<br />

dem Stadtbild heraus.“<br />

C Ante Schlesselmann<br />

81


82<br />

perspektiven_lebenswelt<br />

„Den Kirchturm der evangelischen Kirche in Werden sieht man genau so,<br />

wenn man aus unseren Klassenfenstern herausschaut. Besonders<br />

gut gefällt mir auch der Blick auf den Turm des Beatae Mariae Virginis<br />

Gymnasiums.“<br />

C Mirjam Otten<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

„‚Essen bewegt‘. Auch die Innenstadt wird derzeit erweitert – aber leidet sie darunter?<br />

Neue Einkaufszentren prägen nun das Zentrum und lassen kleine Läden in<br />

den Nebenstraßen (Bild oben) vergessen. ‚Essen macht Unmögliches möglich‘<br />

– es werden neue Straßen und Wege errichtet (Bild unten). Wenn diese fertiggestellt<br />

sind, werden sie wohl ihren Zweck erfüllen und die Straßen vom Verkehr entlasten<br />

– obwohl im Moment noch das<br />

genaue Gegenteil der Fall ist.“<br />

C Lea Sophie Lange<br />

83


84<br />

perspektiven_mobilität<br />

Geht’s denn hier gar nicht weiter? Auch Harrison Ford als<br />

„Blade Runner“ muss mit Staus kämpfen. Immerhin:<br />

Dank feiner Technik kann er per Knopfdruck abheben und<br />

solche Hindernisse im Los Angeles der Zukunft überfliegen.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


UNTERWEGS IM JAHR<br />

2050<br />

In der Stadt der Zukunft werden wir mehr laufen und Fahrrad fahren. Denn, so fordern Verkehrsexperten,<br />

wir müssen uns aus der Abhängigkeit vom Auto lösen, um die Städte lebenswerter zu machen.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

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86<br />

perspektiven_mobilität<br />

»Die Stadt der Zukunft ist auf die Bedürfnisse der Menschen<br />

zugeschnitten und nicht auf die der Autos.«<br />

Bäume säumen eine breite Straße, auf der zahlreiche<br />

Menschen mit ihren Fahrrädern oder zu Fuß unterwegs<br />

sind. Hier, im Zentrum der Metropole, ist lautes<br />

Vogelgezwitscher und fröhlicher Kinderlärm zu<br />

hören. Leise rauschen elektrisch betriebene Busse<br />

und Straßenbahnen vorbei. Und auch auf der Fahrbahn<br />

für Elektroautos fließt der Verkehr. Es ist halb<br />

neun Uhr vormittags an einem sonnigen Frühlingstag im Jahr<br />

2050 – viele Berufspendler haben ihr Fahrrad mit in die Bahn<br />

genommen, aber für die meisten ist der Weg zu ihrem Arbeitsplatz<br />

ohnehin nicht weit, denn sie leben in der Nähe der Innenstadt.<br />

Kreativ werden und umdenken<br />

„Die Menschen in der Stadt der Zukunft werden das meiste zu Fuß<br />

erledigen können“, sagt Jeff Kenworthy, Professor für Nachhaltigen<br />

Städtebau an der Curtin University in Perth. Und, so die<br />

Zukunftsvision des australischen Mobilitätsexperten, sie leben<br />

gerne in der Metropole, denn sie bietet ihnen ein grünes und<br />

lebenswertes Umfeld: Das Stadtzentrum und dessen Neben-<br />

Das ist mal eine wirkliche Großstadt: Der Planet Coruscant in<br />

„Star Wars: Episode III – Die Rache der Sith“ ist eine einzige<br />

sogenannte „Makropole“. Am besten bewegt man sich in den<br />

Hochhausschluchten dieser Riesenstadt mit eleganten Gleitern fort.<br />

straßen sind autofrei, überall sind breite Fuß- und Radwege angelegt.<br />

Jede freie Fläche Land wird für die Landwirtschaft zur Verfügung<br />

gestellt. Durch die stadtnahe Nahrungsmittelproduktion<br />

sind die Transportwege kürzer. „Die Stadt der Zukunft ist auf die<br />

Bedürfnisse der Menschen zugeschnitten und nicht auf die der<br />

Autos“, lautet die Prognose von Kenworthy, der in internationalen<br />

Vergleichsstudien die Abhängigkeit der Städte vom Auto erforscht.<br />

Dass sein Blick in die Zukunft sehr optimistisch ausfällt, darüber ist<br />

sich der Wissenschaftler durchaus bewusst. Denn die Realität sieht<br />

gegenwärtig noch völlig anders aus. In fast allen internationalen<br />

Großstädten sorgen unzählige Pendler täglich für kilometerlange<br />

Staus, für Lärm- und Luftverschmutzung. Viele Megacitys in Asien<br />

und Südamerika stehen kurz vor dem Verkehrskollaps: Einige Bewohner<br />

von Mexiko-Stadt benötigen bis zu drei Stunden täglich,<br />

nur um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Geschäftsleute im brasilianischen<br />

São Paulo umgehen das Verkehrschaos, indem sie per<br />

Hubschraubertaxi zu ihren Terminen fliegen. In asiatischen Großstädten<br />

verursacht ein Durcheinander von Fahrrädern, Rikschas,<br />

Mopeds und immer mehr Autos ein alltägliches Chaos. Und auch<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


Der Traum von Freiheit: Mit einem Landspeeder kann Luke Skywalker bei „Star Wars IV – Eine neue Hoffnung“ seine Umgebung<br />

erkunden. Verkehrsprobleme sind auf dem Wüstenplaneten Tatooine unbekannt.<br />

in den Metropolen Europas und der Vereinigten Staaten ist vielerorts<br />

kaum noch ein Durchkommen möglich. Die Straßen stoßen an die<br />

Grenzen ihrer Belastbarkeit, der CO2-Ausstoß ist beträchtlich, und<br />

die Folgen – massive Luftverschmutzung und drohender Klimawandel<br />

– sind alarmierend. Eine Aussicht auf rasche Besserung ist<br />

nicht in Sicht, denn in Zukunft wird sich das Verkehrsaufkommen in<br />

den Schwellenländern noch vervielfachen.<br />

Jeff Kenworthy gibt sich dennoch zuversichtlich. „Wir können<br />

solche Probleme nicht in einer Woche erledigen, aber wir können<br />

versuchen, das System in eine andere Richtung zu lenken“, zeigt<br />

sich der Wissenschaftler überzeugt. Seit dem Zweiten Weltkrieg<br />

habe man dem Auto mehr und mehr Bedeutung eingeräumt. Jetzt<br />

gelte es, „kreativ zu werden und umzudenken“.<br />

Was kommt nach dem Auto?<br />

Mit dieser Meinung steht Kenworthy nicht alleine da. Verkehrsexperten<br />

weltweit plädieren dafür, die Abhängigkeit von der automobilen<br />

Mobilität zu reduzieren. Die könnte ohnehin durch steigende<br />

Ölpreise bald stark eingeschränkt werden. „Vieles deutet darauf<br />

hin, dass wir bei der Erdölforderung auf eine Zielgerade zustreben,<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

an deren Ende wir uns überlegen müssen, womit wir in der Zukunft<br />

fahren möchten“, sagt Michael Schreckenberg, Professor für Physik<br />

von Transport und Verkehr an der Universität Duisburg-Essen.<br />

Wo dies möglich ist, sollen öffentliche Verkehrsmittel das Auto ersetzen.<br />

Doch der Weg bis dorthin ist weit. In Städten wie Paris oder<br />

New York platzen auch die öffentlichen Verkehrssysteme bereits<br />

aus allen Nähten. Vollgestopfte Busse und Bahnen, mangelnder<br />

Komfort sowie vielerorts lange Taktzeiten und schlechte Anschlussverbindungen<br />

