Internationale Institutionen und nichtstaatliche Akteure
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PuZ<br />
Aus Politik <strong>und</strong> Zeitgeschichte<br />
34–35/2010 · 23. August 2010<br />
Weltstaatengesellschaft?<br />
Christiane Grefe<br />
Rio Reloaded<br />
Jeanne Lätt · Thomas Fues · Siddharth Mallavarapu<br />
“We will have to learn to be better listeners”<br />
Michael Zürn<br />
<strong>Internationale</strong> <strong>Institutionen</strong> <strong>und</strong> <strong>nichtstaatliche</strong> <strong>Akteure</strong><br />
Andreas Fischer-Lescano · Lars Viellechner<br />
Globaler Rechtspluralismus<br />
Eva Senghaas-Knobloch<br />
<strong>Internationale</strong> Arbeitsregulierung<br />
Inge Kaul<br />
Zukunft des Multilateralismus<br />
Ekkehart Krippendorff<br />
Staat muss sein. Muss Staat sein?
Editorial<br />
Die großen Herausforderungen unserer Zeit verlangen, dass<br />
zunehmend über nationale Staatsgrenzen hinaus nach Strategien<br />
gesucht <strong>und</strong> entsprechend abgestimmt gehandelt wird. Probleme<br />
wie die Erderwärmung, die globale Finanzkrise oder weltweite<br />
Armut lassen sich von einzelnen Staaten oder kleineren Staatengruppen<br />
nicht allein lösen. Doch wie soll die Politik in der vielfältig<br />
vernetzten Welt gestaltet werden? Sind supranationale <strong>Institutionen</strong><br />
denkbar, die erstens über die notwendige Legitimität<br />
verfügen <strong>und</strong> zweitens dazu in der Lage sind, wirksame Maßnahmen<br />
nicht nur zu beschließen, sondern auch durchzusetzen?<br />
Kurz: Wie könnte global governance künftig aussehen?<br />
Das System der internationalen Ordnung, das sich in der<br />
Nachkriegszeit herausgebildet hat, wird derzeit stärker hinterfragt<br />
denn je. Die Vereinten Nationen sind zwar immer noch<br />
die wichtigste internationale Organisation, aber ihre Wirksamkeit<br />
– etwa bei der Bewältigung von Konflikten – ist begrenzt.<br />
Zudem hat es „tektonische Verschiebungen“ gegeben: Staaten<br />
wie China, Brasilien oder Indien haben inzwischen erheblich<br />
an politischem <strong>und</strong> ökonomischem Gewicht gewonnen <strong>und</strong> verlangen<br />
nach stärkerer Repräsentation auch in anderen <strong>Institutionen</strong>.<br />
Der Bedeutungsverlust der Gruppe der sieben stärksten<br />
Industrienationen <strong>und</strong> Russlands (G8) zugunsten der Gruppe<br />
der zwanzig wichtigsten Industrie- <strong>und</strong> Schwellenländer (G20)<br />
spiegelt dies schon wider. Wie aber die Rolle der aufstrebenden<br />
Staaten künftig genau aussehen wird, ist noch unklar.<br />
Ist die Vorstellung einer „Weltstaatengesellschaft“ also realistisch<br />
oder eine unerreichbare Utopie? Gibt es Normen, auf die<br />
sich alle einigen könnten, bzw. wer soll diese definieren? Um<br />
(bessere) globale Kooperation zu ermöglichen, gilt es, alte Nord-<br />
Süd-Gräben zuzuschütten, eingefahrene Sichtweisen zu überwinden<br />
<strong>und</strong> vor allem: zu lernen, „bessere Zuhörer zu sein“.<br />
Johannes Piepenbrink
Christiane Grefe<br />
Rio reloaded<br />
Essay<br />
H<strong>und</strong>erttausende Liter klebrigen, schwarzen<br />
Erdöls ergießen sich täglich ins Meer.<br />
Keiner weiß, wie viele Millionen am Ende die<br />
Christiane Grefe<br />
Geb. 1957; Autorin <strong>und</strong> Redakteurin<br />
bei „Die Zeit“; Autorin<br />
von „Der Globale Countdown.<br />
Gerechtigkeit oder Selbstzerstörung<br />
– Die Zukunft<br />
der Globalisierung“ erschienen<br />
2008 (gemeinsam mit<br />
Harald Schumann).<br />
christiane.grefe@zeit.de<br />
Küsten von Louisiana<br />
bis Texas verseuchen<br />
werden. Über Monate<br />
kämpfen die Zauberlehrlinge<br />
von BP (British<br />
Petroleum) gegen<br />
die Geister, die sie verantwortungslos<br />
riefen.<br />
Immer neue Anläufe<br />
enden immer wieder<br />
vergeblich – wie<br />
bei Goethes Gedicht<br />
„Helft mir, ach! ihr hohen Mächte!“ Die Havarie<br />
im Golf von Mexiko, die Anfang August<br />
dieses Jahres endlich gestoppt werden konnte,<br />
erscheint auf den ersten Blick als US-amerikanische<br />
Katastrophe. Kein anderes Land der<br />
Welt verschlingt schließlich pro Kopf derart<br />
große Mengen fossiler Ressourcen; nirgends<br />
sonst gilt ein vergleichbar energiehungriger<br />
Lebensstil quasi als Menschenrecht. Doch der<br />
Ölteppich zeigt noch mehr: die Verwobenheit<br />
jeder Ökonomie mit dem Rest der Welt. Er ist<br />
ein globales Menetekel. Denn erst die wachsende<br />
Nachfrage in den Schwellenländern<br />
nach „des Teufels Tränen“ <strong>und</strong> der sich gleichzeitig<br />
abzeichnende Beginn ihrer Erschöpfung<br />
ließen eine riskante Tiefseeförderung<br />
wie im Golf von Mexiko überhaupt rentabel<br />
werden; der Untergang der Bohrinsel „Deep<br />
Water Horizon“ ist insofern ein „Tschernobyl“<br />
des Ölfördermaximums, des peak oil.<br />
Erst ein völlig unzulängliches internationales<br />
Seerecht, das auch dank der Lobby der großen<br />
Energiekonzerne Schlupfl öcher bei den<br />
Sicherheits- <strong>und</strong> Schadenersatzpflichten offen<br />
ließ, senkte die Risikoschwelle, 1500 Meter<br />
tief im Meeresgr<strong>und</strong> nach dem Schmierstoff<br />
der industriellen Entwicklung zu bohren.<br />
Ähnliche Unglücke könnten daher jederzeit<br />
auch vor anderen Küsten passieren,<br />
in Angola, Russland oder Brasilien. Bürger<br />
in aller Welt empfanden das entfesselte Sprudeln<br />
der unterseeischen Quelle deshalb auch<br />
als weiteren Ausdruck der Unfähigkeit ihrer<br />
Regierungen, wirksame Regeln zum Schutz<br />
von Mensch <strong>und</strong> Natur zu schaffen. Die außer<br />
Kontrolle geratene Ölförderung erscheint<br />
ihnen nur als weiterer Beleg dafür, dass die<br />
politische Kooperation der Länder der wirtschaftlichen<br />
Verschmelzung noch immer bedrohlich<br />
fußlahm hinterherhinkt.<br />
Der Widerspruch ist tatsächlich groß: Einerseits<br />
wird auf allen politischen Gipfeln<br />
die „eine Welt“ beschworen, ob es um Abrüstung<br />
oder Artenvielfalt, Aids oder Arbeitsschutz<br />
geht. So gut wie allen Regierungen<br />
ist heute klar, dass ihre Ökonomien <strong>und</strong><br />
Gesellschaften allein auf nationaler Ebene<br />
nicht mehr zu steuern sind. Andererseits<br />
wächst hinter den diplomatischen Plädoyers<br />
für global governance noch längst nicht zusammen,<br />
was zusammen gehört, um die großen<br />
globalen Herausforderungen zu bewältigen.<br />
Die Kooperation ist unzulänglich, fragil<br />
<strong>und</strong> teils auf dem Rückzug bei den drei wichtigsten<br />
Krisen, mit denen die aus dem Ruder<br />
gelaufene Ölförderung im Golf von Mexiko<br />
eng verb<strong>und</strong>en ist <strong>und</strong> die mit Bankencrashs<br />
<strong>und</strong> zahlungsunfähigen Staaten, sich häufenden<br />
Wirbelstürmen, Fluten <strong>und</strong> Hungersnöten<br />
Vorboten möglicher noch größerer Katastrophen<br />
senden.<br />
Die drei großen Krisen:<br />
„Die Summe aller Fehler“<br />
Vor der gefährlichen Finanzkrise hatten kritische<br />
Ökonomen lange gewarnt. Doch die<br />
Staats- <strong>und</strong> Finanzchefs der wichtigsten<br />
Wirtschaftsmächte zeigten sich als Meister<br />
der Verdrängung – selbst dann noch, als sie<br />
im Jahr 2008 tatsächlich ausbrach. Anders als<br />
bei der Großen Depression ab 1929 kamen sie<br />
immerhin rasch zusammen <strong>und</strong> verhinderten<br />
mit hohen Staatsausgaben <strong>und</strong> -garantien die<br />
befürchtete Kaskade ökonomischer Zusammenbrüche.<br />
Doch schon morgen könnte die<br />
Welt erneut am Abgr<strong>und</strong> stehen. Denn weiter<br />
gehende Konsequenzen werden blockiert,<br />
ob durchgreifende Transparenzvorschriften,<br />
Kontrollinstanzen, Bankabgaben oder die<br />
Schließung von Steueroasen. Das Schwächeln<br />
der Regierungen gegenüber der Macht der<br />
Finanzwelt <strong>und</strong> die fehlende Vorsorge kommentiert<br />
Altb<strong>und</strong>eskanzler Helmut Schmidt<br />
lakonisch: „Von ihren fulminanten Absichtserklärungen<br />
zur Regulierung der Finanz-<br />
APuZ 34–35/2010 3
4<br />
märkte <strong>und</strong> deren Finanzinstrumenten ist<br />
bisher noch nichts verwirklicht worden.“<br />
Noch beschämender ist die Kluft zwischen<br />
Beteuerungen <strong>und</strong> Erreichtem bei der<br />
globalen Verteilungs- <strong>und</strong> Armutskrise. Seit<br />
Jahrzehnten versprechen die reichen Länder<br />
vollm<strong>und</strong>ig, dass sie 0,7 Prozent ihres Bruttosozialproduktes<br />
für Hilfsprogramme <strong>und</strong><br />
die Entwicklung benachteiligter Ökonomien<br />
ausgeben werden. Doch ebenfalls seit Jahrzehnten<br />
halten sich nur die wenigsten an ihre<br />
Verpflichtungen. Viele Rückschritte müssen<br />
bei den acht Mil len niums zielen bilanziert<br />
werden, welche die Vereinten Nationen (VN)<br />
im Jahr 2000 beschlossen haben, um die Situation<br />
der Armen zu verbessern. Die Zahl der<br />
Hungernden soll bis 2015 von etwa 800 Millionen<br />
Menschen um die Hälfte verringert werden?<br />
Tatsächlich ist sie sogar wieder auf eine<br />
Milliarde gestiegen, als Folge schlichten politischen<br />
Desinteresses. Selbst nachdem dieser<br />
dramatische Bef<strong>und</strong> im Jahr 2009 veröffentlicht<br />
wurde, glänzten die Regierungschefs<br />
der reichen Länder beim VN-Gipfel gegen<br />
den Hunger in Rom durch Abwesenheit. Ihre<br />
Vertreter verwässerten fast alle Bestimmungen<br />
der Abschlusserklärung, die wie der Abbau<br />
von Exportsubventionen oder Begrenzungen<br />
des „Landraubs“ eigene Interessen<br />
beschnitten hätten. Solcher Hochmut ist potenziell<br />
explosiv in einer ungleichen Weltgesellschaft,<br />
in der ein Prozent der erwachsenen<br />
Weltbevölkerung 40 Prozent der Vermögenswerte<br />
besitzt, während die ärmere Hälfte der<br />
Menschheit über nicht einmal ein Prozent<br />
verfügt. Das extreme Gefälle teile die Welt<br />
„in eine Zone des Friedens <strong>und</strong> eine Zone des<br />
Aufruhrs“, schreibt der britische Entwicklungsökonom<br />
Robert Wade. Dabei richtet<br />
sich der Zorn jener, die sich vom Wohlstand<br />
abgehängt fühlen, nicht nur gegen die Reichen<br />
wie beim Bombenattentat auf das Hotel<br />
Taj Mahal Palace in Bombay (Mumbai), eine<br />
mondäne Unterkunft für den global traveller.<br />
Die wachsende soziale Kluft spaltet viele Gesellschaften<br />
auch von innen. In abgelegenen,<br />
verelendeten Regionen Indiens etwa flackern<br />
zunehmend bürgerkriegsartige Konflikte auf.<br />
Ernüchterung auch bei der Klimakrise: Sie<br />
ist ein planetarischer Notfall <strong>und</strong> die umfassendste<br />
Herausforderung, weil sie fast alle<br />
Aspekte des Wirtschaftens berührt. Ihre<br />
wichtigsten Ursachen – Entwaldung <strong>und</strong> die<br />
übermäßige Verbrennung von Kohle, Öl <strong>und</strong><br />
APuZ 34–35/2010<br />
Gas – sind die gleichen wie bei den meisten<br />
anderen Umwelt- <strong>und</strong> Ressourcenproblemen<br />
wie Knappheit an Wasser oder Boden;<br />
diese werden überdies durch die Auswirkungen<br />
der Erderwärmung noch weiter verstärkt.<br />
Dabei sind ausgerechnet die Bewohner jener<br />
Länder, die zur Erwärmung der Erde am wenigsten<br />
beigetragen haben, die verletzlichsten<br />
potenziellen Opfer, die von Wetterextremen,<br />
Flüchtlingsströmen <strong>und</strong> Ressourcenkriegen<br />
bedroht werden. Aufgr<strong>und</strong> all dieser Zusammenhänge<br />
bezeichnet die indische Umweltschützerin<br />
Sunita Narain den Klimawandel<br />
zu Recht als „Summe aller Fehler“ <strong>und</strong> fordert,<br />
dem Gr<strong>und</strong>konflikt der vernetzten Weltgesellschaft<br />
an die Wurzeln zu gehen: Gerechtigkeit<br />
oder Selbstzerstörung. Auch wenn<br />
Schwellenländer wie Indien, China oder Brasilien<br />
heute Mitverantwortung tragen: Die alten<br />
Industrienationen müssen aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />
historischen Verantwortung in Vorleistung<br />
treten. Sie müssen sich ungleich entschlossener,<br />
mit viel größerem Tempo als bisher aus<br />
dem fossilen Zeitalter befreien <strong>und</strong> neue Entwicklungs-<br />
<strong>und</strong> Wohlstandsmodelle demonstrieren.<br />
Stattdessen auch bei diesem Thema:<br />
permanenter Aufschub. Spätestens im Jahr<br />
2007, als der Weltklimarat IPCC (Intergovernmental<br />
Panel on Climate Change) unbequeme<br />
Wahrheiten publizierte, konnten die Regierungen<br />
der Welt die Dringlichkeit des Problems<br />
nicht mehr relativieren. Noch nie war<br />
zwar die Weltöffentlichkeit so intensiv um das<br />
gleiche Thema versammelt wie in diesem Jahr;<br />
noch nie war der Druck auf die Umweltminister<br />
<strong>und</strong> ihre Unterhändler aus 192 Ländern<br />
so massiv wie bei der Weltklimakonferenz im<br />
Winter 2007 auf Bali. Aber trotz dieser Dramatik<br />
entgingen die Verhandlungen in letzter<br />
Sek<strong>und</strong>e nur zufällig dem Kollaps. Erneut<br />
konnten sich die Delegierten auf kaum mehr<br />
einigen als eine weitere Konferenz. Diese wiederum<br />
vermeintlich letzte Gelegenheit scheiterte<br />
zwei Jahre später in Kopenhagen am<br />
Streit um eine gerechte Verteilung der „Emissionsrechte“.<br />
Seither herrscht in der globalen<br />
Klimapolitik weitgehender Stillstand.<br />
Übersehene Erfolge globalen Regierens<br />
Das neue Jahrzehnt begann also mit einem<br />
großen Katzenjammer. „Die Weltgemeinschaft<br />
stolpert durch ein Wechselbad der Gefühle“,<br />
formuliert der Politikwissenschaftler<br />
Dirk Messner milder, wie sich Hoffnungen
<strong>und</strong> Enttäuschungen bei der global governance<br />
abwechseln. Ist die eine Welt doch nur eine Illusion<br />
<strong>und</strong> trotz drohender Katastrophen unfähig<br />
zu kooperieren? Kommt das globale<br />
Regieren wegen fehlender Wirksamkeit ausgerechnet<br />
aus der Mode, da es immer dringlicher<br />
wird? Ja: die Globalisierung überhaupt?<br />
Das Projekt Weltgesellschaft für tot zu erklären,<br />
wäre aber noch bedrohlicher als mit<br />
seinen Geburtswehen zu ringen, denn bei<br />
einem Scheitern würden alle verlieren. Die<br />
Geschichte zeigt, dass Ent-Globalisierung<br />
schnell in Gewalt münden kann: Zu Beginn<br />
des vergangenen Jahrh<strong>und</strong>erts hatte schon<br />
einmal ein rasend voranschreitender Austausch<br />
von Gütern <strong>und</strong> Technologien über<br />
die globalen Märkte vielen Ländern <strong>und</strong> Bevölkerungsgruppen<br />
immensen sozialen Fortschritt<br />
gebracht. Aber auch damals gab es neben<br />
den Gewinnern zahlreiche Verlierer des<br />
Wandels. Einige Regionen Europas verloren<br />
zum Beispiel durch billige Getreideimporte<br />
aus den USA ihre Absatzmärkte. Ihre Verarmung<br />
war einer der Gründe für rigorosen<br />
Protektionismus <strong>und</strong> nationalistische Aggression<br />
<strong>und</strong> diese ein Funken an den Pulverfässern,<br />
der den grausamen Ersten Weltkrieg<br />
mit seinen Abermillionen Opfern entfachte.<br />
Auch heute wäre der Rückzug ins Nationale<br />
die Flucht aus einer komplexen Verzahnung<br />
der Gesellschaften, von der bei besserer<br />
Regulierung alle profitieren könnten. Die positiven<br />
Folgen, die der neue Integrationsschub<br />
in die Weltmärkte in den 1990er Jahren <strong>und</strong><br />
die damit verb<strong>und</strong>ene Kommunikationsdichte<br />
ausgelöst haben, werden allzu leicht übersehen.<br />
So stärkt die ökonomische Vernetzung<br />
<strong>und</strong> die damit einhergehende gegenseitige<br />
Abhängigkeit der Nationen ihr Interesse am<br />
Frieden, <strong>und</strong> sie kann allen mehr Wohlstand<br />
bringen. Besonders in den großen Schwellenländern<br />
hat sie mehreren Millionen Menschen<br />
neue Chancen eröffnet, der absoluten Armut<br />
zu entkommen. Enormer Reichtum wurde<br />
weltweit erwirtschaftet. Jean Ziegler, der engagierte<br />
Menschenrechtskämpfer im Auftrag<br />
der VN, drückt es so aus: „Zum ersten Mal in<br />
der Geschichte der Menschheit ist der objektive<br />
Mangel besiegt, <strong>und</strong> die Utopie des gemeinsamen<br />
Glückes wäre materiell möglich.“<br />
Überdies gibt es im Schatten des Scheiterns<br />
auch Erfolge beim Versuch der Völkergemeinschaft,<br />
die globalen politischen Rahmen-<br />
bedingungen sozial <strong>und</strong> ökologisch verträglicher<br />
zu gestalten. Nicht zuletzt dank des<br />
Einsatzes uniformierter Helfer der VN hat<br />
sich beispielsweise die Zahl der Bürgerkriege<br />
<strong>und</strong> bewaffneten Konflikte deutlich verringert.<br />
Kriegsverbrechen können vor einem internationalen<br />
Gerichtshof geahndet werden.<br />
Die Bemühungen vieler Länder um eine bessere<br />
Gr<strong>und</strong>schulbildung <strong>und</strong> im Kampf gegen<br />
Malaria <strong>und</strong> Aids kamen auch deshalb voran,<br />
weil der internationale Druck des Mil lenniums<br />
pro zes ses <strong>und</strong> die Unterstützung der<br />
VN auf manchen Gebieten eben doch Wirkung<br />
zeigte. Sie haben Regeln zum Schutz<br />
der Biodiversität verabschiedet, indigene Völker<br />
können sich auf neue Partizipationsrechte<br />
berufen, das Welternährungsprogramm<br />
hilft doppelt so vielen Menschen wie zu Beginn<br />
der 1990er Jahre. Sonderbeauftragte für<br />
Wirtschaft <strong>und</strong> Menschenrechte oder für das<br />
Menschenrecht auf Nahrung dringen mit<br />
Nachdruck auf die vernachlässigte praktische<br />
Umsetzung großer VN-Konventionen.<br />
Erwartungen an globales Regieren<br />
sind oft überfrachtet<br />
Dass die Regierungen bei den drei großen<br />
Krisen bisher keine adäquaten Lösungen erzielt<br />
haben, liegt an nationalen <strong>und</strong> ökonomischen<br />
Interessen, aber nicht zuletzt auch daran,<br />
dass die neoliberalen Blütenträume der<br />
1990er Jahre geistig noch immer nicht überw<strong>und</strong>en<br />
sind. Mit einem neuen Welthandelsregime<br />
<strong>und</strong> dem „Washington-Konsens“ des<br />
<strong>Internationale</strong>n Weltwährungsfonds (IWF)<br />
<strong>und</strong> der Weltbank leiteten die Industrienationen<br />
seinerzeit die nächste Dimension weltweiter<br />
wirtschaftlicher Integration ein. Liberalisierung<br />
<strong>und</strong> Privatisierung galten als<br />
Allheilmittel. Der Glaube an eine quasi naturgesetzliche<br />
Marktdynamik, die Wohlstand<br />
für alle erreichen würde, hatte nach dem Zusammenbruch<br />
des sozialistischen Systemblocks<br />
die Regierungs- <strong>und</strong> Chefetagen erfasst;<br />
er beherrschte die Gesellschaften der<br />
Industrieländer bis hinein in rote <strong>und</strong> grüne<br />
Parteien. Ein regulierender Staat, ja letztlich<br />
das Politische, galt als Anachronismus, <strong>und</strong><br />
das traf auch die globalen <strong>Institutionen</strong>.<br />
Die Vorherrschaft des Ökonomischen fiel<br />
weit zurück hinter die Erkenntnisse, die 1992<br />
bei der großen Konferenz der VN über Umwelt<br />
<strong>und</strong> Entwicklung festgehalten wurden.<br />
APuZ 34–35/2010 5
6<br />
Seinerzeit waren in Rio de Janeiro Ökologie,<br />
wirtschaftliche Entwicklung, Demokratie <strong>und</strong><br />
soziale Gerechtigkeit erstmals zusammengedacht<br />
worden. Dem Treffen in Aufbruchstimmung<br />
folgten zwar bis ins neue Jahrtausend<br />
hinein eine Vielzahl weiterer VN-Konferenzen<br />
zu den großen Zukunftsthemen Klima,<br />
Weltbevölkerung, Menschenrechte, Frauen,<br />
soziale Entwicklung, Siedlung, Ernährung<br />
<strong>und</strong> Nachhaltigkeit, die bei allen Gegensätzen<br />
<strong>und</strong> Unzulänglichkeiten wichtige globale<br />
Normen setzten. Doch wo ihre Beschlüsse<br />
wirtschaftliches Handeln beschnitten wie<br />
etwa bei Biopatenten, da wurden sie von der<br />
ungleich größeren Durchsetzungsmacht der<br />
Welthandelsbestimmungen untergraben.<br />
Gewiss, auch die Kritik an der Ineffizienz<br />
der VN ist berechtigt. Viele ihrer Organisationen<br />
sind gelähmt durch Bürokratie<br />
<strong>und</strong> reflexhafte, anachronistische Nord-Süd-<br />
Schlachten. Doch solche Schwächen rühren<br />
nicht zuletzt daher, dass die VN trotz wachsender<br />
Aufgaben meist über völlig unzulängliche<br />
Mittel verfügen, <strong>und</strong> dringend notwendige<br />
innere Reformen vernachlässigt wurden.<br />
Überdies haben sich die USA globalem Regieren<br />
stets, gelinde gesagt, pragmatisch entzogen,<br />
<strong>und</strong> die veralteten VN-Strukturen<br />
spiegeln ähnlich wie beim IWF <strong>und</strong> der Weltbank<br />
noch immer die Welt ihrer Gründung in<br />
Zeiten des Kalten Krieges wider. Den „tektonischen<br />
Machtverschiebungen“, die der neue<br />
Globalisierungsschub mit sich gebracht hat,<br />
sind sie kaum angepasst, <strong>und</strong> es untergräbt<br />
ihre Autorität, dass sich Entwicklungsländer<br />
<strong>und</strong> besonders Schwellenländer wie China,<br />
Indien oder Brasilien mit ihren hohen Bevölkerungszahlen<br />
<strong>und</strong> Wirtschaftsleistungen<br />
nicht angemessen repräsentiert fühlen.<br />
Der Club der reichen G8-Staaten konnte sich<br />
daher lange Zeit mit Pomp als eigentliche Institution<br />
globalen Regierens inszenieren. Zwar<br />
ist es ein Fortschritt, dass er unter dem Druck<br />
der Krisen die größten Schwellenländer in seine<br />
exklusiven Reihen aufnahm – diese neue<br />
G20 <strong>und</strong> ihr regelmäßiger Austausch haben<br />
auch eine hohe vertrauensbildende Bedeutung<br />
in Zeiten sich verschärfender ökonomischer<br />
Konkurrenz – aber die Treffen sind informell,<br />
<strong>und</strong> ihre Beschlüsse bleiben allzu oft Absichtserklärungen,<br />
peinlich folgenlos. Die mangelhafte<br />
parlamentarische Rückkoppelung<br />
der selbsternannten Weltregierung erleichtert<br />
eben eine Kultur der Doppelzüngigkeit: PR<br />
APuZ 34–35/2010<br />
statt Politik. Es beschließen zum Beispiel alle<br />
gemeinsam vollm<strong>und</strong>ig im Jahr 2009 im italienischen<br />
L’Aquila, 22 Milliarden US-Dollar gegen<br />
den Hunger bereitstellen zu wollen, doch<br />
ein Jahr später ist noch immer kein Cent ausgegeben.<br />
So wie schon mehrmals, wenn es um<br />
Versprechungen für die Armen ging, nur alter<br />
Wein, der schon einmal in nationalen Schläuchen<br />
abgefüllt war, international noch einmal<br />
als neu verkauft wurde. Als Vertretung aller<br />
Völker – von Guinea-Bissau bis China – haben<br />
daher einzig die VN eine globale Legitimation,<br />
<strong>und</strong> es bleibt die Aufgabe, ihre zähen Diskussionsprozesse<br />
<strong>und</strong> Strukturen mit langem<br />
Atem zu verbessern.<br />
Auch manche ihrer Fürsprecher haben zur<br />
derzeit herrschenden Global-governance-<br />
Müdigkeit beigetragen, indem sie die VN mit<br />
allzu hohen Erwartungen überfrachteten.<br />
Eine Weltregierung mit ähnlichen Aufgaben<br />
wie eine nationale Exekutive kann <strong>und</strong> soll es<br />
in New York nicht geben. Ihr Zentralismus<br />
wäre von den unterschiedlichen wirtschaftlichen,<br />
ökologischen, kulturellen <strong>und</strong> sozialen<br />
Verhältnissen der einzelnen Länder viel zu<br />
weit abgekoppelt, ihre Entscheidungen wären<br />
demokratisch kaum kontrollierbar, das heißt:<br />
weder innovativ noch fehlerfre<strong>und</strong>lich. Der<br />
Versuch, alle Ökonomien nach dem gleichen<br />
Wirtschaftsmodell zu uniformieren, ob Malawi<br />
oder Japan, Kenia oder die USA, war auch<br />
schon der größte Fehler der Welthandelsverabsolutierer.<br />
Auch seinetwegen herrscht in der<br />
Welthandelsorganisation (WTO) in Genf seit<br />
langem Stagnation. Ähnlich abgehoben droht<br />
auch der Klimaprozess keineswegs nur an egoistischen<br />
Emissionsinteressen der mächtigen<br />
Wirtschaftsnationen zu scheitern. Auch die<br />
tiefgreifenden technokratischen Ansätze einer<br />
hermetischen globalen Klimaschutz-Expertenszene<br />
stoßen zunehmend auf Widerstände,<br />
weil CO 2-Vermeidung nach ihren Regeln<br />
Menschen ihrer lokalen Ressourcen berauben<br />
oder entwicklungspolitische Ziele gefährden<br />
kann. Die Vorstellung erweist sich zunehmend<br />
als realitätsfremd, 192 Staaten könnten<br />
über jedes winzige Detail etwa eines globalen<br />
Emissionshandels einen Konsens erzielen.<br />
So ist die Kernfrage der global governance<br />
jene nach der richtigen politischen Arbeitsteilung.<br />
Im globalen Rahmen gilt es weiterhin,<br />
um Normen, Ziele <strong>und</strong> Sanktionen<br />
zu ringen, überdies um gerechte finanzielle<br />
Transfers <strong>und</strong> den Austausch von Wissen.
