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Manfred Dierks: Der Wahn und die Träume. - Thomas–Mann–Archiv

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Inhalt Thomas Sprecher<br />

AUFSÄTZE<br />

MARIANNE WÜNSCH: „Tod" in der Erzählliteratur des deutschen Realismus<br />

j 1<br />

B0RGE KRISTIANSEN: Wilhelm Raabe <strong>und</strong> Arthur Schopenhauer. Überlegungen<br />

zu den Romanen „Das Odfelld" <strong>und</strong> „Hastenbeck" 15<br />

RALF GEORG CZAPLA: „Gedenke der Hol<strong>und</strong>erblüte!" oder Schreiben wieder<br />

das Vergessen. Erinnerte Geschichte bei Wilhelm Raabe <strong>und</strong><br />

Johannes Bobrowski 33<br />

WOLFGANG STRUCK: See- <strong>und</strong> Mordgeschichten. Zur Konstruktion exotischer<br />

Räume in realistischen Erzähltexten 60<br />

SON-HYOUNG KWON: Wilhelm Raabe als Schriftsteller des Grotesken.<br />

Zum Hochzeitsfest in „Christoph Pechlin" <strong>und</strong> dem Plünderungsfest<br />

in „Die Akten des Vogelsangs" . . . .: 71<br />

SVEN MEYER: Narreteien in Nichts. Intertextualität <strong>und</strong> Rollenmuster in<br />

Wilhelm Raabes „Die Akten des Vogelsangs" 95<br />

CHRISTOPH ZELLER: Zeichen des Bösen; Raabes „Die Akten des Vogelsangs"<br />

<strong>und</strong> Jean Pauls „Titan" . . i 112<br />

WALTER HETTCHE: Nach alter Melo<strong>die</strong>. Die Gedichte von Julius Rodenberg,<br />

Wilhelm Jensen <strong>und</strong> Paul Heyse zum 70. Geburtstag Wilhelm<br />

Raabes 144<br />

LITERATURBERICHTE UND BIBLIOGRAPHIE<br />

Gabriele Henkel: Stu<strong>die</strong>n zur Privatbibliothek Wilhelm Raabes. Vom<br />

„wirklichen Autor", von Zeitgenossen <strong>und</strong> „ächten Dichtern",<br />

Braunschweig 1997 (ULRICH JOOST) 157<br />

Birgit Ehlbeck: Denken wie der Wald. Zur poetologischen Funktionalisierung<br />

des Empirismus in den Romanen <strong>und</strong> Erzählungen<br />

Adalbert Stifters <strong>und</strong> Wilhelm Raabes, Bodenheim 1998 (DOMINIK<br />

MÜLLER) ; 164<br />

Christine Anton: Selbstreflexivität der j Kunsttheorie in den Künstlernovellen<br />

des Realismus, New York [u.a.] 1998 (CHRISTOF LAUMONT) 168<br />

<strong>Manfred</strong> <strong>Dierks</strong>: <strong>Der</strong> <strong>Wahn</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Träume</strong>.<br />

Eine fast wahre Erzählung aus dem Leben Thomas Manns. Düsseldorf <strong>und</strong><br />

Zürich: Artemis & Winkler 1997. 319 S., Ln., DM 39,80 (ISBN 3-538-<br />

07048-2)<br />

Wenn sich Professoren lange genug von strenger Wissenschaft an <strong>die</strong> Fessel<br />

gelegt fühlen, wenn sie den universitären Erfolg weder aus äußeren noch inneren<br />

Gründen mehr so dringend brauchen, lockt [es sie, einmal etwas anderes zu<br />

treiben, ewig Verdrängtes schreibend zuzulassen. Zum Beispiel machen sie<br />

sich mutig <strong>die</strong> Freude, Thomas Mann persönlich auf <strong>die</strong> Beine zu stellen, lustspielmäßig.<br />

