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Die Krankenschwesterfiguren im frühen Werk Thomas Manns unter ...

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34<br />

Jochen Eigler<br />

tiös aufgezeichneten Symptome würden wir heute funktionellen bzw. psy-<br />

chosomatischen Störungen zuordnen, aber bekanntlich muss die Beschwer-<br />

deintensität eines Leidens mit einem objektivierbaren somatischen Befund<br />

nicht übereinst<strong>im</strong>men. Fragen nach der Definition von Krankheit oder nach<br />

der Rolle, die ein Arzt bei ihrer Behandlung übernehmen kann, tauchen hier<br />

ebenso auf wie die nach der Bedeutung, die selbst durchlebte Krankheiten<br />

für <strong>Thomas</strong> Mann und sein literarisches <strong>Werk</strong> gehabt haben.<br />

Vielleicht sollte man aber auch festhalten, dass der Autor während der hier<br />

behandelten drei Jahrzehnte in München (1894-1925) - anders als mancher<br />

in seiner Familie - nie lebensbedrohlich krank gewesen ist. Nach Lessing ist<br />

das Wort Zufall Gotteslästerung. 62 Daraus ließe sich folgern, <strong>im</strong> Hinblick auf<br />

die geschilderten Ereignisse hätte es für die <strong>Manns</strong> manchen Grund gegeben<br />

- wie man in Bayern zu sagen pflegt -, für Altötting eine Kerze zu stiften;<br />

oder etwas profaner formuliert: Aus medizinischer Sicht haben die <strong>Manns</strong><br />

während dieser Zeit auch viel Glück gehabt. 63<br />

ferner der Satz: er habe nichts erlebt und über alles geschrieben. Sein Erleben, zugegeben, war<br />

karg, verglichen mit dem Erleben Casanovas. Dafür muß es bedeutend mehr Intensität gehabt<br />

haben.«<br />

62 Gotthold Ephra<strong>im</strong> Lessing: Emilia Galotti, Vierter Aufzug, Dritter Auftritt.<br />

a Für Hilfe bei der Materialbeschaffung danke ich Frau Dr. med. Beate Eigler, Herrn Helmut<br />

Hall (Leiter der Bibliothek in der Medizinischen Klinik Innenstadt), Herrn Prof. Dr. med. Wolfgang<br />

Locher (Institut für Geschichte der Medizin der LMU) sowie den Damen und Herren vom<br />

Stadtarchiv München. Frau Fides Haag bin ich für sorgfältige Photoarbeiten und Frau A. Bühnemann<br />

für ebenso kompetente wie geduldige Sekretariatsarbeit zu Dank verpflichtet.<br />

Abbildungen 1 bis 7 mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs München.<br />

<strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

<strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong><br />

<strong>unter</strong> besonderer Berücksichtigung von<br />

-_ Adriatica von Mylendonk<br />

I.<br />

Der Zauberberg fand, wie man weiss, in der medizinischen Welt eine ge-<br />

mischte Aufnahme. 1 Besonders entzündete sich die Kritik auch an der Schil-<br />

derung der Schwestern. Es scheint ein Bedürfnis gerade der Ärzte gewesen<br />

zu sein, sich zu ihren Schützern aufzuwerfen. »Ob Mann die Darstellung<br />

[...] der Schwestern gelungen ist, muss füglich bestritten werden«, schrieb<br />

zum Beispiel Curt Schelenz 2 und fügte an:<br />

... ich halte es für meine Pflicht, besonders gegen die Darstellung der Sclrwestern<br />

mich zu wenden. Gleich <strong>im</strong> Anfang des Buches wird den evangelischen Schwestern<br />

<strong>im</strong> Vergleich zu den katholischen Schwestern ein unschöner Hieb versetzt, der nur<br />

dazu geeignet ist, Laienkreise [...] gegen die Schwestern zu beeinflussen. <strong>Die</strong> Schilderung<br />

der Schwestern am Sterbebette ist genau so ungehörig, wie nach meinem<br />

Dafürhalten die Darstellung des in seinem Ton äusserst saloppen Arztes. Jeder Kenner<br />

und Beurteiler von Heilanstalten [...] wird mir Recht geben, dass Pflegepersonal,<br />

das sich derartig <strong>im</strong> Ton vergreift, niemals von Aerzten geduldet werden würde [...].<br />

Schwester und Arzt stellen unmögliche Typen dar.<br />

Wenn man sich nun fragt, ob die stellenweise sicher richtige Lokal- und Personalschilderung<br />

nötig war, so kann sie vom ärztlichen Standpunkte aus nur verneint wer-<br />

1<br />

Für einzelne Hinweise danke ich herzlich Jochen Eigler, Rosemarie Pr<strong>im</strong>ault, Peter Pütz<br />

und <strong>Thomas</strong> Rütten.<br />

2<br />

Curt Schelenz: <strong>Thomas</strong> Mann. »Der Zauberberg« vom Standpunkte des Tuberkulosearztes<br />

aus gesehen, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift, Jg. 51, Nr. 20, 15.5.1925, S. 831 f.; vgl.<br />