Die praktischen Instrumente aber, um Veränderungen<br />
wie den Umbau des Energiesystems<br />
zu erreichen, werden schneller, wirksamer<br />
<strong>und</strong> ressourcengerechter regional oder<br />
lokal entwickelt. Nur so lässt sich dauerhaft<br />
eine politische <strong>und</strong> wirtschaftliche „Artenvielfalt“<br />
<strong>und</strong> damit ein Wettbewerb der besten<br />
Lösungen aufrechterhalten.<br />
Weltmacht Weltbürger<br />
„Global denken, lokal handeln“: Der Ansatz<br />
der „Agenda 21“ erscheint zwanzig Jahre<br />
später weitsichtiger denn je. Er verdient auch<br />
deshalb als „Rio reloaded“ neu bedacht zu<br />
werden, weil er die Demokratie belebt. Denn<br />
eine Schlüsselrolle spielt dabei die globale Zivilgesellschaft,<br />
die weit über professionalisierte<br />
Nichtregierungsorganisationen hinaus<br />
geht, sich dank des Internets ebenfalls intensiver<br />
denn je zusammenschließt <strong>und</strong> auf die<br />
die meisten kreativen Lösungen zurückgehen.<br />
Auch Bauern- oder Wirtschaftsverbände,<br />
Gewerkschaften, Wissenschaftsorganisationen<br />
<strong>und</strong> unzählige Stiftungen sind längst<br />
über die Grenzen der Kontinente hinweg vernetzt<br />
<strong>und</strong> können die Umsetzung von Vereinbarungen<br />
der VN vorantreiben. Beispielweise<br />
erinnern sie wie das Netzwerk CorA<br />
ihre Regierungen an deren Verantwortung<br />
dafür, dass transnationale Unternehmen auf<br />
die Einhaltung von Menschenrechten wie die<br />
Versammlungsfreiheit verpflichtet werden.<br />
Oder sie setzen sich wie La Via Campensina<br />
weltweit für die Umsetzung des Menschenrechts<br />
auf Nahrung ein. Global governance<br />
wird auch durch erfolgreiche Modelle auf nationaler<br />
Ebene bereichert. Am deutlichsten<br />
wird dies beim Einspeisegesetz für erneuerbare<br />
Energien. In keinem anderen Land ist<br />
die Einführung von Windkraft, Photovoltaik<br />
<strong>und</strong> Biomasse so weit gediehen wie in<br />
Deutschland, deshalb wurde das Gesetz bereits<br />
in über 50 Staaten in jeweils angepasster<br />
Weise zum Vorbild genommen.<br />
Die Verbindung zwischen globaler <strong>und</strong> lokaler<br />
Ebene sieht auch die Wirtschaftsnobelpreisträgerin<br />
Elinor Ostrom als Weg, den<br />
drohenden Krisen zu begegnen. „Wir brauchen<br />
globale Abkommen“, sagt sie <strong>und</strong> fügt<br />
hinzu: „Fangt bei Euch selbst an!“<br />
Jeanne Lätt<br />
“We will have to learn<br />
to be better listeners” –<br />
Double interview<br />
with Thomas Fues and<br />
Siddharth Mallavarapu<br />
The creation of global governance institutions<br />
is not so much a question of choice<br />
as a necessary response to the pressure cre-<br />
ated by global problems<br />
such as growing<br />
social and economic<br />
inequalities, climate<br />
change, financial crisis<br />
or international<br />
terrorism, some theorists<br />
of international<br />
relations say. Our efforts<br />
should therefore<br />
not concentrate on<br />
whether global governance<br />
is desirable or<br />
not, but on how it can<br />
be brought about in an<br />
efficient and inclusive<br />
way.<br />
The first essential<br />
step on the path towards<br />
more inclusiveness<br />
in global governance<br />
will no doubt<br />
be to overcome the<br />
Jeanne Lätt<br />
M. A., born 1974; fellow researcher<br />
at the German Development<br />
Institute, Tulpenfeld 6,<br />
53113 Bonn.<br />
jeanne.laett@die-gdi.de<br />
Thomas Fues<br />
Dr. rer. pol., born 1954; head of<br />
Training Department and senior<br />
researcher at the German<br />
Devel opment Institute (v. s.).<br />
thomas.fues@die-gdi.de<br />
Siddharth Mallavarapu<br />
Ph. D., born 1973; Assistant Professor<br />
at the Centre for International<br />
Politics, Organisation and<br />
Disarmament, Jawaharlal Nehru<br />
University, New Delhi/India.<br />
mallavarapu.siddharth@<br />
gmail.com<br />
North-South divide. In order to achieve this<br />
aim, we will need to be more attentive to<br />
power unbalances in the current international<br />
system, but also to historical sensibilities and<br />
different perspectives between the regions on<br />
the global problems that affect us all.<br />
Although the opinions advanced in the following<br />
interview are very personal ones, they<br />
might offer a glimpse of where major points<br />
of discussion could lie: Is international norm-<br />
The interview took place on 13 April 2010 in Bonn.<br />
Deutsche Übersetzung online: www.bpb.de/apuz<br />
APuZ 34–35/2010 7
8<br />
creation as an inclusive process conceivable<br />
or is it necessarily mirroring the priorities of<br />
powerful states? Do current international institutions<br />
such as the United Nations (UN)<br />
have the legitimacy to coordinate the process<br />
of global norm-creation or are they tainted<br />
because they originate from a historical<br />
period of western domination? And will the<br />
role of emerging developing countries like<br />
China, India or Brazil – which are economically<br />
and politically strong enough to “matter”<br />
on the global stage – principally be an<br />
important and positive one?<br />
Lacking shared global visions?<br />
When we look at the difficult and often confusing<br />
negotiations during the Copenhagen<br />
climate summit last year, the incapacity of international<br />
institutions to come up with longterm<br />
and systemic responses to the current financial<br />
crisis, or the deadlock of the World<br />
Trade Organization (WTO) Doha ro<strong>und</strong><br />
launched in 2001, it seems that the global community<br />
is having a hard time bringing about<br />
effective solutions to global problems. Could<br />
the reason be that we are currently lacking<br />
shared global visions and global norms?<br />
Mallavarapu: I would not see the current<br />
difficulties as a deadlock of global governance.<br />
Rather, the pace at which global institutions<br />
are evolving has been somewhat<br />
reduced ultimately. Notwithstanding the<br />
general pessimism after Copenhagen, we can<br />
see that there is a general agreement that more<br />
collective action and shared global values are<br />
necessary. However, global governance is not<br />
such an easy thing to bring about. The crucial<br />
disagreements relate to the modalities as<br />
well as the content of global governance. It<br />
involves contending with both pragmatic issues,<br />
such as institutional design, and more<br />
substantive issues, such as finding a consensus<br />
on what actually constitutes global justice<br />
in terms of burden sharing, how we may construct<br />
a genuinely global identity, etc. There<br />
is really no escape from these questions.<br />
Fues: The notion of “normative crisis” as<br />
root cause for the paralysis in global politics<br />
appeals to me. After the end of the hegemonic<br />
order dominated by western countries<br />
we now live in a world of multipolarity where<br />
rising powers from the South have moved to<br />
APuZ 34–35/2010<br />
the apex. However, the international community<br />
has not yet come to an agreement on<br />
basic normative principles. This is a crucial<br />
factor in explaining the breakdown of the recent<br />
Copenhagen summit on climate change.<br />
Governments could not agree on a formula<br />
for equi table burden sharing in mitigation<br />
and adaptation. We now experience a fragmentation<br />
of global authority, a backslide to<br />
the “anarchic” state of international relations<br />
envisioned by realist theorists. Trust, reciprocity<br />
and the construction of a cooperative<br />
multilateral order will critically depend on<br />
agreeing on universal ethics.<br />
Despite the difficulties you see ahead, neither<br />
of you actually puts in doubt the necessity<br />
to find shared global values. Why, in your<br />
opinion, should norms be a constitutive element<br />
of global governance in the first place?<br />
Fues: For me, the essential building block<br />
of governance is the individual human being.<br />
The legitimacy of global governance cannot<br />
be fo<strong>und</strong> in the pursuit of national self-interest<br />
or in systemic outcomes such as stability<br />
and prevention of interstate-war, but rather<br />
in improving the living conditions of every<br />
member of the human race while, at the same<br />
time, ensuring a healthy biosphere and the<br />
survival of fellow creatures on Earth. Following<br />
this logic, I think that there are different<br />
ways of explaining the necessity of ethics for<br />
global governance. According to the economist<br />
Amartya Sen, universal norms have an<br />
intrinsic value for human life and well-being,<br />
particularly as individuals become more interconnected<br />
in a globalised society. Younger<br />
generations begin to extend their horizon beyond<br />
national and group entities and to support<br />
global causes such as justice for all. Ethics<br />
also has an instrumental value in raising<br />
the productivity and resilience of the global<br />
economy. For example, poverty and exclusion<br />
exacerbate social tensions while equity<br />
and human rights favour innovation and sustainable<br />
development. And finally, ethics has<br />
a constructive importance. This refers to the<br />
observation that universal standards are not<br />
self-explanatory considering the diversity of<br />
cultures, religions and value systems in the<br />
world. In the process of ongoing conversations<br />
and negotiations on the principles and<br />
priorities of managing global affairs, societies<br />
continually experience shifting perceptions<br />
of the “self” and the “other” and learn to in-
tegrate a cosmopolitan dimension into their<br />
“radically incomplete identity”. This last<br />
point is highlighted for instance by Homi K.<br />
Bhabha, Professor at Harvard University and<br />
one of the most important figures in contemporary<br />
post-colonial studies.<br />
You both mention “burden-sharing” as one<br />
of the main ideas of fair global governance.<br />
International negotiations such as, most recently,<br />
Copenhagen have shown that different<br />
countries apparently have very different<br />
views on the “burden” they ought to carry.<br />
How can we reach a common <strong>und</strong>erstanding<br />
on global justice?<br />
Fues: In my view, global norm-creation<br />
should be considered as a double-track process:<br />
deductively from above – for example<br />
distilling common gro<strong>und</strong> from world religions<br />
– and inductively from below. A nice<br />
example for the second kind of approach is<br />
given by the current proposals for global climate<br />
policies, particularly regarding the allocation<br />
of the remaining environmental space<br />
– the so called “sink capacity” – for greenhouse<br />
gas emissions. Policy-makers from Indian<br />
prime minister Manmohan Singh to<br />
German chancellor Angela Merkel, as well<br />
as scholars, do agree that the available environmental<br />
space should be distributed on an<br />
equal per capita basis – meaning that each person<br />
on this planet would ultimately receive<br />
the same emission quota. This, multiplied by<br />
the population of a particular country, would<br />
lead to the national emission quota. If nations<br />
would agree to that formula in climate policies,<br />
the principle of equal per capita rights to<br />
the global commons could be applied to other<br />
kinds of transnational environmental goods.<br />
This would represent a powerful component<br />
of global ethics coming from concrete intergovernmental<br />
dialogue and negotiations.<br />
Mallavarapu: When talking about a common<br />
<strong>und</strong>erstanding of global values, we have<br />
to make sure first of all that the provincial<br />
– any hegemon’s values – is not masquerading<br />
as the universal yet again. Let me give you an<br />
example: The first generation of human rights<br />
focused more exclusively on civil and political<br />
rights, while the developing world was keen<br />
to lodge economic and social rights as equally<br />
f<strong>und</strong>amental in a charter of human rights.<br />
The second generation of human rights eventually<br />
incorporated these rights more square-<br />
ly. This suggests that there may be alternative<br />
maps in terms of a hierarchy of values, in<br />
other words, there may be different answers<br />
to the question: What matters most? A solution<br />
to this problem would be to register<br />
these different maps and bring them into conversation.<br />
But this will be difficult – though<br />
not impossible – to achieve. Even within domestic<br />
spheres the establishment of common<br />
norms and a national identity are contested,<br />
and this is particularly glaring in situations of<br />
ethno-national polarisation such as between<br />
the Sinhalas and Tamils as witnessed until recently<br />
in Sri Lanka.<br />
“Why always refer only to Kant?”<br />
You mention the establishment of a common<br />
identity at the national level: Can the process<br />
towards more global governance be compared<br />
to the state-building processes as they<br />
took place in Europe during the 19 th century,<br />
for example?<br />
Mallavarapu: The analogy is certainly<br />
limited. Governance beyond the bo<strong>und</strong>aries<br />
of the nation-state poses its own set of problems.<br />
While there is growing recognition that<br />
distinguishing too sharply between the domestic<br />
and the international is certainly inadequate,<br />
there still remain some dif feren ces.<br />
For the process of nation-building, clear devolution<br />
of structures is essential. Governance<br />
internally is about governments, about sovereignty<br />
and constitutionalism, all aspects<br />
which are relatively weaker outside the domestic<br />
sphere. So the f<strong>und</strong>amental issue at the<br />
international level would be to achieve governance<br />
in the absence of government. How<br />
do we establish a body of regulations without<br />
having a supranational authority? How do we<br />
arrive at universally acceptable standards?<br />
Fues: The difference at the global level is<br />
that no world government is in sight nor is<br />
it desirable. Rather, global governance has to<br />
rely on the motivation for voluntary association<br />
and collaboration. The incentives for this<br />
will increase as the benefits of shared sovereignty<br />
become more obvious in the face of<br />
global interdependencies. Rather than looking<br />
for national models, it might be useful to<br />
look at the formation of regional blocks like<br />
the European Union (EU) or the Association<br />
of Southeast Asian Nations (ASEAN). The<br />
APuZ 34–35/2010 9
10<br />
Lisbon Treaty of the EU has a strong ethical<br />
fo<strong>und</strong>ation, the Charter of F<strong>und</strong>amental<br />
Rights, which embraces basic economic and<br />
social rights, alongside the more traditional<br />
civil and political rights. I see it as a crucial<br />
milestone on the road towards Euro pean<br />
citizenship in providing a single normative<br />
framework for the continent. The ASEAN<br />
Charter, adopted in 2007, also includes common<br />
principles of human rights and social<br />
justice, but at a more general level compared<br />
to the European document. It seems that political<br />
leaders, in the process of regional integration,<br />
have begun to recognise the essential<br />
value of shared ethics for supranational constitutionalism.<br />
How can these experiences be transferred to<br />
the global level?<br />
Fues: In the first place, regional associations<br />
which enshrine common normative<br />
principles could well become a model for global<br />
governance. And to take this line of reasoning<br />
a step further: There might be ways of<br />
synthesising existing and evolving regional<br />
value systems into an overarching universal<br />
body of norms and rules. To move into this<br />
direction we would need a comparative analysis<br />
of the ethical substance of regional integration<br />
regimes. Additional insights on common<br />
value systems across regions could come<br />
from a focus on continental human rights<br />
regimes which exist in Africa, America and<br />
Europe. A similar methodological approach<br />
has been followed by the Parliament of the<br />
World’s Religions in 1993, when it claimed<br />
that a global ethic already implicitly exists<br />
through a common set of core values – nonviolence,<br />
respect for life, tolerance and solidarity<br />
– fo<strong>und</strong> in religious teachings.<br />
Mallavarapu: Certainly, there are some<br />
basic ideas everybody agrees on: the importance<br />
of a good quality of life, human wellbeing,<br />
the right to life. But if we are talking<br />
about global or regional norm setting, I think<br />
we have to bring in the concept of “geo-cultural<br />
epistemologies” as employed in the<br />
work of the Argentinian Walter Mignolo, ❙ 1<br />
the fact that each region has its own referen-<br />
1 ❙ Argentinian semiotician; Professor of Literature at<br />
Duke University; in his extensive work, he explores<br />
concepts such as global coloniality, the geopolitics of<br />
knowledge and transmodernity.<br />
APuZ 34–35/2010<br />
tial frameworks about concepts and categories,<br />
its own approach to recognise the world.<br />
Mignolo is even suspicious of the way our<br />
current regions of the world – Latin America,<br />
for instance – have been framed as part<br />
of the Area Studies tradition. The issue of<br />
power comes in here, too. Historical asymmetries<br />
of resource exploitation have become<br />
part of the political consciousness of<br />
the global South, and for this reason there is<br />
a certain degree of suspicion about the actual<br />
establishment of fair global standards. The<br />
most glaring backdrop of this was centuries<br />
of colonial rule. But asymmetries and power<br />
relations are not only present at the global<br />
level; they are also reproduced in the regions.<br />
The process of consensus building within the<br />
EU is often idealised. Neither the EU nor the<br />
ASEAN are monoliths, both comprise more<br />
and less powerful countries, some which are<br />
more influential than others. So the question<br />
would ultimately be how to arbitrate the different<br />
claims. Whose norms will we chose?<br />
How can we ensure that there is real inclusivity?<br />
We have to think about this when we<br />
talk about creating global governance structures<br />
based on supposedly regional or global<br />
value systems.<br />
How could the gaps you mention – geo-cultural,<br />
related to historical experience, etc. – be<br />
overcome? Are there existing models which<br />
have more legitimacy than others? Or do we<br />
have to look for new solutions?<br />
Fues: I would be very pragmatic and look<br />
at what already exists: Under the umbrella of<br />
the United Nations, the international community<br />
has, over the years, adopted an impressive<br />
body of binding legal agreements as<br />
well as soft law in the form of political commitments<br />
which constitute a comprehensive<br />
framework of global ethics. Early examples<br />
of this are the UN Charter (1945) and<br />
the Universal Declaration of Human Rights<br />
(1948). More detailed provisions are to be<br />
fo<strong>und</strong> in the array of human rights conventions<br />
and intergovernmental agreements on<br />
labour standards which have been ratified by<br />
most countries. High moral norms are embedded<br />
in the aspirational paradigm of sustainable<br />
development which was successively<br />
passed by the UN General Assembly at<br />
the world conferences of the 1990s, such as<br />
the 1992 Rio Earth summit, the Copenhagen<br />
social summit and the women’s confer-
ence in Beijing (both of 1995). Of particular<br />
relevance for the ethics of global governance<br />
is the Millennium Declaration of 2000 which<br />
sets high standards for universal peace, prosperity<br />
and sustainability.<br />
Mallavarapu: The UN is <strong>und</strong>oubtedly<br />
the international body which enjoys the widest<br />
legitimacy globally. However, in my opinion<br />
it is essential in the interest of legitimacy<br />
that we get back to regional or local sources<br />
to find global values. In India, Mahatma Gandhi<br />
and Rabindranath Tagore, a popular Bengali<br />
poet, novelist and musician, are excellent<br />
exemplars of locally anchored cosmopolitan<br />
beings. Why always refer only to [Imma nuel]<br />
Kant when we think of cosmopolitanism?<br />
Sure, he had some very important ideas to offer<br />
the world but we need to also take into<br />
consideration sophisticated thinking in other<br />
parts of the world. In my view, regional references<br />
are essential in order to find a global<br />
consensus on values and norms. The archive<br />
must be opened up to include thinking available<br />
in both past and present in Africa, Latin<br />
America and Asia. This has to be done with<br />
genuine interest, rather than merely as token<br />
gestures of goodwill. To begin with we must<br />
all be better listeners. The rest follows only<br />
subsequently.<br />
Fues: I would agree that many examples<br />
from history can also be valuable sources for<br />
the constitution of global norms. I am thinking<br />
for example of the governing principles of<br />
the Indian Emperor Ashoka (304–232 BCE),<br />
who established a political system based on<br />
ethical commitments in regard to equality of<br />
all human beings, respect of religions, nonviolence,<br />
prohibition of slavery and the death<br />
penalty, environmental protection and animal<br />
welfare. His kingdom is also seen as the<br />
first to provide humanitarian assistance to<br />
neighbouring countries, including medical<br />
personnel, facilities, medicine as well as engineers.<br />
Another interesting example is the<br />
Tang dynasty in China (618–907 CE), with its<br />
cosmopolitan achievements such as peaceful<br />
coexistence of ethnic communities, religious<br />
and cultural freedom, equality of women<br />
and, to a limited extent, rule of law. In my<br />
<strong>und</strong>erstanding, any global ethical framework<br />
derived from historical experiences, religious<br />
teachings and cultural values would<br />
have to be deliberated and negotiated in an<br />
inclusive, transparent fashion, preferably un-<br />
der the aegis of the United Nations. For this<br />
purpose, I could imagine both a decision of<br />
the UN General Assembly by consensus or a<br />
majority decision which allows for a limited<br />
number of dissenting votes.<br />
“Nobody forces a government<br />
to ratify a human rights agreement”<br />
And where do you see the main challenges to<br />
these universal projects?<br />
Fues: We have to acknowledge that the impact<br />
of normative frameworks such as that of<br />
the UN is weak since member states ignore<br />
them at their will with impunity. There are<br />
huge gaps in monitoring and no sanctioning<br />
mechanisms – except in international security<br />
and trade. These gaps structurally privilege<br />
the arbitrary exercise of sovereign rights<br />
– the pursuit of narrow national self-interest –<br />
over the ethically based concept of “enlightened<br />
sovereignty” (Stephen Harper) which<br />
puts equal emphasis on global responsibilities<br />
and multilateral cooperation. Another<br />
challenge to UN norm-creation comes <strong>und</strong>er<br />
the guise of anti-colonial emancipation. It is<br />
claimed by some quarters that ethic al standards<br />
in general and the particular hierarchy<br />
of moral priorities have been created to serve<br />
the interests of western states. This position<br />
disregards the broad participation of political<br />
leaders and scholars from the developing<br />
world. Still, in a historical perspective, the<br />
contested documents originate from a period<br />
of western predominance. It may therefore be<br />
advisable to initiate a new process for global<br />
ethics which reflects multipolarity and explicitly<br />
draws on value systems and historical<br />
experiences from the South.<br />
Mallavarapu: This is not only a question<br />
of historical perspective. One of the big challenges<br />
is the contradiction between the principle<br />
of equal legal standing between all UN<br />
member states, and the stark differentials<br />
in the world system in terms of actual state<br />
standing. The UN is probably the most attractive<br />
forum to jointly discuss global values.<br />
But even within the UN system, the Security<br />
Council is an exclusive club. The UN<br />
General Assembly, which is far more representative<br />
than the Security Council, is not<br />
half as influential. The structures of the UN<br />
are in high need of reform. Outside the UN<br />
APuZ 34–35/2010 11
12<br />
system too, the lives of some appear to matter<br />
more than the lives of others. The initial international<br />
inaction surro<strong>und</strong>ing the Rwandan<br />
genocide is a case in point.<br />
Does this mean that the real problem lies<br />
in the structure of the current global governance<br />
framework, rather than in the values on<br />
which it is based?<br />
Mallavarapu: It is certainly a question of<br />
values as much as of structures. As far as the<br />
values are concerned, the devil is in the detail.<br />
For instance one issue that has irked the<br />
developing world considerably are subsidies<br />
to farmers in the developed world when the<br />
terms of trade are extremely unequal to the<br />
disadvantage of the peasantry in the developing<br />
world. These examples can be multiplied.<br />
What we really need is to engage the question<br />
of democratising the international system.<br />
Fues: It is true that western countries have<br />
in the past, and sometimes still today, utilised<br />
moral concerns such as human rights and<br />
good governance for the pursuit of a hidden<br />
agenda towards developing countries. One<br />
example for this is the ongoing controversy<br />
on the “responsibility to protect” which<br />
some see as important cosmopolitan innovation<br />
while other accuse it as a pretext for neoimperialist<br />
interference. However, a total rejection<br />
of UN ethics would not do justice to<br />
the broad participation of political leaders,<br />
scholars and activists from the South in the<br />
design and implementation of such normative<br />
frameworks. And it also disregards the<br />
voluntary consent and accession of nationstates<br />
to proposed declarations and conventions.<br />
Nobody forces a government to ratify<br />
a human rights agreement, though there may<br />
be pressures from within. But once they do<br />
that they need to be made accountable to the<br />
substance and procedure contained in the<br />
document.<br />
Mallavarapu: Political leaders from the<br />
South have indeed played an important role<br />
in designing global normative frameworks.<br />
If you look at India, a great deal of faith was<br />
placed in multilateralism and the UN system<br />
particularly in the Nehru years (1947–1964). ❙ 2<br />
2 ❙ Jawaharlal Nehru (1889–1964) was a leading figure<br />
in the Indian independence movement and first prime<br />
minister of India.<br />
APuZ 34–35/2010<br />
The issue of legal sovereignty was then a key<br />
issue for India and other recently decolonised<br />
countries, who were keen to be full members<br />
of the international community and to receive<br />
legal recognition. Even today, the UN<br />
<strong>und</strong>oubtedly is widely recognised, also in India.<br />
At the same time, much of the promise of<br />
the movements of the South has not been realised.<br />
A good example is the Non-Aligned<br />
Movement (NAM), which was never really<br />
able to challenge the dominance of the great<br />
powers. Even positive and constructive ideas<br />
like the New International Economic Order<br />
(NIEO) ❙ 3 were never allowed to breathe<br />
freely in the international system. They were<br />
nipped in the bud. I do not deny that there<br />
is an agreement on some core values, what<br />
I want to say is that structures and political<br />
processes matter. Look at what is being<br />
done <strong>und</strong>er the flag of democracy promotion<br />
or even international aid. There is simply a<br />
gap between aspirational values and the practice<br />
of politics. I do not think modern international<br />
law has had an untarnished reputation<br />
in terms of its lineage. In this context,<br />
I find the work of Antony Anghie ❙ 4 very instructive.<br />
He argues that the colonial encounter<br />
was critical to the constitution of modern<br />
international law and that the language of<br />
contemporary sovereignty is an outcome of a<br />
not very distant Eurocentric past. We have to<br />
be aware of this lineage when we talk about<br />
“global” values.<br />
Fues: In my eyes, the best way to move<br />
forward would be a double tracked strat egy.<br />
On the one hand, existing commitments<br />
must be monitored and non-compliance<br />
must be exposed. The mechanisms for this,<br />
however, must be independent and impartial<br />
in order to eliminate any hint of powerbased<br />
influence on process and outcome. On<br />
the other hand there must be a new political<br />
initiative which is based on a genuine synthesis<br />
of value systems and cultures from all<br />
parts of the world. Even more importantly,<br />
the voluntary character of any commitment<br />
should be protected <strong>und</strong>er all circumstances.<br />
Therefore, western states should refrain<br />
3 ❙ Set of proposals put forward during the 1970s by<br />
developing countries through the United Nations<br />
Conference on Trade and Development (UNCTAD)<br />
to promote their economic interests.<br />
4 ❙ See Antony Anghie, Imperialism, Sovereignty and<br />
the Making of International Law, Cambridge 2005.
from any sort of ethics conditionality attached<br />
to development assistance or other<br />
benefits.<br />
“The new heavyweights from the South<br />
have to lay their cards on the table”<br />
You mention the problem of non-compliance.<br />
In the absence of a global government, how<br />
can the global community ensure that global<br />
rules and principles are respected? And<br />
who would most probably be the major “rule<br />
breakers”?<br />
Fues: In the same way as there exists organised<br />
crime at the national level, we can<br />
expect that certain “rogue actors” of global<br />
governance will not abide by ethical norms,<br />
so we will have to find a way to constrain<br />
them. Such malevolent actors could be authoritarian<br />
governments or private entities,<br />
for example from the business sector. Effective,<br />
independent mechanisms of monitoring<br />
and adjudication have to be established, with<br />
coercive power to a certain extent. In a key<br />
area of global governance – trade – we already<br />
have well functioning sanctioning mechanisms<br />
<strong>und</strong>er the WTO. Conflicts are dealt<br />
with by impartial dispute settlement bodies.<br />
Numerous countries, weak and strong, successfully<br />
make use of this arrangement. Of<br />
course, this presupposes that these countries<br />
forgo part of their sovereignty to a supranational<br />
authority. The key challenge here is<br />
how to transfer this enlightened <strong>und</strong>erstanding<br />
of national sovereignty to other areas of<br />
global governance.<br />
Mallavarapu: Indeed, the key obstacle<br />
is that of national sovereignty. Unfortunately,<br />
I think that the global community has not<br />
yet fully internalised a feeling of “ we-ness”.<br />
Global institutions might play a crucial role<br />
in creating some sort of global identity, but<br />
in the meantime, traditional notions of sovereignty<br />
prevail. This is regrettable in an increasingly<br />
global world, and it certainly is<br />
part of the problem, but that is where we<br />
are. The global community has elements of a<br />
deeper constitutionalism present, yet the tendency<br />
for countries is also to lapse back to<br />
various national logics.<br />
Fues: I would not be that pessimistic. As<br />
I said, some mechanisms are already there:<br />
The WTO has an impartial process of dispute<br />
settlement, all WTO members are subject<br />
to it. Or take the human rights conventions,<br />
where shadow reports from non-state<br />
actors exert significant pressure on deviant<br />
countries, although there is no formal<br />
sanctioning mechanism in the human rights<br />
area.<br />
Mallavarapu: Sanctioning mechanisms<br />
may work better in some domains than in<br />
others. However, the overall legitimacy of<br />
the institutions involved as well as the instrumentalities<br />
chosen remain crucial to scrutinise<br />
from the perspective of the disadvantaged.<br />
As long as they are perceived as unjust<br />
by virtue of being uninclusive they are not<br />
likely to be very enduring bases on which<br />
to erect a new architecture of global governance.<br />
Apprehensions also relate to double<br />
standards. For instance if we look at the International<br />
Criminal Court. What is the likelihood<br />
that any powerful head of State from<br />
the advanced industrialised world would be<br />
hauled up and questioned for his or her political<br />
excesses? In my view, the notion of perception<br />
is very important: We can have great<br />
rules and institutions, but as long as they are<br />
not universally viewed as fair, we are back to<br />
square one.<br />
Western scholars and policy-makers have<br />
been increasingly aware of the emergence of<br />
big developing countries – China, India, Brazil,<br />
South Africa and others – on the global<br />
stage. Do these countries play a particular role<br />
in the establishment of a normative global<br />
framework? And do they have the potential<br />
to achieve more global justice?<br />
Mallavarapu: This does offer an interesting<br />
conjuncture in history. What will be<br />
made of this opportunity is as yet an unsettled<br />
question. Realists in international relations<br />
are likely to remind us that the grammar<br />
of power is similar in different parts of<br />
the world. Once countries belong to the first<br />
league, they will represent their own new interests.<br />
I am more inclined to explore whether<br />
the Brazilian or Indian or Chinese styles of<br />
foreign policy will bring to bear a degree of<br />
exceptionalism stemming from their unique<br />
locations and backgro<strong>und</strong>s in world history.<br />
To take the case of India, this country was far<br />
more vocal on several issues (decolonisation,<br />
disarmament, development issues) <strong>und</strong>er the<br />
APuZ 34–35/2010 13
14<br />
stewardship of Jawaharlal Nehru than more<br />
recent Indian governments. This does not<br />
necessarily mean that current governments in<br />
India care less about these issues. However, in<br />
terms of the stylistics of foreign policy, India<br />
today is much more circumspect and some<br />
argue far more pragmatic. I do not think that<br />
Nehru was any less pragmatic merely because<br />
he articulated himself more regularly and visibly<br />
on the world stage.<br />
Fues: In my opinion, their very economic<br />
and political importance represents a big<br />
challenge for the rising powers themselves.<br />
Today, the G20 has practically displaced the<br />
G8 in terms of global agenda-setting. But it<br />
still has to find its own identity and purpose.<br />
It was established as an ad-hoc guardian of<br />
global public goods particularly with regard<br />
to the stability of the financial system, global<br />
growth and open markets. Now that rising<br />
powers have joined the club, they have<br />
voluntarily accepted the privileges and obligations<br />
of global leadership. Nobody forced<br />
them to join. Now they have the responsibility<br />
to promote global institutions based on<br />
normative fo<strong>und</strong>ations. Clearly, this will not<br />
be the western-biased values of the past, but<br />
the new heavyweights from the South have to<br />
lay their cards on the table and let the world<br />
public know what they stand for in terms of<br />
global order and equity.<br />
Mallavarapu: Still, I view emerging<br />
powers as extremely cautious political actors<br />
when it comes to making international<br />
commitments. South-South cooperation<br />
today has a different flavour to it, different<br />
from the days of the Non-Aligned Movement.<br />
States are accountable both domestically<br />
and externally. Countries like India are<br />
aware that they are faced with internal development<br />
challenges while also recognising<br />
that their current economic growth rates if<br />
sustained over the next decade or so f<strong>und</strong>amentally<br />
alters their overall standing in the<br />
world economy. It is a difficult balancing act<br />
in terms of the extent of importance to assign<br />
to one over the other but quite clearly there<br />
is recognition that there is a shift in the global<br />
mood and it is generally speaking a positive<br />
one.<br />
APuZ 34–35/2010<br />
Michael Zürn<br />
<strong>Internationale</strong> <strong>Institutionen</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>nichtstaatliche</strong><br />
<strong>Akteure</strong> in der<br />
Global Governance<br />
Wer derzeit nach den dringendsten politischen<br />
Problemen unserer Zeit fragt,<br />
wird eine Liste erhalten, auf welcher Klima-<br />
wandel, Finanzkrise,<br />
Verbreitung von Massenvernichtungswaffen<br />
oder Bekämpfung<br />
des Terrorismus weit<br />
oben stehen. Ihre Lösung<br />
wird allerdings<br />
nicht von Nationalstaaten,<br />
sondern von<br />
internationalen Organisationen<br />
erwartet:<br />
Michael Zürn<br />
Dr. rer. soc., geb. 1959; Direktor<br />
der Abteilung Transnationale<br />
Konflikte <strong>und</strong> <strong>Internationale</strong><br />
<strong>Institutionen</strong> am Wissenschaftszentrum<br />
Berlin für<br />
Sozialforschung (WZB), Reichpietsch<br />
ufer 50, 10785 Berlin.<br />
zuern@wzb.eu<br />
54,9 Prozent der deutschen Bevölkerung äußerten<br />
im Jahr 2005 die Ansicht, dass Probleme<br />
infolge der Globalisierung am Besten<br />
auf der internationalen Ebene bewältigt<br />
werden könnten. ❙ 1 Die Mehrheit der Bevölkerung<br />
schreibt internationalen Organisationen<br />
wie der Weltbank, dem internationalen<br />
Währungsfonds (IWF), der Welthandelsorganisation<br />
(WTO), der G8 bzw. G20 oder<br />
den Vereinten Nationen (VN) sogar realpolitisch<br />
bereits einen größeren Einfluss in der<br />
Weltpolitik als der B<strong>und</strong>esregierung zu. Aus<br />
der Bedeutung, die dem Regieren jenseits<br />
des Nationalstaates inzwischen zugemessen<br />
wird, leiten sich eine Reihe von Fragen ab, die<br />
auf gr<strong>und</strong>legende Merkmale der politischen<br />
Ordnung auf internationaler Ebene abzielen:<br />
Haben sich die internationalen Organisationen<br />
<strong>und</strong> <strong>Institutionen</strong> im Zuge der Globalisierung<br />
gr<strong>und</strong>legend verändert <strong>und</strong> einen<br />
supra natio nalen Charakter erlangt? Und welche<br />
Rolle spielen <strong>nichtstaatliche</strong> <strong>Akteure</strong> in<br />
diesen Prozessen?<br />
Bevor die Entwicklung der internationalen<br />
Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg in<br />
Ich danke Anne Siemons für die Unterstützung bei<br />
der Erstellung dieses Beitrags.