Ein etwas bedenkliches, aber eben doch auch wieder natürliches<br />

<strong>und</strong> also immer legitimes Bedürfnis. Wissenschaft wird unfehlbar überholt, der<br />

Roman aber ist unsterblich. Das dort verpönte Lügen wird hier zur Norm, <strong>die</strong><br />

Fiktion offiziell. Aber so stark unterscheiden sich <strong>die</strong> Textsorten nicht notwendig.<br />

Denn überleben wissenschaftliche Arbeiten, dann als intellektuelle Romane.<br />

Und gibt es nicht auch Bücher, <strong>die</strong> sich schräg <strong>und</strong> vergnügt zwischen den<br />

Gattungen einrichten?<br />

<strong>Der</strong> Oldenburger Germanist <strong>Manfred</strong> <strong>Dierks</strong>, ein Thomas-Mann-Philologe<br />

unbestrittenen Ranges, hat eine „fast wahre Erzählung" geschrieben. Was aber<br />

mag das heißen? Wahr ist am Ende nur <strong>die</strong> Dichtung, das intelligent, seelenvoll,<br />

plausibel Erlogene. Über <strong>die</strong> eigentliche ojder höhere Wahrheit der Dichtung<br />

haben <strong>die</strong> Dichter <strong>und</strong> ihre Deuter schon alles gesagt. <strong>Der</strong> Schein ist; nur<br />

er, erst er, <strong>und</strong> ein Schelm, wer etwas sein wollte, ohne es zu scheinen.<br />

<strong>Dierks</strong>' Erzählung wirft sich den Mantel wissenschaftlicher Akkuratesse<br />

über; aber vielleicht darf man in ihr auch Philologie in belletristischem Gewände<br />

erblicken. Denn manches trägt der Verfasser vor, breiter orchestriert<br />

nun, was der Professor schon im Medium der Wissenschaft dargelegt hat. Paradoxerweise<br />

umfaßt seine Fiktion Fußnoten; aber weshalb sollte ein Roman<br />

solche nicht haben. Und wenn selbst ernstgemeinten, besser: unfiktionalen Anmerkungen<br />

so oft Ironie innewohnt, so tut sie's hier erst recht. Ironisch wird<br />

<strong>die</strong> Achtbarkeit des wissenschaftlichen Apparats oft auch im einzelnen unterlaufen<br />

<strong>und</strong> mit kleinen, feinen Fastwahrheiten liebevoll durchsetzt. „Prinz<br />

Ernsts Angaben sind überprüfbar im diplomatisch-statistischen Jahrbuch für<br />

1900": Da amüsiert sich einer mit Recht (<strong>und</strong> wo hätte <strong>die</strong> Ironie nicht auch<br />

recht?) über <strong>die</strong> Fußnotenkultur des akademischen Flachlands. Außerdem bietet<br />

das Buch Fotos, <strong>und</strong> zwar solche, <strong>die</strong> es aujch außerhalb seiner gibt, ganz<br />

wahre also, <strong>und</strong> schließlich: ein Namenregister,; bei dem sich <strong>die</strong> Frage, ob es<br />

denn Personen oder Figuren aufliste, ins Belanglose abschwächt. Die Grenze


204<br />

Literaturberichte Literaturberichte 205<br />

zwischen Person <strong>und</strong> Figur verfließt. Wer am Leben bleibt, tut <strong>die</strong>s als Figur;<br />

glücklich, wer seinen Fiktionalisierer findet.<br />

Eine Geschichte „aus dem Leben Thomas Manns". Aber es geht durchaus<br />

nicht um ihn allein. <strong>Der</strong> Erzähler läßt ihn zwar gleich am Anfang auftreten,<br />

ein klein Kapitel, dann wird er jedoch für h<strong>und</strong>ert Seiten zurückgenommen,<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Szene gehört dem Schriftsteller, bei dem der junge Lübecker seinen<br />