führen dazu, dass sich weltweit viele Menschen lieber<br />

in den täglichen Stau einreihen. „Der Nahverkehr muss attraktiver<br />

werden“, fordert Kenworthy denn auch. Doch vielen<br />

Großstädten fehlt das Geld, um die Infrastruktur auszubauen. In<br />

den Schwellenländern sind die Probleme häufig hausgemacht: In<br />

einigen Megacitys wie beispielsweise Bangkok gibt es so gut wie<br />

gar keine Verkehrsplanung. „Es wird einfach gebaut nach den<br />

Plänen derer, die das meiste Land oder das meiste Geld besitzen“,<br />

so Kenworthy. In vielen Großstädten in Europa oder den USA hingegen<br />

haben die Verfechter der automobilen Mobilität noch eine zu<br />

starke Lobby, um ernsthaft Veränderung voranzutreiben, glaubt<br />

Kenworthy.<br />

3<br />

87


88<br />

perspektiven_mobilität<br />

3<br />

Dass sich hingegen am alltäglichen Irrsinn des Verkehrs auch künftig nicht viel ändern wird, das vermutet Luc Besson in „Das fünfte Element“ –<br />

und lässt dort Autos auf allen Ebenen durch die Straßen schweben, chaotische Verkehrsteilnehmer inklusive.<br />

Doch es gibt auch positive Signale: So gehört das Metro-System in<br />

der brasilianischen Millionenstadt São Paulo zu den modernsten<br />

der Welt. Hier werden bis Ende 2010 über vier Jahre zusätzliche 20<br />

Milliarden Real (etwa 8,5 Milliarden Euro) in die Weiterentwicklung<br />

»Einfach ins Auto steigen und losfahren, ohne nachzudenken,<br />

wird wahrscheinlich nicht mehr möglich sein.«<br />

des öffentlichen Verkehrssystems geflossen sein. Auch das<br />

U-Bahn-System im südkoreanischen Seoul ist vorbildlich – die<br />

dortige Metro hat weltweit die beste Energieeffizienz.<br />

Im Jahr 2050 werden die meisten öffentlichen Verkehrssysteme<br />

wohl mit Strom betrieben werden. Und sie bieten ihren Gästen<br />

größeren Komfort, so die Überzeugung der meisten Verkehrsexperten.<br />

„Im Jahr 2050 ist der öffentliche Verkehr nicht mehr das,<br />

was er heute ist“, sagt zum Beispiel auch Manfred Boltze, Professor<br />

für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik an der Technischen<br />

Universität Darmstadt. „Er wird weitaus komfortabler und an die<br />

Bedürfnisse der Menschen angepasst sein.“ So würden vor allem<br />

innovative Informationstechnologien dabei helfen, das Ticketing zu<br />

vereinfachen und den Informationsfluss zu erhöhen. „Wenn ich im<br />

Jahr 2050 mit der Bahn oder<br />

dem Bus fahre, dann wird das<br />

automatisch von meinem Mobiltelefon<br />

erfasst“, stellt sich Boltze<br />

die Zukunft vor. „Und am<br />

Monatsende werden die Fahrtkosten<br />

automatisch vom Konto<br />

abgebucht.“ Auch die unterschiedlichen Verkehrsmittel, so der<br />

Wissenschaftler, werden wesentlich besser vernetzt und intelligenter<br />

kombinierbar sein.<br />

Mobil auf zwei Rädern<br />

Auf Einschränkungen muss man sich dagegen beim motorisierten<br />

Individualverkehr einstellen: „Die Mobilität der Zukunft wird von<br />

unseren technischen Möglichkeiten abhängen“, sagt Michael<br />

Schreckenberg. Aufgrund der relativ geringeren Fahrreichweite von<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

„Beam me up, Scotty!“ – ein legendärer Satz der Filmgeschichte,<br />

der das unkomplizierte Transportverfahren<br />

bei „Raumschiff Enterprise“ auf den Punkt bringt<br />

(auch wenn er genau so nie gesagt wurde). Einfach auf<br />

einen Knopf drücken, schon ist man da. Von dieser<br />

Lösung müssen Pendler aber wohl noch lange träumen.<br />

Elektroautos werde es die uneingeschränkte Mobilität, wie wir sie<br />

heute kennen, im Jahr 2050 vielleicht nicht mehr geben. „Wir werden<br />

besser planen müssen als heute. Einfach ins Auto steigen und<br />

losfahren, ohne nachzudenken, wird wahrscheinlich nicht mehr<br />

möglich sein. Es sei denn, es gibt bis dahin Akkus, die kurze Ladezeiten<br />

haben und mit denen man 400 Kilometer weit kommt.“<br />

Zudem sei es problematisch, Platz für die zahlreichen notwendigen<br />

Aufladestationen vorzuhalten. „In Berlin haben mehr als 90 Prozent<br />

aller Autos keine ,Heimat‘, das heißt, sie stehen auf der Straße<br />

und nicht in einer Garage oder auf einem Grundstück.“<br />

Dass der gute alte „Drahtesel“ in Zukunft eine echte Renaissance<br />

erleben wird – auch darüber herrscht Einigkeit. Schon heute arbeiten<br />

zahlreiche Regierungen daran, ihre Städte fahrrad- und<br />

fußgängerfreundlicher zu machen. In New York wurden bereits<br />

etliche Straßen zurückgebaut, um Platz für Radwege zu machen.<br />

Langfristig soll hier ein 3.000 Kilometer langes Fahrradwegenetz<br />

entstehen. Ziel ist, Amerikas umweltfreundlichste Stadt zu werden.<br />

Aber auch andere amerikanische Städte ziehen nach: In Chicago<br />

gibt es bereits beheizte Parkhäuser für Fahrräder, die den Radlern<br />

darüber hinaus Duschmöglichkeiten und Werkstätten bieten. Auch<br />

in Europa spielt das Fahrrad in Mobilitätskonzepten eine größere<br />

Rolle als noch vor wenigen Jahren. So wurde in Kopenhagen bereits<br />

vor einigen Jahren eine grüne Welle für Fahrradfahrer eingeführt.<br />

In der dänischen Hauptstadt fahren rund 37 Prozent der<br />

Pendler mit dem Fahrrad zur Arbeit. Um bis zum Jahr 2015 einen<br />

Anteil von 50 Prozent zu erzielen –, so das erklärte Ziel der Stadtverwaltung<br />