groben Zügen nachgezeichnet werden kann,<br />
bedarf es begrifflicher Vorklärungen: <strong>Internationale</strong><br />
<strong>Institutionen</strong> bezeichnen Normen,<br />
Regeln, Programme <strong>und</strong> das dazugehörige<br />
Netzwerk von <strong>Akteure</strong>n, die das Handlungsrepertoire<br />
von Staaten oder <strong>nichtstaatliche</strong>n<br />
<strong>Akteure</strong>n beeinflussen, da sie etwas verbieten,<br />
ermöglichen oder verlangen. Der Begriff<br />
Institution umfasst in dieser Verwendung<br />
sowohl formale Organisationen mit<br />
Akteursqualität als auch normgeleitete, stabilisierte<br />
Handlungsmuster. Demgegenüber<br />
verweist der Begriff der Organisation exklusiv<br />
auf die Akteursqualität einer Einrichtung.<br />
Sowohl internationale <strong>Institutionen</strong> als<br />
auch internationale Organisationen lassen<br />
sich in zwei Gr<strong>und</strong>typen unterteilen: Zwischenstaatliche<br />
<strong>Institutionen</strong> (etwa das Welthandelsregime)<br />
<strong>und</strong> Organisationen (etwa die<br />
Welthandelsorganisation) sind von Staaten<br />
begründet; transnationale <strong>Institutionen</strong> (wie<br />
etwa die lex mercatoria) <strong>und</strong> Organisationen<br />
(z. B. Amnesty International) werden hingegen<br />
von gesellschaftlichen <strong>Akteure</strong>n getragen<br />
<strong>und</strong> als transnationale Regime oder transnationale<br />
Nichtregierungsorganisationen (NRO)<br />
bezeichnet. Von all diesen internationalen <strong>Institutionen</strong><br />
ist der Prozess der gesellschaftlichen<br />
Denationalisierung (oder Globalisierung)<br />
zu unterscheiden, der die schubartige<br />
Zunahme grenzüberschreitender Aktivitäten<br />
in so unterschiedlichen Bereichen wie Wirtschaft,<br />
Umwelt, Kultur <strong>und</strong> Wissenschaft<br />
b e s c h re i bt .<br />
Die internationalen Beziehungen nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg waren durch die Bretton-<br />
Woods-<strong>Institutionen</strong> <strong>und</strong> das Verbot zwischenstaatlicher<br />
Gewaltanwendung durch<br />
die Charta der VN als institutionelle Rahmensetzungen<br />
geprägt. Die unter US-amerikanischer<br />
Führung etablierten Bretton-<br />
Woods-<strong>Institutionen</strong> (das internationale<br />
Handelsregime GATT <strong>und</strong> die Regime zur<br />
Regelung von Währungs- <strong>und</strong> Finanzangelegenheiten)<br />
unterstützten fast dreißig Jahre<br />
lang das Wachstum in den westlichen Industriestaaten<br />
<strong>und</strong> förderten die Integration<br />
der Weltwirtschaft. Diesen internationalen<br />
<strong>Institutionen</strong> liegt das Prinzip des embedded<br />
liberalism zugr<strong>und</strong>e: Es bezeichnet eine freihändlerische<br />
<strong>und</strong> grenzöffnende Gr<strong>und</strong>ori-<br />
1 ❙ Vgl. Steffen Mau, Transnationale Vergesellschaftung.<br />
Die Entgrenzung sozialer Lebenswelten,<br />
Frankfurt/M. 2007, S. 190.<br />
entierung, die allerdings fest in nationale politische<br />
Systeme eingebettet ist, welche durch<br />
den Weltmarkt verursachte Schocks <strong>und</strong> Ungleichheiten<br />
abfedern können. ❙ 2 Infolge eines<br />
durch vertiefende Liberalisierung <strong>und</strong><br />
beschleunigte technologische Entwicklung<br />
verursachten Denationalisierungsschubs waren<br />
nationale Politiken jedoch immer weniger<br />
in der Lage, durch nationale Marktinterventionen<br />
<strong>und</strong> soziale Schutzprogramme<br />
gewünschte soziale Ergebnisse zu erreichen.<br />
Das augenfällige Paradox des Nachkriegsliberalismus<br />
liegt somit darin, dass er seine eigenen<br />
institutionellen Abfederungsmechanismen<br />
angegriffen hat.<br />
Im Sicherheitsbereich schrieb die VN-<br />
Charta im Jahr 1945 erstmals ein vollständiges<br />
Verbot von zwischenstaatlicher Gewaltanwendung<br />
fest. Ausnahmen von diesem<br />
Verbot sollten lediglich die individuelle oder<br />
kollektive Selbstverteidigung im Falle des<br />
Angriffs sowie der Einsatz von Gewalt zum<br />
Zwecke der Sicherung des internationalen<br />
Friedens auf Beschluss des VN-Sicherheitsrates<br />
sein. Mit dem Beschluss von 1991 <strong>und</strong><br />
der erfolgreichen Zurückdrängung des Irak<br />
aus Kuwait während des Zweiten Golfkriegs<br />
1990/91 schien das Gewalt- <strong>und</strong> Interventionsverbot<br />
in der internationalen Politik endgültig<br />
etabliert <strong>und</strong> institutionell abgesichert<br />
zu sein. Im Zuge eines seit gut zwei Jahrzehnten<br />
fortschreitenden Prozesses der Denationalisierung<br />
der Sicherheitsbedrohungen<br />
nimmt jedoch die Bedeutung der klassischen<br />
zwischenstaatlichen Kriege, aber auch der innerstaatlichen<br />
Bürgerkriege relativ zu jenen<br />
ab, die häufig als „neue Kriege“ bezeichnet<br />
werden. Damit rücken Sicherheitsbedrohungen,<br />
bei denen die Grenzen zwischen Bürgerkrieg,<br />
Terrorismus, Staatsterror <strong>und</strong> Kriminalität<br />
verschwimmen <strong>und</strong> die einen dezidiert<br />
transnationalen Charakter haben, in den<br />
Vordergr<strong>und</strong>. ❙ 3 Parallel hat sich eine normative<br />
Dynamik entfaltet, in Folge derer Menschenrechte<br />
heute als weitgehend universell<br />
gelten <strong>und</strong> erhöhter Handlungsdruck ange-<br />
2 ❙ Vgl. John G. Ruggie, International Regimes, Transactions,<br />
and Change: Embedded Liberalism in the<br />
Postwar Economic Order, in: Stephen D. Krasner<br />
(ed.), International Regimes, New York 1983.<br />
3 ❙ Vgl. Mary Kaldor, New and Old Wars. Organized<br />
Violence in a Global Era, Cambridge 2007 (erstmals<br />
1998); Bernhard Zangl/Michael Zürn, Frieden <strong>und</strong><br />
Krieg. Sicherheit in der nationalen <strong>und</strong> post-nationalen<br />
Konstellation, Frankfurt/M. 2003.<br />
APuZ 34–35/2010 15
16<br />
sichts massiver Menschenrechtsverletzungen<br />
für die etablierten westlichen politischen Systeme<br />
besteht. ❙ 4 Die Logik des am Status quo<br />
orientierten zwischenstaatlichen Gewaltverbots<br />
behindert jedoch die Intervention in<br />
solche neuen Kriege <strong>und</strong> die Linderung der<br />
häufig damit verb<strong>und</strong>enen drastischen Menschenrechtsverletzungen.<br />
Die Beendigung<br />
neuer Kriege von außen erfordert nicht selten<br />
die Verletzung des Interventionsverbotes.<br />
Obgleich diese nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
geschaffenen internationalen <strong>Institutionen</strong><br />
also auf den Schutz des Status quo <strong>und</strong> der<br />
nationalstaatlichen Souveränität zielten, haben<br />
die Denationalisierung der Sicherheitsbedrohungen<br />
sowie die beschriebene normative<br />
Eigendynamik im Ergebnis zur Unterminierung<br />
der internationalen Nachkriegsinstitutionen<br />
geführt.<br />
Supranationalisierung<br />
<strong>und</strong> Transnationalisierung<br />
Die internationalen <strong>Institutionen</strong> der Nachkriegszeit<br />
trugen mithin zu ihrer eigenen<br />
Transformation bei. Im Zuge dieses Wandels<br />
hielt der Begriff global governance Einzug in<br />
die Analyse internationaler Angelegenheiten.<br />
Governance allgemein bezeichnet die Gesamtheit<br />
der kollektiven Regelungen, die auf<br />
eine bestimmte Problemlage oder einen bestimmten<br />
gesellschaftlichen Sachverhalt zielen<br />
<strong>und</strong> mit Verweis auf das Kollektivinteresse<br />
der betroffenen Gruppe gerechtfertigt<br />
werden. Der Begriff bezieht sich also nicht auf<br />
einzelne Regelungen wie die Festlegung eines<br />
Zollsatzes, sondern auf die Summe der Regelungen,<br />
die eine Problemlage betreffen. Er<br />
umfasst sowohl den Regelungsinhalt als auch<br />
die Normen, die den Prozess des Zustandekommens<br />
<strong>und</strong> der Durchsetzung des Regelungsinhalts<br />
festlegen. Zu regelnde Problemlagen<br />
<strong>und</strong> Sachverhalte können beispielsweise<br />
den Klimawandel, die Handelsbeziehungen,<br />
die Finanzbeziehungen, die Menschenrechte<br />
<strong>und</strong> anderes mehr betreffen. Es kann aber<br />
nur dann von Governance gesprochen werden,<br />
wenn die beteiligten <strong>Akteure</strong> ihr Handeln<br />
damit rechtfertigen, das gemeinsame In-<br />
4 ❙ Vgl. Thomas Risse/Stephen C. Ropp/Kathryn Sikkink<br />
(eds.), The Power of Human Rights. International<br />
Norms and Domestic Change, Cambridge 1999; Frank<br />
Schimmelfennig, The EU, NATO and the Integration<br />
of Europe. Rules and Rhetoric, Cambridge 2003.<br />
APuZ 34–35/2010<br />
teresse eines Kollektivs oder stärker noch, das<br />
Gemeinwohl einer Gesellschaft absichtsvoll<br />
zu befördern.<br />
Das analytische Konzept der Governance<br />
verweist zum einen darauf, dass die autoritative<br />
Regelung gesellschaftlicher Problemlagen<br />
nicht zwingend an Staaten geb<strong>und</strong>en ist. Neben<br />
der governance by government kann es<br />
auch governance without government (Selbstauf<br />
erle gung von Normen <strong>und</strong> Regeln durch<br />
gesellschaftliche <strong>Akteure</strong>) <strong>und</strong> governance<br />
with governments (Verpflichtung von Staaten<br />
im Umgang miteinander auf bestimmte<br />
Normen <strong>und</strong> Regeln, ohne dass diese von einem<br />
übergeordneten Akteur beschlossen <strong>und</strong><br />
durchgesetzt werden können) geben. Die Verwendung<br />
des Konzepts der Governance im<br />
Bereich der internationalen Beziehungen verweist<br />
darauf, dass internationale Regelungen<br />
nicht mehr nur einfache Koordinationsleistungen<br />
erbringen. Häufig zielen sie auf eine<br />
aktive <strong>und</strong> mit normativen Zielsetzungen verb<strong>und</strong>ene<br />
Behandlung gemeinsamer Angelegenheiten<br />
der internationalen Staatengemeinschaft<br />
bzw. der Weltgesellschaft.<br />
Entscheidend für unseren Zusammenhang<br />
ist nun, dass sich mit diesen neuen Governance-Inhalten<br />
eine Supranationalisierung<br />
<strong>und</strong> Transnationalisierung ihrer institutionellen<br />
Form vollzog. Supranationalisierung bezeichnet<br />
einen Prozess, in dem internationale<br />
<strong>Institutionen</strong> Verfahren ausbilden, die sich<br />
von dem zwischenstaatlichen Kon sens prin zip<br />
lösen. Dadurch können für nationale Regierungen<br />
Verpflichtungen entstehen, Maßnahmen<br />
auch dann zu ergreifen, wenn sie selbst<br />
nicht zustimmen. Infolge der Supranationalisierung<br />
verschiebt sich ein Teil der politischen<br />
Autorität von einzelnen Staaten zu internationalen<br />
<strong>Institutionen</strong>. Insofern bezeichnet<br />
Supranationalisierung einen Prozess, der politische<br />
Autorität – eine Fu sion von Macht<br />
mit einem legitimen sozialen Zweck – jenseits<br />
des Nationalstaates erwachsen lässt. ❙ 5 Eine so<br />
verstandene Autorität bedarf der Legi ti mation.<br />
Transnationalisierung bezeichnet einen<br />
Prozess, bei dem <strong>nichtstaatliche</strong> <strong>Akteure</strong> die<br />
Träger internationaler politischer Regelungen<br />
5<br />
❙ Vgl. Volker Rittberger/Martin Nettesheim/Carmen<br />
Huckel/Thorsten Göbel, Introduction: Changing<br />
Patterns of Authority, in: Volker Rittberger/<br />
Martin Nettesheim (eds.), Authority in the Global<br />
Political Economy, Basingstoke 2008, S. 3.
<strong>und</strong> Aktivitäten sind, ohne dass Staaten die<br />
Aufgabe an diese formal delegiert haben. Solche<br />
Regelungen beruhen auf dem Prinzip der<br />
Selbstorganisation <strong>und</strong> erzeugen private authority.<br />
❙ 6 Darunter fallen dann beispielsweise<br />
sogenannte codes of conduct (Verhaltenskodizes),<br />
die zwischen Unternehmen vereinbart<br />
werden <strong>und</strong> möglicherweise Verpflichtungen<br />
beinhalten, denen die nationale Regierung<br />
des Landes, in dem sich der Stammsitz eines<br />
Unternehmens befindet, nicht zugestimmt<br />
hätte. Gleichermaßen bringt die Übernahme<br />
von Funktionen durch transnationale NRO<br />
im Rahmen internationaler <strong>Institutionen</strong> eine<br />
solche Transnationalisierung zum Ausdruck.<br />
Auch die Transnationalisierung kann im Ergebnis<br />
dazu führen, dass das Konsensprinzip<br />
<strong>und</strong> Nichtinterventionsgebot internationaler<br />
Politik de facto umgangen wird. Der enorme<br />
Anstieg der Anzahl aller bei der VN registrier<br />
ten internationalen Verträge von 8776 im<br />
Jahr 1960 auf aktuell 63 419 kann als erstes Indiz<br />
für die beschriebenen Veränderungen in<br />
der Governance internationaler Beziehungen<br />
angeführt werden. ❙ 7 Auch die Problemfelder,<br />
die von internationalen <strong>Institutionen</strong> bearbeitet<br />
werden, haben sich enorm ausgeweitet.<br />
Neben der wachsenden Quantität <strong>und</strong> Ausweitung<br />
internationaler Vereinbarungen zeigt<br />
sich die Dynamik von Supranationalisierung<br />
<strong>und</strong> Transnationalisierung der Governance<br />
qualitativ, wenn institutionelle Komponenten<br />
an Bedeutung gewinnen, die das zwischenstaatliche<br />
Konsensprinzip unterlaufen. Dies<br />
lässt sich an allen Stationen des policy-cycles<br />
in internationalen <strong>Institutionen</strong>, welcher die<br />
Entwicklung einer Regelung in verschiedene<br />
Phasen aufteilt, aufzeigen: So können für<br />
die internationale Ebene die folgenden Phasen<br />
unterschieden werden: Agendasetzung –<br />
Entscheidung – Implementation/Regelinterpretation<br />
– Überwachung – Durchsetzung<br />
– Evaluation/neue Agenda setzung.<br />
Mit Blick auf die Verhandlungs- bzw.<br />
Entscheidungsphase lässt sich zunächst eine<br />
relative Zunahme von Mehrheitsentscheidungen,<br />
die heute in grob zwei Drittel al-<br />
6 ❙ Vgl. A. Claire Cutler/Virginia Haufler/Tony Porter<br />
(eds.), Private Authority and International Affairs,<br />
New York 1999; Thomas J. Biersteker/John A.<br />
Hall (eds.), The Emergence of Private Authority in<br />
Global Governance, Cambridge 2002.<br />
7 ❙ Vgl. United Nations, Treaty Collection, online:<br />
http://treaties.un.org (25. 3. 2010).<br />
ler internationalen Organisationen möglich<br />
sind, beobachten. ❙ 8 Mehrheitsentscheidungen<br />
erhöhen die Handlungsfähigkeit internationaler<br />
<strong>Institutionen</strong>, indem sie das<br />
Veto einzelner Staaten aushebeln, Blockaden<br />
überwinden <strong>und</strong> auf Vetospieler einen<br />
Druck zur Kompromissbereitschaft ausüben.<br />
Der Blick auf strittige Fälle der Regelinterpretation<br />
zeigt eine Bedeutungszunahme<br />
unabhängiger Schiedsgerichtsverfahren<br />
<strong>und</strong> internationaler Gerichtshöfe. Gerichtsförmige<br />
Verfahren dienen dazu, Lösungen<br />
für Kollisionen zwischen verschiedenen Regelungen<br />
zu finden <strong>und</strong> die Regelinterpretation<br />
von komplexeren Regelungsgegenständen<br />
zu erleichtern; sie entziehen diese jedoch<br />
weitgehend dem Zugriff der Staaten. Von<br />
derartigen quasi-gerichtlichen Einrichtungen<br />
gab es im Jahre 1960 nur 27; 2004 betrug<br />
ihre Anzahl bereits 97. ❙ 9 Die Überwachung<br />
(monitoring) <strong>und</strong> Verifikation internationaler<br />
Regelungen insbesondere von Aktivitäten<br />
innerhalb von Staatsgebieten erfolgt gleichfalls<br />
zunehmend von Vertragsorganisationen,<br />
internationalen Sekretariaten aber auch<br />
transnationalen NRO, die nicht direkt der<br />
staatlichen Kontrolle unterliegen. So ist beispielsweise<br />
die Überwachung von international<br />
genormten Menschenrechten informell<br />
längst Menschenrechtsorganisationen wie<br />
Human Rights Watch <strong>und</strong> Amnesty International<br />
übertragen worden.<br />
Hinsichtlich der Regeldurchsetzung kann<br />
eine gestiegene Bereitschaft beobachtet werden,<br />
gegen Regelverletzer materielle Sanktionen<br />
zu verhängen. Der Bereich des ius cogens<br />
(zwingendes, von der Zustimmung der Staaten<br />
unabhängiges Völkerrecht) reicht inzwischen<br />
über das Aggressionsverbot hinaus <strong>und</strong><br />
umfasst auch das Verbot von genozidartigen<br />
Handlungen <strong>und</strong> der Apartheid. Darüber hinaus<br />
hat die internationale Staatengemeinschaft<br />
insbesondere seit 1989 Menschenrechtsverletzungen<br />
zunehmend sanktioniert<br />
8 ❙ Vgl. Daniel Blake/Autumn Payton, Voting Rules<br />
in International Organizations: Reflections of Power<br />
or Facilitators of Cooperation?, Papier präsentiert<br />
auf „ISA’s 49th Annual Convention“ am 26. 3. 2008 in<br />
San Francisco.<br />
9 ❙ Vgl. Project on International Courts and Tribunals,<br />
online: www.pict-pcti.org/matrix/matrixintro.html<br />
(20. 5. 2010); Karen J. Alter, The European Court’s<br />
Political Power. Selected Essays, Oxford 2009; Beth<br />
A. Simmons, Mobilizing for Human Rights: International<br />
Law in Domestic Politics, Cambridge 2009.<br />
APuZ 34–35/2010 17
18<br />
<strong>und</strong> in einigen Fällen wie etwa im Kosovo<br />
oder Osttimor haben die Vereinten Nationen<br />
nach 1989 sogar internationale Übergangsverwaltungen<br />
eingesetzt. ❙ 10 Normativ werden<br />
solche externen Eingriffe durch das – teilweise<br />
noch umstrittene – Prinzip der responsibility<br />
to protect abgestützt, nach dem die Staatengemeinschaft<br />
in innere Angelegenheiten<br />
eingreifen kann, wenn ein Staat seiner Verantwortung<br />
nicht nachkommt, seine Bevölkerung<br />
vor humanitären Notlagen zu schützen.<br />
❙ 11 Auch im ökonomischen Bereich setzt<br />
die Weltbank seit gut zwei Jahrzehnten verstärkt<br />
auf konditionale Kredite – solche, die<br />
mit der Erfüllung von Bedingungen durch<br />
den Empfänger verb<strong>und</strong>en sind.<br />
Schließlich sind auch bei der Politikevaluation<br />
<strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Agendasetzung<br />
zunehmend internationale Sekretariate<br />
sowie transnationale NRO beteiligt. Demnach<br />
gewinnen zum einen die mit den Sekretariaten<br />
der internationalen Organisationen<br />
verb<strong>und</strong>enen knowledge bodies wie etwa das<br />
Intergovernmental Panel on Climate Change<br />
an Bedeutung. ❙ 12 Gleichermaßen ist die Rolle<br />
von Transparency International bei der Entwicklung<br />
der Anti-Korruptions-Konvention<br />
(Anti-Bribery Convention) ein Beispiel für<br />
die Bedeutung von transnationalen NRO, internationale<br />
Problemlagen zu identifizieren<br />
<strong>und</strong> entsprechende internationale Regelungen<br />
einzufordern. ❙ 13<br />
Im Ergebnis haben sich internationale<br />
<strong>Institutionen</strong> entwickelt, die Autorität<br />
<strong>und</strong> Herrschaft ausüben <strong>und</strong> tief in nationale<br />
Gesellschaften hineinwirken. Es handelt<br />
sich dabei nicht mehr um governance by<br />
government, sondern um governance with<br />
governments. Hinzu kommt, dass sich in den<br />
10 ❙ Vgl. Wolfgang Seibel, Moderne Protektorate als<br />
Ersatzstaat: UN-Friedensoperationen <strong>und</strong> Dilemmata<br />
internationaler Übergangsverwaltungen, in:<br />
Gunnar F. Schuppert/Michael Zürn (Hrsg.), Governance<br />
in einer sich wandelnden Welt, Wiesbaden<br />
2008.<br />
11<br />
❙ Vgl. International Commission on Intervention<br />
and State Sovereignty (ICISS), The Responsibility to<br />
Protect, International Development Research Cen-<br />
tre, Ottawa 2001, S. 69.<br />
12<br />
❙ Vgl. Peter M. Haas/Casey Stevens, Organized<br />
Science, Usable Knowledge and Multilateral Gover-<br />
nance, Ms., Massachusetts 2009.<br />
13<br />
❙ Vgl. Günter Metzges, NGO-Kampagnen <strong>und</strong> ihr<br />
Einfluss auf internationale Verhandlungen, Baden-<br />
Baden 2006.<br />
APuZ 34–35/2010<br />
vergangenen zwei Jahrzehnten auch transnationale<br />
<strong>Institutionen</strong> herausgebildet haben,<br />
die sich der Kontrolle der Nationalstaaten<br />
gleichfalls partiell entziehen (governance without<br />
government). Beispiele für private Formen<br />
transnationaler Governance sind etwa<br />
die <strong>Internationale</strong> Handelskammer (International<br />
Chamber of Commerce) oder die zahllosen<br />
Verhaltenskodizes <strong>und</strong> Zertifizierungssysteme<br />
(z. B. Forest Stewardship Council,<br />
Rugmark). Eine zweite Form transnationalen<br />
Regierens besteht in der gemeinsamen Erbringung<br />
von Governance-Leistungen durch<br />
wirtschaftliche oder gesellschaftliche <strong>Akteure</strong><br />
in Verbindung mit Staaten innerhalb sogenannter<br />
public private partnerships. ❙ 14 Beispiele<br />
dafür sind die Internet Corporation for<br />
Assigned Names and Numbers (ICANN),<br />
welche die Vergabe von Internetadressen regelt<br />
oder die Roll Back Malaria Initiative.<br />
In diesen Fällen erbringen gesellschaftliche<br />
<strong>Akteure</strong> unmittelbar eine Reihe von Governance-Leistungen<br />
oder produzieren öffentliche<br />
Güter, die von Staaten nicht oder nicht allein<br />
bereitgestellt werden können. Dabei sind<br />
private <strong>Akteure</strong> neben der Regelsetzung auch<br />
in die Regelüberwachung <strong>und</strong> -interpretation<br />
sowie bei der Um- <strong>und</strong> Durchsetzung der<br />
Governance-Inhalte involviert. Es kann gezeigt<br />
werden, dass die Anzahl derartiger regulativer<br />
Standardsetzungen <strong>und</strong> die relative<br />
Bedeutung der privaten <strong>Akteure</strong> in deren<br />
Entwicklung im Laufe der Zeit zugenommen<br />
hat. ❙ 15 Die gestiegene Anzahl grenzübergreifend<br />
agierender <strong>nichtstaatliche</strong>r <strong>Akteure</strong> wie<br />
transnationale Konzerne <strong>und</strong> transnationale<br />
NRO auf etwa 51 500 in den vergangenen<br />
Jahrzehnten deutet darauf hin, dass die<br />
Transnationalisierung insgesamt eine erhebliche<br />
quantitative Dynamik erhalten hat. ❙ 16<br />
Angesichts der skizzierten Entwicklungen<br />
lässt sich in der Tat von einer Supra- <strong>und</strong><br />
Transnationalisierung der Governance denationalisierter<br />
Problemlagen sprechen. Das in-<br />
14 ❙ Vgl. Wolfgang H. Reinicke/Francis M. Deng, Critical<br />
Choices. The United Nations, Networks, and<br />
the Future of Global Governance, Ottawa 2000.<br />
15<br />
❙ Vgl. Kenneth W. Abbott/Duncan Snidal, The<br />
Governance Triangle: Regulatory Standards Institutions<br />
and the Shadow of the State, in: Walter Mattli/<br />
Ngaire Woods (eds.), The Politics of Global Regulati-<br />
on, Princeton 2009.<br />
16<br />
❙ Vgl. Margaret P. Karns/Karen A. Mingst, International<br />
Organizations. The Politics and Processes of<br />
Global Governance, Boulder 2004, S. 17.
ternationale Menschrechtsregime, die Gründung<br />
des internationalen Strafgerichtshofs<br />
<strong>und</strong> die aktive Rolle des VN-Sicherheitsrates<br />
seit 1990 zeigen, dass dieser Prozess auch in<br />
Politikfeldern wie Sicherheit <strong>und</strong> Herrschaft<br />
stattfindet. Und selbst in den Kernbereichen<br />
moderner Staatlichkeit, nämlich dem Steuermonopol<br />
<strong>und</strong> dem Gewaltmonopol, lassen<br />
sich entsprechende Tendenzen erkennen. ❙ 17<br />
Legitimationsprobleme<br />
internationaler <strong>Institutionen</strong><br />
Die Governance denationalisierter Problemlagen<br />
kann als Mehrebenensystem bezeichnet<br />
werden, da sie zunehmend durch das Zusammenspiel<br />
von funktional differenzierten, aber<br />
konstitutiv voneinander abhängigen Ebenen<br />
gekennzeichnet ist. Eine solche Mehr ebenen-<br />
Governance erhöht zwar die Effektivität von<br />
Regelungen im Falle denationalisierter Probleme;<br />
erzeugt jedoch gleichzeitig besondere<br />
Legitimationsprobleme. ❙ 18 In dem Maße<br />
wie internationale <strong>Institutionen</strong> eine eigenständige<br />
politische Autorität erlangen, steigt<br />
der Bedarf ihrer direkten Legitimierung. Der<br />
zweistufige Legitimationsprozess, bei dem<br />
Staatenvertreter als legitime Vertreter ihrer<br />
Bevölkerung ohne gesellschaftliche Beteiligung<br />
<strong>und</strong> öffentlichkeitsfern bindende Regeln<br />
aushandeln, genügt dann nicht mehr.<br />
Da die Entstehung von Autorität ausübenden<br />
<strong>Institutionen</strong> mit supranationalen Komponenten<br />
im Allgemeinen dem wachsenden<br />
Regelungsbedarf auf der internationalen<br />
Ebene geschuldet ist, sind diese Legitimationsprobleme<br />
in letzter Instanz Resultat der<br />
gesellschaftlichen Denationalisierung. Die<br />
Supranationalisierung <strong>und</strong> Transnationalisierung<br />
internationaler <strong>Institutionen</strong> ist insofern<br />
als Trend strukturell bedingt; sie ist<br />
17 ❙ Vgl. Philipp Genschel/Markus Jachtenfuchs,<br />
The Fiscal Anatomy of Multilevel Governance: The<br />
EU and the Regulation of Taxation, online: www.<br />
unc.edu/euce/eusa2009/papers/genschel_10F.pdf<br />
(16. 3. 2010); Eva Herschinger/Markus Jachtenfuchs/<br />
Christiane Kraft-Kasack, Transgouvernementalisierung<br />
<strong>und</strong> die ausbleibende gesellschaftliche Politisierung<br />
der inneren Sicherheit, in: Michael Zürn/<br />
Matthias Ecker-Ehrhardt (Hrsg.), Gesellschaftliche<br />
Politisierung <strong>und</strong> internationale <strong>Institutionen</strong>,<br />
Frankfurt/M. 2010.<br />
18 ❙ Vgl. Fritz W. Scharpf, Legitimität im europäischen<br />
Mehrebenensystem, in: Leviathan, 37 (2009) 2,<br />
S. 244–280.<br />
nötig <strong>und</strong> kann nicht einfach voluntaristisch<br />
zurückgedreht werden, ohne signifikante Regelungsdefizite<br />
auf der internationalen Ebene<br />
zu erzeugen, die selbst wiederum Akzeptanzprobleme<br />
hervorrufen.<br />
Um einen Umgang mit den konstitutionellen<br />
Problemen der globalen Mehrebenen-<br />
Governance zu finden, kann daher auf der gesellschaftlichen<br />
Ebene angesetzt werden. Das<br />
prozessuale Zustandekommen, der Inhalt der<br />
Ergebnisse internationaler Politikprozesse<br />
<strong>und</strong> vor allem die damit verb<strong>und</strong>enen subsystemischen<br />
Kompetenzzuweisungen bedürfen<br />
zunehmend der Rechtfertigung, die durch<br />
nationale Öffentlichkeiten, Parlamente <strong>und</strong><br />
die transnationale Zivilgesellschaft eingefordert<br />
werden. Dafür stehen zahlreiche sogenannte<br />
globalisierungskritische Gruppen wie<br />
Attac ebenso wie der national organisierte<br />
Widerstand gegen die Unterhöhlung demokratischer<br />
Souveränität etwa bei Referenden<br />
über die Europäische Integration.<br />
Die Thematisierung internationaler <strong>Institutionen</strong><br />
<strong>und</strong> Verträge vollzieht sich aber<br />
nicht allein durch Protest. Gleichzeitig fordern<br />
nämlich viele transnationale NRO<br />
<strong>und</strong> soziale Bewegungen stärkere internationale<br />
<strong>und</strong> transnationale Organisationen<br />
<strong>und</strong> zielen damit auf den ungedeckten Regelungsbedarf.<br />
So treten beispielsweise viele<br />
Umweltgruppen für eine zentrale Weltumweltorganisation<br />
<strong>und</strong> eine drastische Verschärfung<br />
klimapolitischer Maßnahmen auf<br />
der internationalen Ebene ein. Zuletzt wurde<br />
die Forderung nach stärkeren internationalen<br />
<strong>Institutionen</strong> im Kontext der jüngsten<br />
Finanzkrise deutlich.<br />
Es ist diese Doppelbewegung bestehend<br />
aus wachsenden Protesten gegen, bei gleichzeitig<br />
intensivierter Nutzung von internationalen<br />
<strong>Institutionen</strong>, die auf eine zunehmende<br />
Politisierung der Weltpolitik verweist – also<br />
die öffentliche Thematisierung von internationalen<br />
Angelegenheiten <strong>und</strong> Bedeutungszuweisung<br />
an internationale <strong>Institutionen</strong>.<br />
Im Zuge dieser Politisierung kann eine direkte,<br />
einstufige Verbindung zwischen den<br />
internationalen <strong>Institutionen</strong> <strong>und</strong> ihren gesellschaftlichen<br />
Adressaten erwachsen. NRO<br />
helfen somit, die Entscheidungen internationaler<br />
<strong>und</strong> transnationaler <strong>Institutionen</strong> mit<br />
den gesellschaftlichen Adressaten zu verbinden,<br />
indem sie die Interessen lokaler Grup-<br />
APuZ 34–35/2010 19
20<br />
pen auf internationaler Ebene einbringen <strong>und</strong><br />
gleichzeitig an der Umsetzung <strong>und</strong> Vermittlung<br />
der international getroffenen Entscheidungen<br />
auf lokaler <strong>und</strong> nationaler Ebene beteiligt<br />
sind. ❙ 19 Gleichzeitig verschärfen sich<br />
freilich dadurch auch Asymmetrien in der<br />
Einflussnahme. Denn die gesellschaftlichen<br />
<strong>Akteure</strong>, die auf der internationalen Ebene<br />
erfolgreich Einfluss ausüben können, verstärken<br />
die westliche Dominanz in den internationalen<br />
<strong>Institutionen</strong>.<br />
Der Prozess der Politisierung eröffnet dennoch<br />
eine langfristige Perspektive: Er schafft<br />
den Nährboden für neue, bisher <strong>und</strong>enkbare<br />
internationale Politiken <strong>und</strong> letztlich<br />
auch für zusätzliche Legitimationsressourcen<br />
für internationale <strong>Institutionen</strong> wie Partizipation,<br />
Rechenschaftspflicht, individuelle<br />
Gr<strong>und</strong>rechte <strong>und</strong> öffentliche Auseinandersetzung.<br />
Diese sind notwendig, um die Unterstützung<br />
<strong>und</strong> Legitimation internationaler<br />
<strong>Institutionen</strong> zu sichern, die notwendig sind,<br />
um politische Herrschaft ausüben <strong>und</strong> somit<br />
die erforderlichen Leistungen im Zeitalter<br />
der Globalisierung erbringen zu können. <strong>Internationale</strong><br />
<strong>Institutionen</strong> sind somit im Zuge<br />
ihrer Politisierung nicht mehr nur vielseitig<br />
einsetzbare Instrumente, um die weltpolitischen<br />
<strong>und</strong> innenpolitischen Interessen der<br />
Regierungen der mächtigen Länder unmittelbar<br />
durchzusetzen. Mit der Möglichkeit, alle<br />
Fragen der internationalen Politik ins Licht<br />
der Öffentlichkeit zu zerren, wird die Nutzung<br />
internationaler <strong>Institutionen</strong> zur Manipulation<br />
innenpolitischer Fragen ❙ 20 ebenso<br />
erschwert wie die rein technokratische<br />
Lösung von Interdependenzproblemen, die<br />
keine Rücksicht auf Verteilungsfragen <strong>und</strong><br />
Symboliken nimmt. Insofern scheint der Typus<br />
internationaler <strong>Institutionen</strong>, wie er sich<br />
nach dem Zweien Weltkrieg herausbildete,<br />
ein Auslaufmodell zu sein.<br />
19 ❙ Vgl. Jens Steffek/Patrizia Nanz, Emergent Patterns<br />
of Civil Society Participation in Global and European<br />
Governance, in: Jens Steffek/Claudia Kissling/Patrizia<br />
Nanz (eds.), Civil Society Participation<br />
in European and Global Governance. A Cure for the<br />
Democratic Deficit?, New York 2008.<br />
20 ❙ Vgl. Klaus D. Wolf, Die Neue Staatsräson – Zwischenstaatliche<br />
Kooperation als Demokratieproblem<br />
in der Weltgesellschaft. Plädoyer für eine geordnete<br />
Entstaatlichung des Regierens jenseits des Staates,<br />
Baden-Baden 2000.<br />
APuZ 34–35/2010<br />
Andreas Fischer-Lescano · Lars Viellechner<br />
Globaler<br />
Rechtspluralismus<br />
In den Versuchen, die Fortentwicklung des<br />
Rechts unter Bedingungen der Globalisierung<br />
zu deuten, hat das Konzept des Rechts-<br />
pluralismus an Bedeutung<br />
gewonnen. Der<br />
Soziologe Niklas Luhmann<br />
mutmaßte noch,<br />
dass normative Erwartungsformen<br />
in der<br />
Weltgesellschaft an<br />
Bedeutung verlieren<br />
würden, weil diejenigen<br />
Sozialsysteme, die<br />
weltweite Kontakte ermöglichen<br />
– wie Wirtschaft,Massenmedien,<br />
Wissenschaft <strong>und</strong><br />
Technik –, durchweg<br />
ein kognitiver Erwartungsstil<br />
kennzeichne,<br />
der im Falle einer Enttäuschung<br />
nicht aufrecht<br />
erhalten werde,<br />
sondern sich lernfähig<br />
<strong>und</strong> anpassungsbereit<br />
zeige. ❙ 1 Ein Rechtsschw<strong>und</strong><br />
ist derzeit<br />
aber nicht in Sicht.<br />
Allein die Struktur<br />
Andreas Fischer-Lescano<br />
Dr. jur., LL. M. (EUI), geb. 1972;<br />
Professor für Öffentliches<br />
Recht, Völkerrecht <strong>und</strong> Europarecht;<br />
Geschäftsführender<br />
Direktor des Zentrums für<br />
Europäische Rechtspolitik;<br />
Projektleiter am Sonderforschungsbereich„Staatlichkeit<br />
im Wandel“, Universität<br />
Bremen, Universitäts allee GW 1,<br />
28359 Bremen.<br />
voelkerrecht@<br />
zerp.uni-bremen.de<br />
Lars Viellechner<br />
Ass. jur., LL.M. (Yale), geb.<br />
1976; wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter am Zentrum für<br />
Europäische Rechtspolitik<br />
<strong>und</strong> am Sonderforschungsbereich<br />
„Staatlichkeit im<br />
Wandel“ (s. o.).<br />
lars.viellechner@uni-bremen.de<br />
des Rechts scheint sich zu verändern. An die<br />
Stelle der nach innen einheitlich <strong>und</strong> hierarchisch<br />
gedachten staatlichen Rechtsordnung,<br />
die nach außen nur den Bindungen des Völkerrechts<br />
unterliegt, tritt offenbar ein unübersichtliches<br />
Nebeneinander zahlreicher Ordnungsmuster<br />
verschiedenen Zuschnitts.<br />
Zum einen entstehen als Reaktion auf das<br />
Bedürfnis zur Regulierung globaler Sachverhalte,<br />
hinsichtlich derer die Rechtsordnungen<br />
einzelner Staaten im wörtlichen Sinne an<br />
Grenzen stoßen, neuartige „Rechtsregimes“,<br />
die nicht mehr zutreffend als zwischenstaatlich<br />
beschrieben sind. ❙ 2 Hierbei handelt es sich<br />