Antrittsbesuch gemacht hat. <strong>Der</strong> 1837 geborene Wilhelm Jensen gibt von Anfang<br />

an eine Folie ab für den vierzig Jahre Jüngeren: ein Norddeutscher, Schüler<br />

einst des Katharineums, der sich in München zu bewähren hat. Er prästiert<br />

ein „wackeres deutsches Dichterleben", aber er ist vielleicht kein „wirklicher<br />

Dichter". Allzuflüssig schreibt er. Produktiver Hemmungen bar, stößt er nicht<br />

vor zur wahren Kunst. Fließend umkurvt er ihre Grausamkeiten. Sein äußerer<br />

Habitus aber jedenfalls ist jener des Künstlers. Er pflegt Geselligkeit vornehmlich<br />

mit Kleinpoeten. Seinen Fre<strong>und</strong>en kann er nicht zuhören; was aber, wie er<br />

erkennt, typisch ist unter seinen Kollegen. Von früh an lebt in ihm ein Schwesterntraum,<br />

<strong>die</strong> uneingestandene Neigung zur blonden Schwester. Diese Liebe<br />

wird ein perennierendes Motiv in seiner Dichtung, wobei sich sein - mit Professor<br />

Kuckuck gesprochen - Extremitätmkult auf anmutige nackte Füße richtet.<br />

Es sind <strong>die</strong> Füße der unerreichbaren Stiefschwester im Mittagslicht.<br />

Gewiß, ganz stimmt es nicht mit dem Glück, Jensen kennt auch Depressionen,<br />

<strong>und</strong> seine Produktionsrasanz hat ihre Fragwürdigkeiten. Zudem verfolgt<br />

ihn leider <strong>die</strong> Bronchitis. Wie er aber <strong>die</strong> Ewige Wiederkehr entdeckt - noch<br />

vor Nietzsche - <strong>und</strong> annimmt, verliert er auch sie. Alles in allem gelingt sein<br />

Leben <strong>und</strong> blüht auf zur schönsten Menschlichkeit. Unordentlicher Abstammung,<br />

ist Jensen der Ordnung <strong>und</strong> Ehe bedürftig. <strong>Der</strong> Freigeist verbindet sich<br />

mit der Jüdin Marie, der Eheschwester. Marie - sie wird stets nur beim Vornamen<br />

genannt -, <strong>die</strong> reizvoll-gescheite Geliebte <strong>und</strong> Frau, ist eine der Sympathieträgerinnen<br />

der Erzählung. Man beglückt Jensen <strong>und</strong> beneidet ihn um sie.<br />

Dann taucht noch ein Wilhelm auf, jener dort drüben, „Wilhelm Raabe in<br />

Braunschweig" (Räume waren noch Räume <strong>und</strong> Distanzen Distanzen). Die Beziehung<br />

beginnt im Sommer 1866. Sie gestaltet sich, in epigonaler Verschrumpfung,<br />

nach dem mythischen Vorbild des Funkensprungs Goethe-Schiller.<br />

Die Rollen scheinen klar verteilt: Jensen der Glückliche, bei dem es sprudelt.<br />

Er schreibt <strong>und</strong> schreibt, acht Druckseiten am Tag, am Schluß zählt man<br />

r<strong>und</strong> 130 Bücher. Daneben „Fre<strong>und</strong> Raäbe", der schwer nur <strong>und</strong> langsam vorankommt,<br />

der Jensen in seinem fröhlichen Schaffen ein wenig verachten muß.<br />

Raabe, der Tief-Traurig-Dunkle, der am Leben Verkürzte. Es heißt, <strong>die</strong> Gabe<br />

Jensens, <strong>die</strong> Welt zu vereinfachen, sei das Bindemittel <strong>die</strong>ser Männerfre<strong>und</strong>schaft.<br />

Gegenüber dem spröden Fre<strong>und</strong> darf Jensen keinen „Anspruch auf<br />

schwierige Seelenzustände" erheben. Lediglich eine „prunkvoll ausgestaltete<br />