–, werden jährlich umgerechnet bis zu 13 Millionen<br />

Euro in neue Radwege und Radfahrstreifen investiert. In Paris<br />

haben sich Mietfahrräder innerhalb kürzester Zeit zu einem beliebten<br />

Verkehrsmittel entwickelt: Seit zwei Jahren sind in der Seine-<br />

Metropole 20.000 Mietfahrräder im Einsatz, durch die der Radverkehr<br />

in der Stadt um 50 Prozent gesteigert werden konnte.<br />

„Vorwärts in die Vergangenheit“ könnte das Motto des Stadtverkehrs<br />

im Jahr 2050 also lauten: Wir werden mehr zu Fuß und mit<br />

dem Fahrrad unterwegs sein und (hoffentlich) bessere öffentliche<br />

Verkehrsmittel nutzen. In Saudi-Arabien wird diese Entwicklung<br />

noch etwas anders umschrieben: „Mein Vater ist auf einem Kamel<br />

geritten. Ich fahre mit dem Auto, mein Sohn fliegt mit dem Flugzeug,<br />

sein Sohn wird auf einem Kamel reiten“, besagt eine dortige<br />

Weisheit. Kein Grund zur Panik, findet Jeff Kenworthy: „Die Menschen<br />

werden von dem lebenswerteren Umfeld in unseren Städten<br />

nur profitieren.“ 7<br />

TEXT: CHRISTINA HÖHN<br />

Mobilität in Zukunftsvisionen<br />

Wie wir uns morgen bewegen war seit jeher ein zentrales<br />

Thema von Science-Fiction-Filmen, angefangen<br />

beim Stummfilmklassiker „Metropolis“: Dort prägen<br />

bereits Fahrbahnen auf vielen Ebenen das Stadtbild,<br />

während Flugzeuge durch die Hochhausschluchten<br />

jagen. Modernität drückte sich für Regisseur Fritz Lang<br />

eben unter anderem in einer möglichst umfassenden<br />

Mobilität aus. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.<br />

Besonders beliebt sind Fahrzeuge, die zugleich<br />

fliegen, wie etwa bei „Blade Runner“ oder „Das fünfte<br />

Element“. Vollendet wird das Ziel grenzenloser Mobilität<br />

in allen Dimensionen dann beispielsweise bei den<br />

Flugmobilen der Star-Wars-Helden. Und für ganz lange<br />

Reisen träumen die Science-Fiction-Macher gleich<br />

vom „Beamen“ und lösen so die Mobilitätsprobleme<br />

auf elegante Art.7<br />

89


perspektiven_essay<br />

REALE UND VIRTUELLE<br />

RÄUME<br />

Weltweite Vernetzung und Digitalisierung<br />

verlagern Begegnungen zwischen<br />

Menschen zunehmend vom physischen<br />

in den virtuellen Raum. Durch Internet,<br />

Smartphone, Navigationssysteme & Co.<br />

verändert sich unser Gefühl für Zeit und<br />

Raum. Der Wunsch nach echter Begegnung<br />

aber bleibt.<br />

Früher waren Räume greifbar. Es galt: Nah<br />

ist, was nah liegt. Die weltweite Vernetzung<br />

hat unsere Vorstellung von Nähe verändert.<br />

Im Zeitalter von Globalisierung und<br />

Internet kann nah sein, was eigentlich fern<br />

ist – andererseits aber auch fern, was eigentlich<br />

nah sein sollte. Innerhalb weniger<br />

Jahre hat die Digitalisierung der Welt un-<br />

sere Raum- und Zeiterfahrung wieder einmal<br />

völlig verändert.<br />

Vermeintlich kleiner ist die Welt schon<br />

durch das Auto, das Flugzeug, das Telefon<br />

und das Fernsehen geworden. Das Internet<br />

hat diesen Prozess exponentiell beschleunigt.<br />

Heute kann jeder in verschiedenen<br />

Räumen zur gleichen Zeit anwesend<br />

sein. Dadurch ist der Rest der Welt noch<br />

viel näher gerückt, hat sich die Bedeutung<br />

der Begriffe Nähe und Nachbarschaft gewandelt.<br />

Nähe wird heute anders definiert,<br />

zum Beispiel so: Wie viele Klicks brauche<br />

ich, um von meiner Homepage zur Homepage<br />

eines Freundes zu kommen, und wie<br />

viele Freunde liegen dazwischen, die uns<br />

verbinden?<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


Chatrooms ersetzen den Plausch im Café,<br />

Teammeetings werden per Videokonferenz<br />

abgehalten, an die Stelle des gemeinsamen<br />

Einkaufsbummels tritt der Besuch<br />

einer der vielen Internetseiten, auf denen<br />

es praktisch alles zu kaufen gibt. Gearbeitet<br />

wird online von zu Hause aus oder von<br />

jedem anderen Ort der Welt, das Lebensumfeld<br />

des neuen Freundes der Tochter<br />

wird per Google Streetview überprüft, Orientierungssinn<br />

braucht es im Großstadtdschungel<br />

jetzt auch nicht mehr – gedankt<br />

sei dem Navigationssystem. Ist der Raum<br />

der Zukunft virtuell? Wenn ja, was heißt<br />

das für unser Weltverständnis und Heimatgefühl<br />

– und für die Qualität unserer Beziehungen?<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