einerseits um supranationales Recht, das von<br />
den Staaten ins Leben gerufene internationale<br />
Organisationen mit eigener Rechtsetzungs-
efugnis teilweise mit unmittelbarer Wirkung<br />
für Individuen erlassen. ❙ 3 Paradebeispiel<br />
dafür ist das Recht der Europäischen Union<br />
(EU). Da sich derartige Einrichtungen mangels<br />
Schnelligkeit oder Konsens in der Staatengemeinschaft<br />
aber nicht zur Lösung aller<br />
Probleme schaffen lassen, bildet sich daneben<br />
andererseits ein transnationales Recht heraus,<br />
das private <strong>Akteure</strong> teilweise mit staatlicher<br />
Beteiligung durch Verträge in Geltung setzen.<br />
❙ 4 Zu den prominenten Beispielen zählt<br />
das Regime der Internet Corporation for Assigned<br />
Names and Numbers (ICANN), einer<br />
privatrechtlich verfassten Institution mit<br />
Sitz in Kalifornien, die für die Regulierung<br />
der Domainnamen im Internet verantwortlich<br />
zeichnet. Diese Arrangements erlangen<br />
eine relative Autonomie von den staatlichen<br />
Rechtsordnungen dadurch, dass sie eigene<br />
Streitschlichtungsmechanismen einrichten.<br />
So macht ICANN die Unterwerfung unter<br />
das Schiedsverfahren der Uniform Domain<br />
Name Dispute Resolution Policy (UDRP),<br />
das eine schnelle <strong>und</strong> kostengünstige Entscheidung<br />
von Konflikten zwischen Domainnamen<br />
<strong>und</strong> Markenrechten vorsieht, zum Bestandteil<br />
jeder Vereinbarung über die Vergabe<br />
von Domainnamen. Dadurch, dass ICANN<br />
die Entscheidungen der Schiedsgerichte<br />
durch Löschung oder Übertragung des betreffenden<br />
Domainnamens unmittelbar elektronisch<br />
vollstrecken kann, ist das Arrangement<br />
sogar ganz <strong>und</strong> gar unabhängig von den<br />
Staaten, obwohl sich Klagen vor staatlichen<br />
Gerichten nicht ausschließen lassen.<br />
Zum anderen unterliegen aber auch die<br />
staatlichen <strong>und</strong> zwischenstaatlichen Rechtsordnungen<br />
tiefgreifenden Veränderungen.<br />
Hier vollzieht sich eine „Hybridisierung“ des<br />
Rechts: Die „Internationalisierung des Verfassungsrechts“<br />
geht mit einer „Konstitutionalisierung<br />
des Völkerrechts“ einher. ❙ 5 Na-<br />
1 ❙ Vgl. Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, in:<br />
Archiv für Rechts- <strong>und</strong> Sozialphilosophie, 57 (1971),<br />
S. 1–35.<br />
2<br />
❙ Andreas-Fischer Lescano/Gunther Teubner, Re-<br />
gime-Kollisionen, Frankfurt/M. 2006, S. 36.<br />
3<br />
❙ Vgl. Hans Peter Ipsen, Über Supranationalität, in:<br />
Horst Ehmke et al. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich<br />
Scheuner zum 70. Geburtstag, Berlin 1973, S. 211–225.<br />
4<br />
❙ Vgl. Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur<br />
Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus,<br />
in: Rechtshistorisches Journal, 15 (1996), S. 255–290.<br />
5<br />
❙ Brun-Otto Bryde, Konstitutionalisierung des Völkerrechts<br />
<strong>und</strong> Internationalisierung des Verfassungsrechts,<br />
in: Der Staat, 42 (2003), S. 61–75.<br />
tionale Gerichte ziehen bei der Auslegung<br />
des nationalen Rechts zunehmend internationale<br />
Quellen heran, auch weil internationale<br />
Gerichte mitunter dieselben Fälle entscheiden.<br />
In das allgemeine Bewusstsein gerückt<br />
ist dieser Umstand vor allem durch zwei aufsehenerregende<br />
Entscheidungen des Obersten<br />
Gerichts (Supreme Court, S.Ct.) der<br />
Vereinigten Staaten von Amerika zur Verfassungswidrigkeit<br />
des Verbots bestimmter Sexualpraktiken<br />
sowie der Todesstrafe für minderjährige<br />
Straftäter, die sich ausdrücklich<br />
auf völkerrechtliche Verträge <strong>und</strong> Entscheidungen<br />
internationaler Gerichte stützten, ❙ 6<br />
ferner durch die Kontroverse von B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />
(BVerfG) <strong>und</strong> Europäischem<br />
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)<br />
über das Spannungsverhältnis von Pressefreiheit<br />
<strong>und</strong> Persönlichkeitsrecht im „Caroline“-<br />
Fall. ❙ 7 Umgekehrt wird die Herausbildung<br />
verfassungsähnlicher Normen <strong>und</strong> Strukturen<br />
in internationalen Organisationen sowie<br />
im allgemeinen Völkerrecht beobachtet.<br />
Beispielsweise hat der Europäische Gerichtshof<br />
(EuGH) schon früh europäische Gr<strong>und</strong>rechte<br />
als allgemeine Rechtsgr<strong>und</strong>sätze anerkannt,<br />
❙ 8 während sich im Völkerrecht die<br />
Konzepte von ius cogens (zwingendes Recht)<br />
<strong>und</strong> Verpflichtungen erga omnes (gegen jedermann)<br />
etabliert haben, die gr<strong>und</strong>legenden<br />
Normen wie dem Folterverbot Vorrang<br />
auch gegenüber entgegenstehendem nationalen<br />
Verfassungsrecht einräumen. ❙ 9<br />
Zugleich deutet sich eine „Fragmentierung“<br />
des Völkerrechts in eine Vielzahl bereichsspezifischer<br />
Regimes an, die voneinander weitgehend<br />
unabhängig sind <strong>und</strong> daher ihrer eigenen<br />
Sachlogik folgen können. ❙ 10 Besonders<br />
nachdrücklich gezeigt hat sich diese Ent-<br />
6 ❙ Vgl. S.Ct., Entscheidung vom 26. 6. 2003, in: United<br />
States Reports, 539 (2003), S. 558–606; Entscheidung<br />
vom 1. 3. 2005, in: United States Reports, 543<br />
(2005), S. 551–630.<br />
7<br />
❙ Vgl. BVerfG, Urteil vom 15. 12. 1999, in: Entscheidungssammlung<br />
101, S. 361–396; Beschluss vom<br />
26. 2. 2008, in: Entscheidungssammlung 120, S. 180–<br />
223; EGMR, Urteil vom 24. 6. 2004, in: Neue Juris-<br />
tische Wochenschrift, 57 (2004), S. 2647–2652.<br />
8<br />
❙ Vgl. EuGH, Urteil vom 17. 12. 1970, in: Rechtspre-<br />
chungssammlung 1970, S. 1161–1194.<br />
9<br />
❙ Vgl. International Criminal Tribunal for the former<br />
Yugoslavia (ICTY), Urteil vom 10. 12. 1998, in:<br />
International Legal Materials, 38 (1999), S. 317–393.<br />
10<br />
❙ Martti Koskenniemi/Päivi Leino, Fragmentation<br />
of International Law?, in: Leiden Journal of International<br />
Law, 15 (2002), S. 553–579.<br />
APuZ 34–35/2010 21
22<br />
wicklung etwa an der Kollision von Belangen<br />
des Freihandels <strong>und</strong> des Umweltschutzes im<br />
„Garnelen/Schildkröten“-Fall, der im Streitbeilegungsverfahren<br />
der Welthandelsorganisation<br />
(World Trade Organization, WTO) zur<br />
Entscheidung stand. ❙ 11 Insofern setzt sich die<br />
Ausformung von self-contained regimes fort,<br />
die partiell den Rückgriff auf das allgemeine<br />
Völkerrecht ausschließen wie das Diplomaten-<br />
<strong>und</strong> Konsularrecht. ❙ 12 Unabhängig davon<br />
entdecken einige Beobachter neuerdings<br />
das Aufkeimen eines in seinen Umrissen indes<br />
noch unscharfen „globalen Verwaltungsrechts“,<br />
das sich zwar in mancher Hinsicht von<br />
den Staaten lösen, aber gerade durch seinen<br />
öffentlichen Charakter auszeichnen soll. ❙ 13<br />
In der Weltgesellschaft ist folglich weder eine<br />
Verdrängung noch eine Höherlegung staatlicher<br />
Rechtsordnungen, sondern eine gleichzeitige<br />
Überlagerung <strong>und</strong> Vermengung teils<br />
territorial ausgerichteter, teils funktional orientierter<br />
Rechtsregimes festzustellen. Wenn<br />
dieser Zustand als „neuer Rechtspluralismus“<br />
bezeichnet wird, ❙ 14 kommt damit zum Ausdruck,<br />
dass das zugr<strong>und</strong>e liegende Konzept<br />
bereits älter ist. In der Rechtsgeschichte fand<br />
es Verwendung zur Kennzeichnung nebeneinander<br />
bestehender personaler Herrschaftsrechte<br />
im Mittelalter. ❙ 15 In der Rechts anthropo<br />
lo gie wurde es zur Veranschaulichung<br />
gegenläufiger Rechte von Kolonialmächten<br />
<strong>und</strong> indigener Bevölkerung aufgegriffen. ❙ 16 In<br />
beiden Fällen handelte es sich allerdings um<br />
einen „weichen“ Rechtspluralismus, der unter<br />
einer übergeordneten religiösen oder politisch-staatlichen<br />
Einheit stand. Erst später<br />
übertrugen vorwiegend rechtssoziologische<br />
Ansätze das klassische Konzept des Rechtspluralismus<br />
auf das Verhältnis von „offizi-<br />
11 ❙ Vgl. WTO, Appellate Body Report vom<br />
12. 10. 1998, in: International Legal Materials, 38<br />
(1999), S. 118–175.<br />
12<br />
❙ Vgl. Bruno Simma, Self-Contained Regimes,<br />
in: Netherlands Yearbook of International Law, 16<br />
(1985), S. 111–136.<br />
13<br />
❙ Benedict Kingsbury/Nico Krisch/Richard B. Stewart,<br />
The Emergence of Global Administrative Law,<br />
in: Law and Contemporary Problems, 68 (2005),<br />
S. 15–61.<br />
14<br />
❙ Paul Schiff Berman, The New Legal Pluralism, in:<br />
Annual Review of Law and Social Science, 5 (2009),<br />
S. 225–242.<br />
15<br />
❙ Vgl. Harold J. Berman, Recht <strong>und</strong> Revolution,<br />
Frankfurt/M. 1991, S. 468–472.<br />
16<br />
❙ Vgl. Leopold Pospíšil, Anthropologie des Rechts,<br />
München 1982, S. 137–171.<br />
APuZ 34–35/2010<br />
ellem“ <strong>und</strong> „inoffiziellem“ Recht in westlichen<br />
Gesellschaften <strong>und</strong> verbanden es mit<br />
der rechtspolitischen Forderung zur Aufgabe<br />
des „rechtlichen Zentralismus“ im Staat. ❙ 17<br />
Rechtstheoretische Unternehmungen, die sich<br />
ausdrücklich als „postmodern“ ❙ 18 oder „nachpositivistisch“<br />
❙ 19 titulierten, teilten dieses Anliegen<br />
aus ganz anderem Antrieb. Während<br />
ihre Anstrengungen noch mit guten Gründen<br />
zurückgewiesen werden mochten, ist der<br />
neue Rechtspluralismus auf globaler Ebene<br />
nun jedoch durch tatsächliche Veränderungen<br />
heraufbeschworen worden. Unter diesen<br />
Umständen lässt sich die Suche nach einem<br />
normativen Konzept des Rechtspluralismus,<br />
das Antworten auf die Fragen von Legalität,<br />
Legitimität <strong>und</strong> Interlegalität der verschiedenen<br />
Normen findet, nicht mehr vermeiden.<br />
Legalität<br />
Zunächst stellt sich die Frage, ob es sich bei<br />
den beschriebenen Normen <strong>nichtstaatliche</strong>r<br />
Herkunft überhaupt um Recht handelt. Erstaunlicherweise<br />
wird diese Frage bezüglich<br />
des Sek<strong>und</strong>ärrechts supranationaler Organisationen<br />
selten gestellt, obwohl zuvor der<br />
Rechtscharakter des Völkerrechts angesichts<br />
der Identität von Rechtsetzern <strong>und</strong> Rechtsunterworfenen<br />
sowie des Fehlens effektiver<br />
Rechtsdurchsetzungsmechanismen lange<br />
bestritten wurde. Hier ist der Ableitungszusammenhang<br />
mit der staatlichen Rechtsordnung<br />
offenbar noch handgreiflich genug.<br />
Umso nachdrücklicher werden demgegenüber<br />
Zweifel an der Denkbarkeit eines transnationalen<br />
Rechts artikuliert. Man könnte die<br />
Beantwortung der Frage gleichwohl für entbehrlich<br />
halten, da selbst eine Negation die<br />
soziale Bedeutung der beschriebenen Phänomene<br />
nicht schmälern würde. Indes besteht<br />
neben dem theoretischen Interesse am<br />
Schicksal des Rechts unter Bedingungen der<br />
Globalisierung auch ein praktisches Bedürfnis<br />
nach Regeln für die gegenseitige Anerkennung<br />
<strong>und</strong> Abstimmung der verschiedenen<br />
Regimes. Wie das internationale Privatrecht<br />
zeigt, können solche Kollisionsregeln nach<br />
17 ❙ John Griffiths, What is Legal Pluralism?, in: Journal<br />
of Legal Pluralism and Unofficial Law, 24 (1986),<br />
S. 1–55, hier: S. 3.<br />
18<br />
❙ Karl-Heinz Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie,<br />
Berlin 1995 2 .<br />
19<br />
❙ Alexander Somek/Nikolaus Forgó, Nachpositivistisches<br />
Rechtsdenken, Wien 1996.
dem rechtlichen Status der in Betracht kommenden<br />
Sachnormen unterscheiden. ❙ 20<br />
Freilich besteht über die Frage nach dem<br />
Begriff des Rechts seit jeher Uneinigkeit.<br />
Eine eindeutige Antwort lässt sich selbst<br />
dann nicht finden, wenn man soziologische<br />
Ansichten vernachlässigt <strong>und</strong> mit einer an<br />
der Rechtspraxis orientierten Rechtstheorie<br />
allein darauf abstellt, welches Recht ein<br />
Richter, der hier <strong>und</strong> jetzt über einen konkreten<br />
Fall zu entscheiden hat, anwenden sollte.<br />
Denn jedem Richter stehen zumindest zwei<br />
Möglichkeiten offen: Er kann entweder die<br />
partikularistische Sicht seiner eigenen Rechtsordnung<br />
oder eine universalistische Perspektive<br />
einnehmen. Dabei schließen partikularistische<br />
Sichtweisen zwar universalistische<br />
Bestrebungen nicht aus, vermögen aber universale<br />
Geltung nicht zu garantieren. Aus der<br />
partikularistischen Perspektive einer staatlichen<br />
Rechtsordnung etwa mögen transnationale<br />
Verträge nicht als Rechtsquelle anzusehen<br />
sein. Staatliche Gerichte können es daher<br />
ablehnen, Streitigkeiten zwischen Domainnamen-<br />
<strong>und</strong> Markenrechtinhabern nach den<br />
Regeln der UDRP zu entscheiden. Es lässt<br />
sich aber nicht verhindern, dass sich aus einer<br />
anderen partikularistischen Perspektive<br />
Gegenteiliges ergibt. So ist nach Paragraf 15<br />
Buchstabe a UDRP-Regeln ein zur Streitentscheidung<br />
berufenes Schiedsgericht zur Anwendung<br />
der UDRP verpflichtet, wenngleich<br />
es ergänzend weitere Regeln <strong>und</strong> Prinzipien<br />
heranziehen darf, die es für anwendbar hält.<br />
Aus rechtstheoretischer Perspektive lässt<br />
sich die Geltung transnational paktierten<br />
Rechts jedenfalls plausibel begründen. Erkennt<br />
man ein Rechtssystem in der Vereinigung<br />
von „primären Regeln“ der Verpflichtung<br />
<strong>und</strong> „sek<strong>und</strong>ären Regeln“ der Ermächtigung<br />
zur Hervorbringung, Änderung <strong>und</strong> Anwendung<br />
von Primärregeln, ❙ 21 dann lässt sich ohne<br />
weiteres die Rechtsqualität des ICANN-Regimes<br />
annehmen. In Paragraf 15 Buchstabe<br />
a UDRP-Regeln findet sich die gesuchte<br />
Sek<strong>und</strong>ärregel, die auf die anzuwendenden<br />
Primärregeln der UDRP verweist. Zum glei-<br />
20 ❙ Vgl. Boris Schinkels, Die (Un-)Zulässigkeit einer<br />
kollisionsrechtlichen Wahl der UNIDROIT Principles<br />
nach Rom I, in: Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht,<br />
4 (2007), S. 106–111.<br />
21 ❙ Herbert L. A. Hart, Der Begriff des Rechts, Frankfurt/M.<br />
1973, S. 115–141.<br />
chen Ergebnis gelangt, wer Recht nach seiner<br />
Funktion – der kontrafaktischen Stabilisierung<br />
von Verhaltenserwartungen im Code<br />
von Recht <strong>und</strong> Unrecht ❙ 22 – bestimmt. Transnationale<br />
Verträge können die Befolgung des<br />
Vereinbarten dadurch absichern, dass sie das<br />
erwartete Verhalten schriftlich festhalten<br />
<strong>und</strong> die Streitentscheidung an neutrale Dritte<br />
auslagern. ❙ 23 Diesen Anforderungen genügen<br />
auch die Verträge über die Vergabe von<br />
Domainnamen, indem sie formularmäßig die<br />
UDRP einbeziehen. Zugleich zeigt sich, dass<br />
die Positivität des Rechts in der Weltgesellschaft<br />
nicht aufgehoben ist.<br />
Man mag einwenden, dass nicht der Vertrag,<br />
sondern das Gesetz an den Vertrag bindet. ❙ 24<br />
Doch muss man sich dann die Frage gefallen<br />
lassen, warum eigentlich das Gesetz bindet.<br />
Der Verweis auf die Verfassung führt nur zu<br />
der weiteren Frage nach der Geltungsbegründung<br />
der Verfassung. „Darauf antworten dann<br />
nur noch feierliche Erklärungen.“ ❙ 25 Unter Bedingungen<br />
der Globalisierung wird besonders<br />
deutlich, dass sich Rechtsgeltung nur paradox<br />
begründen lässt. Es erscheint daher naheliegend,<br />
auch aus der Perspektive des staatlichen<br />
Rechts die „Parallelisierung <strong>und</strong> Vernetzung<br />
von gesetzlicher <strong>und</strong> vertraglicher Geltungsproduktion“<br />
anzuerkennen. ❙ 26 Einstweilen<br />
mag man sich hier zwar noch mit der Anerkennung<br />
des transnationalen Vertragsrechts<br />
als Produkt delegierter Rechtsetzung im Rahmen<br />
von staatlich gewährter Privatautonomie<br />
behelfen können. ❙ 27 Damit ist aber die Unterwerfung<br />
unter zwingende Regeln eines partikularen<br />
Privatrechts verb<strong>und</strong>en, die weder<br />
der globalen Bedeutung noch der öffentlichen<br />
Dimension transnationaler Rechtsregimes gerecht<br />
werden. ❙ 28 Eine ähnliche Problematik<br />
22 ❙ Vgl. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft,<br />
Frankfurt/M. 1993, S. 124–164.<br />
23<br />
❙ Vgl. Gralf-Peter Calliess/Moritz Renner, Between<br />
Law and Social Norms, in: Ratio Juris, 22 (2009),<br />
S. 260–280.<br />
24<br />
❙ Vgl. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, Stutt-<br />
gart 1973 8 , S. 240.<br />
25<br />
❙ Niklas Luhmann, Verfassung als evo lu tio näre<br />
Errungenschaft, in: Rechtshistorisches Journal, 9<br />
(1990), S. 176–220, hier: S. 184.<br />
26<br />
❙ N. Luhmann (Anm. 22), S. 324.<br />
27 ❙ Vgl. Ralf Michaels, The Re-state-ment of Non-<br />
State Law, in: Wayne Law Review, 51 (2005), S. 1209–<br />
1259.<br />
28<br />
❙ Vgl. Moritz Renner, Selbstgeschaffenes Recht der<br />
Wirtschaft? Öffentliche Interessen in privaten Rechtsregimes,<br />
in: Kritische Justiz, 43 (2010), S. 62–69.<br />
APuZ 34–35/2010 23
Legitimität<br />
24<br />
entsteht dann, wenn nationale Verfassungsgerichte<br />
die Grenzen des supranationalen Rechts<br />
vermittels des Zustimmungsgesetzes am partikulären<br />
Maßstab einer nationalen Verfassung<br />
bestimmen wollen – wie kürzlich etwa<br />
das BVerfG im „Lissabon“-Urteil. ❙ 29<br />
In der Unterwerfung unter das staatliche Recht<br />
liegt auch ein Versuch, eine Antwort auf das<br />
zweite normative Anliegen, die Gewährleistung<br />
der Legitimität des globalen Rechts, zu<br />
finden. Da die neuartigen Rechtsregimes angesichts<br />
ihrer relativen Autonomie dem Zugriff<br />
staatlicher Gerichte zuweilen entkommen, besteht<br />
eine weitere Strategie darin, die bislang erfolgreichste<br />
Lösung zur Legitimation positiven<br />
Rechts, das aus den bürgerlichen Revolutionen<br />
gegen Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts hervorgegangene<br />
Konzept der Verfassung, in den globalen<br />
Kontext zu übertragen. Im Nationalstaat<br />
vermittelt die Verfassung Legitimität gerade<br />
durch Legalität. Selbst als höherrangiges Recht<br />
positiviert, unterwirft sie den Rechtsetzungsprozess<br />
nicht nur einem demokratischen Verfahren,<br />
das Beteiligung oder zumindest Repräsentanz<br />
aller Betroffenen garantiert, sondern<br />
macht ihm auch materielle Vorgaben, freilich<br />
allein negativer Art in Gestalt von Gr<strong>und</strong>rechten.<br />
Die Konsensfähigkeit des Modells erklärt<br />
sich zumal daraus, dass die Richtigkeitsfrage<br />
auf diese Weise offen bleibt. ❙ 30<br />
Im globalen Kontext hat sich unter der<br />
Formel der Konstitutionalisierung bislang<br />
jedoch vornehmlich ein deskriptives Verfassungsverständnis<br />
verbreitet, das sich auf die<br />
allmähliche Herausbildung einzelner Verfassungselemente,<br />
insbesondere vorrangiger<br />
Gr<strong>und</strong>rechte, in einzelnen Regimes bezieht.<br />
Es lässt sich beobachten, dass mittlerweile sogar<br />
einige UDRP-Schiedsgerichte, namentlich<br />
in sogenannten „BrandnameSucks.com“-<br />
Fällen, in denen sich politische Aktivisten<br />
die Marken bekannter Unternehmen verb<strong>und</strong>en<br />
mit kritischen Zusätzen als Domainnamen<br />
eintragen lassen, das Recht der Meinungsfreiheit<br />
zwischen Privaten in Anschlag<br />
29 ❙ Vgl. BVerfG, Urteil vom 30. 6. 2009, in: Entscheidungssammlung<br />
123, S. 267–437.<br />
30 ❙ Vgl. Dieter Grimm, Der Verfassungsbegriff in<br />
historischer Entwicklung, in: ders., Die Zukunft der<br />
Verfassung, Frankfurt/M. 20023 , S. 101–155.<br />
APuZ 34–35/2010<br />
bringen. ❙ 31 Insofern ist bereits die Rede von<br />
„globalen Zivilverfassungen“, die sich, dem<br />
englischen common law nicht unähnlich, „in<br />
untergründigen evolutionären Prozessen von<br />
langer Dauer“ herausbildeten. ❙ 32<br />
Normativ betrachtet, lässt diese Entwicklung<br />
vielen aber noch zu wünschen übrig. Ihnen<br />
erscheint vor allem das demokratische<br />
Verfassungselement jenseits des Staates unterentwickelt.<br />
Die Klagen über das Demokratiedefizit<br />
der EU <strong>und</strong> anderer internationaler<br />
Organisationen sind mittlerweile Legion. Bei<br />
dieser Betrachtung bleibt häufig unberücksichtigt,<br />
dass eine identische Reproduktion<br />
staatlicher Demokratiemodelle im globalen<br />
Kontext weder möglich noch nötig ist. Die<br />
Besonderheiten supranationaler Rechtsetzungsprozesse<br />
verlangen jedenfalls nach einer<br />
Anpassung hergebrachter Demokratievorstellungen.<br />
❙ 33 In den transnationalen Arrangements,<br />
die zwar teilweise öffentliche Belange<br />
berühren, Recht aber häufig ohne staatliche<br />
Beteiligung im Vertragswege in Geltung setzen,<br />
scheint es gar einer gr<strong>und</strong>legenden Neuformulierung<br />
des Verhältnisses von Demokratie<br />
<strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>rechten zu bedürfen. ❙ 34<br />
Weitgehend Einigkeit herrscht inzwischen<br />
zumindest darüber, dass die Errichtung eines<br />
demokratischen Weltstaats ebenso unrealistisch<br />
ist wie die Abschottung nationaler Demokratie<br />
unter dem Schutzmantel staatlicher Souveränität.<br />
❙ 35 Tatsächlich können selbst die mächtigsten<br />
Staaten globale Regulierungsprobleme<br />
heute nicht mehr einseitig lösen. Davon abgese-<br />
31 ❙ Vgl. World Intellect Property Organization<br />
(WIPO), Arbitration and Mediation Center, Administrative<br />
Panel Decision vom 6. 7. 2000, online:<br />
www.wipo.int/amc/en/domains/decisions/html/<br />
2000/d2000-0190.html (1. 7. 2010).<br />
32<br />
❙ Gunther Teubner, Globale Zivilverfassungen, in:<br />
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht <strong>und</strong><br />
Völkerrecht, 63 (2003), S. 1–28, hier: S. 15.<br />
33<br />
❙ Einige Versuche bei James Bohman, Democracy<br />
across Borders, Cambridge 2007; Gráinne de Búrca,<br />
Developing Democracy Beyond the State, in: Columbia<br />
Journal of Transnational Law, 46 (2008), S. 221–<br />
278; Andreas Niederberger, Demokratie unter Be-<br />
dingungen der Weltgesellschaft?, Berlin 2009.<br />
34<br />
❙ Vgl. Lars Viellechner, Können Netzwerke die Demokratie<br />
ersetzen?, in: Sigrid Boysen et al. (Hrsg.),<br />
Netzwerke, Baden-Baden 2007, S. 36–57.<br />
35<br />
❙ Pointierte Gegenauffassungen in den USA bei Jed<br />
Rubenfeld, Unilateralism and Constitutionalism,<br />
in: New York University Law Review, 79 (2004),<br />
S. 1971–2028; Jeremy A. Rabkin, Law Without Nations?,<br />
Princeton 2005.
hen wäre nationale Gesetzgebung mit extraterritorialen<br />
Effekten besonders <strong>und</strong>emokratisch,<br />
da sie ausländische Betroffene überhaupt nicht<br />
beteiligt. Alles deutet folglich darauf hin, dass<br />
die Legitimität des globalen Rechts nur im Zusammenwirken<br />
seiner verschiedenen Bestandteile<br />
generiert werden kann.<br />
Interlegalität<br />
Dies führt zum dritten Aspekt globaler Normativität:<br />
dem Verhältnis der verschiedenen<br />
Rechtsordnungen <strong>und</strong> Rechtsregimes zueinander.<br />
Der Rechtspluralismus mündet in einen<br />
Zustand der „Interlegalität“, ❙ 36 in dem „parallele<br />
Normsysteme unterschiedlicher Herkunft<br />
sich wechselseitig anregen, gegenseitig verbinden,<br />
ineinander greifen <strong>und</strong> durchdringen,<br />
ohne zu einheitlichen Super-Ordnungen zu<br />
verschmelzen, die ihre Teile absorbieren, sondern<br />
in ihrem Nebeneinander als heterarchische<br />
Gebilde dauerhaft bestehen“. ❙ 37 Unter diesen<br />
Umständen stellt sich die Frage, ob <strong>und</strong> wie<br />
im globalen Rechtssystem überhaupt noch normative<br />
Kompatibilität erreicht werden kann.<br />
Eine strukturanaloge Frage hatte sich bereits<br />
früher für das Verhältnis von innerstaatlichem<br />
Recht <strong>und</strong> Völkerrecht gestellt. Hier<br />
standen sich zunächst zwei Lager unverrückbar<br />
gegenüber. Der Dualismus ging von zwei<br />
eigenständigen <strong>und</strong> unabhängigen Rechtsordnungen<br />
aus, die nach Quellen <strong>und</strong> Regelungsgegenständen<br />
klar voneinander getrennt seien.<br />
Der Monismus nahm demgegenüber eine<br />
einheitliche Rechtsordnung an, entweder mit<br />
Primat des staatlichen Rechts oder mit Primat<br />
des Völkerrechts. Heute werden alle Auffassungen<br />
aber nur noch in gemäßigten Formen<br />
vertreten. Sie gestehen gleichermaßen zu, dass<br />
Völkerrecht <strong>und</strong> staatliches Recht in Konflikt<br />
treten können, wobei das Völkerrecht zwar<br />
von jedem Staat einzuhalten, entgegenstehendes<br />
staatliches Recht aber nicht automatisch<br />
nichtig sei. Damit werden die Varianten<br />
austauschbar. ❙ 38 Das Rechtssystem leidet<br />
36 ❙ Boaventura de Sousa Santos, Toward a New Legal<br />
Common Sense, London 2002 2 , S. 437.<br />
37<br />
❙ Marc Amstutz, Zwischenwelten, in: Chris tian<br />
Joer ges/Gunther Teubner (Hrsg.), Rechtsverfassungs-<br />
recht, Baden-Baden 2003, S. 213–237, hier: S. 213.<br />
38<br />
❙ Für den gemäßigten Monismus Hans Kelsen, Die<br />
Einheit von Völkerrecht <strong>und</strong> staatlichem Recht, in:<br />
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht <strong>und</strong><br />
Völkerrecht, 19 (1958), S. 234–248.<br />
in der Folge aber unter der unaufgelösten<br />
Spannung zwischen Geltung <strong>und</strong> Anwendbarkeit<br />
des Rechts: Während die gleichzeitige<br />
Geltung von Völkerrecht <strong>und</strong> staatlichem<br />
Recht allseits vorausgesetzt wird, kann deren<br />
Anwendbarkeit in den unterschiedlichen<br />
Rechtsordnungen jeweils von weiteren Voraussetzungen<br />
abhängig gemacht werden. In<br />
Anbetracht der Vielzahl staatlicher Rechtsordnungen<br />
entpuppen sich daher auch die gemäßigten<br />
Varianten von Monismus <strong>und</strong> Dualismus<br />
als pluralistische Auffassungen.<br />
Der Pluralismus ist freilich eine Meta-Perspektive,<br />
denn Normenkonflikte können in<br />
Ermangelung einer übergeordneten Rechtsordnung<br />
immer nur aus der Sicht einer der<br />
beteiligten Rechtsordnungen gelöst werden.<br />
Auf dieser Prämisse baut auch das internationale<br />
Privatrecht auf, bei dem es sich entgegen<br />
seiner irreführenden Bezeichnung um staatliches<br />
Recht handelt, das andere staatliche<br />
Rechtsordnungen zwar als geltend anerkennt,<br />
aber selbst bestimmt, ob sie auf einen Sachverhalt<br />
mit Auslandsbezug anzuwenden sind. Es<br />
bietet sich daher der Versuch an, die Rechtskollisionen<br />
in der Weltgesellschaft vermittels<br />
eines neuartigen „Kollisionsrechts“ nach diesem<br />
Vorbild zu bewältigen. ❙ 39 Der kollisionsrechtliche<br />
Verweis auf eine andere partikulare<br />
Rechtsordnung erschiene dann aber ebenso<br />
wenig sachgerecht wie die alleinige Heranziehung<br />
der eigenen Rechtsordnung. Vielmehr<br />
müssten die verschiedenen Rechtsordnungen<br />
die Belange der anderen Rechtsordnungen jeweils<br />
intern reflektieren. Die Lösung bestünde<br />
dann in der Bildung eines substanziellen<br />
Rechts, das Elemente aus allen beteiligten<br />
Rechtsordnungen in sich aufnimmt. Auf diese<br />
Weise könnte sich in den staatlichen Rechtsordnungen<br />
etwa auch ein den Veränderungen<br />
angepasstes Verständnis der Horizontalwirkung<br />
von Gr<strong>und</strong>rechten entwickeln, das<br />
im Fall von Klagen vor nationalen Gerichten<br />
einen Schutz gegenüber transnationalen<br />
Rechtsregimes gewährleistet. ❙ 40 Damit wäre<br />
39 ❙ Christian Joerges, Kollisionsrecht als verfassungsrechtliche<br />
Form, in: Nicole Deitelhoff/Jens Steffek<br />
(Hrsg.), Was bleibt vom Staat?, Frankfurt/M. 2009,<br />
S. 309–331; Gunther Teubner, Altera Pars Audiatur:<br />
Das Recht in der Kollision anderer Universalitätsansprüche,<br />
in: Archiv für Rechts- <strong>und</strong> Sozialphilosophie-Beiheft,<br />
65 (1996), S. 199–220.<br />
40 ❙ Vgl. Karl-Heinz Ladeur/Lars Viellechner, Die<br />
transnationale Expansion staatlicher Gr<strong>und</strong>rechte,<br />
in: Archiv des Völkerrechts, 48 (2008), S. 42–73.<br />
APuZ 34–35/2010 25
26<br />
gewissermaßen deren externe Konstitutionalisierung<br />
erreicht.<br />
Eine bedeutende Rolle kommt unter diesen<br />
Umständen den Gerichten zu, die Niklas<br />
Luhmann auf Gr<strong>und</strong> ihres rechtlichen<br />
Entscheidungszwangs seit jeher im Zentrum<br />
des Rechtssystems sah. ❙ 41 Tatsächlich stellen<br />
Beobachter fest, dass sich mittlerweile ein<br />
„Netzwerk von Gerichten“ formiert habe,<br />
das sich einer globalen Herrschaft des Rechts<br />
verpflichtet fühle <strong>und</strong> informale Beziehungen<br />
über gegenseitige Beobachtung <strong>und</strong> persönlichen<br />
Austausch pflege. ❙ 42 Bereits früher<br />
wurde von einer „Funktionsverdoppelung“<br />
staatlicher Gerichte gesprochen, die zugleich<br />
als Organe der internationalen Gemeinschaft<br />
tätig würden, um die Durchsetzungsschwierigkeiten<br />
des Völkerrechts zu überwinden. ❙ 43<br />
Aus der faktischen Zusammenarbeit sind<br />
inzwischen sogar einige rechtliche Prinzipien<br />
über die Interaktion verschiedener<br />
Rechtsordnungen geronnen. Dazu gehören<br />
zum einen Subsidiaritätsprinzipien,<br />
die in „Solange“-Formeln verschiedenen<br />
Zuschnitts zum Ausdruck kommen. Das<br />
BVerfG zum Beispiel übt seine Rechtsprechung<br />
über die Anwendbarkeit von europäischem<br />
Sek<strong>und</strong>ärrecht nicht mehr aus, solange<br />
die EU generell einen Gr<strong>und</strong>rechtsschutz<br />
gewährleistet, der demjenigen des Gr<strong>und</strong>gesetzes<br />
im Wesentlichen gleich zu achten<br />
ist. ❙ 44 Dieses Motiv hat auch Eingang in<br />
die „Bosphorus“-Entscheidung des EGMR<br />
zur Kontrolle von Unionsrecht am Maßstab<br />
der Europäischen Menschenrechtskonvention<br />
gef<strong>und</strong>en. ❙ 45 Der EuGH hat sich in seiner<br />
„Kadi“-Entscheidung zwar einem ähnlichen<br />
Kooperationsverhältnis gegenüber den<br />
Vereinten Nationen (VN) verweigert, indem<br />
er eine Verordnung zur Umsetzung einer Re-<br />
41 ❙ Vgl. Niklas Luhmann, Die Stellung der Gerichte<br />
im Rechtssystem, in: Rechtstheorie, 21 (1990),<br />
S. 459–473.<br />
42<br />
❙ Anne-Marie Slaughter, A Global Community of<br />
Courts, in: Harvard International Law Journal, 44<br />
(2003), S. 191–219.<br />
43<br />
❙ Georges Scelle, Le phénomène juridique du dédoublement<br />
fonctionnel, in: Walter Schätzel/Hans-<br />
Jürgen Schlochauer (Hrsg.), Rechtsfragen der internationalen<br />
Organisation, Frankfurt/M. 1956,<br />
S. 324–342.<br />
44<br />
❙ Vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. 10. 1986, in: Ent-<br />
scheidungssammlung 73, S. 339–388.<br />
45<br />
❙ Vgl. EGMR, Urteil vom 30. 6. 2005, in: Neue Juristische<br />
Wochenschrift, 59 (2006), S. 197–204.<br />
APuZ 34–35/2010<br />
solution des Sicherheitsrats, die Individualsanktionen<br />
gegen mutmaßliche Terroristen<br />
vorsah, wegen Unvereinbarkeit mit europäischen<br />
Gr<strong>und</strong>rechten für nichtig erklärte. ❙ 46<br />
Dieser Ansatz mag aber der Tatsache geschuldet<br />
sein, dass die VN einen vergleichbaren<br />
gerichtlichen Rechtsschutz bislang nicht<br />
bieten. Unabhängig davon haben sich zum<br />
anderen Rechtspflichten zur gegenseitigen<br />
Berücksichtigung gerichtlicher Entscheidungen<br />
etabliert. Das Übereinkommen der Vereinten<br />
Nationen über Verträge über den <strong>Internationale</strong>n<br />
Warenkauf (United Nations<br />
Convention on Contracts for the International<br />
Sale of Goods, CISG) etwa bestimmt in<br />
Artikel 7 Absatz 1, dass bei seiner Auslegung<br />
sein internationaler Charakter <strong>und</strong> die Notwendigkeit<br />
seiner einheitlichen Anwendung<br />
zu berücksichtigen sind. Während im Übrigen<br />
einige Gerichte die Rechtsprechung anderer<br />
Spruchkörper lediglich ergänzend heranziehen,<br />
um ihre eigene Argumentation zu<br />
stützen, hat das BVerfG aus dem Gr<strong>und</strong>satz<br />
der Völkerrechtsfre<strong>und</strong>lichkeit des Gr<strong>und</strong>gesetzes<br />
eine verfassungsrechtliche Pflicht<br />
staatlicher Gerichte abgeleitet, die Entscheidungen<br />
internationaler Gerichte derart zu<br />
berücksichtigen, dass sie sich erkennbar mit<br />
ihnen auseinandersetzen <strong>und</strong> gegebenenfalls<br />
nachvollziehbar begründen, warum sie ihnen<br />
nicht folgen. ❙ 47 Insofern erzwingt der Prozess<br />
der Globalisierung zwar einen Einbau kognitiver<br />
Mechanismen in das Recht, bewirkt<br />
aber nicht dessen Rückentwicklung.<br />
Ein normatives Konzept des Rechtspluralismus<br />
in diesem Sinne eröffnet einen neuen<br />
Weg, um nicht nur die überkommene dualistische<br />
Vorstellung staatlicher Souveränität<br />
<strong>und</strong> die unerreichbare monistische Vision<br />
weltstaatlicher Universalität zu überwinden,<br />
sondern auch die postmoderne Zumutung<br />
radikaler Partikularität zu vermeiden. Zwar<br />
mag ein derartiger Kompromiss niemanden<br />
wirklich zufrieden stellen. Ein aussichtsreicheres<br />
Modell für das Recht der Weltgesellschaft<br />
ist derzeit aber nicht in Sicht.<br />
46 ❙ Vgl. EuGH, Urteil vom 3. 9. 2008, in: Rechtsprechungssammlung<br />
2008, S. I-6351–6512.<br />
47 ❙ Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. 10. 2004, in: Entscheidungssammlung<br />
111, S. 307–332; Beschluss vom<br />
19. 9. 2006, in: Neue Juristische Wochenschrift, 60<br />
(2007), S. 499–504.