Bronchitis" kann er ins Feld führen, um anzudeuten, daß auch er nicht nur<br />

Leichtgewicht <strong>und</strong> Trivialautor ist, nicht nur der König der Leihbibliotheken<br />

<strong>und</strong> Familienzeitschriften, sondern über verkable Abgründe verfügt. Raabe,<br />

dessen elendes Ende zu ahnen ist, bleibt im Hintergr<strong>und</strong> als moralische Instanz.<br />

Es gehe in der Dichtung nun einmal um Wahrheit, wirft er Jensen einmal<br />

vor - Spiel im Spiel -, als <strong>die</strong>ser das lyrische Ich etwas zu weit vom eigenen<br />

Standort entfernt hat: der Gedichtheld in der Schlacht von Metz, der Dichter<br />

im sicheren Rensburg.<br />

Zwischen den Männern steht Marie. „Tatsächlich aber verhielt es sich so",<br />

weiß der Erzähler, „daß sie Raabes schwieriges <strong>und</strong> angestrengtes Künstlertum<br />

höher achtete als das ihres Mannes." Eine schöne Geschichte. Marie wäre „zu<br />

allem" entschlossen gewesen, doch Raabe weigert, verweigert sich. Seine<br />

Standhaftigkeit verhindert eine größere Tragik. Marie läßt ihn das später spüren,<br />

sieht aber ein, daß das Glück mit Raabe eine Schimäre gewesen war: „Zu<br />

schwer <strong>und</strong> zu dunkel" wäre jener für sie gewesen.<br />

Neben der sympathischen Marie (<strong>und</strong> der frustrierten Bertha, Raabes Ehematrone)<br />

<strong>die</strong> großartige Fanny, Gräfin Franziska von Reventlow. Ihr Widerstand<br />

gegen alle staatlichen Autoritäten (eine Gemeinsamkeit mit Thomas<br />

Mann) treibt sie zur „freien Liebe". Sie verwirft den bürgerlichen nwnerus<br />

clausus weiblicher Möglichkeiten, wirft sich ungestraft ins große heilige reine<br />

starke pralle Leben, zu dessen Inbegriff dann im Spiegel der Tristan-'Erzahlung<br />

Thomas Manns ihr Bübchen wird. Dessen hemmungslose Vitalität lacht gerade<br />

auch den Träten-Verfasser an <strong>und</strong> aus, wie Bubis Mutter ihrerseits schon das<br />

„Hochkomische" an seinem Verhalten wahrnimmt, seine Nervenschwäche <strong>und</strong><br />

Steifheit. Im Roman begegnet Thomas Mann der Gräfin wiederholt, er hat<br />

Angst vor ihrer anspruchslos-anspruchsvoller Unabhängigkeit, doch nimmt er<br />

ihren Rat klug an.<br />

Dies gilt auch für Jensen, der ihn auf der letzten Strecke seines Lebens väterlich<br />

begleitet. Manche Mannschen Themen <strong>und</strong> Motive sind schon solche<br />

Jensens: <strong>die</strong> Verwandtschaft des Künstlers mit dem Soldaten, das Interesse am<br />

Adelswesen. Von Jensen vielleicht übernimmt Mann <strong>die</strong> mythisch-typische<br />

Anschauung, <strong>die</strong> im Zauberberg anklingen, im Joseph dann Epoche machen<br />

wird. Biographisch mochte Jensen als Vorbild <strong>die</strong>nen: Noch einer, der nicht in<br />

einen besoldeten Beruf hatte hineinfinden können. Jensen vermittelt, bei<br />

<strong>Dierks</strong>, in der Novelle der Werbung, zwischen Katia Pringsheim - vielleicht<br />

auch eine schwesterliche Jüdin - <strong>und</strong> ihrem Freier. Das Ehepaar Jensen <strong>die</strong>nt<br />

als Vergleichsgröße für das Ehepaar Mann; das strenge Glück <strong>die</strong>ser korrespon<strong>die</strong>rt<br />

dem engen Glück jener. <strong>Der</strong> Erzähler, scheint es, schlägt sich nicht<br />

auf eine Seite, <strong>und</strong> jedenfalls wäre es schwierig zu begründen, weshalb <strong>die</strong><br />

eine Glückskonzeption der anderen überlegen sein sollte. Es geht doch um das<br />