Die Frage nach dem Einfluss des Internets<br />

auf das Gefühl der örtlichen Verbundenheit<br />

und die sozialen Beziehungen wird häufig<br />

pessimistisch beantwortet. Vor allem wird<br />

davor gewarnt, dass die Kommunikation<br />

über das Internet zu oberflächlicheren sozialen<br />

Bindungen zwischen den Menschen<br />

führe, möglicherweise sogar zur Isolation<br />

und Entwurzelung des Einzelnen.<br />

Tatsächlich sollten die neuen elektronischen<br />

Kommunikationsmöglichkeiten, die<br />

sich seit Mitte der achtziger Jahre entwickelt<br />

haben, die Menschen aber nicht<br />

vereinzeln, sondern sie ganz im Gegenteil<br />

zusammenbringen. „Virtuelle Gemeinschaft<br />

– Soziale Beziehungen im Zeitalter<br />

des Computers“ hieß das Buch, mit dem<br />

der Amerikaner Howard Rheingold diese<br />

Idee im Jahr 1993 weltweit verbreitete.<br />

„Virtuelle Gemeinschaften sind soziale<br />

Zusammenschlüsse, die dann im Netz entstehen,<br />

wenn genug Leute diese öffentlichen<br />

Diskussionen lange genug führen<br />

und dabei ihre Gefühle einbringen, so dass<br />

im Cyberspace ein Geflecht persönlicher<br />

Beziehungen entsteht“, so Rheingolds<br />

Definition einer virtuellen Gemeinschaft,<br />

die man heute Online-, Net-, Cyber- oder<br />

E-Community nennen würde.<br />

Neue Beziehungsmuster<br />

Ganz sicher geht der Trend von der gruppen-<br />

hin zur netzwerkbasierten Gesellschaft.<br />

Und natürlich bedeutet das einen<br />

Wandel der sozialen Beziehungen. Persönliche<br />

Verbundenheit entsteht heute zunehmend<br />

durch gemeinsame Interessen. In<br />

unzählig vielen, gezielt auf die jeweilige<br />

Gruppe ausgerichteten Internetforen<br />

schweißen diese gemeinsamen Interessen<br />

jetzt Menschen selbst über Kontinente hinweg<br />

zusammen – Menschen, die in einer<br />

Welt ohne Internet nie voneinander gewusst<br />

hätten.<br />

Dadurch, dass man seine Gruppen nicht<br />

mehr wie traditionell zuerst in der Nachbarschaft<br />

oder der Dorfgemeinschaft sucht,<br />

lösen sich menschliche Gemeinschaften<br />

im Internetzeitalter aber keineswegs auf.<br />

Stattdessen findet ein Wandel statt in Richtung<br />

von Gemeinschaften, die sich an sozialen<br />

Netzwerken orientieren.<br />

Virtuelle Paralleluniversen<br />

Neben der realen Welt gibt es heute immer<br />

mehr virtuelle Paralleluniversen mit eigenen<br />

Umgangsregeln und Beziehungsformen.<br />

In sozialen Internetnetzwerken wie<br />

Facebook zum Beispiel sollte man den Begriff<br />

Freund besser in Anführungszeichen<br />

setzen – ein Freund ist hier jeder, der nicht<br />

explizit keiner ist. Das wiederum ist Teil der<br />

Verlockung: Das Potential für neue Freundschaften<br />

ist schier unglaublich. Weltweit<br />

sind mehr als 150 Millionen Menschen bei<br />

Facebook registriert, die Hälfte von ihnen<br />

ist angeblich täglich in diesem virtuellen<br />

„Lebensraum“ erreichbar.<br />

Doch der Wunsch nach echter Begegnung<br />

bleibt. Wer in einem dieser sozialen Netzwerke<br />

einen wirklichen „Seelenverwandten“<br />

kennenlernt, spätestens wer sich im<br />

Chat verliebt, wechselt schon bald vom virtuellen<br />

ins reale Leben. Greifbar und vor<br />

allem entwicklungsfähig wird jede zwischenmenschliche<br />

Beziehung immer noch<br />

erst durch die physische Begegnung. Genauso<br />

werden sicher auch die großen gemeinschaftlichen<br />

Räume in den Städten<br />

weiter eine wichtige Rolle spielen – Stadien<br />

und Konzertsäle genauso wie Gemeinschaftsveranstaltungen<br />

wie Skatenights,<br />

Marathons oder Theatervorstellungen.<br />

Und natürlich gemeinsame Unternehmungen<br />

mit echten Freunden – ohne Anführungszeichen.<br />

7<br />

TEXT: ANKE BRYSON |<br />

ILLUSTRATION: MARIO W<strong>AG</strong>NER<br />

91


92<br />

perspektiven_einblicke<br />

APP-CITY<br />

Unterwegs in einer neuen Stadt – das heißt sich orientieren, Sicherheitsrisiken erkennen, effiziente Wege<br />

planen und manchmal auch, sich dem Freizeitpotential widmen. Web 2.0, Navigationssysteme und<br />

andere Anwendungen der Augmented Reality helfen dabei. Doch wie verändert die „erweiterte Realität“<br />

unseren Blick auf neue Räume?<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

93


94<br />

perspektiven_einblicke<br />

AR-Applikationen für<br />

Geschäftsreisende<br />

Layar | www.layar.com<br />

Fotografiert der Nutzer die Umgebung, überblendet<br />

Layar das Kamerabild mit einer Folie, die die<br />

passenden Informationen dazu darstellt. Ob es sich<br />

dabei um architektonische Daten oder die Filialen<br />

einer Bank handelt, sucht der Nutzer aus. Web-2.0-<br />

Könnern steht es offen, selbst Folien zu erstellen.<br />

Aloqa | www.aloqa.com<br />

Bei Aloqa geht es weltweit um Nachtleben, Gastronomie,<br />

Partys und Shopping, also um alles rund<br />

um das Thema Freizeitgestaltung.<br />

Dopplr | www.dopplr.com<br />

Via Dopplr lässt sich mit wenigen Klicks feststellen,<br />

wer aus dem Freundes- oder Kollegenkreis<br />

gerade auf welcher Route unterwegs ist. Vor<br />

allem Vielreisende können damit überprüfen,<br />

ob im Nachbarabteil nicht gerade zufällig ein alter<br />

Bekannter sitzt.<br />

Wikitude | www.wikitude.org<br />

Der „World Browser“ ermöglicht es, Daten aus<br />

Wikipedia und diversen Web-2.0-Anwendungen auf<br />

Kamerafotos und Karten darzustellen.<br />

tagwhat | www.tagwhat.com<br />

Die Benutzer vergeben selbst sogenannte Tags<br />

zu selbstgewählten Orten und stellen sie anderen<br />

Tagwhat-Nutzern zur Verfügung.<br />

Mobeedo | www.mobeedo.com<br />

Mobeedo bietet eine Fülle von lokalen Informationen,<br />

von den besten Einkaufsmöglichkeiten bis<br />

zu historischen Daten zum ausgewählten Kartenausschnitt.<br />

Ubique<br />

Das Programm projiziert eine transparente Karte als<br />

Scheibe auf das Kamerabild. Dazu stehen Daten<br />

aus Wikipedia, Panoramio und aus der OpenStreet-<br />

Map-Datenbank zur Verfügung.<br />

Egal ob Caracas, Tokio oder Peking, im Grunde genommen<br />

ist es geradezu furchterregend einfach, eine<br />

fremde Stadt virtuell auf den Bildschirm eines Computers<br />

oder Smartphones zu zaubern: bei einer Stadtrundfahrt<br />

per Google Streetview oder Kontaktsuche<br />

über die sozialen Webnetzwerke Facebook oder Xing,<br />

während Applikationen wie Aloqa Gastronomie und<br />

Nachtleben (neben vielen anderen Aspekten) nach individuellen<br />

Vorlieben sortiert vorschlagen. Via Dopplr lässt sich schnell noch<br />

nachschauen, ob nicht schon einer da ist, den man kennt – ja vielleicht<br />

sogar zeitgleich im selben Zug sitzt!<br />

Verantwortlich für diese Revolution, die völlig andere Eroberung<br />

neuer Räume, ist das Web 2.0. Hinter diesem Schlagwort verbirgt<br />

sich ein ganzes Sammelsurium von kleinen Programmen und Plattformen,<br />

die es dem Internetnutzer ermöglichen, sich mit anderen<br />

Nutzern auszutauschen, selber Inhalte unproblematisch ins Netz zu<br />

stellen und individuell zusammengestellte Informationen mit zwei<br />

oder drei Mausklicks aus dem Internet zu beziehen. Ein ganz<br />

besonderer Teil des Web 2.0 ist die „Augmented Reality“ (AR), die<br />

„erweiterte Wirklichkeit“. Kleine Programme bestimmen dabei via<br />

Triangulation über drei Handymasten die genaue Position und<br />

Blickrichtung des Nutzers und liefern dem Smartphone in Echtzeit<br />

zusätzliche Informationen zum Sichtfeld. Die Realität wird also mit<br />

Einblendungen des im Web verfügbaren Wissens, zum Beispiel aus<br />

Wikipedia oder Google, unterlegt, erklärt – und interpretiert.<br />

Bei der Begegnung mit neuen Räumen, wie beispielsweise bei der<br />

Ankunft in einer neuen Stadt, sind die kleinen Helferprogramme<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


Vorreiter Japan<br />

In vielen Ländern Asiens übrigens kein unbekanntes<br />

Prinzip: Unterwegs in Japan? Selbst im kleinsten Gebirgsdorf<br />

liegt seit vielen Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit<br />

ein touristisches Pamphlet aus, das mit kleinen<br />

schwarzweißen Blöcken, den QR-Codes, versehen<br />

ist, die in codierter Form eine Webadresse enthalten:<br />

Schnell mal das Handy draufgehalten, schon werden die<br />

Infos von einer „Mobile Tagging Software“ verarbeitet,<br />

und die Infos und Karten erscheinen in Form von Webseiten<br />

auf dem Handybildschirm. 7<br />

erst einmal zweifellos praktisch. Die Frage „Wo liegt das Hotel?“ erfordert<br />