Eva Senghaas-Knobloch<br />
<strong>Internationale</strong><br />
Arbeits regulierung für<br />
ein menschenw ürdiges<br />
Leben weltweit<br />
Der Ruf nach einer internationalen Regulierung<br />
von Arbeit hat die Entwicklung<br />
der Industriegesellschaften seit ihrem<br />
Entstehen begleitet.<br />
Seit Beginn der Industrialisierung<br />
in<br />
Europa nach 1750 gerieten<br />
traditionelle<br />
Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialordnungen<br />
unter<br />
den Druck einer Dynamik,<br />
in welcher die<br />
weniger produktive<br />
durch die produktivere<br />
Arbeit verdrängt wurde. Durch die neue<br />
dramatische Entwicklungsdynamik wurde<br />
den Menschen in traditionellen (allermeist<br />
bäuerlichen) Wirtschafts- <strong>und</strong> Lebensweisen<br />
oft die materielle Gr<strong>und</strong>lage entzogen, ohne<br />
dass ihnen ausreichende Ressourcen für wirtschaftliche<br />
Alternativen zur Verfügung standen;<br />
<strong>und</strong> mit dem heraufziehenden Bürgertum<br />
wurden traditionelle Herrschafts- <strong>und</strong><br />
Ordnungsvorstellungen delegitimiert, ohne<br />
dass sich für die große Mehrheit der Bevölkerungen<br />
die Lebensverhältnisse verbesserten.<br />
Damit stellte sich die Problematik<br />
ordnungspolitischer Rahmenbedingungen<br />
für Wohlstands- <strong>und</strong> Wohlfahrtsmehrung:<br />
Reicht es aus, der Wirtschaftsdynamik<br />
möglichst ungehindert freien Lauf zu lassen<br />
oder bedarf es politischer Gestaltungsräume<br />
zur ihrer Lenkung? ❙ 1 „Ein internationales<br />
Gesetz über die industrielle Arbeit ist<br />
die einzig mögliche Lösung des großen Sozialproblems“,<br />
urteilte der elsässische Besitzer<br />
einer Seidenmanufaktur Daniel Legrand<br />
schon 1857 <strong>und</strong> setzte sich für eine auf sechs<br />
St<strong>und</strong>en am Tag begrenzte Arbeitszeit für<br />
Kinder ein. ❙ 2 Anlässlich der Weltausstellung<br />
von 1900 in Brüssel bildete sich die private<br />
<strong>Internationale</strong> Vereinigung für gesetzlichen<br />
Arbeiterschutz <strong>und</strong> bewirkte 1906 in<br />
Eva Senghaas-Knobloch<br />
Dr. phil., geb. 1942; Professorin<br />
(em.) für Arbeitswissenschaft,<br />
Universität Bremen;<br />
Senior Researcher im Forschungszentrum<br />
Nachhaltigkeit<br />
(artec), Enrique-Schmidt-<br />
Straße 7, 28359 Bremen.<br />
esk@artec.uni-bremen.de<br />
Bern die Unterzeichnung erster zwischenstaatlicher<br />
Abkommen über Produktionsbedingungen<br />
wie das Verbot des hochgiftigen<br />
weißen Phosphors bei der Fertigung<br />
von Streichhölzern.<br />
Aber erst nach dem Zivilisationsschock<br />
des Ersten Weltkriegs kam es im Rahmen<br />
des Friedensvertrags von Versailles 1919 zur<br />
Gründung der bis heute bestehenden <strong>Internationale</strong>n<br />
Arbeitsorganisation (IAO). ❙ 3 Den<br />
gesellschaftlichen Anstößen zu ihrer Gründung<br />
entsprechend sah sie für jedes Mitgliedsland<br />
eine „dreigliedrige“ Beteiligung<br />
von Regierung, Arbeitnehmer- <strong>und</strong> Arbeitgebervereinigungen<br />
bei allen Beratungs- <strong>und</strong><br />
Beschlussfassungen vor. In der Präambel zu<br />
ihrer Verfassung von 1919, die bis heute gilt,<br />
heißt es: „Der Weltfrieden kann auf die Dauer<br />
nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut<br />
werden. Nun bestehen aber Arbeitsbedingungen,<br />
die für eine große Anzahl von Menschen<br />
mit soviel Ungerechtigkeit, Elend <strong>und</strong><br />
Entbehrungen verb<strong>und</strong>en sind, dass eine Unzufriedenheit<br />
entsteht, die den Weltfrieden<br />
<strong>und</strong> die Welteintracht gefährdet. Eine Verbesserung<br />
dieser Bedingungen ist dringend<br />
erforderlich.“ ❙ 4<br />
Das bis heute einzigartig für internationale<br />
Organisationen vorgesehene Vertretungsprinzip<br />
der Dreigliedrigkeit bringt<br />
zum Ausdruck, dass Gerechtigkeit in einer<br />
Weltsozialordnung innerhalb <strong>und</strong> zwischen<br />
Staaten auf der Anerkennung gleichberechtigter<br />
Interessen beruht, die in Verhandlungen<br />
über Arbeits- <strong>und</strong> Sozialbedingungen<br />
einbezogen werden müssen. Bekräftigt <strong>und</strong><br />
völkerrechtlich weiterentwickelt wurde diese<br />
frühe Auffassung noch während des Zweiten<br />
Weltkriegs <strong>und</strong> in den ersten Jahrzehnten<br />
danach: „Der Kampf gegen die Not muss<br />
innerhalb jeder Nation <strong>und</strong> durch ständiges<br />
gemeinsames internationales Vorgehen unermüdlich<br />
weitergeführt werden“, wird in der<br />
1 ❙ Zur Aktualität der Programmatiken ökonomischer<br />
Klassiker vgl. Dieter Senghaas, Weltordnung in einer<br />
zerklüfteten Welt, Berlin 2010, Kap. 5 (i. E.).<br />
2<br />
❙ Zit. nach: Alfred Manes, Sozialpolitik in den Frie-<br />
densverträgen <strong>und</strong> im Völkerb<strong>und</strong>, Berlin 1918, S. 6.<br />
3<br />
❙ Bekannter ist die englische Abkürzung ILO, die<br />
aber sowohl für die Organisation (International Labour<br />
Organization) als auch für deren Stab (Interna-<br />
tional Labour Office) steht.<br />
4<br />
❙ <strong>Internationale</strong>s Arbeitsamt, Verfassung der <strong>Internationale</strong>n<br />
Arbeitsorganisation, Genf 1997, S. 7.<br />
APuZ 34–35/2010 27
28<br />
IAO-Erklärung von Philadelphia von 1944<br />
unterstrichen. ❙ 5 Auch werden gemäß der 1945<br />
angenommenen Charta der Vereinten Nationen<br />
(VN) laut Artikel 55 die „Verbesserung<br />
des Lebensstandards, die Förderung von<br />
Vollbeschäftigung <strong>und</strong> der Voraussetzungen<br />
für wirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen Fortschritt<br />
<strong>und</strong> Aufstieg“ angestrebt. Einschlägige Artikel<br />
enthält überdies die Allgemeine Erklärung<br />
der Menschenrechte von 1948. ❙ 6 Und die<br />
beiden Menschenrechtspakte, der <strong>Internationale</strong><br />
Pakt über bürgerliche <strong>und</strong> politische<br />
Rechte (Zivilpakt) <strong>und</strong> der <strong>Internationale</strong><br />
Pakt über wirtschaftliche, soziale <strong>und</strong> kulturelle<br />
Rechte (Sozialpakt) von 1966 formulieren<br />
in ihren Präambeln analog, dass das Ideal<br />
vom freien Menschen, der frei von Furcht<br />
<strong>und</strong> Not lebt, nur verwirklicht werden könne,<br />
wenn Verhältnisse geschaffen würden, in<br />
denen wirtschaftliche, soziale <strong>und</strong> kulturelle<br />
Rechte die gleiche Bedeutung hätten wie bürgerliche<br />
<strong>und</strong> politische Rechte.<br />
Der IAO kommt als VN-Sonderorganisation<br />
zentrale Bedeutung zu, wenn es angesichts<br />
gravierender Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialkrisen<br />
um die soziale Dimension einer global<br />
governance geht. Hier wird Arbeitspolitik<br />
als Gr<strong>und</strong>lage für jede weiter gehende Sozialpolitik<br />
gesetzt, der es neben Regeln auch<br />
um Ausgleich durch Umverteilung <strong>und</strong> Versorgung<br />
mit dem Lebensnotwendigen gehen<br />
muss. ❙ 7 So wurden in den 91 Jahren des Bestehens<br />
der IAO von der <strong>Internationale</strong>n Arbeitskonferenz<br />
(Plenarorgan der IAO) über<br />
188 (ratifikationsbedürftige) Übereinkommen<br />
<strong>und</strong> 199 Empfehlungen angenommen, 76<br />
Übereinkommen wurden im letzten Revisionsprozess<br />
als aktuell bestätigt <strong>und</strong> den heute<br />
183 Mitgliedstaaten zur Ratifikation empfohlen,<br />
auf deren völkerrechtlich verbindlicher<br />
Basis umfangreiche Aufsichtsverfahren in<br />
Gang gesetzt werden. ❙ 8 Zu diesen Verfahren<br />
5 ❙ Ebd., S. 25.<br />
6<br />
❙ So beispielsweise gegen Sklaverei <strong>und</strong> Leibeigen-<br />
schaft (Artikel 4), für Versammlung <strong>und</strong> Vereinigungsfreiheit<br />
(Artikel 20) oder für soziale Sicherheit, wirt-<br />
schaftliche, soziale <strong>und</strong> kulturelle Rechte (Artikel 22).<br />
7<br />
❙ Vgl. Lutz Leisering, Soziale Globalisierung? Die<br />
Entstehung globaler Sozialpolitik, in: APuZ, (2008)<br />
21, S. 21–26.<br />
8<br />
❙ Vgl. Eva Senghaas-Knobloch, Zwischen Überzeugen<br />
<strong>und</strong> Erzwingen. Nachhaltiger Druck zur<br />
Geltung <strong>und</strong> Wirksamkeit internationaler Arbeits-<br />
<strong>und</strong> Sozialstandards, in: Bernhard Zangl/Michael<br />
Zürn (Hrsg.), Verrechtlichung – Baustein für Global<br />
Governance?, Bonn 2004, S. 140–159.<br />
APuZ 34–35/2010<br />
gehören neben regelmäßigen Staatenberichten<br />
<strong>und</strong> ihrer Auswertung während der jährlich<br />
tagenden <strong>Internationale</strong>n Arbeitskonferenz<br />
auch Beschwerde- <strong>und</strong> Klageverfahren<br />
durch Gewerkschafts- <strong>und</strong> Regierungsvertreter<br />
<strong>und</strong> den Verwaltungsrat (exekutives<br />
Organ der IAO).<br />
Neben den auf Normen bezogenen Aktivitäten<br />
ist der IAO-Stab im Bereich der technischen<br />
Hilfe <strong>und</strong> des capacity building ❙ 9 tätig<br />
<strong>und</strong> mit der ständigen Weiterführung <strong>und</strong><br />
Revision der organisatorischen Wissensbasis<br />
befasst, bei der es um Analysen <strong>und</strong> Lageeinschätzung<br />
in den verschiedenen sozioökonomischen<br />
Kontexten der Welt, auch um Evaluationen<br />
eigener Aktivitäten geht. ❙ 10 Dies ist<br />
auch erforderlich, weil sich seit der Gründung<br />
der IAO die von ihr in den Blick genommene<br />
Arbeitswelt stark verändert hat.<br />
Mit der Dekolonisierung <strong>und</strong> den neuen<br />
Ländermitgliedschaften wuchs die Herausforderung,<br />
Arbeit in einem entwicklungspolitischen<br />
Zusammenhang zu betrachten;<br />
mit dem Ende des Ost-West-Konflikts <strong>und</strong><br />
einem neuen Globalisierungsschub rückten<br />
erneut Reichweite <strong>und</strong> Geltung der universell<br />
konzipierten, aber flexibel umzusetzenden<br />
Arbeits- <strong>und</strong> Sozial standards in den<br />
Mittelpunkt.<br />
Veränderungen der Arbeitswelt<br />
durch Globalisierung<br />
Nach dem zweiten Öl-Schock Ende der<br />
1970er Jahre, durch den in den Industriestaaten<br />
Stagflation (Nullwachstum bei steigender<br />
Inflation) <strong>und</strong> ein dramatischer Anstieg<br />
von Arbeitslosigkeit ausgelöst wurde,<br />
zerbrach der Jahrzehnte währende politische<br />
Konsens innerhalb der Industriegesellschaften<br />
über Gr<strong>und</strong>prinzipen von Sozialstaatlichkeit.<br />
Dominant wurde die Ökonomie<br />
9 ❙ Vgl. Andrea Liese, „Capacity Building“ als Strategie<br />
zur Förderung der Regeleinhaltung. Erfahrungen<br />
der IAO bei der Abschaffung von Kinderarbeit,<br />
in: Eva Senghaas-Knobloch (Hrsg.), Weltweit geltende<br />
Arbeitsstandards trotz Globalisierung, Münster<br />
2005, S. 63–79.<br />
10 ❙ Vgl. Eva Senghaas-Knobloch/Jan Dirks/Andrea<br />
Liese, Die <strong>Internationale</strong> Arbeitsregulierung in Zeiten<br />
der Globalisierung. Politisch-organisatorisches<br />
Lernen in der <strong>Internationale</strong>n Arbeitsorganisation,<br />
Münster 2003.
einer fälschlicherweise ❙ 11 „neoliberal“ genannten<br />
Schule, die auf rein wirtschaftliche<br />
Anreize als Gr<strong>und</strong>lage von Wachstum <strong>und</strong><br />
Beschäftigung setzt <strong>und</strong> in jeglicher Regulierung<br />
des Arbeitsmarkts tendenziell schädliche<br />
Marktverzerrungen sieht. Entsprechend<br />
wurden Strategien der Privatisierung, Rücknahme<br />
des öffentlichen Beschäftigungssektors,<br />
Rückbau von Arbeitsschutz <strong>und</strong> sozialer<br />
Sicherung, Liberalisierung von Handel<br />
<strong>und</strong> Finanzen <strong>und</strong> eine restriktive Geld- <strong>und</strong><br />
Steuerpolitik als angemessene Politik propagiert<br />
<strong>und</strong> durchgesetzt. In den verschuldeten<br />
Ländern Lateinamerikas, Afrikas <strong>und</strong> einiger<br />
asiatischer Länder wurde in den 1980er<br />
Jahren eine solche Politik auch konsequent<br />
im Rahmen des Washingtoner Konsenses in<br />
Gestalt von (Staatsaktivitäten abbauenden)<br />
„Strukturanpassungsplänen“ als Bedingung<br />
für die Gewährung von Krediten von Weltwährungsfonds<br />
<strong>und</strong> Weltbank verfolgt. Auch<br />
in den EU-Ländern <strong>und</strong> in der EU-Kommission<br />
fanden, wenngleich vielerorts durch tradierte<br />
Politikkulturen gedämpft, neoliberale<br />
Rezepte einer weitgehenden Deregulierung<br />
Anklang. Am weitesten wurden die Finanzmärkte<br />
dereguliert, mit den inzwischen bekannten<br />
Ergebnissen einer Weltfinanz- <strong>und</strong><br />
Weltwirtschaftskrise. Im Zuge dieser Entwicklung<br />
haben fast alle Staaten einen Teil ihrer<br />
bis dahin vorhandenen politischen Steuerungsfähigkeit<br />
verloren. Sozialstaatliche<br />
Vorkehrungen werden seitdem weniger unter<br />
dem Gesichtspunkt einer öffentlichen Investition<br />
für eine gewünschte Sozialintegration<br />
als hinsichtlich eines vermeintlichen Nachteils<br />
im globalen Wettbewerb um Privatinvestitionen<br />
betrachtet.<br />
Seit den 1970er Jahren investieren multi-<br />
<strong>und</strong> transnational agierende Unternehmen<br />
mit Hauptsitz in den Industrieländern (<strong>und</strong><br />
neuerdings auch in den asiatischen Schwellenländern)<br />
nicht nur – wie schon zuvor – weltweit<br />
in den Abbau von Rohstoffen <strong>und</strong> in die<br />
Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte für<br />
den Export; ❙ 12 sie errichten auch weltweit Produktionsstätten<br />
für industrielle Güter – dies<br />
11 ❙ Zu den frühen Neoliberalen bzw. Ordoliberalen, die<br />
staatliche Regulierung, nicht aber „Marktaktivitäten“<br />
des Staates für erforderlich hielten vgl. Karen Horn,<br />
Die Soziale Marktwirtschaft, Frankfurt/M. 2010.<br />
12 ❙ Vgl. Olivier De Schutter, International Trade in<br />
Agriculture and the Right to Food, Friedrich Ebert<br />
Stiftung, Dialogue on Globalization, Occasional Paper<br />
46, Genf 2009.<br />
sowohl zur Markterschließung vor Ort (wie<br />
in Brasilien oder China) als auch mit dem Ziel<br />
der Kostensenkung für die Belieferung des<br />
eigenen heimischen Marktes in den Industriegesellschaften<br />
(outsourcing, insourcing).<br />
Dadurch wird der Welthandel zu einem erheblichen<br />
Anteil zu einem Austausch von Waren<br />
zwischen verschiedenen Standorten von<br />
Multis. 1999 machte beispielsweise solcher<br />
„Intrafirmenhandel“ ein Drittel des Handels<br />
zwischen Japan <strong>und</strong> den USA aus. Schon ab<br />
den 1970er Jahren wuchs der Welthandel prozentual<br />
stärker als die Weltproduktion von<br />
Gütern, <strong>und</strong> ab Mitte der 1980er Jahre stiegen<br />
auch die grenzüberschreitenden Kapitalbewegungen<br />
auf rasante Weise an – weltweit, aber<br />
auf bestimmte Kernregionen konzentriert;<br />
schließlich begannen reine Finanztransaktionen<br />
die Produktivkapitalbewegungen bei<br />
Weitem zu überschreiten. ❙ 13 Die Aktivitäten<br />
in Entwicklung, Planung, Produktion <strong>und</strong><br />
Dienstleistungen großer westlicher Konzerne<br />
werden in globalen sogenannten Wertschöpfungsketten<br />
dezentralisiert, also – nach<br />
Maßgabe von unternehmensstrategischen,<br />
letztlich gewinnorientierten Investitionsimperativen<br />
– auf Standorte an verschiedenen<br />
Orten der Welt ausgelagert, weiterverlagert,<br />
zurückverlagert oder auch aufgegeben. Immer<br />
mehr Unternehmen investierten zudem<br />
offensichtlich einen erheblichen Teil ihrer Gewinne<br />
in spekulative Geschäfte. Volkswirtschaftliche<br />
Entwicklung im Rahmen einzelner<br />
betroffener politischer Gemeinweisen ist<br />
bei diesen Entscheidungen nicht im Blick.<br />
Die Folgen dieser strukturell-asymmetrischen<br />
Art von Globalisierung stellen sich in<br />
den verschiedenen Regionen <strong>und</strong> sozioökonomischen<br />
Kontexten der Weltwirtschaft verschieden<br />
dar. Für nahezu alle gilt aber, dass<br />
die Einkommensunterschiede dramatisch anstiegen.<br />
Das Auseinanderdriften zeigt sich<br />
sowohl zwischen den Staaten als auch innerhalb<br />
der Staaten: Die Daten der Weltbank zeigen,<br />
dass sich zwischen Anfang der 1960er<br />
Jahre <strong>und</strong> Anfang des neuen Jahrh<strong>und</strong>erts in<br />
94 Ländern, für die entsprechende Daten vorlagen,<br />
die Kluft zwischen dem durchschnitt-<br />
13<br />
❙ Vgl. hierzu <strong>und</strong> zum Folgenden Werner Sengenberger,<br />
„Der kurze Traum immerwährender Prosperität“<br />
<strong>und</strong> die lange Ernüchterung, in: Norbert<br />
Altmann/Fritz Böhle (Hrsg.), Nach dem „kurzen<br />
Traum“. Neue Orientierungen in der Arbeitsforschung,<br />
Berlin 2010 (i. E.).<br />
APuZ 34–35/2010 29
30<br />
lichen Pro-Kopf-Einkommen der 20 ärmsten<br />
Länder im Verhältnis zu dem der 20 reichsten<br />
Länder von 1 zu 54 auf 1 zu 121 vergrößerte. ❙ 14<br />
Diese drastische Entwicklung von Ungleichheit<br />
wird verdeckt, wenn die Verbesserungen<br />
in den bevölkerungsreichen neuen Exportländern<br />
China <strong>und</strong> Indien, die wenigstens das<br />
Ausmaß der extremen Armut trotz gleichzeitig<br />
wachsender innerer Ungleichheit reduzieren<br />
konnten, in die globalen Zahlen eingerechnet<br />
werden. Diese <strong>und</strong> einige kleinere Länder wie<br />
Südkorea konnten aus der Exportförderung<br />
volkswirtschaftlichen Gewinn ziehen, hatten<br />
sich aber keineswegs dem Marktöffnungsdiktat<br />
gebeugt, sondern ihre Wirtschaftspolitik<br />
selbst gezielt staatsinterventionistisch gesteuert<br />
– allerdings auf Basis einer Wirtschafts-<br />
<strong>und</strong> Arbeitspolitik, die sich über Rechte bei<br />
der Arbeit hinwegsetzt <strong>und</strong> insbesondere<br />
Frauen diskriminiert. In der Folge eines Wettlaufs<br />
bei Steuersenkungen, besonders auf Kapitaleinkommen,<br />
sanken mit den eingenommenen<br />
Steuern auch die staatlichen Ausgaben<br />
für Bildung, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> andere öffentliche<br />
Aufgaben; Infrastrukturen wurden vielfach<br />
privatisiert. In Afrika, Osteuropa, Zentralasien,<br />
Lateinamerika <strong>und</strong> Mittelasien stieg<br />
der Anteil der Menschen in absoluter Armut.<br />
In vielen fortgeschrittenen Industrieländern<br />
zeigt sich der Trend für die Einkommens- <strong>und</strong><br />
Vermögensverteilung während der vergangenen<br />
h<strong>und</strong>ert Jahre als Bild einer „offenen<br />
Sichel“: Lohnspreizung sowie Reichtums-<br />
<strong>und</strong> Armutsdifferenzierung zu Beginn <strong>und</strong><br />
zum Ende des 20. Jahr h<strong>und</strong>erts.<br />
Von besonderer Bedeutung ist die weltweite<br />
Zunahme (<strong>und</strong> nicht wie modelltheoretisch<br />
prognostiziert die Abnahme) von informalisierter<br />
Arbeit – jener Form von Beschäftigung,<br />
die sich außerhalb von formaler Registrierung<br />
<strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>enen staatlichen<br />
Schutzrechten bewegt – als Folge dieser deregu<br />
lier ten Globalisierungspolitik. In Lateinamerika<br />
wird von einer „Delaborisierung“ ❙ 15<br />
gesprochen: Der Anteil arbeits- <strong>und</strong> sozialrechtlich<br />
geschützter Beschäftigungsverhältnisse<br />
sank zugunsten von Kontraktarbeit <strong>und</strong><br />
Alleinselbständigenarbeit sowie von befriste-<br />
14 ❙ Vgl. Weltkommission über die soziale Dimension<br />
der Globalisierung, Eine faire Globalisierung, Genf<br />
2004, S. 38 ff.<br />
15 ❙ Daniel Martinez, The World of Work in the Context<br />
of Economic Integration and Trade Liberalization.<br />
From the Vantage Point of the Americas, ILO-Policy<br />
Integration Department, Paper 145, Genf 2004.<br />
APuZ 34–35/2010<br />
ter Beschäftigung, Teilzeitarbeit <strong>und</strong> einem<br />
starken Anstieg verschiedener Arbeitsformen<br />
in der informellen Ökonomie mit ihren verletzlichen<br />
Beschäftigungsformen. In Afrika<br />
ist als Folge der Globalisierung vor allem der<br />
Druck auf kleinbäuerliche Existenzen, besonders<br />
von Frauen, hervorzuheben: Im Gegensatz<br />
zum erklärten Freihandelsziel verdrängen<br />
subventionierte landwirtschaftliche<br />
Produkte aus Industrieländern wie den USA<br />
<strong>und</strong> den EU-Staaten im südlichen Afrika die<br />
– nicht selten zuvor mit Entwicklungshilfe<br />
aufgebauten – örtlichen Existenzen wie bei<br />
der Geflügelhaltung <strong>und</strong> im Fischfang. Das<br />
Weltwirtschaftswachstum in den Jahren vor<br />
der aktuellen Finanz- <strong>und</strong> Wirtschaftskrise<br />
hat auch vielen der etwa 1,5 Milliarden formal<br />
registrierten lohnabhängigen Beschäftigten<br />
keinen erhöhten Wohlstand gebracht. In den<br />
Ländern der Organisation für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit <strong>und</strong> Entwicklung (OECD)<br />
stieg die Niedriglohnquote (zwei Drittel des<br />
Median) zwischen 1996 <strong>und</strong> 2006 von 17 auf<br />
18 Prozent. Die Lohnquote (Anteil der Löhne<br />
am Bruttoinlandsprodukt) ist in den vergangenen<br />
Jahren in drei Vierteln aller Länder geschrumpft.<br />
Die Reallohnzuwächse der Industrieländer<br />
betrugen zwischen 2001 <strong>und</strong> 2007<br />
höchstens ein Prozent; in Deutschland waren<br />
es 0,5 Prozent. ❙ 16 Auch das Arbeitsleben in der<br />
EU hat sich in den vergangenen Jahrzehnten<br />
erheblich verändert: sowohl was die Qualität<br />
der Beschäftigungsverhältnisse anbelangt, als<br />
auch die der Arbeit selbst. ❙ 17 Bei den Beschäftigungsverhältnissen<br />
ist die Zunahme von unterbezahlten<br />
<strong>und</strong> gering geschützten Dienstleistungen<br />
sowie Teilzeitarbeit besonders von<br />
Frauen auffällig.<br />
Decent Work Agenda<br />
Dass Arbeitskraft nicht ohne die Person, zu<br />
der sie gehört, zu haben ist, also jede Nutzung<br />
menschlicher Arbeitskraft auch die Würde<br />
des Menschen tangiert, wird seit Kurzem<br />
wieder thematisiert. Bis weit in die 1990er<br />
Jahre war die IAO im Konzert der internationalen<br />
<strong>Institutionen</strong> eher marginalisiert. Zwar<br />
hatten sich die 120 Regierungschefs während<br />
des Sozialgipfels von 1995 in Kopenhagen zu<br />
16 ❙ Vgl. ILO, Global Wage Report 2008/09, Genf<br />
2008, S. 19 ff.<br />
17 ❙ Vgl. Eva Senghaas-Knobloch, Wohin driftet die<br />
Arbeitswelt?, Wiesbaden 2008.
