Strukturiert zum Erfolg - AOK-Gesundheitspartner
Strukturiert zum Erfolg - AOK-Gesundheitspartner
Strukturiert zum Erfolg - AOK-Gesundheitspartner
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
SPEZIAL<br />
VERSORGUNGSMANAGEMENT DER <strong>AOK</strong><br />
Das <strong>AOK</strong>-Forum für Politik, Praxis und Wissenschaft<br />
Spezial 10/2012<br />
<strong>Strukturiert</strong> <strong>zum</strong> <strong>Erfolg</strong><br />
+++ Projekte, Ergebnisse, Ausblicke
STARTSCHUSS<br />
Lese- und Webtipps Inhalt<br />
Von DMP profitieren nicht nur die Teilnehmer<br />
von Karl Lauterbach ��������������������������������������������������������������������������������� 3<br />
ÜBERBLICK<br />
Mehr Tempo für die DMP<br />
von Peter Willenborg und Evert Jan van Lente ������������������������������ 4<br />
DEPRESSION<br />
Hilfe für Körper und Seele<br />
von Jochen Gensichen ����������������������������������������������������������������������������� 6<br />
BILANZ<br />
Zehn Jahre DMP – eine <strong>Erfolg</strong>sgeschichte �������������������������� 8<br />
WISSENSCHAFT<br />
Asthma besser im Griff<br />
von Thomas Ebel ������������������������������������������������������������������������������������ 14<br />
Literatur<br />
√ Christian Günster, Joachim Klose,<br />
Norbert Schmacke (Hrsg.)<br />
Versorgungs-Report 2011,<br />
Schwerpunkt: Chronische Erkrankungen<br />
Stuttgart: Schattauer-Verlag 2010<br />
√ Thorsten Köhler, Johannes Leinert,<br />
Susann Südhoff<br />
Ergebnisse der <strong>AOK</strong>-Bundesauswertungen<br />
zur gesetzlichen Evaluation der DMP für<br />
die Indikation Diabetes mellitus Typ 2<br />
Monitor Versorgungsforschung 1/2012,<br />
Seiten 34–37<br />
√ Antje Miksch, Johanna Trieschmann,<br />
Dominik Ose et al.<br />
DMP und Praxis: Stellungnahme<br />
von Hausärzten und Veränderung<br />
von Praxisabläufen zur Umsetzung<br />
des DMP Diabetes mellitus Typ 2<br />
Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und<br />
Qualität im Gesundheitswesen 6/2011,<br />
Seiten 427–433<br />
√ Dominik Ose, Antje Miksch,<br />
Elisabeth Urban et al.<br />
Health related quality of life and<br />
comorbidity<br />
BMC Health Services Research 2011,<br />
doi:10.1186/1472-6963-11-179<br />
√ Michaela Schunk, Renée Stark,<br />
Peter Reitmeir et al.<br />
Verbesserungen in der Versorgung von<br />
Patienten mit Typ-2-Diabetes?<br />
Bundesgesundheitsblatt 11/2011, Seiten<br />
1187–1196<br />
√ Stephanie Stock, Anna Drabik,<br />
Guido Büscher et al.<br />
German Diabetes Management Programs<br />
Improve Quality of Care and Curb Costs<br />
Health Affairs 12/2010, Seiten 2197–2205<br />
√ Evert Jan van Lente, Peter Willenborg<br />
Das Alphabet der Versorgung –<br />
Zehn Jahre DMP<br />
Gesundheit und Gesellschaft 1/2012, Seiten<br />
38–41<br />
√ Evert Jan van Lente, Peter Willenborg<br />
DMP: Wichtiger Beitrag zu mehr Qualität<br />
und Effizienz in der Versorgung chronisch<br />
Kranker<br />
Monitor Versorgungsforschung 5/2011,<br />
Seiten 32–38<br />
KOOPERATION<br />
»Wir geben uns noch nicht zufrieden«<br />
Interview mit Dr� Stefan Stern ������������������������������������������������������������ 15<br />
VERSORGUNG<br />
<strong>Erfolg</strong>srezept Hausarztvertrag<br />
von Katrin Tomaschko und Jürgen Graf ������������������������������������������� 16<br />
<strong>AOK</strong>-PROJEKTE<br />
Gesundheit per Telefon<br />
von Maja Pavlovic ������������������������������������������������������������������������������������ 18<br />
AUSBLICK<br />
Herausforderung Zukunft<br />
von Guus Schrijvers �������������������������������������������������������������������������������� 20<br />
Internet<br />
√ www.aok-gesundheitspartner.de/<br />
bund/dmp<br />
Das <strong>Gesundheitspartner</strong>-Portal der <strong>AOK</strong> mit<br />
ausführlichen Informationen zu den DMP.<br />
√ www.aok.de<br />
Unter –> Gesundheit –> Behandlung –><br />
Programme für chronisch Kranke gibt es<br />
Patienteninformationen zu allen DMP.<br />
√ www.g-ba.de<br />
Homepage des Gemeinsamen Bundesausschusses.<br />
Unter –> Themenschwerpunkte<br />
–> Disease-Management-Programme<br />
finden sich Informationen zu den strukturierten<br />
Behandlungsprogrammen.<br />
√ www.bva.de<br />
Homepage des Bundesversicherungsamtes.<br />
Unter –> DMP gibt es unter<br />
anderem Informationen zur Evaluation.<br />
√ www.www.ebm-netzwerk.de.de<br />
Homepage des Deutschen Netzwerks<br />
Evidenzbasierte Medizin e.V.<br />
√ www.<strong>AOK</strong>.my-Air.TV<br />
Online-Nachschulungsprogramm für<br />
Kinder und Jugendliche mit Asthma<br />
bronchiale.<br />
Spezial ist eine Verlagsbeilage von G+G<br />
Impressum: Gesundheit und Gesellschaft, Rosenthaler Straße 31, 10178 Berlin. G+G erscheint im KomPart-Verlag (www.kompart.de).<br />
Redaktion: Dr. Silke Heller-Jung, Otmar Müller, Bettina Nellen (verantwortlich) | Art Direction: Anja Stamer | Grafik: Désirée Gensrich<br />
Herausgeber: Geschäftsführungseinheit Versorgung des <strong>AOK</strong>-Bundesverbandes | Stand: September 2012
Titel: plainpicture; Foto: Deutscher Bundestag/Schwalbach<br />
STARTSCHUSS<br />
Von DMP<br />
profi tieren nicht nur<br />
die Teilnehmer<br />
Als vor zehn Jahren die ersten strukturierten Behandlungsprogramme<br />
aufgelegt wurden, hegte so mancher<br />
erhebliche Zweifel an ihrer Wirksamkeit. Inzwischen<br />
belegen zahlreiche Studien ihren großen Nutzen für die<br />
Patienten – die DMP sind längst ein unverzichtbarer<br />
Baustein der bundesdeutschen Versorgungslandschaft.<br />
Von Karl Lauterbach<br />
Zehn Jahre nach ihrer Einführung sind die Disease-<br />
Management-Programme (DMP) für chronische<br />
Erkrankungen ein fester Bestandteil der medizinischen<br />
Versorgung in Deutschland geworden.<br />
Die DMP sind eine <strong>Erfolg</strong>sstory, was nicht alle so erwartet<br />
hatten. Rund sechs Millionen Patienten sind in<br />
die Programme bei ihren Krankenkassen eingeschrieben.<br />
Allein bei den <strong>AOK</strong>s nehmen rund 70 Prozent der Typ-<br />
II-Diabetiker an einem DMP teil.<br />
Die vorliegenden wissenschaftlichen Evaluationen<br />
der Programme zeigen: DMP-Teilnehmer haben nicht<br />
nur eine höhere Lebenserwartung, sie haben auch eine<br />
höhere Lebensqualität als Patienten mit der gleichen<br />
Erkrankung, die nicht an den Programmen teilnehmen.<br />
Insbesondere Diabetiker im DMP leben nicht nur signifikant<br />
länger – sie leiden auch seltener unter Komplikationen<br />
wie Schlaganfällen oder Amputationen. Die<br />
Ursachen für diese Vorteile sind noch nicht erforscht;<br />
sie können aber nicht allein durch die Verbesserung der<br />
Blutzucker- und der Blutdruckkontrolle erklärt werden.<br />
Möglicherweise werden dank der engmaschigen Betreuung<br />
im DMP Komplikationen insgesamt früher<br />
erkannt und die Patienten besser vor Therapieeinbrüchen<br />
geschützt.<br />
Die Evaluation zeigt darüber hinaus, dass nicht nur<br />
die Patienten im DMP profitieren, sondern zugleich auch<br />
alle anderen Patienten in den teilnehmenden Praxen.<br />
Durch die strukturierten Behandlungsabläufe und die<br />
konsequente Ausrichtung an evidenzbasierten medizinischen<br />
Leitlinien verbessert sich die Qualität in den Praxen.<br />
Der Organisationsgrad erhöht sich deutlich, die Multiprofessionalität<br />
von Ärzten und Medizinischen Fachangestellten<br />
wird besser genutzt, die Teamarbeit dichter<br />
vernetzt. Evidenzbasierte Behandlungsmethoden gelangen<br />
auf diese Weise vielleicht schneller <strong>zum</strong> Patienten.<br />
Das Ziel, das die damalige rot-grüne Koalition mit<br />
der Einführung der DMP 2002 verfolgt hatte, nämlich<br />
die Versorgung der Patienten mit sogenannten Volkskrankheiten<br />
zu verbessern, wurde wohl erreicht. Forderungen,<br />
die DMP wieder abzuschaffen, ist daher eine<br />
klare Absage zu erteilen. Aber: Die Programme müssen<br />
noch besser evaluiert und kontinuierlich weiterentwickelt<br />
werden.<br />
Prof. Dr. med. Karl Lauterbach, MdB<br />
Gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion<br />
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 10/12, 15. Jahrgang 3
ÜBERBLICK<br />
Mehr Tempo für die DMP<br />
Im Jahr 2002 schlossen <strong>AOK</strong>s und Ärztevertreter die ersten regionalen DMP-Verträge. Wenig später<br />
schrieben sich die ersten Versicherten ein. Zehn Jahre danach fällt die Bilanz positiv aus – doch es gibt<br />
immer noch Potenzial für Verbesserungen. Von Peter Willenborg und Evert Jan van Lente<br />
Was heute Versorgungsrealität ist, war vor zehn Jahren<br />
noch alles andere als selbstverständlich: Der Hausarzt<br />
als Koordinator der Behandlung chronisch Kranker,<br />
die Vereinbarung von individuellen Therapiezielen<br />
mit den Patienten, die konsequente Orientierung der Behandlung<br />
an der evidenzbasierten Medizin. Mit dem Begriff „Disease-<br />
Management-Programme“ (DMP) hielten Neuerungen Einzug,<br />
denen viele Ärzte zunächst mit Skepsis begegneten. Von „Staatsmedizin“<br />
war die Rede, und Vertreter der Ärzteschaft beklagten<br />
die überbordende Bürokratie der Papierdokumentation.<br />
Zehn Jahre später ist davon keine Rede mehr: Die ab 2003<br />
schrittweise eingeführten DMP der gesetzlichen Krankenkassen<br />
zu mittlerweile sechs Indikationen sind längst ein fester Bestandteil<br />
der Versorgung, und auch die Dokumentation läuft heute<br />
schnell und unkompliziert per Praxiscomputer. Laut Statistik<br />
nehmen heute über sieben Millionen Patienten an den strukturierten<br />
Behandlungsprogrammen teil, davon mehr als drei<br />
Millionen bei der <strong>AOK</strong>, die von Anfang an eine Vorreiterin bei<br />
der Einführung und Umsetzung der DMP war. Hierbei sind<br />
Konferenz zur Integrierten Versorgung<br />
Vom 11. bis <strong>zum</strong> 13. April 2013 findet in Berlin eine internationale<br />
Konferenz zur Integrierten Versorgung statt. Veranstalter<br />
der Tagung unter dem Thema „Die vier wichtigsten<br />