Nr. 28, S. 1166. Vgl. auch Curt Schelenz: <strong>Thomas</strong> Mann. Der Zauberberg, in: Zeitschrift für<br />

Tuberkulose, Jg. 43, H. 2,1925, S. 163: »<strong>Die</strong> Schilderung der Ärzte und die gelegentlichen Ausfälle<br />

gegen die Schwestern dürfen denn doch einige berechtigte Kritik herausfordern. Taktlose<br />

Bemerkungen, wie sie Verf. einer Schwester in den Mund legt, wird sich kein Anstaltsleiter, mag<br />

er auch noch so salopp <strong>im</strong> Ton sein wie der des Romans, und vor allem auch kein Patient gefallen<br />

lassen. Im Interesse der Tuberkulosebekämpfung und der überall gewünschten und betriebenen<br />

Aufklärung über die Tuberkulose und ihre Behandlung, muss die Darstellung des Verf.s entschieden<br />

bedauert werden. Sie ist nur geeignet, <strong>im</strong> Laienpublikum ein falsches Bild von dem<br />

ernsten Leben und Wirken der Heilstätten hervorzurufen.«


36<br />

<strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

den. [...] Hoffen wir, dass der ärztliche Schaden, den das Buch hervorrufen muss,<br />

nicht allzugross sein wird.<br />

Auch Felix Klemperer war der Meinung, Behrens und Krokowski seien unappetitliche<br />

Geschöpfe: 3<br />

Als noch ungerechter aber, ja fast als gehässig muss die Schilderung der Schwestern<br />

bezeichnet werden, wenn wir in ihnen charakteristische Vertreterinnen ihres Berufs<br />

erblicken sollen. [...] Jede Durchschnittspflegerin steht doch höher. In dem grossen<br />

Hause mit seinen siebzig Patienten und während der langen Zeit von sieben Jahren,<br />

die Hans Castorp dort oben zubringt, müssen doch sehr viele Schwestern tätig gewesen<br />

sein; wie leicht, sollte man glauben, müsste es für den Dichter sein, noch eine<br />

oder die andere Pflegerin mit edleren Zügen in die Darstellung einzufügen.<br />

Hören wir noch Goswm Zickgraf: 4<br />

Der <strong>Die</strong>nstweg wird gegeisselt, der den Pat. bei besonderer Veranlassung zur ärztlichen<br />

Hilfe führt via Bademeister und Oberin, die, nebenbei bemerkt, mit ihren burschikosen<br />

Reden ausser ihrem altadeligen Namen keine Vorzüge aufweist. Überhaupt<br />

kommen die Schwestern bei <strong>Thomas</strong> Mann <strong>im</strong> Roman schlecht weg. Taktlos, unweiblich<br />

und ohne jeden Charm werden sie geschildert.<br />

Und schliesslich die Berliner Ärztin Lizzie Hoffa: 5<br />

In einem Punkt kann die Wirkung des Buches eine gefährliche sein. Zwei Berufsarten<br />

treten darin in merkwürdig abstossender Form auf; das sind die Aerzte und die Schwestern.<br />

Und hierüber erhebt sich - mit Recht, - in Aerztekreisen eine berechtigte Entrüstung.<br />

Gibt es nicht gerade in diesen Berufen die selbsdosesten und aufopferndsten<br />

Menschen? Konnte nicht wenigstens ein sympathischer, menschlich warmer Vertreter<br />

dieser Berufe geschildert werden?<br />

Sie fand »die dürre, kalte Oberin und die herzlos dumme Schwester [...] vollkommen<br />

unerträglich«. »<strong>Die</strong> Wirkung dieser Schilderung auf das Leserpublikum,<br />

das allzu leicht verallgemeinert, [...] muss verhängnisvoll sein.« Der<br />

Zauberberg könne dadurch »ungeheuren Schaden anrichten«.<br />

3 Felix Klemperer: <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> »Zauberberg« <strong>im</strong> ärztlichen Urteil. Ein Beitrag zur Psychologie<br />

der Lungentuberkulose und der Sanatoriumsbehandlung, in: Frankfurter Zeitung, Nr.<br />

455, 22.6.1926.<br />

4 Goswin Zickgraf: Noch eine ärztliche Kritik über den »Zauberberg«, in: Zentralblatt für<br />

innere Medizin, Nr. 37,1925, S. 869-876, 872.<br />

5 Lizzie Hoffa: Der Zauberberg von <strong>Thomas</strong> Mann, in: Nordbayerische Zeitung, Nürnberg,<br />

24.8.1925.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong><br />

Den Massstab für diese Kritik lieferte die Lebenswelt. Man las die Figuren<br />

rein realistisch; man las sie nicht - nicht auch - als Kunst-Figur. <strong>Die</strong>s will ich<br />