den drei großen Zielsetzungen bekannt: soziale<br />
Inklusion, Vollbeschäftigung <strong>und</strong> Armutsreduktion<br />
in Verbindung mit gr<strong>und</strong>legenden<br />
Menschenrechten bei der Arbeit.<br />
Aber allein die Armutsreduktion ist im Jahr<br />
2000 in die Liste der VN-Mil len niums ziele<br />
für Entwicklung aufgenommen worden –<br />
ohne Bezug auf Probleme von Beschäftigung<br />
<strong>und</strong> Arbeit. Die deutliche Trennung ökonomischer<br />
von sozialen Dimensionen in den internationalen<br />
Governance-Strukturen hatte<br />
sich mit der Gründung der Welthandelsorganisation<br />
(World Trade Organization, WTO)<br />
1996 noch verstärkt: Regierungen <strong>und</strong> Arbeitgebervertreter<br />
aufstrebender Schwellenländer<br />
des Südens sprachen sich gegen jedes<br />
Junktim von so zial-normativen Kriterien <strong>und</strong><br />
Freihandel aus, weil sie darin Wettbewerbsverzerrungen<br />
zu ihrem Nachteil sahen. Erst<br />
1998 gelang es der IAO mit der „Erklärung<br />
über gr<strong>und</strong>legende Prinzipien <strong>und</strong> Rechte bei<br />
der Arbeit“ einen anfänglich bescheidenen<br />
normativen Gr<strong>und</strong>konsens für die Welt der<br />
Arbeit zustande zu bringen. Da das Arbeitsrecht<br />
nicht zum öffentlichen Recht gezählt<br />
wird, gab es bis dahin kaum Verbindungen<br />
zwischen arbeitsrechtlichen <strong>und</strong> menschenrechtlichen<br />
Diskursen, obwohl schon in der<br />
IAO-Erklärung von Philadelphia 1944 eine<br />
an Rechten orientierte Sprache gewählt wurde<br />
(„Arbeit ist keine Ware“).<br />
Bei den von der IAO erklärten gr<strong>und</strong>legenden<br />
Rechten oder Kernarbeitsnormen,<br />
die in acht IAO-Übereinkommen völkerrechtlich<br />
judifiziert sind, geht es um das<br />
Recht auf Vereinigungsfreiheit bzw. kollektive<br />
Tarifverhandlungen, die Abschaffung von<br />
Zwangsarbeit, die Beseitigung (spezifizierter)<br />
Kinderarbeit <strong>und</strong> das Verbot von Diskriminierung<br />
in Beschäftigung <strong>und</strong> Beruf<br />
(wie nach Geschlecht oder Hautfarbe). Diese<br />
gr<strong>und</strong>legenden Prinzipien <strong>und</strong> Rechte lassen<br />
sich als faire Wettbewerbsregeln für die internationale<br />
Wirtschaft legitimieren. In ihrem<br />
normativen Sinn sind sie als Ermöglichungsrechte<br />
zur Existenzerhaltung <strong>und</strong> -entfaltung<br />
zu verstehen. ❙ 18 Es sind liberale Gr<strong>und</strong>rechte;<br />
im Unterschied zu der Vielzahl von IAO-Regelungsgebieten<br />
im Arbeits- <strong>und</strong> Sozialrecht<br />
schaffen sie für sich allerdings noch keinen<br />
materiellen Schutz: So garantieren sie weder<br />
18 ❙ Vgl. Martha Nussbaum, Women and Equality.<br />
The Capabilities Approach, in: International Labour<br />
Review, 138 (1999) 3, S. 217–245.<br />
ausreichenden Lebensunterhalt noch ges<strong>und</strong>e<br />
Arbeitsbedingungen. Zur Förderung der<br />
Menschenwürde bei der Arbeit sind sie unabdingbar,<br />
zur Verbesserung der Arbeits- <strong>und</strong><br />
Lebensbedingungen allein unzureichend. Zu<br />
den prioritär zu fördernden Übereinkommen<br />
werden daher vom IAO-Stab auch die Übereinkommen<br />
über Arbeitsaufsicht, Sozialeinrichtungen,<br />
die Festsetzung von Mindestlöhnen<br />
<strong>und</strong> Arbeitnehmervertreter im Betrieb<br />
gezählt.<br />
Auf dieser normativen Gr<strong>und</strong>legung konnte<br />
die Decent Work Agenda der IAO von<br />
1999 aufbauen. Ihr Anspruch ist die Inklusion<br />
aller arbeitenden Menschen in das Mandat<br />
der IAO. Juan Somavía, der erste nicht aus<br />
einem klassischen Industrieland kommende<br />
Generaldirektor der IAO, formulierte in seiner<br />
programmatischen „Agenda für weltweit<br />
menschenwürdige Arbeit“ als vorrangiges<br />
Ziel, „Möglichkeiten zu fördern, die Frauen<br />
<strong>und</strong> Männern eine menschenwürdige <strong>und</strong><br />
produktive Arbeit in Freiheit, Sicherheit <strong>und</strong><br />
Würde <strong>und</strong> unter gleichen Bedingungen bieten“.<br />
Der IAO müsse es „auch um Erwerbstätige<br />
außerhalb des formellen Arbeitsmarktes<br />
gehen, um die Arbeitnehmer in ungeregelten<br />
Verhältnissen, um Selbständige <strong>und</strong> Heimarbeiter“.<br />
❙ 19 Die Decent Work Agenda der IAO<br />
benennt vier strategische Gr<strong>und</strong>sätze, die zu<br />
Lebensbedingungen beitragen sollen, in denen<br />
sich Menschen entwickeln können: produktive<br />
Beschäftigung (also Arbeit, die über<br />
die bloße Existenzerhaltung hinaus Bedürfnisse<br />
erfüllen kann), Rechte bei der Arbeit,<br />
Sozialschutz in den Lebensphasen, in denen<br />
der eigene Unterhalt nicht durch Arbeit gesichert<br />
werden kann (Kindheit, Krankheit<br />
bzw. Invalidität, Beschäftigungslosigkeit<br />
<strong>und</strong> Alter) <strong>und</strong> Sozialdialog (also das Prinzip,<br />
Arbeitende in allen Entscheidungen, die<br />
Arbeit betreffen, in einem Verhandlungsprozess<br />
mit Arbeitgebern oder auch Regierungen<br />
zu beteiligen).<br />
Die IAO steht mit Blick auf alle vier Gr<strong>und</strong>sätze<br />
vor der Herausforderung, die strukturellen<br />
Unterschiede <strong>und</strong> Interdependenzen<br />
der sozioökonomischen Kontexte (Schwellen-,<br />
Entwicklungs-, Industrie- <strong>und</strong> Transformationsländer)<br />
zu beachten, um sowohl<br />
ökonomischen Entwicklungsnutzen als auch<br />
19<br />
❙ <strong>Internationale</strong>s Arbeitsamt, Menschenwürdige<br />
Arbeit, Genf 1999, S. 4.<br />
APuZ 34–35/2010 31
32<br />
unveräußerliche Rechte zu befördern. Von<br />
besonderer Bedeutung ist, wie dem Gr<strong>und</strong>gedanken<br />
des klassischen Arbeitsrechts,<br />
also der Stärkung der Verhandlungsmacht<br />
der schwächeren Seite (Arbeitnehmer), auch<br />
im Fall von unregelmäßiger <strong>und</strong> alleinselbständiger<br />
Arbeit Rechnung getragen werden<br />
kann. Hier sind gewerkschaftliche <strong>und</strong> genossenschaftliche<br />
Vereinigungen entscheidend,<br />
besonders wenn es um die faktische Beachtung<br />
von Recht <strong>und</strong> Gesetz vor Ort geht.<br />
In ihren spezifischen Länderprogrammen bemüht<br />
sich die IAO auch um die Verbesserung<br />
der Arbeits- <strong>und</strong> Lebensbedingungen in der<br />
informellen Ökonomie. Dazu gehören Konzepte<br />
für ein „globales soziales Minimum“ ❙ 20<br />
<strong>und</strong> die Organisation basaler sozialer Sicherungssysteme,<br />
um Kinder sowie kranke, verletzliche<br />
<strong>und</strong> alte Menschen zu schützen.<br />
Die Decent Work Agenda konkretisiert<br />
<strong>und</strong> aktualisiert das Mandat der IAO <strong>und</strong><br />
ist zugleich eine Managementstrategie, um<br />
sowohl ihre vielfältigen eigenen Aktivitäten<br />
konsistent aufeinander zu beziehen, als auch<br />
um die gebotene Kohärenz der diversen <strong>Institutionen</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>Akteure</strong> der Weltwirtschaft zu<br />
überprüfen <strong>und</strong> einzufordern. Dabei geht es<br />
vor allem um die Respektierung <strong>und</strong> Umsetzung<br />
geltender internationaler Normen, wobei<br />
die Kernarbeitsnormen hervorgehoben<br />
werden. Die Agenda bringt die Unstimmigkeiten<br />
(Inkohärenz) in den gegenwärtigen internationalen<br />
Regelungs- <strong>und</strong> Steuerungsmaßnahmen<br />
zum Vorschein, etwa wenn eine<br />
Regierung im Rahmen von Weltbank, <strong>Internationale</strong>m<br />
Währungsfonds, WTO <strong>und</strong> EU<br />
eine andere Politik als innerhalb der IAO vertritt.<br />
Erst 2005 sind Beschäftigungsförderung<br />
<strong>und</strong> decent work in die Liste der VN-Millenniumsziele<br />
aufgenommen worden; 2006 wurde<br />
das Konzept vom VN-Wirtschafts- <strong>und</strong><br />
Sozialrat bestätigt. Zur gleichen Zeit hat auch<br />
die EU diese Zielsetzung in ihre Programmatik<br />
eingefügt. Die Decent Work Agenda hat<br />
es also ansatzweise vermocht, die klassische<br />
Zielsetzung der IAO wieder auf die internationale<br />
Tagesordnung zu setzen: eine gerechte<br />
Entwicklung für alle, auf der Gr<strong>und</strong>lage einer<br />
fairen Globalisierung. Schon 1969 hatte<br />
die IAO mit ihrem „Weltbeschäftigungsprogramm“<br />
Aufgaben der ländlichen Entwicklung<br />
in den Blick genommen. Dreißig Jahre<br />
20 ❙ ILO, Decent Work and the Informal Economy,<br />
Genf 2002.<br />
APuZ 34–35/2010<br />
danach begann sie damit, durch eine Priorisierung<br />
bestimmter Normen <strong>und</strong> durch Maßnahmen<br />
des capacity building in Ländern des<br />
Südens die Anerkennung <strong>und</strong> Umsetzung<br />
ihrer aktuellen Normen zu befördern. Als<br />
besonders erfolgreich gilt dabei das <strong>Internationale</strong><br />
Programm zur Abschaffung der<br />
Kinderarbeit, wenngleich das Ziel der Überwindung<br />
von Kinderarbeit in der Welt –<br />
selbst, was ihre schlimmsten <strong>und</strong> gefährlichsten<br />
Formen anbelangt – noch in weiter Ferne<br />
ist <strong>und</strong> sich durch die derzeitige Krise noch<br />
weiter entfernt hat.<br />
Bedeutung von <strong>Institutionen</strong><br />
Weltweite Probleme wie Kinderarbeit,<br />
Zwangsarbeit, rechtlich ungeschützte informelle<br />
Arbeit sind politisch zu bearbeiten.<br />
Seit den staatlichen Rettungsschirmen für<br />
Banken im Jahr 2008 gibt es eine veränderte<br />
Diskussionslage über die Notwendigkeiten<br />
staatlicher Handlungsfähigkeit. Schon<br />
im Bericht über den Einfluss der Weltkommission<br />
für die soziale Dimension der Globalisierung<br />
von 2007 ist die dringende Notwendigkeit<br />
eines policy space unterstrichen<br />
worden. ❙ 21 Dort <strong>und</strong> an vielen anderen Stellen<br />
ist immer wieder die Problematik mangelnder<br />
Kohärenz in nationalen <strong>und</strong> internationalen<br />
Entscheidungen benannt worden.<br />
Diese liegt insbesondere darin, dass die Missachtung<br />
sogar der gr<strong>und</strong>legenden Rechte bei<br />
der Arbeit (Vereinigungsfreiheit, Verbot der<br />
Kinderarbeit, Diskriminierung <strong>und</strong> Zwangsarbeit)<br />
teils ignoriert, teils sogar gefördert<br />
wird, wenn es um Konditionen für Kredite<br />
von Seiten der internationalen Finanzinstitutionen<br />
geht. Erst in jüngster Zeit gibt es<br />
verstärkte Koordinierungsansätze zwischen<br />
den internationalen <strong>Institutionen</strong>. ❙ 22 2008<br />
bestätigten die Mitglieder der IAO die integrale<br />
Einheit ihrer strategischen Zielsetzungen<br />
in Gestalt ihrer „Declaration on Full and<br />
Productive Employment and Decent Work“.<br />
Auch die allgemeine Unterstützung eines von<br />
21 ❙ Vgl. Hamish Jenkins/Eddy Lee/Gerry Rodgers,<br />
The Quest for a Fair Globalization three Years on,<br />
Genf 2007, S. 29 f.<br />
22 ❙ Vgl. Wolfgang Hein, „Globale Sozialpolitik statt<br />
Entwicklungshilfe“. Menschenrechte, globale Zivilgesellschaft<br />
<strong>und</strong> die Kontrolle von „Risiken aus<br />
dem Süden“, in: Hartwig Hummel/Sebastian Loges<br />
(Hrsg.), Gestaltungen der Globalisierung, Opladen<br />
2009, S. 37–158.
der IAO lancierten (auf dieser Erklärung aufbauenden)<br />
Globalen Beschäftigungspakts angesichts<br />
der Weltwirtschaftskrise im Sommer<br />
2009 zeigt eine neue Aufgeschlossenheit für<br />
die IAO-Ziele – ohne dass damit schon ausgemacht<br />
ist, dass es tatsächlich zu einer neuen<br />
Politik in <strong>und</strong> zwischen den Staaten kommen<br />
wird.<br />
Von entscheidender Bedeutung ist, dass<br />
seit der Liberalisierung des Kapitaltransfers<br />
mit den multi- <strong>und</strong> transnational operierenden<br />
Unternehmen neue <strong>Akteure</strong> von<br />
beispielloser Gestaltungsmacht entstanden<br />
sind, die außerhalb der in der IAO vertretenen<br />
Mitgliedsgruppen operieren. Zur Einbindung<br />
dieser neuen Akteursgruppe, die<br />
das Weltwirtschaftsgeschehen prägt, wurden<br />
schon 1976 durch die OECD-Leitlinien <strong>und</strong><br />
1977 durch die IAO-Gr<strong>und</strong>sätze <strong>und</strong> eigene<br />
Berichtsverfahren geschaffen. Die Kernarbeitsnormen<br />
wurden Anfang des neuen Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
in beide Regelwerke ausdrücklich<br />
aufgenommen. Angesichts der immer größer<br />
gewordenen Handlungsmacht <strong>und</strong> der<br />
ausbleibenden Erfolge dieser Instrumente,<br />
die auf staatlichen Verpflichtungen zur Einwirkung<br />
auf die multinationalen Unternehmen<br />
beruhen, entstand 1999 mit dem Global<br />
Compact der VN ein freiwilliges Selbstverpflichtungssystem<br />
für Unternehmen. Seine<br />
Wirkungsweise soll auf dem marktbezogenen<br />
Anreiz beruhen, den guten Ruf eines<br />
Unternehmens durch Bindung an zehn Prinzipien,<br />
darunter die in den IAO-Kernarbeitsnormen<br />
formulierten Standards, zu befördern.<br />
Auswertungen ❙ 23 zeigen allerdings, dass<br />
die Aktivitäten sogenannter gesellschaftlicher<br />
Unternehmensverantwortung (corporate<br />
social responsibility), in deren Kontext<br />
sich eine unübersichtliche Vielfalt privater<br />
Verhaltenskodizes, Zertifikate <strong>und</strong> Gütesiegel<br />
oft ohne expliziten <strong>und</strong> engen Bezug<br />
auf die international anerkannten IAO-Normen<br />
entwickelt hat, wegen mangelnder Mechanismen<br />
mit Blick auf Beschwerden, Sanktionen<br />
oder Wiedergutmachung im Falle der<br />
Übertretung meist wirkungslos bleiben. Eine<br />
soziale Rechenschaftspflicht ist daher unabdingbar;<br />
Marktmechanismen reichen nicht.<br />
Zudem kann eine anwaltschaftliche Vertre-<br />
23 ❙ Vgl. Brigitte Hamm/Hannes Koch, Soziale <strong>und</strong><br />
ökologische Verantwortung. Zur Umsetzung des<br />
Global Compact in deutschen Mitgliedsunternehmen,<br />
Frankfurt/M. 2010.<br />
tung durch Nichtregierungsorganisationen<br />
zwar entrechteten Menschengruppen helfen,<br />
nicht aber deren eigene kollektive Stimme<br />
in selbstbestimmten Vereinigungen ersetzen.<br />
Es ist daher äußerst bedenklich, dass<br />
von allen Kernarbeitsnomen gerade die beiden<br />
Übereinkommen zur Vereinigungsfreiheit<br />
<strong>und</strong> zu kollektiven Tarifverhandlungen<br />
die geringsten Ratifizierungen aufweisen,<br />
<strong>und</strong> dass bei jüngeren Rechtsprechungen des<br />
Europäischen Gerichtshofs (EuGH) eine Relativierung<br />
der Gr<strong>und</strong>rechte zugunsten wirtschaftlicher<br />
Gr<strong>und</strong>freiheiten vorgenommen<br />
wurde. ❙ 24 Hilfreich erweisen sich demgegenüber<br />
die Rahmenübereinkommen ❙ 25 globaler<br />
Gewerkschaften mit transnationalen Unternehmen.<br />
Aber ihre Anzahl von etwa 60 ist bei<br />
etwa 60 000 „Multis“ äußerst gering.<br />
Die westlichen Industrieländer machen<br />
heute die Erfahrung, dass die Folgen ihrer<br />
Politik des Freihandels ohne Respekt für<br />
gr<strong>und</strong>legende Rechte bei der Arbeit <strong>und</strong> der<br />
deregulierten Finanzmärkte auf sie selbst zurückfallen:<br />
in Gestalt von Wohlstands- <strong>und</strong><br />
Wohlfahrtsverlusten, ungesteuerter Migration<br />
aus verelendeten Regionen der Welt sowie<br />
damit zusammengehender mangelhafter<br />
Durchsetzung auch nationalen Arbeitsrechts.<br />
Nachdem über Jahrzehnte die IAO-Normen<br />
von vielen Regierungen ihrer Mitgliedsländer<br />
vernachlässigt wurden, wird in der gegenwärtigen<br />
Krise wieder eine Verbindung<br />
zwischen der sozialen <strong>und</strong> der ökonomischen<br />
Dimension gesellschaftlicher Entwicklung<br />
hergestellt – auch indem die ökonomischen<br />
Kosten einer Vernachlässigung sozialer Dimensionen<br />
in den Gemeinwesen berechnet<br />
werden. Kostenkalkulation kann allerdings<br />
den politischen Willen zur Anerkennung<br />
weltweit geltender gr<strong>und</strong>legender Arbeits-<br />
<strong>und</strong> Sozialnormen nicht ersetzen. Diesen zu<br />
befördern, ist Aufgabe bürgerschaftlichen<br />
Engagements.<br />
24 ❙ Vgl. Andreas Fischer-Lescano/Florian Rödl/<br />
Christoph Schmid (Hrsg.), Europäische Gesellschaftsverfassung.<br />
Zur Konstitutionalisierung sozialer<br />
Demokratie in Europa, Baden-Baden 2009.<br />
25 ❙ Vgl. Torsten Müller/Hans-Wolfgang Platzer/Stefan<br />
Rüb, <strong>Internationale</strong> Rahmenvereinbarungen<br />
– Chancen <strong>und</strong> Grenzen eines neuen Instruments<br />
globaler Gewerkschaftspolitik, Friedrich-Ebert-Stiftung,<br />
Globale Gewerkschaftspolitik, Kurzbericht 8,<br />
2008.<br />
APuZ 34–35/2010 33
Inge Kaul<br />
Souveränität wiedergewinnen:<br />
Suche nach<br />
den Gr<strong>und</strong> elementen<br />
eines neuen Multilateralismus<br />
34<br />
Immer häufiger fühlen sich Politiker gejagt<br />
<strong>und</strong> gehetzt – von Finanzmärkten,<br />
Erderwärmung, ansteckenden Krankheiten,<br />
Inge Kaul<br />
Dr. rer. soc.; beigeordnete<br />
Professorin an der Hertie<br />
School of Governance in Berlin;<br />
ehemalige Leiterin des Büros<br />
für Entwicklungsstudien beim<br />
Entwicklungsprogramm der<br />
Vereinten Nationen (UNDP).<br />
contact@ingekaul.net<br />
APuZ 34–35/2010<br />
Drogen handel, Terrorismus<br />
<strong>und</strong> anderen<br />
Problemen. Es bleibt<br />
kaum noch Zeit für<br />
eine proaktive Gestaltung<br />
der Politik. Krisenmanagementbestimmt<br />
weitgehend<br />
das politische Geschehen.<br />
Woher kommt<br />
dieses politische Tau-<br />
meln von Krise zu Krise? Wie die folgenden<br />
Ausführungen zeigen, ist die Vermutung,<br />
dass sich die Natur der politischen Herausforderungen<br />
gewandelt hat <strong>und</strong> deshalb konventionelle<br />
Politikansätze <strong>und</strong> Instrumente<br />
nicht mehr greifen, in der Tat zutreffend: Die<br />
Anpassung der Politik an die heutigen Realitäten,<br />
insbesondere an die wachsende Bedeutung<br />
globaler, grenzüberschreitender Probleme,<br />
hat bislang nur zum Teil stattgef<strong>und</strong>en.<br />
Aber erste Ansätze eines neuen Multilateralismus<br />
lassen sich erkennen. Dessen<br />
Kernstück wird eine neue Rolle des Staates<br />
sein: Staaten werden sich mehr <strong>und</strong> mehr als<br />
Vermittler zwischen nationalen <strong>und</strong> internationalen<br />
Politikerwartungen positionieren<br />
<strong>und</strong> so politische Gestaltungskraft wiedergewinnen,<br />
um Globalisierung <strong>und</strong> Souveräni<br />
tät besser miteinander vereinbaren zu<br />
kö n n e n .<br />
Globale öffentliche Güter<br />
Ein gr<strong>und</strong>legend neuer Aspekt der gegenwärtigen<br />
Zeit ist die zunehmende Durchlässigkeit<br />
der nationalen Grenzen <strong>und</strong> die damit<br />
verb<strong>und</strong>ene wachsende Bedeutung von globalen<br />
öffentlichen Gütern. ❙ 1 Die Durchlässigkeit<br />
nationaler Grenzen basiert auf einer<br />
von der Politik geförderten „Verglobalisierung“<br />
von zuvor eher nationalen öffentlichen<br />
Gütern wie etwa den Handels- <strong>und</strong> Investitionsregimen.<br />
Nationale Handelsschranken<br />
wurden abgebaut <strong>und</strong> Einfuhr- <strong>und</strong> Ausfuhrbestimmungen<br />
weltweit vereinheitlicht.<br />
Ähnliche Tendenzen hat es im Kapitalbereich<br />
gegeben. Auch technische Normen<br />
<strong>und</strong> Standards sind harmonisiert worden,<br />
um Infrastruktursysteme besser integrieren<br />
zu können. All das hat die Globalisierung<br />
von Märkten <strong>und</strong> das Wachstum grenzüberschreitender<br />
ökonomischer Aktivitäten befördert.<br />
Die Motivation vieler Staaten, insbesondere<br />
der Industrienationen, für die<br />
„Verglobalisierung“ von öffentlichen Gütern<br />
speiste sich aus ihrem Interesse, neue globale<br />
Möglichkeiten zu erschließen, vornehmlich<br />
mit Blick auf die internationalen Handels-<br />
<strong>und</strong> Finanzmärkte.<br />
Allerdings hatten diese Veränderungen<br />
auch unbeabsichtigte Folgen, die sich nun<br />
leichter <strong>und</strong> schneller in der Welt verbreiten<br />
konnten – wie etwa ansteckende Krankheiten,<br />
„toxische“ Stoffe <strong>und</strong> Finanzprodukte,<br />
Kriminalität <strong>und</strong> Gewalt. Diese spill-over-<br />
oder externen Effekte, die in zunehmendem<br />
Maße von außen in ein Land wirken können,<br />
haben zu einer „Verglobalisierung“ weiterer<br />
öffentlicher Güter geführt: Das Ges<strong>und</strong>heitswesen,<br />
Recht <strong>und</strong> Ordnung, Finanz- <strong>und</strong><br />
Wirtschaftsstabilität oder Umweltbedingungen<br />
hängen heute immer mehr nicht nur von<br />
der nationalen Politik eines Landes ab, sondern<br />
auch von der Politik anderer Staaten.<br />
1<br />
❙ „Öffentliche Güter werden am besten in der Gegenüberstellung<br />
zu privaten Gütern verständlich.<br />
Der Gebrauch privater Güter kann ausschließend<br />
<strong>und</strong> ausschließlich gestaltet werden. Private Güter<br />
sind mit eindeutigen Eigentumsrechten versehen.<br />
Und es ist ihren Besitzern überlassen, über ihren Gebrauch<br />
zu bestimmen – oder über ihren Verbrauch,<br />
ihren Verleih oder den Handel mit ihnen. Öffentliche<br />
Güter dagegen sind Güter im öffentlichen Bereich, sie<br />
sind allen zum Gebrauch verfügbar <strong>und</strong> haben so potenziell<br />
Einfluss auf alle Menschen. Globale öffentliche<br />
Güter sind öffentliche Güter mit Nutzen – oder<br />
Kosten, wie im Fall öffentlicher ‚Übel‘ wie Kriminalität<br />
<strong>und</strong> Gewalt –, die sich über Länder <strong>und</strong> Regionen,<br />
über reiche <strong>und</strong> arme Bevölkerungsgruppen <strong>und</strong><br />
sogar über Generationen erstrecke.“ So in: Inge Kaul<br />
et al. (eds.), Providing Global Public Goods. Managing<br />
Globalization, New York 2003, S. 10.
Globale öffentliche Güter implizieren Konsuminterdependenz.<br />
Aber sie implizieren<br />
auch Politikinterdependenz: Sollten sich die<br />
Menschen in einem Land, beispielsweise in<br />
Deutschland, für eine dezidierte Reduktion<br />
von Treibhausgasen aussprechen, um der Erderwärmung<br />
entgegenzuwirken, dann könnten<br />
sie dieses Ziel nur erreichen, wenn alle anderen<br />
Staaten, vornehmlich die Hauptemittenten,<br />
sich ebenfalls zu einer solchen Reduktion<br />
der Gase verpflichten würden. Ähnliches<br />
gilt für viele andere globale Herausforderungen<br />
wie die Sicherheit der internationalen Zivilluftfahrt<br />
oder den internationalen Bankensektor:<br />
So ist es nur von begrenztem Nutzen,<br />
Bankenrisiken in lediglich einigen wenigen<br />
Ländern zu kontrollieren <strong>und</strong> nicht in allen<br />
relevanten Märkten, da beispielsweise ein<br />
Verbot von Leerverkäufen in einem Land zu<br />
einem Anstieg von Leerverkäufen in einem<br />
anderen Land führen kann.<br />
Globale öffentliche Güter verlangen oft<br />
nach einem multilateralen Politikansatz, oder<br />
anders formuliert, einer Harmonisierung nationaler<br />
Politikmaßnahmen. Dies bedarf internationaler<br />
Abkommen, welche den nationalen<br />
Interessen der einzelnen Staaten gerecht<br />
werden. Da die „Institution Staat“ auf internationaler<br />
Ebene kein vollwertiges Äquivalent<br />
besitzt, muss sich internationale Kooperation<br />
weitgehend auf freiwilliger Basis<br />
vollziehen <strong>und</strong> dementsprechend auch die Interessen<br />
aller betroffenen Staaten berücksichtigen.<br />
Kooperation muss aus Sicht der jeweiligen<br />
Nationalstaaten Sinn ergeben <strong>und</strong> sich<br />
lohnen. Aber an eben dieser Einsicht – dass<br />
internationale Kooperation Sinn ergibt <strong>und</strong><br />
mittlerweile unumgänglich ist – hapert es<br />
eben oft noch.<br />
Bisherige Politikantwort:<br />
Wandel unter dem Druck von Krisen<br />
Die Tatsache, dass viele Probleme <strong>und</strong> Herausforderungen<br />
heute globaler Art sind <strong>und</strong><br />
mithin nach effektiver multilateraler Kooperation<br />
verlangen, ist nicht unbemerkt geblieben.<br />
Selbst Vertreter der stärksten Weltmacht<br />
USA, wie Präsident Barack Obama, erkennen<br />
dieses Faktum der Politikinterdependenz an.<br />
Die Suche nach neuen Politikansätzen hat begonnen.<br />
Doch sie wird oft nur dann vorangetrieben,<br />
wenn sich eine akute Krisensituation<br />
ergibt, <strong>und</strong> sie wird rasch wieder vergessen,<br />
wenn die Kriseneffekte verebben – oder die<br />
nächste Krise ins politische <strong>und</strong> mediale<br />
Rampenlicht tritt.<br />
Da die meisten multilateralen Entscheidungen<br />
auch weiterhin unverbindlicher Art<br />
sind, gibt es etliche multilaterale Stellungnahmen<br />
zu den globalen Zielen, welche die<br />
internationale Gemeinschaft gerne erreichen<br />
würde – Frieden, Sicherheit, Nachhaltigkeit,<br />
Halbierung der globalen Armut bis 2015 <strong>und</strong><br />
vieles anderes. Aber die Umsetzung solcher<br />
Zielvorstellungen vollzieht sich nur zögernd.<br />
Nur ein Bruchteil der Ressourcen, die national<br />
<strong>und</strong> international zur Verfügung stehen<br />
müssten, wird tatsächlich bereitgestellt. Die<br />
Gelder für Entwicklungszusammenarbeit<br />
haben nicht einmal die Hälfte des angekündigten<br />
Niveaus von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes<br />
der Geberländer erreicht<br />
<strong>und</strong> werden dies aufgr<strong>und</strong> der gegenwärtigen<br />
Finanz- <strong>und</strong> Wirtschaftskrise wohl auch<br />
nicht sehr bald tun. Das Auseinanderklaffen<br />
von multilateralen Politikzielen <strong>und</strong> tatsächlichem<br />
Handeln hat sich auch auf der Klimakonferenz<br />
in Kopenhagen Ende 2009 gezeigt.<br />
Aber solche Diskrepanzen tauchen nicht nur<br />
auf, wenn es um finanzielle Aspekte der internationalen<br />
Zusammenarbeit geht, sondern<br />
auch bei der Übernahme politischer Kosten,<br />
die sich zum Beispiel bei der Bekämpfung<br />
von Korruption, der Limitierung von Treibhausgasen<br />
oder der Erhebung einer Finanztransaktionssteuer<br />
ergeben könnten.<br />
Der Gr<strong>und</strong> dafür ist ein Verhalten, das in<br />
der Ökonomie als „Trittbrettfahren“ bezeichnet<br />
wird <strong>und</strong> häufig im Zusammenhang mit<br />
öffentlichen Gütern zu beobachten ist: Weil<br />
öffentliche Güter eben für alle da sind, neigen<br />
private <strong>Akteure</strong> dazu, anderen bei der Bereitstellung<br />
dieser Güter den Vortritt zu lassen,<br />
sprich, ihnen die Bezahlung zu überlassen,<br />
wohl wissend, dass, wenn das Gut zur Verfügung<br />
steht, es auch für sie da ist – kostenlos.<br />
Staaten verhalten sich wie Privatakteure:<br />
Auch sie unterliegen nur allzu oft, wie die<br />
heutige zunehmende Krisenhäufigkeit zeigt,<br />
der Versuchung des Trittbrettfahrens, des<br />
easy riding. Dabei spielen freilich auch andere<br />
Faktoren eine Rolle: Manche Staaten werden<br />
nicht die notwendigen Mittel oder Kapazitäten<br />
zur Bereitstellung des öffentlichen Gutes<br />
haben; in anderen Fällen kann mangelndes<br />
gegenseitiges Vertrauen dafür verantwortlich<br />
sein, dass alle warten, bis der jeweils an-<br />
APuZ 34–35/2010 35
36<br />
dere den ersten Schritt zur Finanzierung des<br />
Gutes macht. Ein weiterer wichtiger Faktor<br />
ist, dass, statt ökonomisch zu denken, die Industrieländer<br />
oftmals aus rein machtpolitischen<br />
Erwägungen heraus handeln. Doch die<br />
heutige Konsum- <strong>und</strong> Politikinterdependenz<br />
der Staaten verlangt nach politisch-ökonomischen<br />
Überlegungen: Probleme müssen gelöst<br />
werden, wenn sie nicht eine (potenzielle)<br />
Gefahr für alle darstellen sollen; dies bedarf<br />
effektiver internationaler Kooperation <strong>und</strong><br />
eines Win-win-Denkens, also der Einbeziehung<br />
von Fairness in die eigenen Kosten-<br />
Nutzen-Kalkulationen.<br />
Unter dem Druck akuter Krisen haben<br />
Staaten aber dennoch begonnen, ihr Verhalten<br />
zu ändern. Gegenseitige Aufforderungen,<br />
Spill-over-Effekte besser zu managen, werden<br />
immer lauter <strong>und</strong> in immer mehr Politikbereichen<br />
entschiedener. Staaten verlangen voneinander,<br />
mehr zu tun, um den Klimawandel<br />
einzudämmen, um ansteckende Krankheiten<br />
wie die H1N1-Grippe zu kontrollieren oder<br />
um ihren Beitrag zur Finanzmarktstabilität<br />
zu leisten. In diesen <strong>und</strong> anderen globalen<br />
Politikfeldern wird auch nach neuen Politikansätzen<br />
gesucht. Man denke nur an die<br />
Initiativen zur Entwicklung von CO 2-Märkten<br />
oder an die diversen Instrumente, die im<br />
Zusammenhang mit der gegenwärtigen Finanz-<br />
<strong>und</strong> Wirtschaftskrise debattiert werden<br />
– etwa bessere Bankenregulierung <strong>und</strong><br />
-aufsicht, Erhebung einer Bankenabgabe, Besteuerung<br />
von Bonuszahlungen <strong>und</strong> die Finanztransaktionssteuer.<br />
In einzelnen Bereichen wie dem multilateralen<br />
Handel haben internationale Organisationen<br />
(so beispielsweise die Welthandelsorganisation)<br />
außerdem größere Befugnisse<br />
erhalten, Staaten durch die Verhängung von<br />
Sanktionen zur Umsetzung globaler Normen<br />
zu „zwingen“. Auch die Überwachung <strong>und</strong><br />
Beobachtung von Staatsverhalten ist intensiviert<br />
worden. Man denke nur an die vielen<br />
Indikatoren <strong>und</strong> Indizes zu good governance,<br />
welche von multilateralen Organisationen,<br />
der Zivilgesellschaft oder auch privaten Unternehmen<br />
veröffentlicht werden <strong>und</strong> in<br />
nicht unbedeutendem Maße die internationale<br />
Wahrnehmung eines Staates beeinflussen<br />
– einschließlich seiner Anziehungskraft<br />
für ausländische Investoren oder der Beurteilung<br />
seiner Kreditfähigkeit. Interessant<br />
ist in diesem Zusammenhang, dass Staaten<br />
APuZ 34–35/2010<br />
oft auf die internationalen Erwartungen reagieren<br />
<strong>und</strong> ihr Verhalten entsprechend anpassen.<br />
Sie agieren heute immer häufiger<br />
mit dem Selbstverständnis eines Vermittlerstaates.<br />
Das heißt, sie insistieren nicht unbedingt<br />