Herausforderungen für die Integrierte Versorgung“ sind die<br />
Internationale Stiftung für Integrierte Versorgung (IFIC), der<br />
<strong>AOK</strong>-Bundesverband, der Bundesverband Managed Care (BMC)<br />
und die Universität Utrecht. Teilnehmer aus ganz Europa<br />
diskutieren vier Schwerpunkt-Themen: Vergütungssysteme<br />
und finanzielle Anreize für die Integrierte Versorgung, Rahmenbedingungen<br />
für die Umsetzung einer kontinuierlichen<br />
und gut koordinierten Versorgung von chronisch kranken<br />
Patienten, organisatorische Voraussetzungen für die erfolgreiche<br />
Umsetzung der Integrierten Versorgung und Strategien<br />
zur Implementierung von IV-Lösungen in das Gesundheitssystem.<br />
Weitere Informationen und Anmeldung auf der<br />
Website www.integratedcare.org<br />
Versicherte mit mehreren Krankheiten mitgerechnet, die in<br />
mehrere Programme eingeschrieben sind. Berücksichtigt man<br />
diese Doppel-Teilnahmen, ist aktuell von etwa sechs Millionen<br />
DMP-Teilnehmern auszugehen (siehe Grafik in der Heftmitte).<br />
Patientennutzen im Vordergrund. Das Konzept der DMP<br />
stammt aus den USA. Die Fehler, die in den Vereinigten Staaten<br />
bei der Umsetzung gemacht worden sind, wurden jedoch bei<br />
der Einführung der DMP in Deutschland nicht wiederholt. So<br />
entschied man sich seinerzeit bewusst für arztzentrierte Programme,<br />
bei denen nicht die Krankenkassen, sondern in der<br />
Regel die Hausärzte die Koordination der Behandlung übernehmen.<br />
Aufgrund der flächendeckenden Einführung und der<br />
großen Teilnehmerzahlen, aber auch wegen der qualitätsgesicherten<br />
Strukturierung der Versorgung sind die deutschen<br />
DMP weltweit einzigartig. Andere europäische Länder wie<br />
Österreich haben sich die deutschen DMP bei der Entwicklung<br />
eigener Behandlungsprogramme <strong>zum</strong> Vorbild genommen.<br />
Vor allem Patienten mit einem höheren Gesundheitsrisiko<br />
profitieren ganz unmittelbar vom DMP-typischen Maßnahmen-<br />
Mix aus regelmäßigen Kontrolluntersuchungen, Patientenschulungen<br />
und klaren Regeln für die Überweisung zu Fachärzten.<br />
Für Patienten mit einem mittleren oder niedrigen Risiko haben<br />
die DMP eine sekundär-präventive Wirkung: Die intensive<br />
Betreuung verhindert, dass sie zu Hochrisiko-Patienten werden;<br />
ihre Lebensqualität bleibt dadurch länger erhalten. Allerdings<br />
ist es sinnvoll, die DMP durch spezielle Maßnahmen für besonders<br />
gefährdete Versicherte zu ergänzen – <strong>zum</strong> Beispiel durch<br />
ein besonderes Fallmanagement für Herzinsuffizienz-Patienten,<br />
das mehrere <strong>AOK</strong>s eingeführt haben (siehe Seite 18–19).<br />
Zuständigkeiten neu verteilt. Anfang 2012 begann eine neue<br />
Ära für die DMP: Mit dem Versorgungsstrukturgesetz (GKV-<br />
VStG) hat der Gesetzgeber die Regelungskompetenz für die<br />
Inhalte und die konkrete Ausgestaltung der Programme vom<br />
Gesundheitsministerium auf den Gemeinsamen Bundesausschuss<br />
(GBA) übertragen. Im Juli 2012 trat die erste DMP-<br />
Richtlinie des GBA in Kraft, mit der die Programme zu Asthma<br />
bronchiale, chronisch-obstruktiven Lungenerkrankungen<br />
(COPD) und Brustkrebs auf den aktuellen Stand der medizini-<br />
4 Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 10/12, 15. Jahrgang<br />
Foto: Gettyimages
Der Gemeinsame Bundesausschuss<br />
drückt aufs Tempo: Künftig sollen<br />
neue Richtlinien für DMP deutlich<br />
schneller verabschiedet werden.<br />
schen Wissenschaft gebracht wurden. Die<br />
Änderungen und Ergänzungen beim<br />
DMP Brustkrebs betreffen unter anderem die Strahlentherapie,<br />
die Empfehlungen zur Antikörpertherapie mit dem Wirkstoff<br />
Trastu<strong>zum</strong>ab als generelle Indikation bei bestimmten Formen<br />
des Brustkrebses und die Empfehlung, die Patientinnen zu Sport<br />
und körperlicher Aktivität zu motivieren. Im DMP Asthma<br />
bronchiale wird die Darstellung der medikamentösen Therapie<br />
ergänzt, beim DMP COPD vor allem die Empfehlungen für die<br />
Ärzte <strong>zum</strong> Vorgehen bei akuten Verschlechterungen der Erkrankung<br />
(Exazerbationen) differenzierter dargestellt.<br />
DMPs unter der Lupe. Insbesondere beim DMP Brustkrebs<br />
hatte es, nicht zuletzt durch den Wechsel der Zuständigkeiten<br />
für die Festlegung der DMP-Inhalte, zuvor einen „Aktualisierungsstau“<br />
gegeben. Josef Hecken, der neue Unparteiische<br />
Durch die DMP hat sich die Versorgung der<br />
Patienten in den letzten zehn Jahren verbessert.<br />
Vorsitzende des GBA, kündigte bereits kurz nach seinem Amtsantritt<br />
im Juli an, beim Thema DMP künftig mehr Tempo zu<br />
machen: „Schneller können wir sicherlich werden, etwa wenn es<br />
darum geht, Richtlinien zu verabschieden, in denen festgelegt<br />
ist, wie chronisch kranke Menschen behandelt werden“, sagte er<br />
im Interview mit „Spiegel online“. Als nächste sollen die Programme<br />
für Diabetiker und Herzpatienten aktualisiert werden.<br />
Auch das 2009 eingeführte Zusatzmodul zur Behandlung von<br />
Patienten mit Herzinsuffizienz muss auf den Prüfstand.<br />
Bessere Begleitforschung. Das Versorgungsstrukturgesetz hat<br />
auch die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Evaluation der<br />
DMP grundlegend neu zu gestalten. Bundesweite Auswertungen<br />
der <strong>AOK</strong>-Programme durch die Evaluationsinstitute geben zwar<br />
wichtige Hinweise, wie sich die Werte und Ergebnisse der Teilnehmer<br />
entwickeln. Doch die bisherige gesetzliche Evaluation<br />
erlaubt keinen Vergleich der DMP mit der Regelversorgung. Das<br />
Fehlen einer solchen Kontrollgruppe ist als „Geburtsfehler“ der<br />
DMP-Evaluation immer wieder kritisiert worden. Hier soll es<br />
einen Neuanfang geben, an dem sich die <strong>AOK</strong> aktiv beteiligt:<br />
Sie strebt eine neu gestaltete Evaluation der Programme an, die<br />
einen Vergleich von DMP-Teilnehmern und Nicht-Teilnehmern<br />
ermöglicht. Ziel ist es, eine bessere Bewertung der DMP-Effek-<br />
te auf regionaler Ebene und auf Bundesebene zu ermöglichen<br />
und so dem Gemeinsamen Bundesausschuss neue Impulse für<br />
die Verbesserung und Weiterentwicklung der Programme zu<br />
geben.<br />
Weil die bisherige gesetzliche Evaluation in ihrer Aussagekraft<br />
beschränkt ist, hat der <strong>AOK</strong>-Bundesverband wichtige Anstöße<br />
für eine unabhängige Auswertung der DMP in wissenschaftlichen<br />
Studien gegeben. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von<br />
Ergebnissen, die positive Effekte der DMP im Vergleich zur<br />
Regelversorgung belegen. Dazu gehört die ELSID-Studie des<br />
Universitätsklinikums Heidelberg, deren Abschlussbericht im<br />
Mai 2012 veröffentlicht wurde. Weitere wichtige Mosaiksteine<br />
liefern die Auswertungen des Helmholtz-Zentrums München<br />
auf der Basis der bevölkerungsrepräsentativen KORA-Plattform<br />
(Kooperative Gesundheitsforschung in der Region<br />
Augsburg).<br />
<strong>Erfolg</strong>e weiter ausbauen. Diese Auswertungen<br />
unterscheiden sich in Methodik und Datenbasis,<br />
kommen aber zu einem übereinstimmenden<br />
Ergebnis: Durch die Einführung der DMP hat<br />
sich die Versorgung der teilnehmenden Patienten in den letzten<br />
zehn Jahren verbessert. Es lassen sich signifikante Vorteile zugunsten<br />
der Programmteilnehmer erkennen. Das gilt für die<br />
sogenannten „Prozessparameter“, also <strong>zum</strong> Beispiel die regelmäßige<br />
Untersuchung der Augen und Füße bei Diabetikern<br />
oder die Teilnahme an Patientenschulungen. Aber es gilt auch<br />
für medizinische Ergebnisse wie die Entwicklung des Blutdrucks,<br />
die Häufigkeit von Begleit- und Folgeerkrankungen und die<br />
Sterblichkeitsrate.<br />
Dennoch gibt es weiteren Verbesserungsbedarf. So sind<br />
zentrale medizinische Ziele, wie etwa die Zahl der diabetesbedingten<br />
Amputationen zu halbieren, auch zehn Jahre nach<br />
Einführung der DMP noch nicht erreicht werden. Zudem sind<br />
große regionale Unterschiede in der Versorgung festzustellen.<br />
Sie spiegeln sich in den bundesweiten Auswertungen der <strong>AOK</strong><br />
zur gesetzlichen Evaluation und in den regionalen Qualitätsberichten<br />
wider. Die Ursachen für diese Unterschiede werden von<br />
der <strong>AOK</strong> analysiert und sollen bei der vertraglichen Umsetzung<br />
der Programme in den Regionen berücksichtigt werden. √<br />
Evert Jan van Lente leitet die Abteilung Versorgungsmanagement im<br />
<strong>AOK</strong> Bundesverband. Peter Willenborg ist Referent für Kommunikation<br />
in dieser Abteilung.<br />
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 10/12, 15. Jahrgang 5
DEPRESSION<br />
Hilfe für Körper und Seele<br />
Viele Patienten mit chronischen Erkrankungen leiden zusätzlich unter Depressionen. Das<br />
beeinträchtigt nicht nur die Lebensqualität, sondern oft auch den Behandlungserfolg. Bei der<br />
Früherkennung kommt den Hausärzten eine zentrale Rolle zu. Von Jochen Gensichen<br />
Depressive Erkrankungen gehören zu den häufigsten<br />
Beratungsanlässen und Erkrankungen in der medizinischen<br />
Versorgung. Depressionen treten oft in Verbindung<br />
mit anderen psychischen Erkrankungen auf: Bis<br />
zu 40 Prozent der Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung<br />
leiden darunter, bis zu 45 Prozent<br />
der Menschen mit einer generalisierten<br />
Angststörung, bis zu 60<br />
Prozent der Patienten mit Suchterkrankungen<br />
und bis zu 75 Prozent<br />
der Patienten mit Essstörungen.<br />
Zunehmend rücken auch körperliche<br />
(somatische) Erkrankungen in den Fokus der Versorgung,<br />
denn auch von diesen Patienten erkranken 42 Prozent im Laufe<br />
ihres Lebens zusätzlich mindestens einmal an einer Depression.<br />
Besonders häufig gehen Herz-Kreislauf-Erkrankungen,<br />
Krebs, Diabetes, chronische Schmerzen und Demenzen mit<br />
einer depressiven Erkrankung einher (siehe Grafik).<br />
Eine körperliche Erkrankung<br />