keine großflächigen Kämpfe mit dem Stadtplan, ein kleiner<br />

Tipp auf das Navigationsprogramm des Mobiltelefons genügt,<br />

schon spuckt die Maschine eine genaue Routenbeschreibung aus.<br />

Auch die Frage: „Welches Gebäude ist das?“ beantworten moderne<br />

Smartphones im Handumdrehen, sofern sie mit GPS, Kamera und<br />

Kompass ausgerüstet sind – mit Layar oder Wikitude, kleinen Browsern<br />

für Mobiltelefone, bei denen Bilder von der Kamera erfasst<br />

und in Echtzeit mit Zusatzinformationen zu dem Gezeigten unterlegt<br />

werden. Ein schneller Fingertipp, schon bekommt die Stadt Untertitel:<br />

Geschichtliche Hintergründe zu den umliegenden Gebäuden<br />

oder eine Lokalempfehlung lassen sich blitzschnell einblenden. In<br />

gar nicht so ferner Zukunft wäre es sogar denkbar, alle diese Funktionen<br />

mit einer Brille direkt in die persönliche Optik zu integrieren<br />

– und sogar die Gesichter fremder Menschen mit den Angaben aus<br />

Social-Networking-Datenbanken wie Facebook abzugleichen und<br />

damit automatisch auch die persönlichen Daten einzublenden!<br />

Komfort gegen Raumgefühl?<br />

All dies klingt praktisch – doch wie wirkt sich die Informationsflut<br />

auf die Wahrnehmung aus? Informationen gezielt aus dem Netz<br />

abzurufen bedeutet den Verzicht auf Zufälle und andere nicht planbare<br />

Situationen, wie die Irrfahrt durch eine fremde Stadt oder<br />

Zufallsbekanntschaften. Erweitert die „erweiterte Realität“ tatsächlich<br />

den Horizont, oder vermindern Geoapplikationen das Gefühl für<br />

Raum und Orientierung? Für den Münchner Psychologen und<br />

Wahrnehmungsforscher Ansgar Bittermann trifft dies nur bedingt<br />

zu: „Technische Neuerungen ergänzen häufig langfristig nicht die<br />

bereits vorhandenen Fähigkeiten, sondern ersetzen sie. Unter Umständen<br />

gehen dabei eigene Erfahrungsmöglichkeiten verloren,<br />

andererseits wird die Welt kleiner: Dank der neuen Anwendungen<br />

ist es leichter, mentale Reisen anzustoßen.“ Zudem sind die Auswirkungen<br />

beileibe nicht bei jedem Nutzer gleich, so Bittermann:<br />

„Wie es sich genau auf den Einzelnen auswirkt, hängt von vielen<br />

Faktoren und dem persönlichen Typ ab. Introvertierten Menschen<br />

geben die Programme die Sicherheit, den neuen Raum in Ruhe zu<br />

erleben. Für sie sind die Applikationen der Augmented Reality oft<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

der Schlüssel zum Genuss. Extrovertierte Menschen haben eine<br />

höhere Reizschwelle. Sie brauchen mehr Input und sehen dieselben<br />

Programme eher als Verlust von Abenteuer.“<br />

Professor Dr. Heinrich Bülthoff vom Max-Planck-Institut für Biologische<br />

Kybernetik in Tübingen sieht vor allem die Entwickler der Programme<br />

in der Pflicht: „Das Web 2.0 und seine Applikationen sind<br />

wie ein Schwimmbad für einen Nichtschwimmer. Man kann darin<br />

ertrinken, man kann aber auch schwimmen lernen. Es geht darum,<br />

intelligente Informationen zur Verfügung zu stellen und diese auch<br />

intelligent zu nutzen. Wir brauchen eine ganz neue Generation von<br />

Entwicklern, die die Daten nach den Erkenntnissen der Kognitionsforschung<br />

aufbereiten – und zum Beispiel eine Karte integrieren,<br />

damit der Betrachter trotz Anweisungen den Überblick nicht verliert.“<br />

Insgesamt plädiert Prof. Bülthoff für einen unaufgeregten<br />

Umgang mit den neuen Medien: „Im Grunde genommen reist man<br />

mit den neuen Applikationen auch nicht anders als mit dem Reiseführer.<br />

Es sind die gleichen Informationen, die der Reisende abruft,<br />

nur ein wenig bequemer und wahrscheinlich auch aktueller.“<br />

Die Fremde trainieren<br />

Geht es nach Ansgar Bittermann, sind vor allem die Menschen entscheidend<br />

bei der Begegnung mit einer neuen Stadt. Der Psychologe<br />

entwickelte ein Paket von Online- und Mobiltrainings<br />

(www.globalemotion.de), die es dem Betrachter ermöglichen,<br />

Menschen aus fremden Kulturen nicht nur schneller unterscheiden<br />

zu lernen, sondern auch Emotionen besser zu erkennen. Mit einem<br />

klaren Ziel: „Der Kontakt mit ‚fremden‘ Gesichtern verunsichert<br />

Menschen, und wer unsicher ist, erwartet selten Gutes. Durch<br />

unser Programm wecken wir eine positivere Erwartung. Wir machen<br />

aus Fremden, also potentiellen ‚Feinden‘, Bekannte. Zudem<br />

brechen dadurch fremde, vermeintlich homogene Gruppen auf.<br />

Erst wenn man beispielsweise Chinesen als Individuen und nicht<br />

als geschlossene Gruppe wahrnimmt, ergibt sich eine Chance, ein<br />

Teil dieser Umwelt zu werden. Im Grunde genommen geben wir<br />

China ein Gesicht. Allein dadurch ändern viele Menschen ihre<br />

Haltung.“ Das wäre dann wirklich eine „erweiterte“ Realität. 7<br />

TEXT: FRANÇOISE HAUSER<br />

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96<br />

perspektiven_interview<br />

BAUTEN<br />

FASZINIERENDE<br />

Ein Gespräch mit dem Insektenforscher Bert Hölldobler über Klimahäuser und<br />

Belüftungssysteme der Ameise, die Nachteile hierarchischer Organisationen und<br />

Diskriminierung bei Insekten und Menschen<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

Bert Hölldobler gilt als internationaler<br />

Spitzenforscher auf dem Gebiet der<br />

experimentellen Verhaltensphysiologie<br />

und Soziobiologie. Seine Arbeiten<br />

über soziale Insekten, besonders über<br />

Ameisen, brachten viele neue Erkenntnisse<br />

zur chemischen Kommunikation<br />

und zum Orientierungssinn von Tieren,<br />

zur Dynamik von Sozialstrukturen<br />

sowie zur Evolution von Tiergemeinschaften.<br />

Seit seiner Emeritierung<br />

2004 forscht Hölldobler an der<br />

Arizona State University in Tempe bei<br />

Phoenix, Arizona, wo er das „Center<br />

for Social Dynamics and Complexity“<br />

mitgegründet hat. Er gewann zusammen<br />

mit Edward O. Wilson den Pulitzer-Preis<br />

1991 für „The Ants“ (Die<br />

Ameisen). Zuletzt veröffentliche er –<br />

wiederum gemeinsam mit Edward Wilson<br />

– das Buch „The Superorganism:<br />

The Beauty, Elegance, and Strangeness<br />

of Insect Societies“ (auf Deutsch<br />

unter dem Titel „Der Superorganismus.<br />

Der Erfolg von Ameisen, Bienen,<br />

Wespen und Termiten“ erschienen).