Bewirtschaften der je eigenen seelischen <strong>und</strong> künstlerischen Möglichkeiten;<br />

der Maßstab des Gelingens kann hier nicht außen liegen.<br />

Eine Künstlergeschichte. Sie handelt von dem bodenlosen Geschehen in<br />

der Fabrik des Unbewußten beim Schreiben, vom Warm- <strong>und</strong> Flüssigwerden,


206 Literaturberichte Literaturberichte 207<br />

<strong>und</strong> dann von der Gefahr der Erkältung <strong>und</strong> Erstarrung. Sie handelt vom sehr<br />

menschlichen Wettkampf der Schreibenden. Storni gegen Geibel, auch das ist<br />

Paro<strong>die</strong> des Mannschen Schiller: <strong>die</strong> Eifersucht <strong>die</strong>ses Schwierigen da gegen<br />

den Hellen <strong>und</strong> Sinnlichen dort in Weimar. Jensen übrigens meidet, auf Anraten<br />

Maries, <strong>die</strong> Literaturszene, was ihm wohlbekommt. Die Geschichte<br />

schließlich erzählt vom libidinösen Verhältnis des Dichters zu seiner bedürftigen<br />

Gemeinde, vom unerhörten Glück des Vorlesens, der prekären unio mit<br />

dem Publikum, den Vielen hinten im Dunkel, <strong>die</strong>, anonym <strong>und</strong> gemeinsam,<br />

den Großen Traum der Prinzlichkeit niitträumen <strong>und</strong> ihn so verwirklichen helfen.<br />

Immer mehr Personal versammelt der Verfasser im Schatten seiner Erzählidee.<br />

München \mfin de siede, höchst interessantes Gewimmel; da wird ein<br />

Schwabinger Maskenfest auch in effigie gefeiert. Das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert neigt<br />

sich dem Ende zu, Nietzsche lebt immer noch, aber schon steht Dr. Freud vor<br />

der Tür. Zahlreiche Seelenzergliederer bevölkern <strong>die</strong> Bühne: Dr. Otto Gross<br />

(ein settembrinischer Kuchenverschliriger), Dr. Panizza, der Parapsychologe<br />

<strong>und</strong> Homosexualitätsforscher Dr. von Schrenck-Notzing. Neben den Psychologen,<br />

welche sich mit Geisterbeschwörungen <strong>und</strong> okkulten S6ancen beschäftigen,<br />

das Getümmel der Theosophen, der Lebensreformer, der Propheten <strong>und</strong><br />

Kosmiker, der Gruppe der Maler, wie Fidus, der „Schwabinger Malweiber".<br />

Von fernher Bekannte wie <strong>die</strong> unsterbliche Rätin Spatz oder Leo Putz geistern<br />

auf, <strong>und</strong> richtig findet auch Thomas Manns H<strong>und</strong> Titino ein narratives Unterkommen<br />

<strong>und</strong> gehört für drei Seiten zum Weltbild. Gründerzeit der Psychoanalyse,<br />

frühwissenschaftliche Farbigkeit <strong>und</strong> Fülle. Neue Krankheiten treten auf<br />

oder neue Namen dafür: Neurasthenische Hypersexualität; Nervosität; das<br />

[/mi/ig-Problem - das Leiden an der Homosexualität, <strong>die</strong>, wenn sie sich nach<br />

der Pubertät nicht legte, nach Behandlungsmöglichkeiten rief: Half Heilfasten<br />