und eine Depression beeinflussen<br />
sich gegenseitig.<br />
Gefährlicher Begleiter<br />
Unter einer Depression als Begleiterkrankung leiden …<br />
0 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 %<br />
40–60<br />
20–40<br />
20–40<br />
10–20<br />
10–20<br />
10–20<br />
Schwierige Paare. Diese epidemiologischen Zusammenhänge<br />
sind umfassend bekannt. Studien belegen aber auch, dass sich<br />
eine zusätzlich auftretende Depression ungünstig auf das Gesundheitsverhalten<br />
der Betroffenen auswirkt: Die Patienten<br />
zeigen oft weniger Therapietreue, arbeiten bei der Behandlung<br />
ihrer Erkrankung weniger aktiv<br />
mit und pflegen einen ungesünderen<br />
Lebensstil.<br />
Zunehmend werden auch die<br />
wechselseitigen pathologischen<br />
Zusammenhänge der interagierenden<br />
Diagnosen beschrieben.<br />
Eine körperliche Erkrankung und eine Depression beeinflussen<br />
sich gegenseitig. So weisen beispielsweise Diabetespatienten ein<br />
deutlich erhöhtes Risiko auf, eine Depression zu entwickeln.<br />
Umgekehrt haben Patienten, die unter affektiven Störungen<br />
leiden, ein erhöhtes Diabetesrisiko. Auch Herz-Kreislauf-Patienten<br />
erkranken signifikant häufiger an einer Depression;<br />
Prozent aller Patienten mit chronischen Schmerzen<br />
Prozent aller Patienten mit geriatrischen Syndromen<br />
Prozent aller Patienten mit Herzerkrankungen<br />
Prozent aller Patienten mit Diabetes<br />
Prozent aller Patienten mit neurologischen Erkrankungen<br />
Prozent aller Patienten mit Krebserkrankungen<br />
Quelle: Universitätsklinkum Jena<br />
6 Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 10/12, 15. Jahrgang<br />
Foto: iStockphoto
gleichzeitig geht bei ihnen das Auftreten einer Depression<br />
häufig mit einem Fortschreiten der Krankheit, <strong>zum</strong> Beispiel<br />
weiteren Infarkten einher. Sowohl bei den Herz-Kreislauf-<br />
Erkrankungen als auch beim Diabetes gilt die bei diesen Patienten<br />
verringerte Ausschüttung des Stresshormons Kortisol als<br />
das Bindeglied zwischen der körperlichen Krankheit und der<br />
Depression.<br />
Genau hinschauen. Eine zusätzlich auftretende Depression<br />
kann zu einer Verstärkung der Symptome, einer schlechteren<br />
Anpassung an die Erkrankung oder zu Problemen bei der Bewältigung<br />
des Alltagslebens führen. Umgekehrt kann die körperliche<br />
Erkrankung die Diagnostik der Depression erschweren,<br />
deren Verlauf komplizieren und die therapeutischen Möglichkeiten<br />
einschränken.<br />
Da depressive Erkrankungen als Begleiterkrankung bei<br />
chronischen Krankheiten häufig vorkommen, sollte bei diesen<br />
Patienten ein Screening auf depressive Störungen erfolgen.<br />
Dafür eignen sich beispielsweise die beiden folgenden Suchfragen:<br />
- Haben Sie sich im letzten Monat häufig niedergeschlagen,<br />
traurig, bedrückt oder hoffnungslos gefühlt?<br />
- Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude<br />
an Dingen, die Sie sonst gerne tun?<br />
Stimmt der Patient einer der beiden Frage zu oder spricht von<br />
sich aus depressionsspezifische Symptome an, ist eine strukturierte<br />
Depressionsdiagnostik, die gezielt auch die Selbstmordgefährdung<br />
erfasst, ratsam.<br />
Hausarzt als erste Anlaufstelle. Trotz erfolgreicher Entwicklungen<br />
insbesondere in der Pharmako- und Psychotherapie ist<br />
die Versorgung dieser Patienten noch ausbau- und verbesserungsfähig.<br />
Die gestufte Hinzunahme einer adäquaten Fachexpertise<br />
(„stepped care“), integriert in eine hausärztlich-fachspezialistisch<br />
gut vernetzte Versorgung („collaborative care“), gilt<br />
international als <strong>Erfolg</strong> versprechend. Dabei nimmt die primärmedizinisch-hausärztliche<br />
Ebene eine zentrale Funktion ein: In<br />
der Regel ist es der Hausarzt, der über den gesamten medizinischen<br />
Kontext und die Lebensumstände des Patienten am besten<br />
Bescheid weiß. Gerade diese umfassenden Kenntnisse ermöglichen<br />
den frühzeitigen Beginn einer adäquaten Behandlung.<br />
Kapazitätsgrenzen in der fachspezialistischen Behandlung<br />
führen zudem in vielen Fällen dazu, dass die hausärztliche<br />
Ebene die einzige Anlaufstelle für die Patienten darstellt.<br />
Eine gute Kooperationskultur ist dennoch entscheidend, denn<br />
Patienten und Hausärzte sind auf die zeitnahe fachspezialistische<br />
Für viele Patienten ist ihr Hausarzt<br />
die erste und wichtigste Anlaufstelle.<br />
Deshalb kommt den Hausärzten<br />
bei der Früherkennung von<br />
Depressionen eine zentrale Rolle zu.<br />
PraCMan: Der persönliche Draht<br />
Im Projekt PraCMan (Hausarztpraxis-basiertes Case Management<br />
für multimorbide Patienten) betreuen speziell geschulte medizinische<br />
Fachangestellte aus baden-württembergischen Hausarztpraxen<br />
chronisch kranke Patienten, die gleichzeitig an mehreren<br />
Erkrankungen leiden, besonders intensiv.<br />
Neben den Haupterkrankungen Diabetes Typ 2, chronischobstruktive<br />
Lungenerkrankungen (COPD) und Herzinsuffizienz<br />
werden dabei Depressionen als häufige Begleiterkrankung besonders<br />
berücksichtigt. Die medizinischen Fachangestellten<br />
führen zunächst ein strukturiertes Gespräch mit dem Patienten,<br />
um seine persönliche Situation richtig einschätzen zu können.<br />
Anschließend werden individuelle Ziele vereinbart und im regelmäßigen<br />
telefonischen Kontakt mit dem Patienten besprochen.<br />
Ziel dieser intensiven Betreuung ist es, die Lebensqualität der<br />
chronisch Kranken zu verbessern und unnötige Krankenhausaufenthalte<br />
zu vermeiden.<br />
Das Projekt wird vom Universitätsklinikum Heidelberg in Kooperation<br />
mit der <strong>AOK</strong> Baden-Württemberg und dem <strong>AOK</strong>-<br />
Bundesverband umgesetzt. Mit insgesamt 115 beteiligten Hausarztpraxen<br />
und etwa 2.000 eingeschlossenen Patienten ist<br />
„PraCMan“ die weltweit umfangreichste Studie auf diesem<br />
Gebiet. Erste Ergebnisse der Begleitforschung sollen Anfang 2013<br />
vorliegen.<br />
Unterstützung bei unklaren Diagnosen und komplexen Therapien<br />
angewiesen, insbesondere bei komplizierten Symptomlagen<br />
oder einer komplizierenden psychischen und somatischen Komorbidität.<br />
Auf der anderen Seite können eine regelmäßige<br />
hausärztliche Verlaufsbeobachtung und Patientenaktivierung<br />
die nachhaltige Umsetzung der oft komplexen Therapiestrategien<br />
unterstützen. Ein Beispiel dafür ist die aktuelle PraCMan-<br />
Studie (siehe Kasten), in deren Rahmen zurzeit ein koordiniertes<br />
Vorgehen bei mehrfacherkrankten Patienten evaluiert wird.<br />
Eine zentrale Säule ist dabei die frühzeitige Erkennung und<br />
abgestimmte Behandlung der Depression.<br />
Grundsätzlich gilt: Auch die Behandlung von Patienten mit<br />
Depressionen als Komorbidität sollte sich auf ein evidenzbasiertes<br />
Vorgehen stützen. Weitere Forschung tut also not. √<br />
Professor Dr. med. Jochen Gensichen leitet das<br />
Institut für Allgemeinmedizin an der Universitätsklinik<br />
der Friedrich-Schiller-Universität in Jena.<br />
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 10/12, 15. Jahrgang 7
Zehn Jahre DMP –<br />
Im Januar 2002 tritt das „Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs“<br />
in Kraft. Mit diesem Gesetz führt Deutschland als erstes Land Disease-<br />
Management-Programme (DMP) als flächendeckende Versorgungsform ein.<br />
Patient und Arzt als Partner<br />
Disease-Management-Programme bieten eine strukturierte<br />
und vor allem evidenzbasierte Behandlung, bei der<br />
die Patienten aktiv in die Behandlung miteinbezogen<br />
werden. Deshalb hat sich der Deutsche Diabetiker Bund<br />
von Beginn an für eine rege Teilnahme der Diabetiker ausgesprochen.<br />
Durch persönliche Befragungen und in der vom Diabetikerbund initiierten<br />
Versorgungsstudie „DiaDeM“ konnten wir ermitteln, dass sich<br />
die medizinische Versorgung der Teilnehmer bundesweit verbessert<br />
hat. Heute wissen wir, dass die partnerschaftliche Kooperation von<br />
Patient und Arzt zu einer besseren Krankheitsbewältigung führt –<br />
unter anderem, weil die Patienten dazu angeregt werden, sich aktiv<br />
mit ihrer Krankheit auseinanderzusetzen. Die regelmäßigen Stoff-<br />
Edith Claußen ist im<br />
Deutschen Diabetiker<br />
Bund Vorsitzende<br />
des Landesverbands<br />
Thüringen e.V.<br />
wechselselbstkontrollen und Auswertungen mit dem Arzt sind als Bestandteil der Behandlung<br />
und zur Anregung der Eigenständigkeit der Betroffenen ebenfalls ein wichtiger Baustein, um<br />
die vorgegebenen Ziele der „St. Vincent-Deklaration“ zu erreichen: Verhinderung von Folgekrankheiten<br />
und Verminderung der Amputationen, Erblindungen und Nierenschäden aufgrund<br />
des Diabetes.<br />
Nutzen im Mittelpunkt<br />
Mehr als 10.000 laufende Programme mit rund sechs<br />
Millionen Versicherten – die strukturierten Behandlungsprogramme<br />
sind aus der Versorgung chronisch<br />
Kranker nicht mehr wegzudenken. Seit dem 1. Januar<br />
2012 liegt die Regelungskompetenz für die konkrete Ausgestaltung<br />
der Disease-Management-Programme (DMP) nun direkt beim Gemeinsamen<br />
Bundesausschuss (GBA). Dies bietet die Chance, bestehende<br />
Programme zügiger an den aktuellen wissenschaftlichen Stand<br />
anzupassen. Auch die Evaluation der DMP wird neu ausgerichtet:<br />
Nicht mehr die Wiederzulassungsprüfung der Programme steht im<br />
Mittelpunkt, sondern deren Nutzen. Hierzu bedarf es insbesondere<br />
Dr. Regina<br />
Klakow-Franck ist<br />
unparteiisches Mitglied<br />
im Gemeinsamen<br />
Bundesausschuss.<br />
einer vergleichenden Evaluation der Versorgungsqualität von DMP-Teilnehmern im Vergleich<br />
zu Nicht-DMP-Teilnehmern. Für die Auswahl neuer DMP wird die Verfügbarkeit hochwertiger<br />
evidenzbasierter Leitlinien ein limitierender Faktor sein, die die gesamte sektorenübergreifende<br />
Versorgung umfassen. Für zukünftige Programme kämen als weitere Erkrankungen der<br />
Kreuzschmerz und die Depression in Betracht.