<strong>im</strong> Folgenden nachholen. Von einer forcierten Sinnstiftung auf dem Wege<br />

allegorischer Auslegung sei indes Abstand genommen. Meine Darlegungen<br />

sind nicht durchwegs auf stringenten Beweis aus; sie versuchen Bedeutungshöfe<br />

zu beleuchten und semantische Affinitäten und erlauben sich da und<br />

dort das Spiel mit Assoziationen. Ich will keinesfalls behaupten, diese Assoziationen<br />

seien vom Autor <strong>im</strong>mer auch beabsichtigt gewesen. 6 Der Text aber<br />

lässt sie <strong>im</strong>merhin zu oder legt sie gar nahe; und legt sie damit gar nahe an die<br />

Nachweisgrenze.<br />

<strong>Die</strong> beiden Krankenschwestern <strong>im</strong> Zauberberg heissen Adriatica von<br />

Mylendonk und Alfreda Schildknecht. Letztere bleibt ziemlich blass. 7 Aber<br />

an Adriatica von Mylendonk bewährt sich mindestens tendenziell die Sentenz<br />

des alten Fontane, dass die Nebenfiguren <strong>im</strong>mer das Beste sind.<br />

An sich sind Schwestern ideale Figuren, um hinter die Kulissen eines Sanatoriums<br />

blicken zu lassen. Sie üben Scharnierfunktionen zwischen innen<br />

und aussen aus und zwischen oben und unten. Man muss indes annehmen,<br />

dass es <strong>Thomas</strong> Mann <strong>im</strong> Zauberberg sehr bewusst bei zwei Schwestern beliess.<br />

Ihre geringe Zahl erhöht ihre Bedeutung. Sie sind nicht Staffage, nicht nur<br />

anonyme oder <strong>im</strong> Typischen aufgehende Vertreterinnen ihres Berufsstandes.<br />

Vielmehr treten sie mit Namen und durchaus individuell in Erscheinung.<br />

Dennoch sind sie eben Krankenschwestern, und ihre Individualität misst<br />

sich wesentlich daran, inwiefern sie sich von der Folie des kurrenten Krankenschwesterbildes<br />

abheben. Welche Vorstellungen verbinden sich mit der<br />

Schwester?<br />

6<br />

Vielleicht Hesse sich aber der strafrechtliche Begriff des Evenrualvorsatzes anwenden: eine<br />

bewusste Inkaufnahme.<br />

7<br />

Wie Adriatica von Mylendonk in vielen Zügen dem Hofrat, entspricht Schwester Berta mehrheitlich<br />

Dr. Krokowski. Sie forscht die Patienten aus, so wie der »Beichtvater« (III, 137)<br />

Krokowski durch seine Analysen »alle Gehe<strong>im</strong>nisse« der Damen (III, 92) kennen soll. Auch ihr<br />

Porträt ist vorwiegend negativ. »Offenbar war sie [...] ohne rechte Hingabe an ihren Beruf,<br />

neugierig und von Langerweile beunruhigt und belastet.« (III, 21) Kurzsichtig und neugierig<br />

späht sie nach dem ankommenden Hans Castorp. (III, 23) Auch später reckt sie so lange den<br />

Hals nach den Vettern, dass Joach<strong>im</strong> sie endlich mit seinem Vetter bekannt macht. Schwester<br />

Berta heisst eigentlich, wie mit stereotyper Komik angegeben wird, Alfreda Schildknecht und ist<br />

»protestantische Diakonissin« (III, 739,405). Sie macht »bei näherer Prüfung den Eindruck, als<br />

habe <strong>unter</strong> der Folter der Langenweile ihr Verstand gelitten. Es war sehr schwer, wieder von ihr<br />

loszukommen, da sie vor der Beendigung des Gespräches eine krankhafte Furcht an den Tag<br />

legte« (III, 152). <strong>Die</strong> Konversation zieht sie redselig (III, 420) und mit »klammernder Dankbarkeit«<br />

(III, 405) in die Länge. Als sich die Vettern endlich losreissen, sieht ihnen die Schwester mit<br />

»saugenden Blicken nach, als wollte sie sie mit den Augen zu sich zurückziehen«. (III, 152 f.) -<br />

Daneben finden <strong>im</strong> Zauberberg noch »eine <strong>im</strong> Hause beschäftigte Pflegeschwester« (III, 864)<br />

und eine »Barmherzige Schwester« (III, 881) Erwähnung.<br />

37


38<br />

<strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

- Krankenschwester ist in erster Linie ein Beruf. Wie bei den Ärzten steht<br />

nicht das Privat-, sondern das Berufsleben <strong>im</strong> Vordergrund: die Aufgabe<br />

und Tätigkeit der Schwester. Sie trägt Berufskleidung. Sie kümmert sich<br />

um Bedürftige, sie hilft den Kranken.<br />

- Ihre Bezeichnung >Schwester< weist darauf hin, dass sie zu einer Familie<br />

gehört. Anders gesagt: <strong>Die</strong> Krankenschwester etabliert Familiarität. Wer<br />

einer >Schwester< gegenübersteht, wird einfamiliarisiert. Und in der Tat<br />

ist auch der Zauberberg ein Familienroman, ein mythologischer Familienroman<br />

diesmal, wobei die Rollenaufteilung je nach Beleuchtung wechselt.<br />

8<br />

- <strong>Die</strong> Krankenschwester ist innerhalb des Familien-Modells eine Inkarnation<br />

der pflegenden Mutter.<br />

- Gleichzeitig ist sie aber auch Schwester. Sie gilt als »Inbegriff der Vermeidung<br />

aller erotisch/bedrohlichen Weiblichkeit«. 9 Vielleicht wurde sie gerade<br />

deshalb Schwester genannt. <strong>Die</strong> Schwester ist, da mit dem Inzestverbot<br />

belegt, kein erlaubtes Objekt der Begierde.<br />

- Und doch gehören sexuelle Beziehungen zu einer Krankenschwester zu<br />

den verbreitetsten Männerphantasien. 10 Gerade weil das Schwestern-<br />

Weiss rein, weil es unbetretenes Gebiet ist, Hesse sich sagen, bildet es ein<br />