(<strong>die</strong> Begierde aushungern), oder Suggestion? Auch Thomas Mann betrifft <strong>die</strong><br />

leidige Sinnlichkeit, das Geschlechtsproblem, <strong>und</strong> auch er wird durch mancherlei<br />

Krankheit, insbesondere gastrische Beschwerden <strong>und</strong> chronische Obstipation<br />

niedergeschlagen <strong>und</strong> emporvergeistigt. Literatur <strong>und</strong> Psychoanalyse<br />

beginnen sich aufeinander zu besinnen. Freud <strong>und</strong> Jung beugen sich über Jensens<br />

Grarf/va-Novelle, welcher (wie <strong>Dierks</strong> schon 1990 aufgedeckt hat) noch<br />

der Tod in Venedig Wesentliches verdankt.<br />

Leicht <strong>und</strong> spielerisch kommt <strong>die</strong>se Erzählung daher unter ihrem kecken<br />

Titel. Sie spielt mit vielem, zum Beispiel mit der Größe des Landhauses, das,<br />

wer in München was ist, hat oder zu haben hätte. Vor allem aber spielt sie mit<br />

unzähligen offenen, verdeckten <strong>und</strong> prächtig versteckten Zitaten. Für Thomas<br />

Manns frühe Tage steht beschränktes Material zur Verfügung, <strong>und</strong> so begegnet<br />

man vielem, was man erwarten konnte. Bei den Zitaten aus späterer Zeit aber<br />

gewinnt das Zitierspiel an Möglichkeiten <strong>und</strong>, da sie mit Kunst <strong>und</strong> Witz genutzt<br />

werden, an Beziehungsreichtum. Die Zitate scheinen so viel Authentizität<br />

zu verbürgen, daß man leicht übersieht, wo das Wahre zum „fast Wahren" abgleitet,<br />

will sagen hochsteigt. Wie denn überhaupt <strong>die</strong> Nahtstellen zu den<br />

(rein) fiktiven Elementen oft ins Schwererkennbare raffiniert worden sind.<br />

<strong>Dierks</strong>' Erzählung, an intellektueller Komik reich, gewährt ein aus mehre-<br />

ren Quellen gespeistes Vergnügen. Nicht <strong>die</strong> geringste unter ihnen ist <strong>die</strong> iro-<br />

nisch federnde, von der ökonomischen Bedachtheit des Autors schlank gehaltene,<br />

dabei aber doch sehr nuancierte Sprache; ein freches Fabulieren, ein präzis<br />

funkelndes Geflunker. (Nur <strong>die</strong> Kursivierung von Schlüsselwörtern ist eine<br />

Spur zu aufdringlich. Da wird dem Leser vorgehalten, auf was sein Kennerglück<br />

selbst zu stoßen wünschte.)<br />

Thomas Mann ist ein nicht einfacher, sperriger Gegenstand, gewiß, aber<br />

doch, quod erat demonstrandum, sehr wohl objektivier- <strong>und</strong> erzählbar. Und es<br />

gibt auch gute Gründe, ihn leibhaftig auftreten zu lassen. Denn mag er unentwegt<br />

von sich selbst gesprochen haben - alles über sich hat er nicht gesagt,<br />

nicht sagen können, selbst nicht im zun öffentlichen Versteck des Innersten<br />

sublimierten Werk. Und so sind Konjekturalbiographien, „kunstvolle Ergänzungsphantasien"<br />

(Hermann Kurzke) nicht nur berechtigt, sondern sogar notwendig.


JAHRBUCH<br />

DER<br />

RAABE-GES ELLSCHAFT<br />

1999<br />

Im Auftrag des Vorstands<br />

herausgegeben von<br />

HEINRICH DETERING<br />

<strong>und</strong><br />

ULF-MICHAEL SCHNEIDER<br />

Sonderdruck<br />

ISBN 3-484-33899-7<br />

MAX NIEME YER VERLAG<br />

TÜBII^GEN

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