DMP-Teilnehmer in Mio.<br />
7<br />
6<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
0<br />
1. Januar 2002:<br />
Das RSA-Reformgesetz<br />
tritt in Kraft.<br />
2002 – es geht los!<br />
1. Medizinische Vorarbeiten durch<br />
renommierte wissenschaftliche Institute<br />
2. Vier Funktionalteams im <strong>AOK</strong>-Bundesverband<br />
(Ökonomisches Modell, Kernprozesse,<br />
Medizin, Kommunikation)<br />
• entwickeln ein Geschäftsmodell, um die<br />
RSA-Wirkung und die Vergütung für Ärzte<br />
zu ermitteln,<br />
• entwickeln Musterverträge<br />
(u.a. mit KVen, Datenstellen und<br />
Gemeinsamen Einrichtungen),<br />
• schreiben die Steuerungssoftware DiMaS,<br />
• analysieren die Versichertendaten, um die<br />
DMP-Potenziale zu ermitteln,<br />
• entwickeln eine Kommunikationsstrategie,<br />
um die DMP nach innen und außen zu<br />
erklären und zu bewerben.<br />
Januar 2002:<br />
Die <strong>AOK</strong>s beschließen die<br />
Wort-Bild-Marke „<strong>AOK</strong>-Curaplan“<br />
für ihre Disease-Management-<br />
Programme (DMP).<br />
2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012<br />
1. Juli 2002:<br />
Das BMGS setzt die strukturierten<br />
Behandlungsprogramme<br />
Diabetes mellitus Typ 2 und<br />
Brustkrebs nach § 137f SGB V<br />
per Rechtsverordnung in Kraft.<br />
März 2003:<br />
Die <strong>AOK</strong> Rheinland und die<br />
<strong>AOK</strong> Sachsen-Anhalt starten mit<br />
dem DMP Brustkrebs bzw.<br />
Diabetes Typ 2 die ersten<br />
DMP überhaupt.<br />
1. Mai 2003:<br />
Das DMP Koronare<br />
Herzkrankheit tritt in Kraft.<br />
Februar 2004:<br />
Das <strong>AOK</strong>-System bietet<br />
das Curaplan-Programm<br />
Diabetes mellitus Typ 2<br />
flächendeckend an.<br />
1. März 2004:<br />
Das DMP Diabetes mellitus<br />
Typ 1 wird in Kraft gesetzt.<br />
Juli 2004:<br />
Die <strong>AOK</strong> Thüringen startet<br />
als erste ihr Curaplan-<br />
Programm Koronare<br />
Herzkrankheit.<br />
1. Januar 2005:<br />
GKV<br />
7.066.304 Teilnehmer<br />
Mai 2012<br />
Als letzte Programme erhalten<br />
die DMPs Chronisch obstruktive<br />
Lungenerkrankungen (COPD)<br />
und Asthma bronchiale<br />
Gesetzeskraft.<br />
Mai 2005:<br />
Die ersten <strong>AOK</strong>-Programme<br />
für Typ-1-Diabetiker gehen<br />
in Schleswig-Holstein und<br />
Sachsen-Anhalt an den Start.<br />
Asthma:<br />
787.050<br />
Diabetes Typ 1:<br />
151.985<br />
KHK:<br />
1.691.875<br />
COPD:<br />
621.437<br />
Diabetes Typ 2:<br />
3.684.953<br />
April 2006:<br />
Die ersten <strong>AOK</strong>s, die<br />
<strong>AOK</strong> Bremen/Bremerhaven<br />
und die <strong>AOK</strong> Bayern, starten<br />
die Curaplan-Programme<br />
Asthma und COPD.<br />
Brustkrebs:<br />
129.004<br />
August 2006:<br />
<strong>AOK</strong>-Curaplan Brustkrebs ist<br />
flächendeckend eingeführt.<br />
1. April 2007:<br />
Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz<br />
(GKV-WSG) tritt<br />
in Kraft. Ein Ziel der Gesetzgebung:<br />
Den Verwaltungsaufwand<br />
für die DMPs zu senken.<br />
Juni 2007:<br />
Die <strong>AOK</strong> veröffentlicht die<br />
ersten Abschlussberichte<br />
zur Evaluation ihrer DMP für<br />
die Jahre 2003 bis 2006.<br />
Danach verbesserten sich<br />
die medizinischen Werte<br />
der kontinuierlich teilnehmenden<br />
Diabetiker.<br />
August 2008:<br />
Die ELSID-Studie belegt u.a.:<br />
• Die Sterblichkeitsrate von Teilnehmern<br />
am DMP Diabetes<br />
mellitus Typ 2 ist deutlich niedriger<br />
ist als die von Nichtteilnehmern.<br />
• Die Kosten für die Versorgung<br />
von DMP-Teilnehmern sind geringer<br />
als in der Regelversorgung.<br />
1. April 2008:<br />
Die Entbürokratisierung der<br />
DMPs kommt – auch auf<br />
Initiative der <strong>AOK</strong> – voran:<br />
Per Verordnung werden die<br />
vereinfachte indikationsübergreifende<br />
Dokumentation und<br />
die elektronische Übermittlung<br />
der Daten eingeführt.<br />
Oktober 2008:<br />
Eine Repräsentativ-Umfrage<br />
des WIdO ergibt eine hohe<br />
Patientenzufriedenheit der<br />
DMP-Teilnehmer. Ein Drittel sagt,<br />
dass sich der Gesundheitszustand<br />
verbessert habe.<br />
Juni 2009:<br />
Die KORA-Studie des Helmholtz-<br />
Zentrums zeigt u.a., dass<br />
DMP-Teilnehmer leitliniengerechter<br />
behandelt werden<br />
als Nichtteilnehmer.<br />
1. Januar 2009:<br />
Der Morbi-RSA wird eingeführt.<br />
Damit ändert sich auch die<br />
Finanzierung der DMPs. Die<br />
Krankenkassen erhalten nun für<br />
alle Versicherten morbiditätsbezogene<br />
Zuschläge und für<br />
DMP-Teilnehmer zusätzlich eine<br />
Programmkostenpauschale.<br />
<strong>AOK</strong><br />
3.176.532 Teilnehmer<br />
Mai 2012<br />
Ende 2009:<br />
Die Quote der am DMP Diabetes<br />
mellitus Typ 2 teilnehmenden<br />
Ärzte liegt bei über 85 %.<br />
Ähnlich hoch ist die Beteiligung<br />
am DMP KHK.<br />
COPD:<br />
298.810<br />
Asthma:<br />
285.813<br />
Diabetes Typ 1:<br />
48.218<br />
KHK:<br />
766.491<br />
1. Juli 2010:<br />
Das DMP Koronare Herzkrankheit<br />
wird bundesweit um ein zusätzliches<br />
Modul zur Behandlung der<br />
chronischen Herzinsuffizienz<br />
ergänzt. Damit können Patienten,<br />
die am DMP teilnehmen und<br />
zusätzlich an chronischer<br />
Herz insuffizienz leiden, noch<br />
umfassender und zielgerichteter<br />
behandelt werden als bisher.<br />
Diabetes Typ 2:<br />
1.738.660<br />
Brustkrebs:<br />
38.540<br />
Mai 2011:<br />
Die Gesamtzahl der Teilnehmer<br />
an den <strong>AOK</strong>-Programmen liegt<br />
erstmals über drei Millionen.<br />
Februar 2012:<br />
Die Evaluationsinstitute veröffentlichen<br />
Langzeitauswertungen zu den <strong>AOK</strong>-Programmen.<br />
Sie basieren auf den Daten von gut 200.000<br />
Typ-2-Diabetikern. Es zeigt sich eine positive<br />
Entwicklung der medizinischen Werte.<br />
So wird der Anteil der Raucher nahezu halbiert,<br />
die Blutdruckwerte reduziert.<br />
Januar 2012:<br />
Mit dem Versorgungsstrukturgesetz<br />
wird die Regelungskompetenz<br />
für die Inhalte und<br />
die konkrete Ausgestaltung der<br />
DMP vom Bundesministerium<br />
für Gesundheit auf den<br />
Gemeinsamen Bundesausschuss<br />
übertragen.<br />
7.066.304<br />
Teilnehmer<br />
gesamt GKV<br />
3.176.532<br />
Teilnehmer<br />
gesamt <strong>AOK</strong><br />
Juli 2012:<br />
7<br />
6<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
0<br />
DMP-Teilnehmer in Mio.<br />
Die medizinischen Inhalte<br />
der DMP Asthma bronchiale,<br />
COPD und Brustkrebs werden<br />
durch eine Richtlinie des<br />
Gemeinsamen Bundesausschusses<br />
aktualisiert. Die Krankenkassen<br />
setzen die neuen Inhalte nun<br />
innerhalb eines Jahres in den<br />
Verträgen mit Ärzten und<br />
Krankenhäusern um.