Territorium dafür. So wird die Krankenschwester auch zur Geliebten.<br />

<strong>Die</strong> Liebe der Schwester wandelt sich in die Liebe zur Schwester.<br />

- Einen Schritt weiter wird die Schwester dann zur Hure. Felix Krull<br />

spricht in diesem Zusammenhang von einer »anrüchigen Schwesternschaft«<br />

(VII, 375).<br />

- <strong>Die</strong> Verbindung zur religiösen Sphäre wird für diese Art Schwestern<br />

durch die Bezeichnung »Venuspriesterinnen« - auch dies ein Wort von<br />

Krull (VII, 375) - hergestellt. Aber als Schwestern werden ja auch die<br />

Nonnen, die Angehörigen geistlicher Frauenorden bezeichnet. <strong>Die</strong> Krankenschwester<br />

trägt wie die Braut Gottes Schwesterntracht.<br />

- Schliesslich wird das Wort »Schwestern« zum Inbegriff aller weiblichen<br />

Menschen, so wie vor noch nicht langer Zeit alle Menschen, also Männer<br />

8 Überall Verwandte, überall Vettern: Castorp und Ziemssen sind Brüder, die Mylendonk ist<br />

die Mutter der Chauchat, die Chauchat und Castorp werden zu Geschwistern, Behrens ist<br />

der Vater der Chauchat, aber auch der Sohn (vgl. Lotti Sandt: Mythos und Symbolik <strong>im</strong> Zauberberg<br />

von <strong>Thomas</strong> Mann, Bern/Stuttgart: Haupt 1979 [= Sprache und Dichtung, N.F., Bd. 30], S.<br />

284 f.). Usw.<br />

9 Klaus Theweleit: Männerphantasien, 2 Bde., Frankfurt/Main: Roter Stern 1977, Bd. 1,<br />

S. 161.<br />

10 Theweleit, S. 163.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> 39<br />

und Frauen, »Brüder« hiessen (»Brot für Brüder«). Damit weitet sich die<br />

Familiarität ins Allgemein-Menschliche und bekommt den grösstmöglichen<br />

Massstab.<br />

Viele und einander auch widersprechende Rollen also bündeln sich in der<br />

Schwester. Sie steht zwischen Caritas und eros, zwischen Familiarität, Medizin<br />

und Religion. Sie ist Berufsfrau, Mutter, Schwester, Geliebte, Hure, Braut<br />

Gottes, Frau und Mensch.<br />

Mein Vortrag gilt <strong>im</strong> wesentlichen einer Figur, die bisher, soweit ich sehe,<br />

philologisch weitgehend unbehelligt geblieben ist," was allerdings nicht verwundern<br />

darf, denn sie ist nicht nur hässlich, sondern auch gefährlich. Bevor<br />

ich jedoch zu den besonderen Reizen komme, die von Frau von Mylendonk<br />

ausgehen, will ich einen Blick werfen auf ihre Vorläuferinnen <strong>im</strong> Frühwerk<br />

<strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong>.<br />

Schon in Buddenbrooks trifft man auf Schwestern, und dort schon auch<br />

auf den Gegensatz zwischen protestantischen und katholischen. Protestantisch<br />

sind die »Schwarzen Schwestern« (I, 71, 559). Ihnen gegenüber stehen<br />

die »Grauen Schwestern«, »>unsere guten katholischen Grauen Schwestern»treuer, hingebender, aufopferungsfähiger<br />

[...] als die Schwarzen»<strong>Die</strong>se Protestantinnen,<br />

das ist nicht das Wahre. Das will sich alles bei erster Gelegenheit verheiraten..<br />

. Kurzum, sie sind irdisch, egoistisch, ordinär... <strong>Die</strong> Grauen sind degagierter,<br />

ja, ganz sicher, sie stehen dem H<strong>im</strong>mel näher.