auf absoluter Politiksouveränität, sondern<br />
sind mehr <strong>und</strong> mehr bereit, zwischen<br />
nationalen Politikpräferenzen <strong>und</strong> externen<br />
Politikanforderungen zu vermitteln <strong>und</strong> es<br />
beiden Seiten – den Wählern zu Hause <strong>und</strong><br />
den internationalen „Partnern“ (wie anderen,<br />
mächtigeren Staaten oder auch beispielsweise<br />
Ratingagenturen) – recht zu machen.<br />
Nur hat sich auch dieser Wandel bislang zumeist<br />
ad hoc vollzogen, als Antwort auf eine<br />
akute Krise. Vielen Politikern <strong>und</strong> auch Wählern<br />
wird dieser Rollenwandel des Staates bislang<br />
kaum bewusst geworden sein. Mithin<br />
üben Staaten die neue Vermittlerrolle oft auch<br />
nur halbherzig <strong>und</strong> zögernd aus. Dies kommt<br />
vor allem dann vor, wenn Anpassungs- oder<br />
Abwehrmaßnahmen hohe nationale Kosten<br />
nach sich ziehen würden. Auch die konventionell<br />
mächtigeren Staaten tun sich in solchen<br />
Fällen schwer, wie ihr gegenwärtiges Verhalten<br />
im Klima- <strong>und</strong> Finanzbereich nur allzu<br />
deutlich zeigt – obwohl rechtzeitige <strong>und</strong> entschiedene<br />
Korrekturmaßnahmen ihnen oft<br />
großen Gewinn bringen würden, selbst wenn<br />
sie auch noch anderen Ländern finanzielle<br />
Anreize bieten müssten, um eben alle „ins<br />
Boot“ zu holen.<br />
Viele der Güter, die Gegenstand internationaler<br />
Verhandlungen sind, <strong>und</strong> die wir als<br />
Krisen erfahren, sind globale öffentliche Güter<br />
dieser Art, deren Bereitstellung den reichen<br />
Ländern Kosten verursacht. Güter, die<br />
entweder allen Nutzen bringen (wie etwa<br />
die internationalen Kommunikations- <strong>und</strong><br />
Transportsysteme) oder die von besonderem<br />
Interesse für die Industrienationen sind (wie<br />
etwa viele Aspekte des multilateralen Handelsregimes)<br />
stehen zumeist in vollem Umfang<br />
zur Verfügung – selbst wenn sie den<br />
weniger entwickelten Ländern Kosten verursachen.<br />
Allerdings hat sich gezeigt, dass<br />
die erzwungene Anpassung der schwächeren<br />
Staaten an politische Vorgaben der Industrienationen,<br />
einflussreicher Firmen oder Organisationen<br />
der Zivilgesellschaft staatliches<br />
Verhalten oft nicht nachhaltig verändern <strong>und</strong><br />
auch zu mangelnder Bereitstellung von globalen<br />
öffentlichen Gütern führen kann. Man<br />
erinnere sich nur an die vielen Proteste ge-
gen diverse Privatisierungs- <strong>und</strong> Liberalisierungsmaßnahmen,<br />
die den Entwicklungsländern<br />
oft von internationalen Organisationen<br />
<strong>und</strong> Organisationen der bilateralen Hilfe abverlangt<br />
worden sind.<br />
Obwohl somit die Anpassung an die Folgen<br />
der Globalisierung bislang nur unzureichend<br />
ist, verändern sich nationale <strong>und</strong> internationale<br />
Politikprozesse, um auf globale Herausforderungen<br />
– neue Möglichkeiten <strong>und</strong> neue<br />
Zwänge – reagieren zu können. Wie gesagt,<br />
erste Ansätze eines neuen Multilateralismus<br />
sind erkennbar. Die Frage ist, welche Veränderungsnotwendigkeiten<br />
sie andeuten: In<br />
welche Richtung müsste sich multilaterale<br />
Kooperation bewegen, um die Welt aus der<br />
Krisenspirale zu befreien, in der sie sich gegenwärtig<br />
zu verfangen droht?<br />
Globalisierung <strong>und</strong> Souveränität<br />
vereinbaren<br />
Die bisherigen Politikantworten verdeutlichen,<br />
dass globale Herausforderungen nicht<br />
unbedingt zu einer De-Nationalisierung der<br />
Politik führen. In allererster Linie verlangen<br />
sie nach einer neuen Rolle des Staates.<br />
Sie sollte, wie die folgenden Punkte verdeutlichen,<br />
die Gr<strong>und</strong>lage zukünftiger Politikinnovation<br />
sein. Maßnahmen auf internationaler<br />
Ebene wären komplementärer Natur.<br />
Vom Staat eine Vermittlerrolle erwarten:<br />
Ein erster f<strong>und</strong>amentaler Schritt wäre, die<br />
bereits stattgef<strong>und</strong>ene Veränderung der Rolle<br />
des Staates genauer zu analysieren. Zu klären<br />
ist, ob <strong>und</strong> inwieweit Staaten in der Tat schon<br />
die erwähnte Rolle eines Vermittlers zwischen<br />
externen <strong>und</strong> internen Politikanforderungen<br />
spielen, welche Konsequenzen sich<br />
daraus ergeben, etwa für die nationale Demokratie,<br />
<strong>und</strong> wie eine solche Vermittlerrolle<br />
des Staates weiter gestärkt werden könnte.<br />
Eine Verringerung der Krisenhaftigkeit<br />
der gegenwärtigen Welt ist nicht ohne einen<br />
Wandel des konventionellen „Westfälischen<br />
Staates“ hin zum Vermittlerstaat denkbar.<br />
Auf lokaler Ebene haben wir gelernt, dass die<br />
Rücksicht auf die Freiheiten anderer unsere<br />
eigenen Freiheiten nicht notwendigerweise<br />
limitiert, sondern oft sogar erweitert. Wenn<br />
wir selbst Normen der Rücksichtnahme auf<br />
andere akzeptieren, dann erhöhen sich auch<br />
unsere Chancen, rücksichtsvolles Verhalten<br />
von anderen erwarten zu können. Souveränität<br />
kann als eine besondere Form von Freiheit<br />
gesehen werden: Respekt für die Souveränität<br />
anderer Staaten stärkt globale Normen wie<br />
die der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten<br />
eines Staates. Nationale Souveränität<br />
wird heute in zunehmendem Maße<br />
nicht nur durch militärische Interventionen<br />
verletzt. Weit häufiger sind Attacken, die von<br />
Krankheitserregern ausgehen oder ihren Ursprung<br />
in Luftverschmutzung, spekulativem<br />
Finanzgebaren <strong>und</strong> anderen Aktivitäten haben,<br />
die globale Spill-over-Effekte produzieren<br />
können. Wenn alle Staaten mehr tun würden,<br />
um solche Effekte zu reduzieren, gäbe es<br />
weniger globale Probleme.<br />
Das genau macht Politikinterdependenz<br />
zu einer neuen Herausforderung: Sie konfrontiert<br />
die Welt mit der Tatsache, dass eine<br />
Öffnung der Grenzen nur dann mit Souveränität<br />
zu vereinbaren ist, wenn Staaten aufeinander<br />
Rücksicht nehmen. Mangelnde<br />
Rücksichtnahme könnte dazu führen, dass<br />
es letzten Endes allen Ländern schlechter<br />
geht – alle Staaten in zunehmendem Maße<br />
von Pandemien, Naturkatastrophen, Finanz-<br />
<strong>und</strong> Wirtschaftskrisen, Energieunsicherheit,<br />
Landknappheit <strong>und</strong> letztlich auch Konflikten<br />
<strong>und</strong> Krieg heimgesucht werden. Multilateralismus,<br />
der in die heutige Politiklandschaft<br />
passt, muss auf nationaler Ebene damit<br />
anfangen, die Rolle des Staates neu zu definieren.<br />
Diese Neudefinition muss von den<br />
Staaten verlangen, dass sie die Welt als Ganzes<br />
betrachten <strong>und</strong> die Rechte anderer Staaten<br />
mitberücksichtigen, wenn sie nationale<br />
Politik betreiben.<br />
Ein Konzept von verantwortungsvoller<br />
Souveränität entwickeln: Wie erwähnt, haben<br />
die Staaten damit begonnen, sich gegenseitig<br />
zur Internalisierung externer Effekte zu ermahnen.<br />
Auch die im Rahmen der Vereinten<br />
Nationen aufgekommene Debatte über eine<br />
responsibility to protect geht in diese Richtung.<br />
Diese Norm besagt, dass die internationale<br />
Gemeinschaft verpflichtet ist zu intervenieren,<br />
wenn Staaten nicht ihrer Pflicht<br />
nachkommen, das Überleben ihrer Bürgerinnen<br />
<strong>und</strong> Bürger zu sichern.<br />
Aber Staaten haben Pflichten nach innen<br />
<strong>und</strong> nach außen. Denn eine Vernachlässigung<br />
von Problemen wie Klimawandel kann<br />
APuZ 34–35/2010 37
38<br />
in Zukunft auch vielen Menschen weltweit<br />
das Leben kosten. Deshalb wäre es wichtig,<br />
international Konsens darüber herzustellen,<br />
welchen internen <strong>und</strong> externen Pflichten<br />
Staaten unbedingt nachkommen sollten<br />
<strong>und</strong> was die internationale Gemeinschaft tun<br />
könnte, um Staaten bei der Erfüllung solcher<br />
Pflichten zu unterstützen, beziehungsweise<br />
wie nachlässige Nichtachtung zu sanktionieren<br />
wäre.<br />
Zielvorstellungen <strong>und</strong> Problemlösungen<br />
disaggregieren: Heute wird die Bereitstellung<br />
globaler öffentlicher Güter oft auf einem<br />
stark aggregierten Niveau diskutiert.<br />
Man verhandelt über Klimawandel, Finanzstabilität<br />
oder Armutsbekämpfung. Das sind<br />
höchst komplexe Phänomene, die sich aus<br />
vielen <strong>und</strong> oft recht unterschiedlichen Bausteinen<br />
zusammensetzen, welche auf nationaler<br />
oder internationaler Ebene erbracht werden<br />
müssen <strong>und</strong> verschiedene staatliche <strong>und</strong><br />
<strong>nichtstaatliche</strong> Akteursgruppen involvieren.<br />
Aber nur selten gibt es genaue Vorstellungen<br />
darüber, welcher Akteur welche Aufgabe <strong>und</strong><br />
Verpflichtungen hat. Und mithin ist auch die<br />
Verantwortung für das Erreichen bestimmter<br />
Ziele kaum festzulegen <strong>und</strong> schon gar nicht<br />
einzufordern.<br />
Aber auch in dieser Hinsicht beginnen sich<br />
Politikprozesse zu verändern. Die Zahl von<br />
internationalen Kooperationsmechanismen,<br />
die sich auf ein wohl definiertes Problem –<br />
etwa die Erforschung eines neuen Impfstoffes<br />
gegen tropische Krankheiten – konzentrieren,<br />
hat in jüngster Zeit rapide zugenommen.<br />
Das hat mehrere Gründe wie etwa die stärkere<br />
Einbindung von privaten <strong>Akteure</strong>n in multilaterale<br />
Zusammenarbeit. Aber wichtig ist<br />
vor allem, dass es das Herunterbrechen komplexer<br />
Probleme in ihre diversen Bestandteile<br />
leichter macht, zu erkennen, wer unter welchen<br />
Voraussetzungen bereit <strong>und</strong> in der Lage<br />
wäre, einen Beitrag zu leisten <strong>und</strong> ob der Beitrag<br />
– zum Beispiel eine Reduktion von CO 2-<br />
Emissionen – auch wirklich erbracht wurde.<br />
Single-issue-Verhandlungen <strong>und</strong> -Mechanismen<br />
tragen zu dieser Klarheit bei. Deshalb<br />
gilt es, sie für eine Politik der kleinen, aber<br />
konkreten Schritte in Richtung einer größeren<br />
globalen Zielvorstellung zu nutzen.<br />
Einen erweiterten G20-Ansatz erproben:<br />
Überlegungen, welche zur Ausbreitung von<br />
Single-issue-Mechanismen führten, gaben<br />
APuZ 34–35/2010<br />
auch den Anstoß für die Gründung der<br />
„Gruppe der 20“ (G20), die sich auf Mi nis terebe<br />
ne trifft <strong>und</strong> mit der globalen Finanzstabilität<br />
befasst. Die Hauptidee war leadership:<br />
Komplexität managen, alle Aspekte im Auge<br />
behalten, das gegenseitige Vertrauen unter<br />
den Staaten, die am meisten zur Bewältigung<br />
wichtiger globaler Probleme beizutragen haben,<br />
stärken <strong>und</strong> so sicherstellen, dass Zielvorstellungen<br />
auch in Taten, in verändernde<br />
Politik, umgesetzt werden. Die gegenwärtige<br />
Finanzkrise hat zu einer Aufwertung der G20<br />
geführt. Sie trifft sich jetzt auf der Ebene von<br />
Staats- <strong>und</strong> Regierungschefs, zu Gipfeln wie<br />
dem in Toronto im Juni 2010. Aber es wird<br />
auch zunehmend deutlich, dass Staats- <strong>und</strong><br />
Regierungschefs sich nicht nur auf ein Thema<br />
konzentrieren können <strong>und</strong> wollen. Mithin<br />
soll auf dem nächsten Gipfeltreffen im<br />
November 2010 in Südkorea die Agenda erweitert<br />
werden – um Themen wie globale Ges<strong>und</strong>heit<br />
<strong>und</strong> Armutsbekämpfung. Aber die<br />
Ausweitung der Agenda birgt auch Risiken:<br />
Zwar werden viele Themen angesprochen, es<br />
bleibt aber kaum Zeit für detaillierte Diskussionen<br />
<strong>und</strong> konkretes Verhandeln.<br />
Mithin wäre es interessant zu testen, ob<br />
Probleme effektiver zu lösen wären, wenn es<br />
eine eigene „GX“ für jede der vordringlichsten<br />
globalen Fragen gäbe <strong>und</strong> diese Gruppen<br />
sich auf Ministerebene treffen würden. Sie<br />
könnten unter anderem ein Auge darauf haben,<br />
ob alle notwendigen Single-issue-Initiativen<br />
tatsächlich umgesetzt werden <strong>und</strong> sich<br />
letztlich zu dem gewünschten globalen öffentlichen<br />
Gut zusammenfügen. Die G20 auf<br />
der Ebene der Staats- <strong>und</strong> Regierungschefs<br />
könnte sich dann mit der Welt als Ganzes<br />
befassen <strong>und</strong> darauf achten, dass alle Krisen<br />
notwendige Beachtung <strong>und</strong> Lösungen finden.<br />
Allerdings könnten die G20 auf höchster<br />
Ebene <strong>und</strong> die „thematischen Gs“ diese<br />
Funktionen nur erfüllen, wenn sie weltweit<br />
als legitim angesehen würden. Dafür müsste<br />
neu überdacht werden, wie allen Betroffenen<br />
<strong>und</strong> Interessierten eine effektive Stimme verliehen<br />
werden könnte.<br />
Die internationale <strong>und</strong> nationale <strong>Institutionen</strong>landschaft<br />
durchforsten: Der „G“-Ansatz<br />
ist vorläufig noch als ein Experiment<br />
anzusehen. Deshalb wäre es verfrüht, ihn bereits<br />
jetzt mit konventionellen multilateralen<br />
Organisationen wie den Vereinten Nationen<br />
zu verbinden. Das gilt übrigens auch für die
Beziehung zwischen den Single-issue-Mechanismen<br />
<strong>und</strong> den konventionellen Organisationen<br />
wie der Ernährungs- <strong>und</strong> Landwirtschaftsorganisation<br />
der Vereinten Nationen<br />
(Food and Agriculture Organization of the<br />
United Nations, FAO) oder auch der Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation<br />
(World Health Organization,<br />
WHO). Längerfristig wird sich<br />
jedoch die Frage nach ihrer institutionellen<br />
Verankerung stellen. Um sie beantworten zu<br />
können, wäre es wichtig, zunächst die neue<br />
Rolle des Staates <strong>und</strong> die anderen damit verb<strong>und</strong>enen<br />
Politikinnovationen zu erk<strong>und</strong>en.<br />
Denn Staaten wenden sich zumeist an internationale<br />
Organisationen, weil sie von ihnen<br />
einen bestimmten Service erwarten, den sie<br />
alleine nicht erbringen können, zumindest<br />
nicht auf effiziente <strong>und</strong> effektive Art <strong>und</strong><br />
Weise. Im Augenblick wissen wir noch zu<br />
wenig darüber, welche multilateralen Organisationen<br />
wir in Zukunft brauchen werden<br />
<strong>und</strong> was genau von ihnen zu erwarten sein<br />
wird. Es muss sich auch erst noch genauer<br />
zeigen, inwieweit Multilateralismus weiterhin<br />
formal organisiert, das heißt auf <strong>Institutionen</strong><br />
bezogen ablaufen oder sich eher in flexiblerer<br />
Art vollziehen wird, etwa in der Form<br />
der Sechs-Parteien-Gespräche zu Nordkorea,<br />
<strong>und</strong> wie die global vernetzten <strong>nichtstaatliche</strong>n<br />
<strong>Akteure</strong> sich zu multilateralen staatlichen<br />
Initiativen verhalten werden.<br />
Der richtige Augenblick für gr<strong>und</strong>legende<br />
Reformen des gegenwärtigen multilateralen<br />
Systems ist noch nicht gekommen – wohl<br />
aber der Augenblick für Reformen im nationalen<br />
<strong>Institutionen</strong>gefüge, die notwendig wären,<br />
um die neue Vermittlerrolle des Staates<br />
zu unterstützen. Dazu gehört, das Verhältnis<br />
zwischen den Sektorministerien zum (immer<br />
noch so genannten) Außenministerium neu<br />
zu denken: Wer hat die Hauptverantwortung<br />
für globale Fragen? Wer stellt sicher, dass sich<br />
die nationalen <strong>und</strong> internationalen Bausteine<br />
zur Bereitstellung globaler öffentlicher Güter<br />
ergänzen? Ähnliche Fragen stellen sich<br />
in Bezug auf die Zusammenarbeit von parlamentarischen<br />
Ausschüssen. Auch dort besteht<br />
zumeist noch eine Trennung zwischen<br />
Innen- <strong>und</strong> Außenpolitik, die es in der Realität<br />
schon längst nicht mehr gibt.<br />
Neue Wege der Finanzierung erk<strong>und</strong>en:<br />
Nicht nur staatliche <strong>Institutionen</strong> hinken der<br />
Realität hinterher, wenn es um die Anpassung<br />
an Globalisierungsprozesse geht, son-<br />
dern auch die Wissenschaft: So gibt es trotz<br />
der wachsenden Zahl globaler Probleme <strong>und</strong><br />
Krisen noch keine umfassende, systematische<br />
Theorie globaler öffentlicher Güter, die Fragen<br />
von deren Bereitstellung auf nationaler<br />
<strong>und</strong> internationaler Ebene behandelt.<br />
Von einer solchen Theorie könnte man<br />
dann erfahren, ob durch die Globalisierung<br />
neue Möglichkeiten der Ressourcenmobilisierung<br />
geschaffen wurden. Wäre es nicht<br />
angebracht, dass <strong>Akteure</strong> (wie Banken), die<br />
Nutzen aus globalen öffentlichen Gütern<br />
(wie der Finanzmarktstabilität) ziehen, eine<br />
geringfügige (ihr Marktverhalten nicht verzerrende)<br />
Nutzungsabgabe zahlen – ähnlich<br />
den Gebühren, die auf nationaler Ebene<br />
für das Parken auf öffentlichen Plätzen <strong>und</strong><br />
Straßen oder als Eintrittsgeld in öffentliche<br />
Schwimmbäder erhoben werden? Wann sollten<br />
Abgaben dieser Art erhoben werden, <strong>und</strong><br />
wann eher Steuern, die darauf abzielen, Verhaltensänderungen<br />
herbeizuführen (wie beispielsweise<br />
von spekulativen Finanztransaktionen<br />
abzuhalten)? Die jüngsten Debatten<br />
über die Einführung einer Finanztransaktionssteuer<br />
haben nur allzu deutlich gezeigt,<br />
wie dünn die wissenschaftliche Basis auf diesem<br />
Gebiet noch ist <strong>und</strong> wie schwach die Argumente<br />
sowohl auf der Seite der Gegner als<br />
auch der Befürworter sind.<br />
Der Mangel an öffentlichen Geldern ist sicherlich<br />
nicht das einzige Hindernis, das<br />
multilaterale Kooperation ins Stocken bringt.<br />
Einige Innovationen sind bereits zu verzeichnen<br />
– wie die Solidaritätsabgabe auf Flugtickets.<br />
Aber sie reichen bei Weitem nicht aus,<br />
um die anstehenden Probleme angemessen zu<br />
finanzieren, selbst wenn öffentlich-private<br />
Partnerschaften (public private partnerships)<br />
berücksichtigt werden. Allein für die Anpassung<br />
der Entwicklungsländer an die Auswirkungen<br />
der Klimaerwärmung werden etwa 30<br />
Milliarden US-Dollar pro Jahr benötigt – ein<br />
Betrag, der sich bis zum Jahr 2020 auf etwa<br />
100 Milliarden US-Dollar erhöhen wird. Die<br />
Identifizierung von neuen <strong>und</strong> zusätzlichen<br />
Ressourcen könnte es den Regierungen erleichtern,<br />
bei ihren Wählerinnen <strong>und</strong> Wählern<br />
politische Zustimmung für eine umfassendere<br />
Finanzierung globaler öffentlicher<br />
Güter zu finden. Es wäre höchst nützlich,<br />
wenn Ökonomen <strong>und</strong> Finanzexperten sich<br />
der Erforschung solcher Ressourcenquellen<br />
widmen würden – <strong>und</strong> überaus erfreulich,<br />
APuZ 34–35/2010 39
40<br />
wenn es dann noch gelingen würde, diese in<br />
eine umfassendere Theorie der globalen öffentlichen<br />
Güter oder eine Theorie öffentlicher<br />
Finanzen für das gegenwärtige Zeitalter<br />
der Globalisierung einzubetten.<br />
Ausblick<br />
Es wird oft behauptet, dass Politikinnovation<br />
<strong>und</strong> weitere Schritte in Richtung eines neuen,<br />
stärker an Problemen orientierten Multilateralismus<br />
noch weiterer schwerer Krisen<br />
bedürfen. Aber es scheint, dass es auch<br />
andere Kräfte gibt, die Wandel herbeiführen<br />
kön nt e n .<br />
Wir befinden uns zurzeit in einer Übergangsphase<br />
von einer unipolaren zu einer<br />
multipolaren Welt. Immer mehr <strong>Akteure</strong><br />
werden an internationalen Verhandlungen<br />
über globale Fragen teilnehmen. <strong>Internationale</strong><br />
Politik wird so partizipatorischer, vielstimmiger<br />
<strong>und</strong> – so die Hoffnung – fairer.<br />
Dazu werden auch die international immer<br />
stärker engagierten <strong>nichtstaatliche</strong>n <strong>Akteure</strong><br />
beitragen. Das bedeutet, dass die Staaten in<br />
zunehmendem Maße mit Erwartungen von<br />
außen konfrontiert werden, denen sie sich nur<br />
mit zunehmenden Kosten entziehen können.<br />
Der politische Druck auf Staaten, sich wie ein<br />
Vermittler zu verhalten <strong>und</strong> verantwortliche<br />
Souveränität auszuüben, wird wachsen <strong>und</strong><br />
damit auch die politische Bereitschaft, andere<br />
komplementäre Politikinnovationen vorzunehmen.<br />
In dem Maße, in dem Staaten ihr Verhalten<br />
ändern, wird auch deutlich werden, dass<br />
unter den Bedingungen größerer Durchlässigkeit<br />
nationaler Grenzen <strong>und</strong> der damit<br />
verb<strong>und</strong>enen wachsenden Bedeutung globaler<br />
öffentlicher Güter eine faire, auf win-win<br />
ausgerichtete internationale Kooperation,<br />
die für alle Beteiligten beste Strategie ist. Ein<br />
neuer Multilateralismus, der internationale<br />
Kooperation national verankert, könnte dies<br />
befördern – <strong>und</strong> politischen Entscheidungsträgern<br />
die Souveränität zurückgeben, die sie<br />
aufgr<strong>und</strong> mangelnder oder ineffektiver Kooperation<br />
verloren haben. Um aber dahin zu<br />
kommen, bedarf es noch zahlreicher Poli tikinno<br />
va tio nen <strong>und</strong> Debatten.<br />
APuZ 34–35/2010<br />
Ekkehart Krippendorff<br />
Staat muss sein.<br />
Muss Staat sein?<br />
Essay<br />
Wer <strong>und</strong> wann aus dem weiten Feld imperial<br />
kodierter amerikanischer Politikwissenschaft<br />
den Begriff failed states,<br />
der „fehlgeschlagenen<br />
Staaten“, in Umlauf<br />
gebracht hat, ließe sich<br />
sicher mit etwas philologischer<br />
Kleinarbeit<br />
feststellen. Es wird<br />
irgendwann im Kontext<br />
des Erwachens<br />
aus den Illusionen einer<br />
geordneten Welt<br />
nach dem Ende des<br />
Ekkehart Krippendorff<br />
Dr. phil., geb. 1934; Professor<br />
(em.) für Politikwissenschaft<br />
<strong>und</strong> Politik Nordamerikas am<br />
John F. Kennedy-Institut für<br />
Nordamerikastudien, Fachbereich<br />
Politische Wissenschaft,<br />
Freie Universität Berlin.<br />
kpdff@zedat.fu-berlin.de<br />
Kalten Krieges geschehen sein. Für Europa,<br />
für „den Westen“ war wohl der kriegerische<br />
Zerfall Jugoslawiens ein traumatisch nachwirkender<br />
Schock. Seit 2005 erstellt der USamerikanische<br />
F<strong>und</strong> for Peace einen jährlichen<br />
Index zerfallsbedrohter Staaten, <strong>und</strong> die<br />
deutsche Politikwissenschaft versammelte im<br />
selben Jahr ihre einschlägigen Experten für<br />
internationale Politik zu einem Themenheft<br />
„Zerfallende Staaten“, ❙ 1 wenig später folgte<br />
eine entsprechende Publikation der Heinrich<br />
Böll Stiftung. ❙ 2 Der Begriff selbst war ein<br />
Reflex auf die Desillusionierung mit der wiederum<br />
westlich-imperial geborenen Strategie<br />
einer neuen Weltstaatenordnung im Gehäuse<br />
der Vereinten Nationen (VN), welche aus<br />
den entkolonisierten Gesellschaften Afrikas,<br />
Asiens <strong>und</strong> der arabischen Welt „Nationalstaaten“<br />
zu machen versuchte; der magische<br />
politologische Begriff der 1950er <strong>und</strong> 1960er<br />
Jahre hatte nation building geheißen. Jetzt<br />
aber, seit Ende des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, stellen<br />
sich viele der damals aus der Zusammenarbeit<br />
mit ehemals kolonialen (meist in den Metropolen<br />
ausgebildeten) <strong>und</strong> europäischen<br />
Außenpolitikeliten konstruierten Staaten als<br />
„Fehlschläge“ heraus. Zwischenzeitlich hatten<br />
sich einige der Neuen durch einen Seitenwechsel<br />
ins „sozialistische Lager“ vom Geburtsmakel,<br />
Kolonialismusprodukte zu sein,
zu befreien versucht. Es erging ihnen aber<br />
nicht besser als den im „westlichen Lager“<br />
verbliebenen Neo-Staaten, vielmehr wurden<br />
sie dann meist Opfer außengelenkter Bürgerkriege<br />
als Folge des globalen Kräftemessens<br />
während des Kalten Krieges.<br />
Das derzeit im Zentrum internationaler<br />
Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Betroffenheit stehende<br />
Afghanistan ist dafür ein Paradebeispiel.<br />
Seinen Namen gaben diesem die englischen<br />
<strong>und</strong> die russischen Geostrategen, für die das<br />
auf der Landkarte staatenlose Gebiet eine<br />
Pufferzone zwischen ihren jeweiligen Einflusszonen<br />
darstellte. Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
wurden mehr oder minder willkürliche<br />
Grenzen gezogen <strong>und</strong> ein Königreich gegründet,<br />
welches aber bei den durch unwirtliche<br />
Gebirge voneinander getrennt lebenden<br />
Stämmen so gut wie keine Akzeptanz<br />
fand. Mit sechs Millionen Angehörigen bilden<br />
die Paschtunen den größten Stammesverband<br />
(aus dem sich heute die Taliban rekrutieren),<br />
daneben gibt es die Hazaras mit vier,<br />
die Usbeken mit ein bis zwei Millionen, aber<br />
auch noch Turkmenen, Aimaken, Perser, Belutschen,<br />
Tadschiken <strong>und</strong> andere. 1973 wurde<br />
die Monarchie im Staatsstreich gestürzt,<br />
durch eine Republik ersetzt <strong>und</strong> diese wiederum<br />
1978 von linken, prosowjetischen Putschisten<br />
übernommen, womit sie eine traditionalistische<br />
Konterrevolution <strong>und</strong> einen<br />
Bürgerkrieg provozierten.<br />
Das infamste Politik-Spiel trieb in den<br />
1980er Jahren die US-Regierung, welche die<br />
staatsfeindlichen f<strong>und</strong>amentalistischen Islamisten<br />
aktiv <strong>und</strong> mit Waffen unterstützte,<br />
was wiederum die sowjetischen Militärs auf<br />
den Plan rief. Eben das war die Falle gewesen,<br />
die sich die US-Strategen für die ohnehin<br />
schon krisengeschüttelte Sowjetmacht<br />
ausgedacht hatten: Acht Jahre verausgabte<br />
sich die sowjetische Armee erfolglos, ehe<br />
sie geschlagen abziehen musste <strong>und</strong> ihr eigenes<br />
marodes Staatsprojekt einer „Union sozialistischer<br />
Sowjetrepubliken“ wenige Jahre<br />
später zusammenbrach, so wie es sich die<br />
amerikanischen Strategen in ihren kühnsten<br />
Träumen vorgestellt hatten. Die einzige einigermaßen<br />
kohärente militärisch-politische<br />
Formation, die in Afghanistan zurückblieb,<br />
1 ❙ Vgl. APuZ, (2005) 28–29.<br />
2<br />
❙ Vgl. Heinrich Böll Stiftung, Ethnonationalismus<br />
<strong>und</strong> State Building, Bd. 5, 2008.<br />
waren die Taliban – die allerdings nicht daran<br />
dachten, nun einen Staat nach westlichem<br />
Modell zu errichten, weshalb sich ihr<br />
amerikanischer Schirmherr bald von ihnen<br />
abwandte.<br />
So oder so: Das megalomane Projekt der<br />
weltpolitischen Manager, die bunte Weltgesellschaft<br />
der Kulturen, Religionen <strong>und</strong><br />
Ethnien in das Korsett einer berechenbaren<br />
Weltstaatengesellschaft zu pressen, zeichnete<br />
sich immer deutlicher als ein failed project<br />
ab – eines, das vom Ansatz her letztlich nicht<br />
gelingen konnte. Um diese These einigermaßen<br />
überzeugend zu begründen, bedürfte es<br />
an dieser Stelle der Rückbesinnung auf die<br />
Geschichte <strong>und</strong> Ideologie von Staatlichkeit,<br />
was aber den Rahmen eines Essays sprengen<br />
würde. Nur an so viel sei hier erinnert: Es hat<br />
in der Geschichte nur zwei geschichtsmächtige,<br />
das heißt überlebende Strategien der<br />
Staatlichkeit gegeben: die chinesische <strong>und</strong> die<br />
römische.<br />
Der chinesische Staat zeichnete sich unter<br />
anderem durch seine erstaunliche Selbstgenügsamkeit<br />
<strong>und</strong> Selbstbegrenzung innerhalb<br />
mehr oder minder stabiler Grenzen<br />
eines riesigen Territoriums aus, was ihm eine<br />
ungewöhnlich stark ausgeprägte kulturellideologische<br />
Identität gab. Die chinesische<br />
Herrschaftselite verstand sich <strong>und</strong> ihr Land<br />
als Zentrum der zivilisierten Welt („Reich der<br />
Mitte“) <strong>und</strong> entfaltete darum keine imperialexpansive<br />
Dynamik. Im Gegenteil: Zwischen<br />
sich <strong>und</strong> ihren Nachbarn errichtete sie die bis<br />
heute höchst eindrucksvolle Mauer <strong>und</strong> untersagte<br />
gleichzeitig den Bau einer hochseetüchtigen<br />
Flotte. Rom hingegen entwickelte<br />
nach seiner Unterwerfung der italischen Völker<br />
eine geradezu atemberaubende militärisch-administrative<br />
<strong>und</strong> kulturell-ideologische<br />
Expansionsdynamik, die innerhalb von<br />
drei Jahrh<strong>und</strong>erten nahezu das ganze heutige<br />
West-, Ost- <strong>und</strong> Mitteleuropa einschließlich<br />
Nordafrikas einschloss. Sein zweiphasiger<br />
Untergang (Westrom im 5. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />
Ostrom im Jahr 1453 mit dem Fall Konstantinopels)<br />
hinterließ den Traum eines pazifizierenden<br />
Imperiums: eine funktionierende<br />
Infrastruktur, eine einheitliche Währung,<br />
militärische Organisation von Sicherheit,<br />
ein universalistisches Rechtssystem <strong>und</strong> eine<br />
verfassungsähnliche Institutionalisierung der<br />
Macht, eine Amtssprache <strong>und</strong> eine alle diese<br />
Faktoren verbindende politische Kultur.<br />
APuZ 34–35/2010 41
42<br />
Die Vision einer Weltfriedensordnung als<br />
Erbe Roms blieb in Europas „kulturellem Gedächtnis“<br />
(Jan <strong>und</strong> Aleida Assmann) erhalten<br />
<strong>und</strong> ist in Kunst <strong>und</strong> Literatur, Bildsprache<br />
<strong>und</strong> Musik bis in unsere Gegenwart ungebrochen<br />
lebendig geblieben. Die Erinnerung<br />
an Rom ist aber zugleich die Erinnerung an<br />
den Staatsgedanken, der in den Teilen, in welche<br />
das Imperium zerbrach <strong>und</strong> sich auflöste,<br />
weiterlebte. Das betrifft besonders die westlichen,<br />
die dauerhaft christianisierten „Bruchstücke“.<br />
Die deutschen Kaiser verstanden sich<br />
ebenso wie die europäischen Prinzen allesamt<br />
als Erben <strong>und</strong> Bewahrer römischer Staatstradi<br />
tion <strong>und</strong> ließen sich bis weit ins 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