eine <strong>Erfolg</strong>sgeschichte<br />
Doch die Programme sind zunächst sehr umstritten. Zehn Jahre<br />
später blicken vier Akteure aus dem Gesundheitswesen kritisch<br />
zurück – und wagen einen Ausblick.<br />
Innovation mit Schönheitsfehler<br />
Am Beginn des DMP-Prozesses standen sich übersteigerte,<br />
euphorische Erwartungen einiger Gesundheitspolitiker<br />
und schroffe Ablehnung der Ärzteschaft unversöhnlich<br />
gegenüber. Das alles ist Geschichte. Heute<br />
wissen wir: Die DMP sind eine <strong>Erfolg</strong>sgeschichte. Die strukturierten<br />
Programme haben nicht nur die evidenzbasierte Medizin, also die<br />
Versorgung nach wissenschaftlichen Standards, in Deutschland salonfähig<br />
gemacht. Darüber hinaus konnten sie auch einen Einstieg in<br />
die koordinierte Versorgung zwischen den Sektoren organisieren – die<br />
Rolle der Allgemeinmedizin wurde dabei angemessen berücksichtigt.<br />
Dass der tatsächliche Fortschritt durch die DMP nicht durch randomisierte<br />
kontrollierte Studien belegt werden konnte, ist der einzige<br />
Schönheitsfehler dieses Prozesses. Dies ist umso bedauerlicher, als<br />
Professor Norbert<br />
Schmacke lehrt<br />
Versorgungsforschung<br />
am Institut für Public<br />
Health und Pflegeforschung<br />
(IPP) der<br />
Universität Bremen.<br />
insbesondere die Heidelberger ELSID-Studie einen fast unglaublichen Zusatznutzen durch das<br />
Diabetes-DMP nahegelegt hat. Das Gesundheitssystem muss noch lernen, dass auch Systeminnovationen<br />
sich am besten durch kontrollierte Vergleiche gegenüber der Regelversorgung untersuchen<br />
lassen.<br />
<strong>Strukturiert</strong>e Versorgung<br />
Disease-Management-Programme haben sich nach anfänglichen,<br />
heftigen Diskussionen inzwischen in der<br />
Versorgung chronischer Erkrankungen gut etabliert.<br />
Dem wichtigen Ziel einer strukturierten Versorgung von<br />
Patienten mit chronischen Erkrankungen sind wir damit einen Schritt<br />
näher gekommen. Die überbordende Bürokratie der Anfangszeit wurde<br />
mittlerweile durch sinnvolle elektronische Dokumentationsmöglichkeiten<br />
ersetzt. Heute wissen wir: Die DMP zeigen bereits erste<br />
gute <strong>Erfolg</strong>e. Die Zukunft wird zeigen, ob es gelingen wird, langfristig<br />
auftretende Komplikationen zu vermeiden oder zu vermindern.<br />
Künftig sollte allerdings auch versucht werden, die DMP-Programme<br />
Dr. Burkhard John ist<br />
Vorsitzender der<br />
Kassenärztlichen<br />
Vereinigung Sachsen-<br />
Anhalt.<br />
für verschiedene Patientengruppen innerhalb des Programms zu differenzieren – entsprechend<br />
der zu erwartenden Häufigkeit und Schwere von Folgeschäden (Risikostratifizierung). Bei der<br />
Erarbeitung neuer Programme sollte es das Ziel sein, zunächst im Rahmen einer Priorisierung<br />
diejenigen Erkrankungen herauszufinden, bei denen die Einführung von DMP eine größtmögliche<br />
Verbesserung der Versorgung bewirken kann.
WISSENSCHAFT<br />
Asthma besser im Griff<br />
Patienten, die über längere Zeit im DMP Asthma betreut werden, haben ihre<br />
Krankheit besser unter Kontrolle. Das belegt eine breit angelegte Langzeituntersuchung<br />
mit rund 69.000 <strong>AOK</strong>-versicherten DMP-Teilnehmern. Von Thomas Ebel<br />
Wer über einen längeren Zeitraum<br />
ununterbrochen am<br />
DMP Asthma teilnimmt, hat<br />
seine Erkrankung deutlich<br />
besser im Griff. Zu diesem Ergebnis<br />
kommt eine aktuelle Sonderauswertung<br />
der Evaluationsinstitute infas und Prognos<br />
und des Wissenschaftlichen Instituts der<br />
Ärzte Deutschlands (WIAD) <strong>zum</strong> DMP<br />
Asthma bronchiale. Ausgewertet wurden<br />
die Dokumentationsdaten von etwa 69.000<br />
Kindern und Erwachsenen mit Asthma,<br />
die sich in den Jahren 2006 und 2007 in<br />
ein entsprechendes Curaplan-Programm<br />
der <strong>AOK</strong> einschrieben. Über dreieinhalb<br />
Jahre verfolgten die Wissenschaftler, wie<br />
sich die medizinischen Werte der Teilnehmer<br />
entwickelten, die über diesen Zeitraum<br />
DMP tut gut<br />
Häufigkeit von Asthmasymptomen in Prozent<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
23,9<br />
20,1<br />
17,9<br />
22,3<br />
16,4<br />
24,0<br />
15,5<br />
ohne Unterbrechung in das Asthma-Programm<br />
eingeschrieben waren.<br />
Ein Plus für die Gesundheit. Die Bilanz<br />
fiel positiv aus: So stieg der Anteil der<br />
Patienten, die laut Dokumentation keine<br />
Asthma-Symptome zeigten, von zehn auf<br />
knapp 27 Prozent. Der Anteil derer, die<br />
täglich mit Asthma-Symptomen zu tun<br />
hatten, sank dagegen von knapp 24 auf<br />
14,5 Prozent (siehe Grafik).<br />
Neben der Kontrolle der Erkrankung<br />
ist weiteres wichtiges Ziel der modernen<br />
Asthma-Therapie, Klinikaufenthalte<br />
möglichst zu vermeiden. Auch hier zeigten<br />
sich deutliche Verbesserungen: Die Zahl<br />
der Patienten, die wegen ihres Asthmas<br />
mindestens einmal ins Krankenhaus<br />
10,0<br />
1. Halbjahr 2. Halbjahr 3. Halbjahr 4. Halbjahr 5. Halbjahr 6. Halbjahr 7. Halbjahr<br />
68.637 66.829 66.085 65.085 64.351 63.419 61.752<br />
auswertbare Patientendatensätze<br />
Die Zahl der Teilnehmer, die täglich unter Asthmabeschwerden leiden, ging deutlich zurück,<br />
je länger die Patienten in das DMP Asthma eingeschrieben waren. Quelle: infas/Prognos/WIAD<br />
24,8<br />
14,8<br />
25,9<br />
14,7<br />
mussten, bewegte sich auf niedrigem Niveau<br />
und konnte noch leicht gesenkt werden<br />
(von 1,3 auf 1,1 Prozent).<br />
Ein wichtiger Bestandteil der strukturierten<br />
Behandlungsprogramme sind<br />
Patientenschulungen, in denen die Betroffenen<br />
<strong>zum</strong> Beispiel verschiedene<br />
Atemtechniken und die richtige Messung<br />
ihrer Lungenwerte lernen. Der Anteil der<br />
Patienten, die an einer vom Arzt empfohlenen<br />
Patientenschulung teilgenommen<br />
haben, kletterte in dreieinhalb Jahren von<br />
knapp 30 auf über 50 Prozent. Auch der<br />
Anteil der Patienten, die über einen Selbstmanagement-Plan<br />
<strong>zum</strong> richtigen Umgang<br />
mit Notfällen verfügten, stieg von knapp<br />
40 auf 54 Prozent.<br />
Erfreuliche Entwicklungen zeigten sich<br />
auch beim Thema Tabakverzicht: In den<br />
dreieinhalb Jahren hörten etwa 32 Prozent<br />
der Patienten, die ursprünglich geraucht<br />
hatten, mit dem Rauchen auf. Insgesamt<br />
sank der Anteil der Raucher unter allen<br />
DMP-Teilnehmern um zwei Prozent (von<br />
15,6 auf 13,2 Prozent).<br />
Mehr übergewichtige Kinder. Nur zwei<br />
Wermutstropfen trüben das erfreuliche<br />
Gesamtbild: Der Prozentsatz der Patienten,<br />
bei denen die Ärzte jährlich die korrekte<br />
Inhalationstechnik überprüfen, sank<br />
vom ersten auf das zweite Auswertungsjahr<br />
von 81 auf 76 Prozent und bleibt im<br />
dritten Auswertungsjahr auf diesem Niveau.<br />
Und: Der Anteil der stark oder mäßig<br />
übergewichtigen Kinder im Programm<br />
nahm von 30 auf knapp 33<br />
Prozent zu. √<br />
Thomas Ebel ist Arzt im Stab Medizin<br />
des <strong>AOK</strong>-Bundesverbandes.<br />
14 Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 10/12, 15. Jahrgang<br />
26,8<br />
14,5<br />
keine<br />
täglich<br />
Fotos: BilderBox.com, pivat
Dr. Stefan Stern ist Beratungsarzt<br />
im Dienstleistungszentrum<br />
Versorgungsmanagement der <strong>AOK</strong> Bayern,<br />
das für die Disease-Management-<br />
Programme zuständig ist.<br />
»Wir geben uns noch nicht zufrieden«<br />
Mit einer Qualitätsinitiative will die <strong>AOK</strong> Bayern die Chronikerprogramme<br />
kontinuierlich verbessern. Stefan Stern erklärt, warum die Kooperation mit den<br />
Ärzten dabei so wichtig ist.<br />
Die <strong>AOK</strong> Bayern hat bei den Chronikerprogrammen<br />
eine Qualitätsinitiative<br />
gestartet. Was war der Anlass?<br />
Alle Disease-Management-Programme<br />
(DMP) haben bestimmte Qualitätsziele,<br />
die wir regelmäßig überprüfen. Beim<br />
Diabetes-Programm wollen wir beispielsweise<br />
durch eine optimierte Behandlung<br />
die Anzahl von Amputationen in Folge<br />
des „Diabetischen Fußsyndroms“ verringern.<br />
Dafür müssen die teilnehmenden<br />
Ärzte die Füße ihrer Diabetes-Patienten<br />
mindestens einmal jährlich untersuchen.<br />
Bei Auffälligkeiten werden die Patienten<br />
dann <strong>zum</strong> Facharzt überwiesen. Mithilfe<br />
dieser Früherkennungsmaßnahme lassen<br />
sich viele Amputationen verhindern oder<br />
<strong>zum</strong>indest zeitlich verzögern. Das ist ein<br />
wirklich großer <strong>Erfolg</strong>, denn jede verhinderte<br />
Amputation bedeutet für die Betroffenen<br />
ein großes Stück mehr Lebensqualität.<br />
Bei der Auswertung der Daten haben<br />
wir allerdings festgestellt, dass die Fußstatusprüfung<br />
in den DMP-Dokumentationen<br />
in vielen Fällen als „nicht durchgeführt“<br />