40 <strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

>Schwesterchen< heisst du <strong>im</strong> Hause, und wunderlich lautet der Name.<br />

>Schwestern< hiessen dereinst in der giebligen He<strong>im</strong>at die grauen<br />

Bräute des Heilands mit Haube und Rosenkranz, die beieinander<br />

Irgendwo wohnten <strong>im</strong> Winkligen, einer Ob'rin gehorsam,<br />

[...]<br />

Und von denen die Sanfteste pflegte den Vater zu Tode,<br />

Auch uns Kinder oftmals versah, wenn wir fiebrig erkrankten:<br />

Stille kam sie, die Angenehme, stellte die kleine<br />

Reisetasche beiseite, tat dann von sich das graue<br />

Umschlagetuch und die graue Haube, die sie <strong>im</strong> Freien<br />

Über der weissen, gefältelten trug, und so ging sie auf weichen<br />

Schuhen umher, Kompressen bereitend und die Verordnung<br />

Reichend, indes der hölzerne Rosenkranz an ihrem Gürtel<br />

Leise klapperte. An dem Bette des Fiebernden sass sie<br />

Stundenlang und las ihm Geschichten, las uns die Sagen<br />

Vor, die wir liebten, die schauerlichen; doch tat sie's nicht gerne.<br />

Denn der Böse kam öfters drin vor, und sie scheut', ihn zu nennen.<br />

Darum sagte sie >TeubelToixel< oder auch >DeukerKlosterglocken


42 <strong>Thomas</strong> Sprecher <strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> 43<br />

Reihenfolge, in der die Erzählung sie uns gibt. Denn aus psychologischen<br />

Exper<strong>im</strong>enten wissen wir, dass für die Ausbildung einer Personenvorstellung<br />

- und also auch einer Figurenvorstellung - die Reihenfolge der gelieferten<br />

Informationen von entscheidender Bedeutung ist. Grundsätzlich gilt die<br />

Macht des ersten Eindrucks (you never get a second chance to make a first<br />

<strong>im</strong>pression). <strong>Die</strong> zuerst gegebene Information ist die dominante - es sei denn,<br />

man werde ausdrücklich aufgefordert, nicht vorschnell zu urteilen; 15 was<br />

hiermit vorsorglich getan sei.<br />

1. Der Leser lernt Schwester Adriatica nicht gleich zu Beginn kennen. Als sie<br />

zum ersten Mal begegnet, ist der Roman schon 81 Seiten alt. Es ist Joach<strong>im</strong><br />

Ziemssen, der sie <strong>im</strong> Gespräch mit Hans Castorp nebenbei einführt, als er<br />

von Hofrat Behrens' Umgang mit einem Sterbenden spricht. »>Stellen Sie<br />

sich nicht so an!


<strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

44 <strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> 45<br />

führt. 20 <strong>Die</strong> Mylendonk entspricht Lachesis, der »Massnehmenden« bzw.<br />

»Massgebenden«, der Zuteilenden. (Vielleicht liesse sich auch sagen, dass sie,<br />

indem sie, worauf noch eingegangen wird, Thermometer verkauft, also das<br />

<strong>im</strong> »Berghof« massgebliche Instrument der Zeitmessung, indirekt überhaupt<br />

erst Zeit und damit Leben verleiht.) <strong>Die</strong> Deutung der Mylendonk als Schicksalsgöttin<br />

wird erhärtet durch Behrens' ironisch-beiläufige Bezeichnung<br />

»Küchenfee«. 21 Denn Feen sind die romantische Erscheinungsform der<br />

Schicksalskünderinnen. Etymologisch geht das Wort auf hx..fata, Schicksalsgöttin,<br />

zurück, das zu fatum, Schicksal, gehört.<br />

Ein Wort noch zum Rauchen: Vom Romanganzen her wissen wir, dass<br />

das Rauchen sexuell eminent aufgeladen ist, bei Castorp mit seinen Maria<br />

Mancinis, aber natürlich auch bei dem Witwer Behrens. <strong>Die</strong> Oberin überwacht<br />

(und beschränkt, »kastriert«) in psychoanalytischer Deutung also<br />

nicht nur sein Raucher-, sondern auch sein Sexualleben; sie schützt ihn vor<br />

allzuviel tristitia. 22<br />

Dass der Hofrat so nun vor dem Laster und der Schwermut bewahrt wird,<br />

müsste den Beifall Settembrinis finden. Doch Settembrini lobt die Schwester<br />

nicht. Er nennt sie spöttisch »unsere verehrungswürdige Frau« und fragt<br />

dann Castorp:<br />

>Sie kennen auch unsere Oberin schon? Nicht? Aber das ist ein Fehler! Sie tun unrecht,<br />

sich nicht um ihre Bekanntschaft zu bewerben. Aus dem Geschlechte derer<br />

von Mylendonk, mein Herr! Von der Mediceischen Venus <strong>unter</strong>scheidet sie sich dadurch,<br />

dass sie dort, wo sich bei der Göttin der Busen befindet, ein Kreuz zu tragen<br />

pflegt...< (III, 88)<br />

20 Den griechischen Moiren entsprechen in der germanischen Mythologie die Nornen, die<br />

<strong>Thomas</strong> Mann natürlich schon aus Götterdämmerung kannte.<br />

21 III, 365. Auch die aussergewöhnliche, gehe<strong>im</strong>nisvolle, rothaarige Gerda Buddenbrook wird<br />

»Fee« genannt (I, 427); die kalte Mutter, der Hanno die Inspiration zur tödlichen Musik verdankt.<br />