als solche feiern, abbilden <strong>und</strong> historisch<br />
legitimieren. Die jungen Vereinigten<br />
Staaten von Amerika, deren Gründungsväter<br />
zwar geistesgeschichtlich vor allem Aufklärer<br />
waren, sahen sich aber gleichwohl explizit<br />
als Erben <strong>und</strong> Erneuerer der imperialen<br />
Ordnungsmacht Rom, die bis heute als historisches<br />
Vorbild von politischen Historikern<br />
immer wieder erinnert, berufen <strong>und</strong> als historischer<br />
Auftrag zitiert wird. ❙ 3 Darum gehören<br />
die USA in einem erweiterten historischen<br />
Horizont hier zu Europa, zur europäischen<br />
politischen Tradition <strong>und</strong> leben auch sie vom<br />
europäischen staatspolitischen Erbgut.<br />
Staat als die Wirklichkeit<br />
der sittlichen Idee<br />
Was war das Besondere an diesem in Rom geborenen<br />
<strong>und</strong> in den ehemals römischen Kolonien<br />
bewahrten Staatsgedanken, der ihn<br />
unterscheidet von allen anderen Modellen,<br />
insbesondere vom einzigen ihm gewissermaßen<br />
ebenbürtigen Ordnungskosmos Chinas?<br />
Es war die Idee – das Ideal – einer transpersonalen,<br />
schriftlich verfassten, in Rechten <strong>und</strong><br />
Pflichten kodifizierten rationalen Ordnung,<br />
der sich auch die Regierenden zu unterwerfen<br />
haben: Der Staat als ein sichtbar-unsichtbarer,<br />
alle Menschen gleichermaßen erfassender<br />
Mechanismus, der in Gang gehalten wird von<br />
„Staatsdienern“, deren Ethos in uneigennütziger<br />
Pflichterfüllung besteht. An der Spitze<br />
dieser Anstalt stand ein Monarch, Fürst bzw.<br />
Machthaber, dessen (selten erreichtes) Rollenselbstbild<br />
das des „Ersten Dieners seines<br />
Staates“ war. Diese Staatsidee <strong>und</strong> ihr die-<br />
3 ❙ Vgl. Peter Bender, Weltmacht Amerika – das neue<br />
Rom, Stuttgart 2003.<br />
APuZ 34–35/2010<br />
nendes Personal wurde am Ende des Dreißigjährigen<br />
Krieges 1648 mit dem Westfälischen<br />
Frieden ratifiziert <strong>und</strong> als von der Politischen<br />
Soziologie später so getaufter „Moderner<br />
Staat“ auch administrativ praktiziert. In<br />
Frankreich gebar diese Idee den noblen Begriff<br />
einer raison d’état, einer Staatsvernunft,<br />
die über den Partikularinteressen Einzelner<br />
oder gesellschaftlicher Gruppen <strong>und</strong> Klassen<br />
stehe. In England schuf Thomas Hobbes das<br />
Bild des „Leviathan“, der die Staatsbürger zu<br />
einer großen, unüberwindlichen Gestalt zusammenschweißt.<br />
In Deutschland brachte<br />
der Soziologe Max Weber diese Staatsidee auf<br />
den Begriff der „rationalen Anstalt“, die es<br />
auch empirisch „nur im Okzident gegeben“<br />
habe. Und schließlich erkannte der Philosoph<br />
Georg Wilhelm Friedrich Hegel in der Rationalität<br />
des neuzeitlichen Staates das Wirken<br />
der historischen Vernunft <strong>und</strong> konnte von<br />
ihr, nach Jahrh<strong>und</strong>erten der geistigen Maulwurfsarbeit<br />
des Zu-sich-selbst-Kommens,<br />
sagen: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen<br />
Idee.“<br />
Im Gr<strong>und</strong>e sind wir Europäer, die wir von<br />
den Staaten anderer Kulturkreise funktionierende<br />
<strong>Institutionen</strong>, Verfassungen, ein Minimum<br />
an Rechtsstaatlichkeit <strong>und</strong> rationale<br />
Verwaltungen – besetzt mit unbestechlichen<br />
staatsloyalen Beamten – erwarten, Hegelianer.<br />
Die Idee vom Staat als Wirklichkeit der<br />
sittlichen Idee ist ein europäischer Maßstab,<br />
den wir im VN-Zeitalter in der internationalen<br />
Politik an alle, also nunmehr auch an<br />
außereuropäische Staaten mit anderen historischen<br />
<strong>und</strong> geistesgeschichtlichen Traditionen<br />
anlegen <strong>und</strong> daraus politische Strategien<br />
ableiten, etwa wenn es um den Umgang mit<br />
oft landesüblicher Korruption geht. Wie viel<br />
spätmittelalterliche Triebsublimierung, kulturelle<br />
Repression, höfische Disziplinierung<br />
der Sitten, Gehorsamserziehung der Untertanen<br />
kompensiert durch prestige-abgesicherte<br />
Dienstehre zur Herausbildung der spezifisch<br />
europäischen „Staatskultur“ nötig war,<br />
hat Norbert Elias eindringlich <strong>und</strong> detailliert<br />
dargestellt. ❙ 4 Noch der letzte Postbeamte <strong>und</strong><br />
Zugschaffner (ehe der Privatisierungswahn<br />
unserer Tage diese Kultur brutal zerstörte)<br />
konnte sich als Mitglied einer staatstragenden<br />
Dienstelite fühlen <strong>und</strong> sich in der Pflicht-<br />
4<br />
❙ Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation.<br />
Soziogenetische <strong>und</strong> psychogenetische Untersuchungen,<br />
2 Bde., Frankfurt/M. 1976.
erfüllung seine gesellschaftliche Identität bestätigen.<br />
Diese idealtypische Mentalität fehlt<br />
dem vergleichbaren nigerianischen oder pakistanischen<br />
Post- oder Schalterbeamten; im<br />
Militär lässt sich diese nicht dem Staat, sondern<br />
der Familie oder dem Clan geschuldete<br />
Loyalität an der hohen Desertionsrate wie in<br />
Afghanistan festmachen.<br />
Um Missverständnisse zu vermeiden: Nicht<br />
die empirische Wirklichkeit europäischer<br />
Staatengeschichte ist hier zu thematisieren –<br />
die ist über weite Strecken so grauenvoll <strong>und</strong><br />
de struk tiv, dass man sich fragen muss, wie es<br />
kam <strong>und</strong> kommt, dass ihre Idee überhaupt<br />
überlebt hat. Der Schlüssel zu einer möglichen<br />
Antwort liegt im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert: So<br />
weltweit überwältigend war der Erfolg europäischer<br />
Staatlichkeit gewesen, dass ihre<br />
Theoretiker <strong>und</strong> handelnden Protagonisten<br />
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />
als sie mit der ordnungspolitischen Aufgabe<br />
konfrontiert wurden, den militärisch <strong>und</strong><br />
ökonomisch relativ leicht unterworfenen außereuropäischen<br />
Gesellschaften den Weg in<br />
die politische Selbstständigkeit zu öffnen <strong>und</strong><br />
ihnen ihre Freiheit zur Selbstbestimmung ihres<br />
politischen Schicksals zurückzugeben,<br />
sich diese gar nicht anders vorstellen konnten<br />
als im Gehäuse wiederum europäisch modellierter<br />
Staaten.<br />
Den Entkolonisierten den europäischen<br />
Staat als Bedingung für die Souveränität zu<br />
oktroyieren, war nicht, oder jedenfalls nicht<br />
ausschließlich, ein zynisch-machiavellistisches<br />
Manöver zur Fortsetzung der Kolonialherrschaft<br />
mit anderen Mitteln. Diese institutionelle<br />
Strategie entsprang vielmehr einer<br />
nachvollziehbaren kulturellen Blindheit der<br />
europäischen außenpolitischen Eliten, ideologisch<br />
unterstützt von Sozialwissenschaftlern<br />
ohne differenzierte ethnologische <strong>und</strong><br />
präkoloniale historische Kenntnisse. Staat<br />
musste sein, weil er vernünftig war <strong>und</strong> sich<br />
in Europa bewährt hatte. Unterschlagen, vergessen<br />
<strong>und</strong> verdrängt wurde dabei, dass der<br />
europäische, sogenannte Nationalstaat sich<br />
seine Nation – die kulturelle, sprachliche, religiöse<br />
Homogenität – erst im Laufe von mehr<br />
als drei Jahrh<strong>und</strong>erten in blutigen, bisweilen<br />
massenmörderischen Kriegen hatte erkämpfen<br />
müssen: Man erinnere sich an den organisierten<br />
Massenmord <strong>und</strong> die Vertreibung der<br />
französischen Hugenotten oder an Zwangstaufe<br />
<strong>und</strong> Vertreibung der spanischen Juden<br />
nach der Reconquista. Dem jüngsten europäischen<br />
Nationalstaat galt der erleichterte <strong>und</strong><br />
besorgte Stoßseufzer: „L’Italia è fatta, ora<br />
facciamo gli Italiani“ – Italien ist gemacht,<br />
jetzt müssen die dazugehörigen Italiener gemacht<br />
werden. Für die neuen Staaten waren<br />
darum „Bürgerkriege“ absehbar <strong>und</strong> vorprogrammiert<br />
– dreißig Jahre lang zusätzlich instrumentalisiert<br />
vom sowjetisch-amerikanischen<br />
Hahnenkampf im Kalten Krieg. Mehr<br />
als andere taten sich da die USA hervor, die<br />
heute den Sturm ernten, den sie damals als<br />
Wind säten (al-Qaida, Taliban). Aber dieses<br />
Kapitel ist weit davon entfernt, im historischen<br />
Bewusstsein des Westens angekommen<br />
zu sein, <strong>und</strong> die Regierenden haben mit Erfolg<br />
alles getan, um es vergessen zu machen.<br />
Ganz anders allerdings steht es um die historische<br />
Erinnerung daran bei den Betroffenen,<br />
den Opfern dieser machiavellistischen Herrschaftsstrategien<br />
– sie haben nicht vergessen.<br />
Das heute zu beobachtende <strong>und</strong> analytisch<br />
zu entschlüsselnde Phänomen des Staatenzerfalls,<br />
eben der failed states, hat hier seinen<br />
Ursprung. Die von Hegel auf den Begriff<br />
gebrachte Idee der Staatlichkeit konnte<br />
in den überwiegend ethnisch <strong>und</strong> tribal organisierten<br />
Gesellschaften Afrikas, der arabischen<br />
Völker oder Südostasiens keine Anknüpfungspunkte<br />
finden. Wer dort vom Staat<br />
als Wirklichkeit der sittlichen Idee spräche,<br />
würde bestenfalls auf Unverständnis stoßen,<br />
vermutlich aber politisch nicht ernst genommen<br />
bzw. ausgelacht werden. Kaum einem<br />
der jungen Staaten ist es gelungen, ein identitätsstiftendes<br />
Dach für seine Bevölkerung<br />
zu konstruieren, aus einem machtpolitisch<br />
auf Landkarten konstruierten Staatsvolk<br />
von vielfältigen Stämmen <strong>und</strong> Religionsgemeinschaften<br />
einen funktionierenden Nationalstaat<br />
zu bilden oder wenigstens ein<br />
übergreifendes Staatsbewusstsein zu stiften.<br />
Afghanistans Stammesgesellschaft ist da wiederum<br />
nur das aktuellste <strong>und</strong> dramatischste<br />
Beispiel. Der amerikanische Botschafter<br />
Karl W. Eikenberry resümierte seine Erfahrungen<br />
in Afghanistan nüchtern: „Abgesehen<br />
von [dem Präsidenten Hamid] Karsai gibt es<br />
keine politische Elite, die aus den lokalen Loyalitäten<br />
eine nationale Identität formen <strong>und</strong><br />
ein zuverlässiger Partner sein könnte.“ Über<br />
die afghanischen warlords schreibt ein gut informierter<br />
Journalist: „Sie sind Menschenschlächter,<br />
die ganze Bevölkerungsgruppen<br />
vertreten: Ich zahle, Du kämpfst <strong>und</strong> stimmst<br />
APuZ 34–35/2010 43
44<br />
für mich bei Wahlen. In einem Land, in dem<br />
es keine zuverlässige staatliche Struktur gibt<br />
<strong>und</strong> in dem seit Jahrzehnten Krieg geführt<br />
wird, bleiben sie die Ansprechpartner.“ ❙ 5 Die<br />
Verunsicherung traditioneller Staatsdiplomatie<br />
im Umgang mit <strong>nichtstaatliche</strong>n (oder<br />
„substaatlichen“) <strong>Akteure</strong>n führt zu einem<br />
rational kaum vermittelbaren ständigen taktischen<br />
Strategie- <strong>und</strong> Partnerwechsel, an<br />
dessen Widersprüchlichkeiten eine kritische<br />
journalistische Berichterstattung bitteres intellektuelles<br />
Vergnügen findet: „Die britische<br />
Regierung, die sich früher für eine großzügigere<br />
Finanzhilfe für die Regierung in Kabul<br />
eingesetzt hatte, nennt dieselbe jetzt<br />
korrupt, halb-kriminell, ineffizient <strong>und</strong> illegitim.<br />
Warlords wie Gul Agha Shirazai, die<br />
einst verteufelt wurden, werden jetzt toleriert<br />
<strong>und</strong> sogar gelobt. Die USA bewaffneten<br />
2001 afghanische Milizen, entwaffneten<br />
sie 2003 wieder durch ein Demobilisierungsprogramm,<br />
<strong>und</strong> bewaffneten sie erneut 2006<br />
als Gemeinde-Verteidigungsstreitkräfte. Wir<br />
erlaubten 2001 lokale Autonomie, drängten<br />
zwei Jahre später auf eine starke Zentralregierung<br />
<strong>und</strong> kehrten 2006 wieder zurück zur<br />
Dezentralisierungs strategie.“ ❙ 6<br />
Vergleichbares gilt auch für den anderen<br />
aktuellen Kriegsschauplatz, Irak, wo sich die<br />
englische Kolonialbürokratie <strong>und</strong> -diplomatie<br />
in den 1920er Jahren im nation building<br />
versucht hatte. Andere Zerfallskandidaten<br />
stehen gewissermaßen Schlange, um auf die<br />
Liste des F<strong>und</strong> for Peace zu kommen: Jemen,<br />
Somalia, Sri Lanka, Nigeria <strong>und</strong> die Republik<br />
Kongo bis hin zu den Großstaaten Indien<br />
<strong>und</strong> Pakistan. Der Index wird jährlich<br />
länger. In Europa tendiert man allerdings zu<br />
vergessen, dass noch vor zehn Jahren auf dem<br />
eigenen Kontinent ein völkermörderischer<br />
Staatenzerfalls-Bürgerkrieg tobte: In Jugoslawien,<br />
das unvergleichlich günstigere Voraussetzungen<br />
funktionierender Staatlichkeit<br />
zu haben schien.<br />
Was ist zu tun?<br />
Zunächst einmal ist noch sehr viel intensive<br />
Forschungsarbeit zu leisten. Die müsste be-<br />
5 ❙ Thomas Avenarius in: Süddeutsche Zeitung vom<br />
29. 1. 2010.<br />
6 ❙ Rory Stewart in: The New York Review of Books<br />
vom 14. 1. 2010.<br />
APuZ 34–35/2010<br />
ginnen mit dem Hinterfragen der zentralen<br />
Hypothesen, auf denen das von den VN repräsentierte<br />
<strong>und</strong> verteidigte Weltstaatensystem<br />
beruht. Aus ihrer Sicht ist der europäisch<br />
kodierte Staat alternativlose Rahmenbedingung<br />
jeder legitimen Politik: Staat muss sein.<br />
Also werden die failed states allen Schwierigkeiten<br />
<strong>und</strong> Widersprüchen zum Trotz stabilisiert,<br />
wie es aktuell in Afghanistan zu<br />
beobachten ist. Als das wichtigste <strong>und</strong> erfolgversprechendste<br />
Instrument der Stabilisierungsstrategie<br />
gilt das Militär. Ohne Militär<br />
kein Staat – das war <strong>und</strong> ist die europäische<br />
Erfahrung. Staat <strong>und</strong> Militär sind Zwillingsinstitutionen<br />
als Garanten von Ordnung <strong>und</strong><br />
Berechenbarkeit. Wenn man von den Regierten<br />
der „Versagerstaaten“ schon kein internalisiertes<br />
Staatsbewusstsein erwarten kann,<br />
dann muss man ihnen wenigstens das Rückgrat<br />
militärischer Ordnung implantieren.<br />
Das scheint operativ machbar <strong>und</strong> lässt sich<br />
von Diplomaten <strong>und</strong> Ministerialbürokratien<br />
scheinbar einfach umsetzen in normierte<br />
<strong>und</strong> disziplinierte Ausbildungsprogramme<br />
<strong>und</strong> Rüstungslieferungen. So dient die Militärhilfe<br />
der B<strong>und</strong>esregierung erklärtermaßen<br />
dem Ziel der „Festigung der Staatsgewalt“ in<br />
den Empfängerländern. Das ist zusätzlich<br />
ein glänzendes Geschäft, das weltweit größte<br />
Geschäft einer Kategorie überhaupt: Die<br />
(unzuverlässigen) Zahlen für Waffenexporte<br />
schwanken weltweit zwischen 45 <strong>und</strong> 200<br />
Milliarden US-Dollar. Das Geschäft ist zu<br />
90 Prozent in der Hand der Mitglieder des<br />
VN-Sicherheitsrates, also des obersten politischen<br />
Weltorgans, den materiellen Nutzen<br />
davon aber haben ausschließlich die Industrienationen.<br />
Die für uns lebensnotwendigen<br />
Rohstoffe – allen voran das Öl – werden mit<br />
Waffenlieferungen bezahlt, mit denen die<br />
Militärapparate vor Ort für eine Ordnung<br />
sorgen, die unseren Lebensstandard staatlich<br />
sichert. So stehen beispielsweise für das<br />
deutsche Verteidigungsministerium beim<br />
Bürgerkrieg im Kongo, der Ende der 1990er<br />
Jahre zu mehreren Millionen Toten führte,<br />
„zentrale Sicherheitsinteressen unseres Landes“<br />
auf dem Spiel. Ein circulus vitiosus.<br />
In den vergangenen Jahren hat sich die<br />
These von den „asymmetrischen Kriegen“<br />
<strong>und</strong> ihrer Entstaatlichung durchgesetzt, derzufolge<br />
die Staaten nicht mehr als Staaten<br />
strukturell <strong>und</strong> letztlich auch moralisch-politisch<br />
für den kriegerischen Gewaltcharakter<br />
des internationalen Systems verantwortlich
sein sollen, sondern nunmehr <strong>nichtstaatliche</strong><br />
<strong>Akteure</strong> wie warlords <strong>und</strong> vielerlei kriminelle<br />
<strong>und</strong> terroristische Netzwerke, von denen al-<br />
Qaida nur das prominenteste ist. „Nur dann<br />
wenn die ökonomischen Strukturen wesentlich<br />
unter staatlicher Kontrolle stehen“, könne<br />
man die falsche These ❙ 7 aufrechterhalten,<br />
dass Kriege gr<strong>und</strong>sätzlich Staatenkriege seien.<br />
Dabei wird die zentrale Bedeutung des<br />
Waffenhandels übersehen, der ohne die aktive<br />
Rolle der industrialisierten Staaten als<br />
Wegbereiter, Vermittler, Kontrolleure <strong>und</strong><br />
Profiteure nicht funktionieren könnte: kein<br />
Krieg – sei es Bürger-, Sezessions- oder klassischer<br />
Grenzkrieg –, der ohne die Existenz<br />
der staatlich legitimierten, abgesicherten <strong>und</strong><br />
systematisch geförderten Waffenexporte ausgebrochen<br />
oder durchzuhalten wäre. Nach<br />
wie vor ist Staatlichkeit ohne Militär <strong>und</strong> dieses<br />
ohne eine weltweite Rüstungsökonomie,<br />
deren wichtigste Auftraggeber wiederum<br />
Staaten sind, nicht denkbar. Aber gleichzeitig<br />
kann man wissen, dass die intendierte Stabilisierung<br />
„zerfallender Staaten“ mit militärischen<br />
Mitteln nicht funktioniert, weil sie<br />
eben wegen dieses angewandten Mittels nicht<br />
funktionieren kann.<br />
Seit Gründung der USA haben amerikanische<br />
Streitkräfte mehr als zweih<strong>und</strong>ert Mal in<br />
Auslandseinsätzen für die Wiederherstellung<br />
von Ruhe <strong>und</strong> Ordnung zu sorgen versucht.<br />
Von den 16 Malen, die die USA in jüngerer<br />
Zeit versucht haben, zerfallende Staaten entweder<br />
aufzubauen oder durch Regimewechsel<br />
zu festigen, waren elf glatte Fehlschläge<br />
<strong>und</strong> zwei – Grenada <strong>und</strong> Panama – können<br />
nur als „wahrscheinlich erfolgreich“ gelten. ❙ 8<br />
Wirklich erfolgreich waren aus der Sicht einiger<br />
Forscher nur zwei Fälle: Deutschland<br />
<strong>und</strong> Japan. So viel zum militärischen nation<br />
building.<br />
Solange die Experten der internationalen<br />
Politik <strong>und</strong> ihre operativen Manager<br />
sich nicht von der alternativlosen Rekonstruktion<br />
des europäischen Staatsmodells,<br />
der „rationalen Anstalt“ als einziger Form<br />
des Politischen verabschieden zugunsten der<br />
7 ❙ Vgl. Ekkehart Krippendorff, Staat <strong>und</strong> Krieg.<br />
Die historische Logik politischer Unvernunft,<br />
Frankfurt/M. 1985.<br />
8 ❙ Vgl. William R. Polk, Aufstand. Widerstand gegen<br />
Fremdherrschaft – vom Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg<br />
bis zum Irak, Hamburg 2009.<br />
Möglichkeiten anderer, kulturell authentischer<br />
Politikformen, in denen tribale <strong>und</strong><br />
ethnische Loyalitäten nicht als minderwertige<br />
Primitivismen diskreditiert, sondern<br />
als Potenzial eigener Normen <strong>und</strong> Verfahren<br />
ernst genommen werden, wird dieser<br />
Stein des Sisyphos ihnen immer wieder auf<br />
die Füße rollen. Auf dem langen <strong>und</strong> ideologisch<br />
extrem schwierigen Weg dahin wäre<br />
eine – noch nicht existierende – ethnologisch<br />
informierte normative Wissenschaft der <strong>Internationale</strong>n<br />
Beziehungen gefragt, die sich<br />
in Zusammenarbeit mit arabischen, afrikanischen<br />
<strong>und</strong> asiatischen Gesellschaften auf die<br />
Spurensuche nach verschütteten indigenen<br />
Wurzeln politischer Organisation präkolonialer<br />
Gesellschaften begeben müsste.<br />
Ist Demokratie als gesellschaftliche Selbstbestimmung<br />
tatsächlich ausschließlich eine<br />
Erfindung des klassischen Griechenland oder<br />
hat es nicht auch außereuropäische Formen<br />
<strong>und</strong> Variationen gesellschaftlicher Selbstregierung<br />
gegeben, die unter der massiven Walze<br />
europäischer Welteroberung <strong>und</strong> damit<br />
einhergehender systematischer Kulturzerstörung<br />
(wie exemplarisch in Spanisch-Amerika)<br />
begraben wurden, aber heute konstruktiv<br />
erinnert <strong>und</strong> rekonstruiert zu werden<br />
verdienen? ❙ 9 Immerhin haben zumindest<br />
zwei der berühmten amerikanischen „Gründungs<br />
väter“, Thomas Jefferson <strong>und</strong> Benjamin<br />
Franklin, sich die Mühe gemacht, von<br />
indianischen politischen Erfahrungen zum<br />
Beispiel über die Bildung stammesübergreifender<br />
stabiler Bündnisse für die eigene<br />
Bündnisstruktur der „Vereinigten Staaten“<br />
zu lernen; mehr Indianisches als nach außen<br />
bekannt ging in die frühen Diskussionen um<br />
Kultur <strong>und</strong> Struktur dieses neuen politischen<br />
Staates ein, der selbst kein Staat, sondern nur<br />
eine gemeinsame „Administration“ von Staaten<br />
sein wollte. ❙ 10<br />
Seit den 1940er Jahren haben Ethnologie<br />
<strong>und</strong> Anthropologie bei außereuropäischen<br />
Kulturen wichtige Erkenntnisse gewonnen,<br />
zum Beispiel über Konfliktlösungsmechanismen<br />
in <strong>nichtstaatliche</strong>n Gesellschaften, die<br />
9 ❙ Mein eigener bescheidener Versuch dazu: Die Kultur<br />
des Politischen. Wege aus den Diskursen der<br />
Macht, Berlin 2009, S. 55–77.<br />
10 ❙ Vgl. Thomas Wagner, Irokesen <strong>und</strong> Demokratie.<br />
Ein Beitrag zur Soziologie interkultureller Kommunikation,<br />
Münster 2004.<br />
APuZ 34–35/2010 45
46<br />
von der Politikwissenschaft überhaupt nicht,<br />
von einigen Friedensforschern bestenfalls<br />
marginal zur Kenntnis genommen wurden,<br />
aber nirgends zu einem kreativen Nachdenken<br />
über neue Politikformen jenseits repräsentativen<br />
Parteienstaates geführt haben.<br />
Ein gründlich recherchierter Bericht über<br />
die explosive Bürgerkriegssituation im Jemen<br />
sprach vom „<strong>und</strong>urchdringlichen Geflecht<br />
der Stämme“. ❙ 11 Der Notwendigkeit,<br />
tribale Gesellschaften zerfallender Staaten zu<br />
Partnern staatlicher Politik machen zu müssen,<br />
stellen sich fast unlösbare Probleme für<br />
Theorie <strong>und</strong> Praxis: für die Theorie ein neues,<br />
unkonventionelles Nachdenken über die<br />
Subjekte <strong>und</strong> Parameter des Politischen; für<br />
die Praxis die Differenzierung <strong>und</strong> Wertung<br />
kulturell legitimer versus destruktiv-sektiererischer<br />
Netzwerke des Machtspiels. Nicht<br />
jeder Clan, nicht jedes außerstaatliche Netzwerk,<br />
nicht jeder Stamm hat in der Selbstbestimmung<br />
<strong>und</strong> Selbstregierung seiner Mitglieder<br />
seine Identität <strong>und</strong> Dignität. In dem<br />
Bericht über den Kleinkrieg im Nordjemen,<br />
in den die saudische Monarchie inzwischen<br />
zugunsten der Zentralregierung <strong>und</strong> gegen<br />
die schiitischen Houthi-Rebellen eingegriffen<br />
hat, heißt es: „Al Qaida, sonst ein erbitterter<br />
Feind der saudischen Monarchie,<br />
warnt die sunnitische Welt im Internet davor,<br />
dass die schiitischen Iraner im Grenzland<br />
zwischen dem Jemen <strong>und</strong> Saudi-Arabien eine<br />
Einflusszone schaffen wollten gleich der von<br />
Hisbollah beherrschten Region im Libanon.“<br />
An Verwirrung für jede Form von Analyse<br />
<strong>und</strong> vor allem diplomatisch-militärische Praxis<br />
ist da offensichtlich kein Mangel.<br />
Nur eines scheint sicher: An eine erfolgreiche<br />
Rekonstruktion von Staatlichkeit ist<br />
auch da ebenso wenig zu denken, wie an den<br />
sinnvollen Einsatz konventioneller außenpolitischer<br />
Mittel <strong>und</strong> Methoden, insbesondere<br />
des Militärs als der ultima ratio staatlicher<br />
Politik. Die zynisch-pragmatische Schlussfolgerung,<br />
welche die amerikanischen Politikmacher<br />
aus dem „Zerfallsdilemma“ ziehen,<br />
keine staatlichen Ansprechpartner zu<br />
haben <strong>und</strong> daraufhin einzelne Gruppen oder<br />
Stammesführer zu „kaufen“, mag kurzfristig<br />
wie im Irak gewisse taktische Erfolge zeitigen,<br />
macht aber eine stabile politische Lösung<br />
langfristig noch unwahrscheinlicher.<br />
11 ❙ Süddeutsche Zeitung vom 12. 11. 2009.<br />
APuZ 34–35/2010<br />
Die wahre Staatsvernunft, auf die wir so stolz<br />
sind, sollte zunächst darin bestehen, jeglichen<br />
Handel mit Waffen <strong>und</strong> Rüstungsmaterial<br />
zu unterbinden. Die Entmilitarisierung<br />
von Konflikten statt der systematischen, gar<br />
noch symmetrisch-profitablen Aufrüstung<br />
beider Seiten, ist eine der wichtigsten Bedingungen<br />
für die Möglichkeit des geduldigen<br />
Experimentierens mit alternativen indigenen<br />
Politikformen.<br />
Wir diskutieren das Problem der „zerfallenden<br />
Staaten“ in Bezug auf die außereuropäischen<br />
Neo-Staaten – <strong>und</strong> ignorieren dabei<br />
die Phänomene zerfallender nationalstaatlicher<br />
Identität in einigen der „Mutterländer<br />
moderner Staatlichkeit“. Gibt es einen untergründigen<br />
Zusammenhang mit den hier diskutierten<br />
dramatischen Zerfallserscheinungen<br />
<strong>und</strong> den plötzlich auftretenden nationalen<br />
Identitätskrisen in Frankreich, Spanien, England<br />
oder auch der Schweiz? Die Vermutung<br />
eines Zusammenhanges mit den von der Globalisierung<br />
ausgelösten Migrationsbewegungen<br />
drängt sich auf. Führen die dadurch ausgelösten<br />
demographischen <strong>und</strong> kulturellen<br />
Veränderungen zur Entloyalisierung mit der<br />
Idee vom Staat als Wirklichkeit der sittlichen<br />
Idee? Könnte sich daraus auch in Europa eine<br />
andere Staatsidee entwickeln? Haben die Vereinigten<br />
Staaten von Amerika möglicherweise<br />
mit ihrem Anteil an einem andersartigen<br />
Erbteil moderner Staatlichkeit eine bessere<br />
Chance, eine multikulturelle Gesellschaft<br />
politisch zu integrieren als das starre europäische<br />
Staatsmodell? Wenn da politische<br />
Integration versagt, ist dann nicht Desintegration,<br />
also „Zerfall“, die langfristige Konsequenz?<br />
Oder könnten – <strong>und</strong> sollten – sich<br />
nicht neue Formen des Politischen, neue Formen<br />
des „Politikmachens“ jenseits der Staatsfixierung<br />
herausbilden <strong>und</strong> ermutigt werden?<br />
Müssten sie nicht ansetzen mit einer anderen<br />
Sprache des Nachdenkens, Sprechens <strong>und</strong><br />
Schreibens über Politik? Müsste Politik sich<br />
nicht davon befreien, ein eindimensionaler<br />
Diskurs über Macht <strong>und</strong> die Praxis staatlicher<br />
Machtausübung zu sein, um ein mehrdimensionaler<br />
Diskurs über Kultur zu werden,<br />
wie sie ihn in Literatur, Kunst <strong>und</strong> Musik<br />
entdecken <strong>und</strong> für ihre Aufgabe der Gestaltung<br />
von gesellschaftlicher Ordnung, einer<br />
Friedensordnung zumal, fruchtbar machen<br />
kann: die Kultur des Politischen?
APuZ<br />
Nächste Ausgabe 36–37/2010 · 6. September 2010<br />
Spanien<br />
Walter Haubrich<br />
„Besser als gestern, schlechter als morgen“<br />
Holm-Detlev Köhler<br />
Spanien in Zeiten der globalen Wirtschaftskrise<br />
Walther L. Bernecker<br />
Baskenland <strong>und</strong> Katalonien zwischen „Nation“ <strong>und</strong> „Nationalität“<br />
Deniz Devrim<br />
Die Spanische EU-Ratspräsidentschaft 2010 – eine Bilanz<br />
Matthias Jäger<br />
Bröckelt die „geistige Reserve des Okzidents“?<br />
Ulrike Capdepón<br />
Der öffentliche Umgang mit der Franco-Diktatur<br />
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der B<strong>und</strong>eszentrale<br />
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ISSN 0479-611 X
3–7<br />
7–14<br />
14–20<br />
20–26<br />
27–33<br />
34–40<br />
40–46<br />
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APuZ 34–35/2010<br />
Christiane Grefe<br />
Rio reloaded<br />
Finanzkrisen, wachsende Armut <strong>und</strong> Klimawandel sind globale Herausforderungen.<br />
Um die weitere Zuspitzung dieser Probleme zu verhindern, gilt es, am Ansatz<br />
der Vereinten Nationen einer demokratischen Artenvielfalt neu anzuknüpfen.<br />
Jeanne Lätt · Thomas Fues · Siddharth Mallavarapu<br />
“We will have to learn to be better listeners”<br />
Das Doppelinterview mit Thomas Fues <strong>und</strong> Siddharth Mallavarapu widmet sich<br />
den normativen Gr<strong>und</strong>lagen von global governance unter den Bedingungen einer<br />
multipolaren Welt. Fehlt es derzeit an globalen Normen <strong>und</strong> Visionen?<br />
Michael Zürn<br />
<strong>Internationale</strong> <strong>Institutionen</strong> <strong>und</strong> <strong>nichtstaatliche</strong> <strong>Akteure</strong><br />
Das Regieren jenseits des Nationalstaates wirft eine Reihe von gr<strong>und</strong>legenden<br />
Fragen auf: Haben die internationalen <strong>Institutionen</strong> einen supranationalen Charakter<br />
erlangt? Welche Rolle spielen <strong>nichtstaatliche</strong> <strong>Akteure</strong>?<br />
Andreas Fischer-Lescano · Lars Viellechner<br />
Globaler Rechtspluralismus<br />
In der Weltgesellschaft überlagern sich zahlreiche Rechtsregimes. Kohärenz wird<br />
nur durch ein Rechtsverständnis zu erreichen sein, das Vorstellungen von staatlicher<br />
Souveränität, weltstaatlicher Universalität <strong>und</strong> radikaler Partikularität überwindet.<br />
Eva Senghaas-Knobloch<br />
<strong>Internationale</strong> Arbeitsregulierung<br />
<strong>Internationale</strong> Arbeitsregulierung steht seit der Industrialisierung auf der politischen<br />
Tagesordnung. Die negativen Auswirkungen der Deregulierungspolitik auf<br />
die soziale Situation in den Industrieländern unterstreichen ihre Aktualität.<br />
Inge Kaul<br />
Suche nach den Gr<strong>und</strong>elementen eines neuen Multi lateralismus<br />
Die Anpassung der Politik an globale Realitäten hat bislang nur zum Teil stattgef<strong>und</strong>en.<br />
Kernstück eines neuen Multilateralismus wird eine neue Rolle des Staates<br />
sein: als Vermittler zwischen nationalen <strong>und</strong> internationalen Erwartungen.<br />
Ekkehart Krippendorff<br />
Staat muss sein. Muss Staat sein?<br />
Am Beispiel Afghanistan zeigt sich die Besonderheit der europäischen Staatsbildung,<br />
die als Vorbild außereuropäischen Gesellschaften kolonial oktroyiert<br />
wurde, ohne überall deren tribale Strukturen außer Kraft setzen zu können.