verzeichnet war. Hier mussten<br />
wir reagieren und haben deshalb die Qualitätsinitiative<br />
Fußsyndrom gestartet.<br />
Was bedeutet das konkret?<br />
Wir haben in Kooperation mit den anderen<br />
bayrischen Kassenverbänden und der<br />
Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns<br />
ein Schreiben an 489 Arztpraxen versandt,<br />
die laut ihren DMP-Dokumentationen<br />
den Fußstatus bei mindestens fünf Diabetikern<br />
in den letzten eineinhalb Jahren<br />
nicht untersucht hatten. Das Schreiben<br />
war bewusst kooperativ formuliert – wir<br />
wollten die Ärzte freundlich auf die fehlenden<br />
Untersuchungen hinweisen. Sie<br />
wurden deshalb gebeten, ihre Unterlagen<br />
zu überprüfen und eine Stellungnahme<br />
zu schicken. Die wenigen Ärzte, die auf<br />
das Schreiben nicht reagierten, wurden<br />
anschließend noch telefonisch kontaktiert.<br />
War die Aktion erfolgreich?<br />
Auf jeden Fall. Bayernweit waren 11.678<br />
Patienten betroffen, bei denen laut Dokumentation<br />
keine Fußinspektion durchgeführt<br />
worden war. Bei 9.619 von ihnen ist<br />
sie in der Zwischenzeit nachgeholt worden.<br />
Bei einigen Ärzten gab es wohl vor allem<br />
Probleme mit der Dokumentation. Sie<br />
» DMP sollen durch<br />
eine optimierte Behandlung<br />
die Anzahl<br />
von Amputationen<br />
verringern.«<br />
hatten zwar die Füße regelmäßig untersucht,<br />
aber vergessen, dies in den Unterlagen<br />
zu dokumentieren. Andere Ärzte gaben<br />
an, dass sie den Fußstatus aus verschiedenen<br />
Gründen nicht durchgeführt hatten und<br />
holten dies nun nach. Durch den konstruktiven<br />
Dialog mit der Ärzteschaft konnte der<br />
Fußstatus 2011 bei rund 90 Prozent der<br />
Patienten in den Diabetes-DMP dokumentiert<br />
werden. Außerdem konnten wir durch<br />
die Aktion Probleme bei der Dokumentation<br />
aufdecken, die durch ein verbessertes<br />
Qualitätsmanagement bei den Ärzten künftig<br />
entfallen dürften. Langfristig verbessert<br />
sich dadurch auch die Datengrundlage der<br />
DMP, was natürlich für die Evaluation der<br />
Programme sehr wichtig ist.<br />
KOOPERATION<br />
Und wie geht es jetzt weiter?<br />
Die <strong>AOK</strong> Bayern hat für Ärzte und Patienten<br />
verschiedene Broschüren <strong>zum</strong><br />
Thema Diabetisches Fußsyndrom kostenlos<br />
zur Verfügung gestellt, um für das<br />
Thema weiter zu sensibilisieren. Zusätzlich<br />
veröffentlichen wir regelmäßig einen<br />
DMP-Newsletter für Ärzte, bei dem das<br />
Thema Fußinspektion immer wieder im<br />
Fokus steht. In diesem Herbst werden wir<br />
die Dokumentationen erneut überprüfen<br />
und bei Bedarf die Ärzte nach gleichem<br />
Muster informieren.<br />
Auch bei der augenärztlichen<br />
Untersuchung wird das Qualitätsziel<br />
nicht erreicht – gibt es auch hier<br />
Pläne für eine Qualitätsinitiative?<br />
Das aktuelle Qualitätsziel in den bayerischen<br />
Diabetes-DMP ist, dass mindestens<br />
90 Prozent der Patienten zur einmal jährlich<br />
vorgeschriebenen Netzhautuntersuchung<br />
beim Augenarzt überwiesen<br />
werden. Dieses Ziel wird mit zuletzt 72<br />
Prozent zwar noch verfehlt, es zeigt sich<br />
aber im zeitlichen Verlauf eine deutliche<br />
Steigerung der Überweisungsraten.<br />
Dennoch wollen wir uns mit diesem<br />
Ergebnis nicht zufrieden geben, da die<br />
diabetische Netzhauterkrankung weiterhin<br />
die führende Ursache für Erblindung<br />
in Deutschland darstellt. Früherkennung<br />
und rechtzeitige Therapie der Erkrankung<br />
sind deshalb unverzichtbar. Wir<br />
planen daher auch für diese Untersuchung<br />
eine Qualitätsinitiative, analog<br />
unserem Vorgehen beim Fußsyndrom.<br />
Wir hoffen sehr, dass dadurch noch mehr<br />
Diabetiker im DMP ihre regelmäßige<br />
Netzhautuntersuchung beim Augenarzt<br />
erhalten. √<br />
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 10/12, 15. Jahrgang 15
VERSORGUNG<br />
<strong>Erfolg</strong>srezept Hausarztvertrag<br />
Chronisch kranke Menschen werden im Hausarztvertrag der <strong>AOK</strong> Baden-Württemberg besser<br />
versorgt als in der Regelversorgung, so das Ergebnis der Begleitforschung. Die neue Versorgungsform<br />
überzeugt auch die teilnehmenden Hausärzte. Von Katrin Tomaschko und Jürgen Graf<br />
Eine flächendeckende, für alle Bürger zugängliche hausärztliche<br />
Versorgung ist das Rückgrat eines modernen,<br />
leistungsfähigen Gesundheitssystems. Hausärzte sind in<br />
der Regel die erste medizinische Anlaufstelle für Menschen<br />
mit gesundheitlichen Problemen. Sie beurteilen, ob weitere<br />
Behandlungsschritte, beispielsweise die Überweisung zu einem<br />
Facharzt oder eine stationäre Aufnahme, erforderlich sind.<br />
Besondere Bedeutung kommt der hausärztlichen Versorgung<br />
im Management der Volkskrankheiten zu.<br />
Doch obwohl die Bedeutung einer qualitativ hochwertigen<br />
hausärztlichen Versorgung bekannt ist, nahm die Zahl der<br />
Hausärzte zwischen 1993 und 2009 um fast acht Prozent ab,<br />
während die Zahl der Fachärzte im gleichen Zeitraum um mehr<br />
als 50 Prozent stieg. Um dieser Fehlentwicklung entgegenzuwirken<br />
und die Hausärzte in ihrer skizzierten Funktion zu<br />
stärken, hat der Gesetzgeber 2004 die hausarztzentrierte Versorgung<br />
(HzV) in das fünfte Sozialgesetzbuch aufgenommen<br />
und schrittweise weiterentwickelt. Im Vordergrund steht dabei<br />
ganz bewusst die Qualität der medizinischen Versorgung: Teil-<br />
Gut versorgt beim Facharzt<br />
Auf dem Hausarztvertrag aufbauend hat die <strong>AOK</strong> Baden-Württemberg<br />
bisher drei Verträge zur fachärztlichen Versorgung abgeschlossen:<br />
Eine exklusive fachärztliche Versorgung erhalten die<br />
<strong>AOK</strong>-Versicherten in den Bereichen Kardiologie (2009), Gastroenterologie<br />
(2010) und seit Juli 2012 auch im Bereich Psychotherapie<br />
(PNP-Vertrag). Vor der Umsetzung stehen die Psychiatrie und die<br />
Neurologie; ein weiterer Facharztvertrag zur Orthopädie wird<br />
derzeit verhandelt. „Die Selektivverträge sind unsere besondere<br />
Qualitätsversorgung, die wir mit unseren Partnern weiter ausbauen<br />
werden“, sagt Christopher Hermann, Vorstandsvorsitzender<br />
der <strong>AOK</strong> Baden-Württemberg. Beim aktuellen PNP-Vertrag<br />
profitieren die Versicherten unter anderem vom Wegfall langer<br />
Wartezeiten auf eine psychotherapeutische Erstbehandlung und<br />
von einer flexibleren und unbürokratischen Versorgung.<br />
nehmende Ärzte müssen sich spezifisch fortbilden und sind<br />
verpflichtet, an Qualitätszirkeln zur Arzneimitteltherapie teilzunehmen.<br />
Ein weiterer Baustein der hausarztzentrierten Versorgung<br />
ist die stärkere Berücksichtigung von evidenzbasierten<br />
Leitlinien.<br />
Chance erkannt. Die <strong>AOK</strong> Baden-Württemberg erkannte die<br />
Chancen der hausarztzentrierten Versorgung frühzeitig und<br />
schloss im Mai 2008 als bundesweit erste Krankenkasse einen<br />
Hausarztvertrag mit Vollversorgungsanspruch und Bereinigung<br />
ab. Die im Vertrag festgelegte deutlich pauschalierte Vergütungssystematik<br />
mit wenigen Einzelleistungen, qualitäts- und ergebnisabhängigen<br />
Zuschlägen, einem Zuschlag für chronisch<br />
Kranke sowie dem Wegfall von fallzahlorientierten Mengenbegrenzungen<br />
stellen einen Paradigmenwechsel dar, der die vom<br />
Gesundheits-Sachverständigenrat 2009 dargelegten Empfehlungen<br />
in weiten Teilen umsetzt. Hinzu kommen finanzielle<br />
Anreize zur Beschäftigung von speziell weitergebildeten Versorgungsassistentinnen<br />
in der Hausarztpraxis (VERAH). Inzwischen<br />
nehmen rund 1,1 Millionen Versicherte und etwa 3.500 Hausärzte<br />
am Hausarztvertrag der <strong>AOK</strong> Baden-Württemberg teil.<br />
Gut versorgte Patienten. Um den <strong>Erfolg</strong> des Hausarztvertrages<br />
zu messen, führten das Institut für Allgemeinmedizin der<br />
Universität Frankfurt am Main und die Abteilung für Allgemeinmedizin<br />
und Versorgungsforschung der Universitätsklinik<br />
Heidelberg eine wissenschaftliche Evaluation durch. Die Wissenschaftler<br />
verglichen die pseudonymisierten sowie alters-,<br />
geschlechts- und krankheitsadjustierten Abrechnungsdaten von<br />
580.924 am Hausarztvertrag teilnehmenden Versicherten mit<br />
denen von 862.237 Nicht-Teilnehmern.<br />
Die ersten Evaluationsergebnisse wurden im Juni 2012 auf<br />
dem Hauptstadtkongress in Berlin vorgestellt. Es zeigte sich,<br />
dass die am Hausarztvertrag teilnehmenden Versicherten älter<br />
und kränker als die Versicherten in der Regelversorgung sind,<br />
dass sie aber zugleich intensiver betreut werden. So hat ein im<br />
Hausarztvertrag eingeschriebener Versicherter im Halbjahr<br />
durchschnittlich zwei Hausarztkontakte mehr als ein vergleichbarer<br />
Versicherter in der Regelversorgung.<br />