Sodann ist an die andere, frühere Gerda, die femme fatale aus Der kleine Herr Friedemann,<br />

zu denken: rotblond, sommersprossig, gefährlich, mit Jagd und Teufel assoziiert (VIII,<br />

85). Sie ist kinderlos und entbehrt ausdrücklich »jedes weiblichen Reizes« (VIII, 84).<br />

12 Natürlich lässt sich die Schwermut von Behrens auch realistisch erklären. <strong>Die</strong> private Situation<br />

des Witwers ist eher traurig, seine Angestelltenfunktion zwingt ihn, als Anstaltsleiter zu<br />

tolerieren, was er als Arzt verbieten müsste, und sehr wohl weiss er auch um die beschränkte<br />

Wirkung seiner medizinischen Künste. Viele Ärzte <strong>im</strong> Frühwerk <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> <strong>unter</strong>liegen<br />

einem «nachsichtigen Pess<strong>im</strong>ismus« (VIII, 216). Ihre Einsicht in die (medizinhistorisch gegebene)<br />

Unheilbarkeit der behandelten Krankheiten führt sie dem Fatalismus nahe. Mit ratverlegener<br />

Bonhomie und M<strong>unter</strong>keit drehen sie am Mühlrad der Sinn- und Hoffnungslosigkeit und verschreiben<br />

faute de mieux »ein wenig Taube, - ein wenig Franzbrot« (1,37). Der Spezialist weiss<br />

keine bessere Therapie als der Hausarzt (VIII, 220,248).<br />

Zunächst muss es als Fehler bezeichnet werden, dass Castorp dazu aufgefordert<br />

wird, die Oberin kennenzulernen. Weshalb sollte ein Gesunder von sich<br />

aus der Sphäre der Krankheit sich nähern? Er könnte es ja nicht einmal: Nur<br />

als Kranker, wie später zu lernen ist, kommt man der Schwester nahe. Der<br />

Rat geht also indirekt paradoxerweise dahin, krank zu werden; darin liegt<br />

seine objektive Ironie.<br />

Um die Bekanntschaft der Oberin muss man sich bewerben, wird gesagt.<br />

Nicht jedermann hat die Ehre. Auch damit begeht Settembrini einen Fehler.<br />

Er <strong>unter</strong>schätzt die patrizischen Instinkte Castorps, der Settembrinis Ironie<br />

nicht teilt, vielleicht auch nicht versteht, aber jetzt <strong>im</strong> Grunde tatsächlich<br />

nicht anders kann, als sich um die Bekanntschaft der Dame zu bewerben.<br />

Erstmals genannt wird nun ihr Name: von Mylendonk. Sie entstammt also<br />

einem alten, übrigens in Westfalen tatsächlich vorkommenden Adelsgeschlecht.<br />

23 Sie ist »von Familie« (I, 452; VII, 502; VIII, 382, 394).<br />

Settembrinis Spässchen mit dem fehlenden Busen und dem Kreuz gehört<br />

zu jenen Stellen, die man ins Felde geführt hat für die Behauptung, der Erzähler<br />

oder gar der Autor mache sich über seine Figuren lustig. Ich will sie<br />

hier auf sich beruhen lassen. Aus text<strong>im</strong>manenter Sicht ist die Frage, ob der<br />

Autor seine Figuren denunziere, von vornherein uninteressant. Vielmehr<br />

muss danach gefragt werden, wieweit eine Figurenzeichnung aus dem Roman<br />

heraus kompositioneil motiviert ist bzw. sich motivieren liesse. Das<br />

fragliche Spässchen nun steht nicht um seiner selbst willen da. Es stammt,<br />

wohlgemerkt, nicht vom Erzähler, sondern von Settembrini und charakterisiert<br />

zunächst diesen selbst: als krankheitshalber verhinderten, doch mauleifrigen<br />

Lebemann, als gebildeten Spötter, als boshaften und auch etwas<br />

oberflächlichen Gegner des medizinischen Personals. Indem er sich gegen<br />

sie stellt, stellt er die Oberin auf seine Gegenseite: Sie ist nicht weltlich, oberwelthch,<br />

nicht dem Aufklärerisch-Klassisch-Gesunden zugetan.<br />

<strong>Die</strong> kompositionelle Funktion der Aussage liegt in ihrem Beitrag zur mythopoetischen<br />

Topographie. <strong>Die</strong> Mylendonk ist keine Venus. Sie hat keinen<br />

Busen, dafür ein Kreuz. Erfahrene <strong>Thomas</strong>-Mann-Leser horchen auf: Ob sie<br />

zum Typus jener Figuren gehört, die faustischem Duft, der deutsch-<br />

Dürer'schen Sphäre von »Kreuz, Tod und Gruft« (X, 231) zuzuordnen sind?<br />

Jedenfalls verbindet sie das Kreuz mit dem Christentum. Und es macht sie<br />

zu einem Opfer. Ihr um den Busen reduzierter Körper stellt eine leibhaftige<br />

23 Gemäss freundlicher Auskunft von Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Sonderegger (Zürich) vom 27.<br />

September 2000 geht der Familienname von Mylendonk als sogenannter Herkunftsname auf die<br />

ehemalige reichsunmittelbare Herrschaft Mylendonk am Flusse Niers (rechter Nebenfluss der<br />

Maas) in der ehemaligen preussischen Provinz Westfalen zurück, ursprünglich territorial umschlossen<br />

vom Erzstift Köln und dem Herzogtum Jülich.