98<br />

perspektiven_interview<br />

Herr Professor Hölldobler, sind Ameisen die Architekten der Tierwelt?<br />

Ich denke nicht, dass der Begriff Architekt ganz passend ist. Aber viele<br />

Ameisen- und Termitenarten errichten ganz erstaunliche Gebilde. Die<br />

komplexesten Bauten, die wir bislang kennen, sind diejenigen der Blatt-<br />

»Ähnlich, wie wir Bauwerke anhand ihres Stils bestimmen können,<br />

lassen sich Ameisenarten an ihren Nestern identifizieren.«<br />

schneiderameisen. Das sind riesige Gebilde, die bis acht Meter tief<br />

unter die Erde reichen und eine Fläche von 50 Quadratmetern einnehmen<br />

können. Dazu gehören auch bis zu 90 Meter lange Tunnel, die direkt<br />

aus dem Bau in die Futtergebiete führen. Das ist wirklich faszinierend.<br />

Es gibt jedoch nach wie vor auch noch viele Rätsel bei solchen<br />

Bauprojekten aus der Tierwelt. So ist völlig unklar, wie es Ameisen gelingt,<br />

unterirdisch kerzengerade Tunnel zu bauen. Hier beginnen wir erst<br />

jetzt mit der Forschung.<br />

Sehen die Nester einer bestimmten Ameisenart immer gleich aus?<br />

Zumindest gleichen sich die Nester einer bestimmten Art so sehr, dass<br />

Nestbauspezialisten unter den Ameisenforschern allein anhand des<br />

Aussehens eines Nestes die Art bestimmen können. Das gehört zu den<br />

Dingen, die uns Biologen an Ameisen so fasziniert: Wenn wir Arten beschreiben,<br />

schauen wir uns gewöhnlich<br />

beispielsweise die Merkmale<br />

ihrer Körper an. Aber hier<br />

können wir anhand des Produktes<br />

eines Tieres sagen, welche Art<br />

das hergestellt hat – ähnlich, wie<br />

wir bei menschlichen Bauwerken anhand ihres Stils die Entstehungszeit<br />

bestimmen können. Die Unterschiede bei uns Menschen sind allerdings<br />

vorwiegend zivilisatorisch bedingt, während die Ameisen sich mit ihren<br />

Bauten immer so gut wie möglich an ihren Lebensraum anpassen.<br />

Wie sieht diese Anpassung aus?<br />

In Europa etwa gibt es diese herrlichen großen Hügelbauten der Waldameisen.<br />

Das sind ganz raffinierte Bauwerke, die bis über zwei Meter<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


hoch werden. Wir sehen ja bloß den Hügel. Wenn man aber nach einem<br />

starken Regen solch ein Nest öffnet, sieht man, dass der Regen nur wenige<br />

Zentimeter in das Nest eindringt. Das heißt, die Zweiglein und Nadeln<br />

sind zu einem echten Schutzdach zusammengelegt. Die Nester<br />

sind sogar richtiggehend isoliert.<br />

Warum?<br />

So können die Ameisen nach der Winterpause, wenn es draußen noch<br />

relativ kühl ist, einen eigenen Wärmehaushalt aufbauen, also quasi heizen:<br />

Speichertiere verbrennen dafür ihren Fettkörper und können so<br />

Wärme erzeugen, die dank der guten Isolation im Hügel bleibt. Diese<br />

Technik – die im Grunde eine Art Klimahaus ist, das die Natur auf ihre<br />

eigene Art erfunden hat – ermöglicht es den hügelbauenden Ameisen,<br />

bis fast hinauf an den Polarkreis zu siedeln.<br />

Welche weiteren baulichen Leistungen der Ameisen faszinieren Sie<br />

besonders?<br />

Ein weiteres Beispiel sind die Belüftungssysteme, die Blattschneiderameisen<br />

entwickelt haben. Seit rund zwölf Millionen Jahren leben diese<br />

Ameisen in einer Symbiose mit Pilzen und anderen Mikroorganismen.<br />

Die von den Ameisen regelrecht gezüchteten Pilze produzieren allerdings<br />

tief unten im Nest eine Menge Kohlendioxid – und das muss hinaus.<br />

Das kann nur dank der Nestarchitektur gelingen, indem die wärmere<br />

Luft zusammen mit Kohlendioxid hinausströmt und kältere Luft<br />

einsinkt. Wie das genau funktioniert, wissen wir noch nicht. Ein Aspekt<br />

sind wohl die Abfallkammern für die Pilzreste im Nest: Diese sind um<br />

einige Grade wärmer und treiben dadurch offensichtlich die warme Luft<br />

nach oben.<br />

Sind feste Behausungen eine Voraussetzung dafür, dass sich sozial<br />

hochorganisiertes Leben überhaupt entwickeln kann?<br />

Bei hochentwickelten sozialen Systemen gibt es meist auch relativ komplexe<br />

Neststrukturen. Aber das muss nicht so sein. Die Heeresameisen<br />

in Afrika und Südamerika haben überhaupt keine festen Nester, sondern<br />

formen mit ihren Körpern Biwaks, etwa in Baumhöhlen – sie sind<br />

spezialisierte Nomadenjäger und zugleich sozial hoch entwickelt.<br />

Wie entscheiden Ameisen, ob und wohin sie umziehen?<br />

Die Entscheidungen der Ameisen werden von außen diktiert. So gibt es<br />

Arten mit kleinen Kolonien von vielleicht nur 100 Ameisen, die in hohlen<br />

Eichen leben. Solche Nester gehen aber relativ schnell kaputt –<br />

dann müssen die Ameisen umziehen. Jetzt folgt ein raffinierter Prozess,<br />

der unglaublich an unsere Art erinnert, kollektive Entscheidungen zu<br />

fällen: das sogenannte Quorum Sensing. Die Ameisen senden Späher<br />

aus, die unterschiedliche Standorte erkunden. Wenn sich dann eine<br />

bestimmte – kritische – Anzahl von Spähern in einem möglichen Nest<br />

versammelt, zieht die gesamte Kolonie dorthin um: Das Quorum, also<br />

die Masse, entscheidet. Über solche Entscheidungsprozesse in der<br />

Ameisenwelt ist aber längst noch nicht alles bekannt.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

Gibt es noch andere Beispiele dafür, wie Ameisen oder andere<br />

sozial lebende Insekten Lösungen für Probleme gefunden haben,<br />

die auch uns beschäftigen?<br />

Eine ganze Menge. So hatten wir kürzlich ein gemeinsames Symposium,<br />

an dem unter anderem Designer, Architekten und Computerspezialisten<br />

beteiligt waren. Die Architekten interessierten sich etwa dafür,<br />

wie es Termiten gelingt, besonders feste und dennoch luftdurchlässige<br />

Wände zu errichten. Der Sprecher einer Fluggesellschaft schilderte, wie<br />

sein Unternehmen bei der Organisation des Gepäcktransports an Flug-<br />

»Hoch entwickelte Gesellschaften arbeiten<br />

nicht hierarchisch.«<br />

häfen von Ameisen gelernt hat, die ja ihr Futter aus unendlich vielen<br />

Richtungen in die Zentrale, das Nest, transportieren. Ein Betrieb in<br />

Norditalien wiederum hat sich bei futtersuchenden Ameisen abgeschaut,<br />

wie er seine Transportfahrzeuge so organisiert, dass sie Waren<br />

auf den jeweils günstigsten Wegen liefern. Und Telefongesellschaften in<br />

Großbritannien und Frankreich können Rufverbindungen in ihren Netzwerken<br />

schneller herstellen, indem sie sogenannte virtuelle chemische<br />

Signale an Netzwerkweichen deponieren – genau wie es Ameisen mit<br />

echten chemischen Signalen tun, um Netzgenossen den besten und<br />

kürzesten Weg beispielsweise zu einem Futterplatz zu weisen.<br />

Ist das vernetzte Arbeiten der Ameisen ein Vorbild für uns?<br />

Zumindest lautet eine unserer Erkenntnisse: Hochentwickelte Gesellschaften<br />

arbeiten nicht hierarchisch, sondern nur die primitiven sozialen<br />

Systeme sind hierarchisch organisiert – und diese Kolonien wachsen<br />

nicht sehr stark, sind nicht sehr effizient. Die hochentwickelten<br />

sozialen Systeme bei Ameisen arbeiten hingegen wie Netzwerke oder<br />

3<br />

99


100<br />

3<br />

Cluster. Manche Ökonomen sind erstaunt darüber, dass die Natur die<br />

Idee von Clustern, die netzwerkartig verbunden sind und nicht von einer<br />

direktiven Kraft gesteuert werden, bereits seit Millionen Jahren sehr<br />

erfolgreich verwirklicht hat. Aber nicht in jeder Hinsicht sollten wir uns<br />

an der Welt der Ameisen ein Vorbild nehmen – es gibt für mich als Soziobiologen<br />