16 Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 10/12, 15. Jahrgang<br />
Foto: Your_Photo_Today
Gleichzeitig nahm die Zahl der nicht koordinierten Facharztbesuche<br />
um 12,5 Prozent ab. Dies entlastet die Fachärzte wirksam<br />
und setzt Kapazitäten für medizinisch notwendige Termine<br />
frei. Auch die Zahl der Verordnungen von Medikamenten<br />
ohne therapeutischen Zusatznutzen und der Anteil der Patienten,<br />
die regelmäßig fünf oder mehr Medikamente einnehmen<br />
und dadurch besonders durch Arzneimittelwechselwirkungen<br />
gefährdet sind, entwickelte sich günstiger als in der Regelversorgung.<br />
Besonders hervorzuheben ist der deutlich höhere Anteil an<br />
DMP-Einschreibungen in der Gruppe der HzV-Versicherten<br />
(siehe Grafik). Die in zahlreichen Studien nachgewiesene positive<br />
Wirkung der DMPs wird durch die hausarztzentrierte<br />
Versorgung weiter unterstützt. Dazu tragen auch die circa 1.000<br />
VERAHs bei, die inzwischen in fast jeder dritten HzV-Praxis<br />
beschäftigt sind und die Ärzte etwa beim Medikamenten- und<br />
Wundmanagement und bei Hausbesuchen unterstützen.<br />
Zufriedene Ärzte. Eine Befragung von über 900 Hausärzten<br />
zeigte außerdem, dass HzV-Ärzte trotz höherer Arbeitsbelastung<br />
zufriedener mit ihrem Einkommen sind, sich weniger gestresst<br />
fühlen und motivierter sind, Veränderungsprozesse anzustoßen.<br />
Damit leistet die HzV einen wichtigen Beitrag dazu, die Attraktivität<br />
des Hausarztberufs zu steigern und fördert den vom<br />
Sachverständigenrat empfohlenen Umbau von Versorgungsstrukturen<br />
mit dem Ziel, das Gesundheitssystem auf die demografischen<br />
Herausforderungen und die Entwicklungen in der<br />
ärztlichen Berufsausübung einzustellen. √<br />
Jürgen Graf leitet bei der <strong>AOK</strong> Baden-Württemberg<br />
den Fachbereich Integriertes Leistungsmanagement,<br />
in dem auch Katrin Tomaschko tätig ist.<br />
Trotz höherer Arbeitsbelastung<br />
sind HZV-Ärzte zufriedener mit ihrem<br />
Einkommen, fühlen sich weniger<br />
gestresst und sind motivierter,<br />
Veränderungsprozesse anzustoßen.<br />
Mehr DMP-Teilnehmer im Hausarztvertrag<br />
DMP-Einschreibungen der Patienten, Anteile in Prozent<br />
√ HzV-Versicherte (n = 580.924)<br />
√ Nicht-HzV-Versicherte (n = 862.237)<br />
DMP Diabetes mellitus Typ I<br />
0,16<br />
0,17<br />
DMP Diabetes mellitus Typ II<br />
DMP Brustkrebs<br />
0,26<br />
0,19<br />
DMP KHK<br />
DMP Asthma<br />
1,94<br />
0,61<br />
DMP COPD<br />
2,54<br />
0,8<br />
6,11<br />
15,07<br />
Im Rahmen des Hausarztvertrags werden insbesondere chronisch<br />
kranke Patienten besser und strukturierter versorgt, so<br />
das Ergebnis der Begleitforschung. Dies zeigt sich auch an den<br />
deutlich höheren Einschreibequoten in den Disease-Management-Programmen.<br />
Quelle: Universitätsklinikum Heidelberg<br />
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 10/12, 15. Jahrgang 17<br />
2,5<br />
7,5
<strong>AOK</strong>-PROJEKTE<br />
Gesundheit per Telefon<br />
Seit 2008 bietet die <strong>AOK</strong> Niedersachsen ihren Versicherten das telemedizinische Gesundheitsprogramm<br />
Herzinsuffizienz an. Die wissenschaftliche Begleitforschung zeigt eindrucksvoll, dass<br />
die Patienten von der engmaschigen Betreuung profitieren. Von Maja Pavlovic<br />
Die <strong>AOK</strong> Niedersachsen startete im April 2008 in Kooperation<br />
mit der Münchner Firma almeda eines der<br />
größten indikationsbezogenen Telemedizinprojekte in<br />
Europa. Mittlerweile nehmen rund 14.000 Versicherte<br />
und etwa 1.400 niedergelassene Ärzte am Gesundheitsprogramm<br />
Herzinsuffizienz teil. Eine umfangreiche medizinische und<br />
ökonomische Begleitforschung belegt jetzt den <strong>Erfolg</strong> des Programms.<br />
Intensive Betreuung. Die <strong>AOK</strong> Niedersachsen entwickelte das<br />
Gesundheitsprogramm Herzinsuffizienz gemeinsam mit dem<br />
Gesundheitsdienstleister alme-<br />
da. Die Inhalte basieren auf den<br />
Empfehlungen anerkannter nationaler<br />
und internationaler<br />
Leitlinien. Ein medizinischer<br />
Expertenbeirat sorgt für eine<br />
fortlaufende Qualitätssicherung.<br />
Der Behandlungserfolg bei chronischer Herzinsuffizienz<br />
hängt ganz wesentlich von der Therapietreue der Patienten ab.<br />
Im Mittelpunkt des Programms steht deshalb das sogenannte<br />
Telecoaching: regelmäßige Betreuungsanrufe durch medizinisch<br />
ausgebildetes Fachpersonal. Im Alltag steht ein fester Ansprechpartner<br />
den Programmteilnehmern in Form einer strukturierten<br />
telefonischen Beratung zur Seite, um die Medikamenten- und<br />
Therapiecompliance zu fördern und sie zu einer gesundheitsförderlichen<br />
Änderung des Lebensstils zu motivieren. Kernpunkt<br />
des Coachings ist die Vereinbarung und das Nachhalten persönlicher<br />
Verhaltensziele mit dem Teilnehmer. Ergänzt wird die<br />
telefonische Betreuung durch schriftliches Informationsmaterial.<br />
Bei Bedarf erhalten eingeschriebene Teilnehmer zusätzlich<br />
telemetriefähige Körperwaagen und Blutdruckmessgeräte. Die<br />
Messergebnisse werden drahtlos zu almeda übertragen und<br />
kontrolliert. Werden festgelegte Grenzwerte über- oder unterschritten,<br />
nimmt der Coach umgehend Kontakt mit dem Patienten<br />
auf. So lassen sich Notfallsituationen und Krankenhauseinweisungen<br />
vermeiden.<br />
Schnelle Besserung. Die wissenschaftliche Begleitforschung<br />
an der medizinischen Hochschule Hannover (MHH) kam nun<br />
Die Sterblichkeit unter den<br />
Teilnehmern sank, während sich die<br />
Lebensqualität verbesserte.<br />
zu dem Ergebnis, dass die Programmteilnehmer rasch und<br />
umfassend von der intensiven Betreuung profitieren. Die Sterblichkeit<br />
unter den eingeschriebenen Teilnehmern sank, während<br />
sich die Lebensqualität verbesserte und stabilisierte.<br />
Die Auswertung der Patientendaten zeigt, dass sich der Gesundheitszustand<br />
der Patienten schon nach einem Jahr Programmteilnahme<br />
signifikant verbessert hatte. Das galt sowohl<br />
für die Symptome (Atemnot, Schwindel, Ödeme) wie auch für<br />
die Schwere der Erkrankung, die anhand des sogenannten<br />
NYHA-Indexes eingestuft wird. Auch beim Blutdruck und dem<br />
Body-Mass-Index (BMI) waren deutliche Verbesserungen zu<br />
verzeichnen.<br />
Dass durch die engmaschige<br />
Betreuung offenbar lebensbedrohliche<br />
Situationen aufgrund<br />
der Herzinsuffizienz erfolgreich<br />
verhindert werden, spiegelt sich<br />
auch auf der ökonomischen Seite<br />
wider: Gerade bei Patienten, die im Vorfeld besonders häufig<br />
stationär behandelt wurden, waren deutliche Einsparungen zu<br />
verzeichnen.<br />
<strong>Erfolg</strong>sgeschichte fortschreiben. Im Februar 2012 wurde das<br />
Projekt bis Ende 2014 mit einem weiterentwickelten Programmkonzept<br />
verlängert. Die Prozesse wurden so angepasst, dass sich<br />
Patienten nach einem stationären Aufenthalt rasch einschreiben<br />
können. Wenn die Teilnehmer es wünschen, können künftig<br />
verstärkt auch Angehörige oder Bekannte einbezogen werden<br />
und im Rahmen des Programms an der Betreuung mitwirken.<br />
Auch die Verbindung mit dem bestehenden Vertrag zur<br />
hausarztzentrierten Versorgung (HzV) in Niedersachsen wurde<br />
umgesetzt: Die HzV-Ärzte übernehmen für eingeschriebene<br />
Versicherte die Information zur Programmteilnahme und Einschreibung,<br />
erstellen einmal zu Beginn und dann jährlich einen<br />
Befundbericht und begleiten das Programm kontinuierlich. Auf<br />
diese Weise profitieren Patienten mit Herzinsuffizienz in Niedersachsen<br />
von einer umfassenden Versorgung. √<br />
Images<br />
Vine/Blend<br />
Maja Pavlovic leitet das Projekt Herzinsuffizienz<br />
Terry<br />
bei der <strong>AOK</strong> Niedersachsen. Foto:<br />
18 Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 10/12, 15. Jahrgang
Ein Plus an Lebensqualität<br />
Mehr Lebensqualität für Patienten mit Herzinsuffizienz – mit<br />
dieser Zielsetzung startete die <strong>AOK</strong> Rheinland/Hamburg im März<br />
2010 die <strong>AOK</strong>-Gesundheitsinitiative Herz plus. <strong>AOK</strong>-Gesundheitsberater<br />
informieren die Teilnehmer über ihre Erkrankung<br />
und motivieren sie zu mehr Bewegung im Alltag, gesunder Ernährung<br />
und Entspannung. Die Evaluationsergebnisse sind<br />
vielversprechend: So lag die Zahl der Krankenhausaufenthalte<br />
aufgrund der Herzschwäche bei den eingeschriebenen Teilnehmern<br />
um neun Prozent niedriger als bei anderen Patienten. Auch<br />
die leitliniengerechte medikamentöse Therapie wird konsequenter<br />
durchgeführt. In einer Befragung sagten mehr als 60 Prozent<br />
der Teilnehmer, sie lebten jetzt gesünder. Neun von zehn eingeschriebenen<br />
Patienten würden die <strong>AOK</strong>-Gesundheitsinitiative<br />
weiterempfehlen.<br />
Aus der Ferne eng betreut<br />