46<br />

<strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong><br />

<strong>Thomas</strong> Sprecher AI<br />

Kulturkritik dar: Das haben zweitausend Jahre Christentum angerichtet;<br />

oder aber eine Christentumskritik: Es ist für die Zukurzgekommenen. Nie<br />

lacht, nie lächelt sie. Man darf sie wohl nicht fragen, ob sie das Kreuz mit<br />

einem Busen vertauschen wollte.<br />

Durch die Negation »keine Venus« wird die Schwester <strong>im</strong>plizit Gegenpol<br />

zu der Venus-Inkarnation des Romans, zu Mme Chauchat. <strong>Die</strong>se steht für<br />

eros, der Schwester bleibt die Liebesform der Caritas. Der fehlende Busen<br />

(»Oberweite«) weist <strong>im</strong> übrigen auf das Unten, den Unterleib. <strong>Die</strong> Schwester<br />

ist keine »Ernährerin«, ihr »Stillen« zielt auf das Sterben.<br />

Nachdem Castorp über Settembrinis Spruch gelacht hat, erfährt er, dass<br />

Frau von Mylendonk mit Vornamen Adriatica heisst. Er antwortet: »>Hören<br />

Sie, das ist merkwürdig! Von Mylendonk und dann Adriatica. Es klingt, als<br />

müsste sie längst gestorben sein. Geradezu mittelalterlich mutet es an.Ich für meine Person bin überzeugt, dass unser Rhadamanth einzig und allein aus<br />

künstlerischem Stilgefühl dieses Petrefakt zur Oberaufseherin seines Schreckenspa-<br />

26 Heinrich von Eicken: Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung, Stuttgart:<br />

Cotta 1887, S. 440 f. Und übrigens erinnert die bei Eicken wiedergegebene Sage auch an das<br />

in »Fülle des Wohllauts« bedachte Ende des Liebespaares inAida (III, 896). Denn: »Als Adriatica<br />

gestorben war und man sie in den Sarg ihres Gatten legen wollte, da rückten die schneeweiss<br />

gebleichten Gebeine des letzteren von selbst zur Seite und winkten ihr grüssend entgegen.«<br />

(Eicken, S. 441)<br />

27 Siegmar Tyroff: Namen bei <strong>Thomas</strong> Mann in den Erzählungen und den Romanen »Buddenbrooks«,<br />

»Königliche Hoheit«, »Der Zauberberg«, Bern: Herbert Lang; Frankfurt/Main:<br />

Peter Lang 1975 (= Europäische Hochschulschriften, 1/102), S. 189.<br />

28 Der Name Mylendonk geht auf niederdeutsch My(h)l, My(h)le, westfälisch mü(e)len (mit<br />

gebrochenem üe), »Mühle« (neben sonstigem niederdt. Möl[l]e, -n) zurück, wird aber mit langem<br />

ü ausgesprochen. Das niederrheinisch-niederländische »Donk« bedeutet »kleine, zwischen<br />

Wassergräben liegende Bodenerhebung«. Mylendonk kann daher als »Mühlenberg, Erhebung,<br />

auf der eine Mühle steht«, verstanden werden. Zu denken ist an Windmühlen, welche am Niederrhein<br />

und in den Niederlanden vorzugsweise die Funktion von Wasserpumpen haben. Am<br />

Flusse Niers <strong>im</strong> westlichen Westfalen, aber auch <strong>im</strong> angrenzenden südniederländischen Gebiet<br />

sind Namen auf -donk reich verbreitet. Auch für diese Auskunft schulde ich Prof. Sonderegger<br />

Dank.


48<br />

<strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

lastes gemacht hat. [...] Frau Adriatica sagt es jedem, der es hören will, und den andern<br />

auch, dass eine Mylendonk Mitte des dreizehnten Jahrhunderts Äbtissin eines<br />

Stiftes zu Bonn am Rheine war. Sie selbst kann nicht lange nach diesem Zeitpunkt das<br />

Licht der Welt erblickt haben.. .< (III, 89)<br />

Stilgefühl, das würde heissen: Sie passt, sie passt zum Stil des Hauses. 29 Was<br />

über sie gesagt wird, darf daher Geltung beanspruchen auch für das Institut,<br />

über das sie die Aufsicht innehat. Sie ist repräsentativ. 30<br />

Mit dem Begriff >Petrefakt< assoziieren sich Vorstellungen von Leblosigkeit<br />

und Verwunschenheit. Ein Petrefakt ist eine Versteinerung. <strong>Die</strong>s erinnert<br />

wieder an Hermes, dem die zur Orientierung der Wanderer best<strong>im</strong>mten<br />

phallischen Steinpfeiler heilig waren; von ihnen hat er vermutlich auch seinen<br />

