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Biographie von der JVA Lichtenberg

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Wollknäuel und Nadeln<br />

GESCHICHTEN UND GEDICHTE<br />

Wir treffen uns eine Stunde nach dem nachmittäglichen Aufschluss <strong>der</strong> Zellen,<br />

vier strickende und zwei häkelnde weibliche Wesen sitzen im Aufenthaltsraum<br />

<strong>der</strong> Station.<br />

Für „freie“ Fremde ein Kreis <strong>der</strong> Harmonie.<br />

Die farbigen Wollknäuel auf dem großen Tisch, liegend vor je<strong>der</strong> Besitzerin,<br />

würden eine bunte Kugel ergeben.<br />

Der Faden <strong>der</strong> Ariadne wäre nicht mehr auszumachen in dem Irrgarten <strong>der</strong><br />

einzelnen Fäden.<br />

Mein Material liegt in einer Schachtel, die Rän<strong>der</strong> umklebt mit<br />

Weihnachtsmotiven.<br />

Die Stricknadeln und Häkelhaken werden je nach Geschicklichkeit wie<strong>der</strong> auf<br />

die Reihen geschickt o<strong>der</strong> gezwungen ihre Bestes zu geben. Vor drei<br />

Jahrzehnten versuchte meine Mutter, die Familientradition des Strickens an<br />

mich weiterzugeben. Vergebens, meine Finger verkrampften sich bei je<strong>der</strong><br />

neuen Masche, das Strickwerk wirkte hart und unregelmäßig in den Reihen,<br />

einige Wollmaschen waren verloren gegangen.<br />

Missmutig schaue ich auf meinen gestrickten Schal. Rote, blaue und grüne<br />

Streifen ergeben eine längliche Fläche, die an einem Ende immer schmaler wird.<br />

Die Abschlussfarbe ist gelb.<br />

Ich verliere das Interesse und die Begeisterung an meinem schiefen Kunstwerk.<br />

Eine junge Frau ruft in die Runde: „Wer <strong>von</strong> euch hat gelbe Wolle übrig?“ Sie<br />

sitzt mir gegenüber, und ich reiche ihr den Rest meiner farbigen Wolle über den<br />

Tisch, fast ein wenig erleichtert.<br />

Die Frauen am Tisch erarbeiten bunte Handtaschen für den ersten Ausgang.<br />

Meine Haftzeit wird über ein Jahrzehnt hinausgehen.<br />

Vielleicht trägt man dann keine Taschen mehr, jedenfalls nicht diese.<br />

Ich gehe in meine Haftzelle zurück und sehe vor dem Fenster das Schneetreiben.<br />

Beide Arme strecke ich durch die Gitterstäbe und fange mit den Händen die<br />

tanzenden Schneeflocken auf, halte sie fest, ich will keine verlieren.<br />

Eine Ironie des Schicksals.<br />

Irene Becker<br />

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