auch eine bittere Wahrheit, die ich aus meinen Forschungen<br />

ziehe.<br />

Welche?<br />

Wo immer es in der Natur hochentwickelte soziale Systeme mit großer<br />

Kooperationsbereitschaft innerhalb der Gemeinschaft gibt, sind auch<br />

immer die Diskriminierung und der Ausschluss von Mitgliedern anderer<br />

Gemeinschaften derselben Art besonders hoch. Ganz einfach, weil<br />

Gemeinschaften und nicht mehr Individuen um limitierte Ressourcen<br />

konkurrieren. Ein solches System, in dem die Gemeinschaft alles und<br />

das Individuum nichts zählt, sollten wir nicht anstreben.<br />

Hat Diskriminierung auch beim Menschen einen biologischen<br />

Hintergrund?<br />

Zumindest, so glaube ich, schlummert die Tendenz dazu noch immer in<br />

uns, als ein Erbe des archaischen Menschen. Für den hatte die Diskriminierung<br />

der Mitglieder anderer Gemeinschaften einen Anpassungswert.<br />

Das müssen wir erkennen und lernen, mit diesem evolutionären<br />

Erbe umzugehen. Um es mit dem Philosophen David Hume zu sagen:<br />

Was ist, diktiert nicht, was sein sollte. Wir sind soziale Wesen, Primaten.<br />

Aber unsere Gemeinschaft ist, verglichen mit der der Ameisen, un-<br />

»Die Entscheidungsprozesse bei Ameisen<br />

erinnern unheimlich an uns.«<br />

glaublich primitiv. Was uns komplex macht, ist das, was wir kulturell geschaffen<br />

haben. Ethik und Moral benötigen keine evolutionsbiologische<br />

Rechtfertigung. Vielmehr muss die Moralphilosophie versuchen, dieses<br />

Erbe zu überwinden. Wir sollten versuchen, von klein auf die Vielfalt des<br />

Lebens und der Menschen zu zelebrieren. 7<br />

DAS GESPRÄCH FÜHRTE ALEXANDER SCHNEIDER.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


kreuz & quer<br />

Fünf Fragen – fünf Lösungen – fünf Gewinne<br />

Von spektakulären Großbauten und Symbolen der Macht bis hin zu<br />

U-Bahnen, Wasserleitungen und Kanalisationen: Das Grundbedürfnis<br />

des Menschen, ein festes Dach über dem Kopf zu haben, drückt sich<br />

in ganz unterschiedlichen Facetten aus. Wir haben fünf Aspekte dieses<br />

weiten Feldes genauer beleuchtet und stellen Ihnen hierzu jeweils eine<br />

Frage. Wer die richtigen Lösungen findet, kann mit etwas Glück zu den<br />

Gewinnern unseres Preisrätsels gehören. Und so geht’s: Zu jeder Frage<br />

gibt es nur ein Lösungswort. Lösen Sie die Fragen in beliebiger Reihenfolge,<br />

und tragen Sie die jeweiligen Lösungswörter in das Kreuzworträtselraster<br />

ein – wo, das müssen Sie selbst herausfinden.<br />

1<br />

Unter allen Einsendern einer<br />

richtigen Lösung verlosen wir<br />

fünf Gutscheine im Wert<br />

von je 100 Euro für amazon.de.<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni<br />

5<br />

4<br />

3 10<br />

2<br />

8<br />

6<br />

7 9<br />

Setzen Sie die Buchstaben, die in mit Ziffern versehenen Kästchen<br />

stehen, in die richtige Reihenfolge, und Sie erhalten das Lösungswort.<br />

Schicken Sie eine E-Mail mit dem Lösungswort an:<br />

thyssenkrupp_magazin@faz-institut.de.<br />

Oder schicken Sie eine Postkarte an:<br />

F.A.Z.-Institut<br />

Redaktion <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>Magazin</strong><br />