Im Sinne einer gut koordinierten Behandlung bauen die Versorgungsprogramme<br />
der <strong>AOK</strong> Nordost für Herzinsuffizienzpatienten<br />
pyramidenförmig aufeinander auf. Die Basis bildet das „DMP<br />
Koronare Herzkrankheit“ mit dem Modul Herzinsuffizienz für<br />
Patienten aller Krankheitsstufen. Patienten mit einem mittleren<br />
Schweregrad der Erkrankung werden im Rahmen von „<strong>AOK</strong>-<br />
Curaplan Herz Plus“ zusätzlich telefonisch betreut; bei einem<br />
erhöhten Schweregrad wird zusätzlich das Körpergewicht telemedizinisch<br />
überwacht. Für Höchstrisikofälle gibt es in Brandenburg<br />
ein Telemedizin-Netzwerk, das Patienten aus der Ferne eng<br />
betreut. Die Vitaldaten der Patienten werden dabei direkt an<br />
zwei kooperierende Kliniken übermittelt, sodass die behandelnden<br />
Ärzte im Ernstfall sofort intervenieren können.<br />
HerzAs ist Trumpf<br />
Neben dem Modul Herzinsuffizienz im DMP Koronare Herzerkrankung<br />
bietet die <strong>AOK</strong> NordWest ihren Versicherten seit dem<br />
1. Februar 2012 das Gesundheitsprogramm HerzAs. Dieses telemedizinische<br />
Angebot unterstützt ausgewählte Patienten, die<br />
wegen ihrer Herzschwäche bereits im Krankenhaus behandelt<br />
werden mussten. Eine Tele-Körperwaage und ein Gesundheitsmonitor<br />
übermitteln wichtige Messwerte automatisch an das<br />
Telemedizinzentrum in München. Diese Technik und eine engmaschige<br />
telefonische Betreuung geben dem Versicherten mehr<br />
Sicherheit im Umgang mit seiner Erkrankung. Gleichzeitig verbessern<br />
sie die Gesundheit und damit auch die Lebensqualität.<br />
HerzAs verbindet die Vorzüge der Telemedizin mit einer besonders<br />
intensiven Betreuung.<br />
Eine intensive tele fonische Betreuung hilft<br />
den Versicherten in den verschiedenen<br />
Herzinsuffizienz-Programmen dabei, die<br />
Therapieziele besser zu erreichen.<br />
Aktiv gesund mit HerzAktiv<br />
In Sachsen und Thüringen erhalten Patienten, die bereits wegen<br />
ihrer Herzinsuffizienz im Krankenhaus behandelt wurden, im<br />
Rahmen des Versorgungsangebotes <strong>AOK</strong>-HerzAktiv von der <strong>AOK</strong><br />
PLUS eine Broschüre mit wichtigen Informationen über ihre<br />
Krankheit und ein Tagebuch, in das sie täglich ihren Blutdruck,<br />
ihr Gewicht und die Trinkmenge eintragen können. Beides erhöht<br />
die Therapietreue. Eine medizinische Beratungshotline steht für<br />
alle Fragen rund um die Herzerkrankung zur Verfügung. Für<br />
Versicherte mit besonders schwerer Herzinsuffizienz besteht die<br />
Möglichkeit einer individuellen telefonischen und telemedizinischen<br />
Betreuung. Das Programm <strong>AOK</strong>-HerzAktiv beugt der<br />
Verschlechterung des Gesundheitszustands vor und hilft, Krankenhausaufenthalte<br />
zu vermeiden.<br />
Patienten-Coaching mit Herz<br />
Beim Programm Herz plus der <strong>AOK</strong> Bayern betreuen besonders<br />
qualifizierte persönliche Versichertenberater Versicherte mit<br />
Herzinsuffizienz (Herzschwäche) individuell am Telefon. Durch<br />
dieses Patienten-Coaching sollen unnötige Krankenhausaufenthalte<br />
vermieden werden. Die Beratung motiviert die Patienten<br />
auf einfühlsame Weise zur Therapietreue und unterstützt somit<br />
die Therapie des behandelnden Arztes. Schwerpunkt ist die regelmäßige<br />
Abfrage des Gesundheitszustandes, um frühzeitig<br />
Warnsignale zu erkennen. Dabei wird konkret nach Körpergewicht,<br />
Ödemen aufgrund von Wassereinlagerungen, Atemnot und<br />
sonstigen Auffälligkeiten gefragt. Die Fachkräfte vermitteln<br />
außerdem wichtige Informationen zur angemessenen Trinkmenge,<br />
einer herzgesunden Ernährung und zu körperlicher Bewegung.<br />
Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 10/12, 15. Jahrgang 19
AUSBLICK<br />
Herausforderung Zukunft<br />
Wie sieht in Zeiten knapper Kassen die Zukunft der strukturierten Versorgung aus?<br />
Der niederländische Gesundheitsexperte Guus Schrijvers skizziert verschiedene Szenarien<br />
und zieht dabei interessante historische Parallelen.<br />
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam die Idee der „wissenschaftlichen<br />
Betriebsführung“ auf: Das Management<br />
machte den Arbeitern detaillierte Vorgaben für die<br />
Arbeitsabläufe und die Dauer der einzelnen Arbeitsschritte.<br />
Vergleichbares spielte sich zwischen 2000 und 2010 im<br />
Gesundheitssektor ab: Viele europäische Länder legten Grenzen<br />
für die Verweildauer im Krankenhaus fest, führten diagnosebezogene<br />
Fallgruppen (DRGs) und standardisierte Behandlungspfade<br />
ein und stellten quantitative Zielvorgaben auf.<br />
Budgets statt Standards. In der Industrie bewährten sich die<br />
strengen Normen seinerzeit nicht. Schon Ende der 1920er Jahre<br />
keimte an der Harvard Business School eine neue Idee: Macht<br />
keine starren Vorgaben, stellt den Managern einfach ein bestimmtes<br />
Budget zur Verfügung, mit dem sie auskommen müssen!<br />
Dieses Budgetsystem erlebte in der Zeit der Weltwirtschaftskrise<br />
einen beachtlichen Aufschwung. In den gegenwärtigen wirtschaftlich<br />
schwierigen Zeiten ist zu erwarten, dass alle europäischen<br />
Staaten Budgetierungsverfahren für das Gesundheitswesen<br />
entwickeln werden. Dabei sind zwei Szenarien vorstellbar.<br />
Entweder erhält jeder Leistungserbringer ein individuelles<br />
Budget. Die Folgen wären die gleichen wie zur Zeit der Großen<br />
Depression: mehr Leistungsdruck und weniger Lohn für die<br />
Beschäftigten. Patienten müssten sich auf einen eingeschränkten<br />
Zugang zur Versorgung und längere Wartezeiten gefasst machen<br />
und damit rechnen, zu anderen Leistungserbringern „abgeschoben“<br />
zu werden, sobald sie höhere Kosten verursachen.<br />
Die andere Möglichkeit wäre, Leistungserbringern für die<br />
Versorgung bestimmter Personengruppen, etwa aller Diabetespatienten<br />
in einem Bundesland oder aller Bewohner einer Re gion,<br />
Gesamtbudgets zur Verfügung zu stellen, die sämtliche Kosten<br />
für Haus- und Fachärzte, Medikamente und Krankenhausbehandlungen<br />
abdecken. Die USA sind schon weiter. Hier bekommen<br />
regionale Verbünde zur Integrierten Versorgung, sogenannte<br />
Accountable Care Organizations einen Teil des eingesparten<br />
Geldes, wenn sie eine qualitativ hochwertige Versorgung besonders<br />
wirtschaftlich erbringen („Shared Savings“).<br />
Die Zeit drängt. Das zweite Szenario ist patientenfreundlicher.<br />
Doch die Arbeit mit pauschalen Vergütungen steckt noch in<br />
den Kinderschuhen. In den Niederlanden werden pauschale<br />
Vergütungen für die Versorgung von Chronikern erprobt. In<br />
Deutschland gibt es Zuschläge für Disease-Management-Programme.<br />
Von Budgets, die alle Kosten für chronisch kranke<br />
Patienten in DMPs abdecken, sind wir aber noch weit entfernt.<br />
Das Modellprojekt zur Integrierten Versorgung im süddeutschen<br />
Kinzigtal ist europaweit bekannt. Doch was in einer ländlichen<br />
Region funktioniert, kann in einer Großstadt scheitern. Wissenschaftler<br />
und Politiker werden noch einige Zeit brauchen,<br />
um neue Vergütungssysteme zu entwickeln, die auf den Ideen<br />
von Gesamtbudgets, pauschalierter Vergütung und Shared Savings<br />
aufbauen. Es steht zu hoffen, dass es ihnen rasch gelingt. √<br />
Prof. Dr. Guus Schrijvers, PhD, lehrt Public Health am Julius Centrum der<br />
Medizinischen Fakultät an der Universität Utrecht und ist Vorsitzender<br />
der International Foundation of Integrated Care.<br />
Deutsche DMP geben wichtige Impulse<br />
Disease-Management-Programme (DMP)<br />
sind aus der heutigen Versorgung chronischer<br />
Erkrankungen nicht mehr wegzudenken<br />
und kaum eine Krankenversicherung lässt<br />
es sich nehmen, dazu eigene Konzepte zu<br />
entwickeln. Auch wenn die Qualität der<br />
Versorgung durch die Einführung von DMPs<br />
nicht automatisch steigt und sich medizinische<br />
Werte und Lebensqualität der Patientinnen und Patienten<br />
nicht allein durch die Einschreibung in ein DMP verbessern, so<br />
gingen von dieser Entwicklung doch wichtige Impulse aus, die<br />
weit über Deutschlands Grenzen hinaus reichen. Nachdem in den<br />
letzten zehn Jahren vor allem im Vordergrund stand, das Angebot<br />
auszuweiten und verschiedende Ansätze auszuprobieren, müssen<br />
nun die bestehenden Konzepte auf ihre Validität überprüft werden.<br />
Dabei gilt es vor allem, die Versorgung multimorbider Menschen<br />
in den Fokus zu rücken – Herausforderungen, die uns wohl<br />
die nächsten zehn Jahre beschäftigen werden. √<br />
Dr. rer. soc. oec. Katharina Viktoria Stein ist Gesundheitsökonomin<br />
und arbeitet am Institut für Sozialmedizin,<br />
Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität Wien.<br />
20 Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 10/12, 15. Jahrgang<br />
Foto: pivat