Postfach 20 01 63<br />

60605 Frankfurt am Main<br />

Einsendeschluss ist der 31. Oktober 2010. Alle Gewinner werden schriftlich<br />

benachrichtigt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />

Und nun viel Spaß!<br />

Frage_1<br />

Das Centre Pompidou war sein Durchbruch.<br />

Seither hat der Architekt aus<br />

Genua fast überall auf der Welt Spuren<br />

hinterlassen, unter anderem in Osaka,<br />

Parma und Berlin. Kürzlich wollte er in<br />

Mailand 90.000 Bäume pflanzen –<br />

der Dirigent Claudio Abbado hatte<br />

seine Rückkehr an die Scala an diese<br />

Bedingung geknüpft. Diesen Plan<br />

konnte der Architekt nicht umsetzen.<br />

Mailand leide an Geldnot, gab die<br />

Bürgermeisterin an. Also stürzte sich<br />

der Gesuchte in ein anderes Projekt:<br />

In London arbeitet er am höchsten<br />

Wolkenkratzer Westeuropas. Gesucht<br />

ist der Nachname.<br />

Frage_2<br />

London hält den Weltrekord: Das<br />

U-Bahn-Netz umfasst 408 Streckenkilometer.<br />

Kein Wunder, dass sich ein<br />

Wettbewerb gerade dort durchsetzen<br />

konnte: Beim sogenannten Tube<br />

Challenge müssen die Teilnehmer in<br />

kürzester Zeit alle U-Bahn-Stationen<br />

ansteuern – das sind derzeit 275. Ins<br />

Herz geschlossen haben die Londoner<br />

ihre Tube von Anfang an. Schon Mitte<br />

des 19. Jahrhunderts ächzte die Stadt<br />

unter dem Verkehr. Am 10. Januar<br />

1863 konnten die Pendler aufatmen:<br />

Zwischen Farringdon und Paddington<br />

wurde die erste U-Bahn-Linie eröffnet.<br />

Wie lautet der Name dieser „Line“?<br />

Auflösung der Seite<br />

„forum_wissens_wert“:<br />

Die gesuchte Person<br />

aus „Wer war’s“: Le Corbusier<br />

Frage_3<br />

In keinem anderen Film spielt die<br />

„Stadt unter der Stadt“ eine derart<br />

große Rolle wie in dem Klassiker<br />

„Der dritte Mann“. Orson Welles als<br />

Bösewicht Harry Lime flüchtet am<br />

Schluss des Streifens durch die<br />

Kanalisation von Wien – und wird<br />

schließlich von seinem alten Freund<br />

Holly Martins erschossen. Denn<br />

Martins hatte entdeckt, dass Lime<br />

gestreckte Medikamente verschob,<br />

die Kinder dauerhaft schädigten. Mit<br />

welcher Arznei handelte Harry Lime<br />

im Wien der Nachkriegszeit?<br />

Frage_4<br />

Ihr Gesamtgewicht beträgt etwa 180<br />

Tonnen. Sie wirkt elegant und<br />

zerbrechlich. Kein Wunder, denn die<br />

Glaspyramide am Eingang des Louvre<br />

in Paris besteht aus vielen Hunderten<br />

rautenförmigen und dreieckigen Glassegmenten.<br />

Vorbild für das Bauwerk,<br />

das der chinesisch-amerikanische<br />

Architekt Ieoh Ming Pei zwischen<br />

1985 und 1989 erschuf, war die große<br />

Pyramide von Gizeh. Wer erteilte dem<br />

Architekten den Auftrag, mit dieser<br />

Pyramide einen neuen Eingang für<br />

das größte Museum der Welt zu entwerfen?<br />

Gesucht ist der Nachname.<br />

Frage_5<br />

Städtebau und Versorgung waren<br />

schon immer eng miteinander verknüpft.<br />

In puncto Wasserversorgung<br />

haben die Römer mit ihren Aquädukten<br />

ein besonderes Erbe hinterlassen,<br />

sowohl in technischer als auch in<br />

architektonischer Hinsicht. Bis zu<br />

100 Kilometer weit führten diese<br />

Wasserleitungen meist unterirdisch,<br />

teilweise aber auch über gigantische<br />

Brücken in größere Städte des Römischen<br />

Reichs. Eine der am besten<br />

erhaltenen Wasserbrücken aus der<br />

Römerzeit ist in Südfrankreich zu finden<br />

und misst rund 49 Meter Höhe.<br />

Nach welchem französischen Département<br />

ist sie benannt?<br />

101


102<br />

rückblick<br />

Globale Ansichten können der Blick des<br />

deutschen Fotografen auf die Gastheimat<br />

Shanghai sein oder das Streitgespräch<br />

zwischen Globalisierungsbefürworter und<br />

Globalisierungsskeptiker. Dieses <strong>Magazin</strong><br />

handelt genauso von interkulturellen<br />

Grenzgängen wie von grenzüberschreitendem<br />

Brückenbau. Es geht um Wissenschaftler<br />

und Entwicklungsingenieure,<br />

die der Technik in einer zunehmend vernetzten<br />

Welt durch neue Verfahren und<br />

Werkstoffe neue Wege öffnen und helfen,<br />

globale Probleme wie die Wasserknappheit<br />

zu bekämpfen, aber auch um den<br />

Eintritt in neue Märkte. Internationalität<br />

bedeutet, gemeinsame Ansätze über<br />

Ländergrenzen hinweg zu verfolgen und<br />

gemeinsame Ziele auf unterschiedlichem<br />

Wege zu erreichen – und dabei voneinander<br />

zu lernen. 7<br />

impressum<br />

Herausgeber<br />

<strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>AG</strong>, Dr. Jürgen Claassen,<br />

<strong>ThyssenKrupp</strong> Allee 1,<br />

45143 Essen,<br />

Telefon: +49 201 844-0<br />

Projektleitung bei <strong>ThyssenKrupp</strong>: Barbara Scholten<br />

Der Inhalt der Beiträge gibt nicht in jedem Fall<br />

die Meinung des Herausgebers wieder.<br />

Nachdruck nur mit Quellenangabe und Belegexemplar.<br />

Umwelt ist alles, was uns umgibt und<br />

unser Leben bestimmt – der Klimawandel,<br />

den ein bekannter Forscher in diesem<br />

<strong>Magazin</strong> kommentiert, genauso wie die<br />

Elemente Sonne, Wind und Wasser als<br />

gleichermaßen nützliche und unberechenbare<br />

Naturkräfte und der demographische<br />

Wandel genauso wie die vielfältigen<br />

„Stressoren“, die unser soziales Umfeld<br />

beeinflussen. Ein Stahlwerk, das den<br />

Umweltschutz nicht an den Schluss stellt,<br />

ist ebenso Thema wie Kulturdolmetscher,<br />

die in einer globalisierten Umwelt für<br />

den richtigen Ton sorgen. Wie wir uns<br />

den Umweltherausforderungen unserer<br />

Zeit stellen, zeigen vielfältige technische<br />

Lösungen wie das Speichern von Treibhausgasen,<br />

die Energiegewinnung aus<br />

Pflanzen oder der Schutz vor Naturkatastrophen.<br />

7<br />

Das aktuelle <strong>Magazin</strong> und bereits erschienene <strong>Magazin</strong>e können Sie unter www.thyssenkrupp.com<br />

in der Service-Navigation unter „Publikationen“ bestellen.<br />

Verlag und Redaktion: F.A.Z.-Institut für Management-, Markt- und<br />

Medieninformationen GmbH, Mainzer Landstraße 199,<br />

60326 Frankfurt/Main, Telefon: +49 69 75 91-0, Fax: +49 69 75 91-1966<br />

Geschäftsführung: Volker Sach, Dr. André Hülsbömer<br />

Projektleitung: Ludger Kersting<br />

Redaktion: Anke Bryson (verantwortlich), Alexander Schneider<br />

Art Director: Wolfgang Hanauer<br />

Autoren: Sarah Bautz, Anke Bryson, Christina Höhn, Christoph Neuschäffer,<br />

Tim Schröder, Alexander Schneider, Margit Uber, Jan Voosen, Inka Wichmann<br />

TK<br />

Perspektiven haben heißt Zukunft haben,<br />

Perspektiven aufzeigen heißt Ziele finden,<br />

für die sich der Einsatz lohnt, neue Impulse<br />

geben, Zukunftspotentiale identifizieren<br />

und entwickeln – mit technischen Lösungen<br />

für die drängendsten Herausforderungen<br />

der Menschheit genauso wie durch<br />

die Förderung eines Umfelds, das offen ist<br />

für neue Ideen und in dem jeder Einzelne<br />

seine Potentiale ausschöpfen kann. Von<br />

der Idee über die Innovation bis zur Technikfolgenabschätzung<br />

– in diesem <strong>Magazin</strong><br />

kommen Tüftler genauso zu Wort wie<br />

Zukunftsforscher, geht es um Produkte,<br />

die unseren Alltag revolutionieren können,<br />

genauso wie um die Gestaltung der<br />

Lebensräume der Zukunft. Wie sich ein<br />

Perspektivwechsel auf unser Wertesystem<br />

auswirken kann, berichtet der Astronaut<br />

Thomas Reiter. 7<br />

Bildquellen: archinform (S. 92–95), CAEPSELE (S. 22–23), Cinetext (S.84–<br />

89), CPG Group (S. 72), Phil Fisk (S. 14–15, 19), Fnoxx (S. 8–9), Fotolia.com<br />

(S. 36–39, 81, 100), Google Earth/Digital Globe/ MapLink/Tele Atlas (S. 4–5),<br />

Historisches Archiv Krupp (S. 62–65), Wolfgang Hanauer (Illustrationen S.<br />

36–37, 92–93), layar (S. 92–95), livingarchitecture.com (S. 16–18, 20–21),<br />

Norbert Michalke/Agentur Focus (S. 97–99), Picture-Alliance/dpa (S. 6–7,<br />

28–35, 40–45), Stadtbildstelle Essen (S. 62–65), The Image Bank (S. 96–97),<br />

Frank Vinken (S. 73), wikitude (S. 92–95)<br />

Litho: Goldbeck Art, Frankfurt/Main, Druck: Kuthal Druck, Mainaschaff<br />

TK <strong>Magazin</strong> | 1 | 2010 | Juni


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Senden Sie die Karte entweder per Fax unter der Nummer 0201 844 360 40 oder per Post an uns,<br />

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<strong>ThyssenKrupp</strong> ist auch im Internet immer für Sie da. Mit umfangreichen Informationen für alle, die sich<br />

für <strong>ThyssenKrupp</strong> interessieren, ergänzt durch Möglichkeiten, jederzeit mit uns in Kontakt zu treten.<br />

Also klicken Sie einfach mal rein, und sehen Sie, was wir alles für Sie tun können.<br />

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frankieren.<br />

<strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>AG</strong><br />

ZB Communications and Strategy/BP<br />

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45143 Essen<br />

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