Namen (hermaion, Steinhaufen). Hermen standen auch vor den Häusern<br />

und auf Gräbern. Viel später, <strong>im</strong> sozusagen <strong>unter</strong>weltlichen zweiten Teil<br />

seines Schneetraums, auf dem Gang zu den Müttern, in den Tempel Demeters,<br />

wird Hans Castorp wieder und richtigen »steinernen Frauenfiguren«<br />

(III, 682) begegnen: einem Standbild von Demeter und Persephone, wie in<br />

der Forschung allgemein angenommen wird, von Mutter und Tochter. <strong>Die</strong><br />

Mutter hat »leere Augen« (III, 682). Schon dadurch also wird die Mylendonk<br />

zur Demeter.<br />

<strong>Die</strong> Bezeichnung >Petrefakt< geht wohl auf Fontane zurück: So hat schon<br />

Dubslav Stechlin seine Schwester, die Domina des Klosters Wutz, genannt. 31<br />

Dadurch, aber viel direkter noch durch die selbst vorgenommene Identifizierung<br />

mit ihrer Ahne rückt die Mylendonk ihrerseits in die Rolle einer<br />

Äbtissin. Auch so wird sie der geistlich-kirchlichen, der metaphysischen<br />

Sphäre zugeschlagen. Klösterliche Züge hat ja vielfach auch der »Berghof«,<br />

obwohl ihm die Bezeichnung »Schreckenspalast« hier eher das Gesicht eines<br />

Zuchthauses verleiht. Dass die Oberin einem jedem ihre adlige Abstammung<br />

aufdrängt (aber vielleicht ist dies eine settembrinische Unterstellung?), lässt<br />

sie wieder als - gerade unvornehm - mitteilsam erscheinen. Ihren Stolz teilt<br />

sie mit Schwester Berta, die sich auf ihre »Herkunft aus gebildeter Gesellschaftsschicht«<br />

viel zugute hält. 32 Ihre familiären Wurzeln in Bonn am Rhei-<br />

29 In Tristan ist der Schriftsteller Spinell »des Stiles wegen« <strong>im</strong> Sanatorium (VIII, 227).<br />

30 Der Mittelposition der Oberschwester entspricht, dass das Sanatorium seinerseits in mehrfacher<br />

Hinsicht eine Zwischenstellung einn<strong>im</strong>mt. Es ist Durchgangsort, Provisorium, Vorhölle.<br />

Zu seiner Rolle als Purgatorium vgl. in diesem Band den Beitrag von Peter Pütz.<br />

31 Hinweis von Schneider, S. 329.<br />

32 III, 152. Historisch wurden zahlreiche Oberschwester-Stellen von Adligen besetzt; das war<br />

einer der Berufe, der adligen Töchtern offenstand. Ihre gesellschaftliche Stellung war höher als<br />

jene vieler Ärzte; Doktor konnten ja auch Söhne von Lotsenkommandeuren werden (1,123 ff.).<br />

Schwester Martha von Stuckrad, die Oberin des Münchner Gisela-Kinderspitals in München<br />

<strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong><br />

ne <strong>unter</strong>streichen ihr (partielles) Deutschtum noch und machen sie wieder,<br />

wie ihr Vorname, zum Wasserwesen, nämlich zur an den Ring erinnernden<br />

Rheintochter.<br />

<strong>Die</strong> Verweisung auf das Geschlecht der Mylendonk ersetzt <strong>im</strong> übrigen den<br />

Lebenslauf. Anders als Castorp, Behrens oder Naphta, bekommt die Oberin<br />

vom Erzähler keine persönliche Herkunft, das heisst: Sie hat keine. Sie ist<br />

nicht, was sie geworden ist, sondern sie ist, was sie ist, besser: Sie ist, was sie<br />

war^Und sie macht während der Romanjahre keine Entwicklung durch: kein<br />

Woher und kein Wohin.<br />

Nach diesen Mitteilungen taucht die Oberin für hundert Seiten wieder ab<br />

ins erzählerische Dunkel. Dann wird enpassant mitgeteilt, »jene altadelige<br />

Dame« (III, 187) stehe Behrens' »Witwerhaushalte« vor (III, 188). Sie hilft<br />

ihrem Chef also auch privat. Sie ist seine Haushälterin; <strong>im</strong> Wortsinn geht sie<br />

ja mit seinem Tabak haushälterisch um. Immer noch hat Castorp sie erst<br />

»flüchtig« gesehen (III, 187 f.); szenisch ist sie noch überhaupt nicht aufgetreten.<br />

3. <strong>Die</strong> Stunde der Bekanntschaft schlägt mit Castorps Erkältung. Sie wird<br />

erzählt <strong>im</strong> Abschnitt »Das Thermometer« (III, 233 ff.). Das Thermometer<br />

wird denn auch zum entscheidenden Attribut der Adriatica von Mylendonk.<br />

33<br />

... als Hans Castorp [...] in sein Z<strong>im</strong>mer zurückkehrte, klopfte es bei ihm, und es<br />

ergab sich für ihn die persönliche Bekanntschaft mit dem Fräulein von Mylendonk<br />

oder der >Frau Oberin


50 <strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

<strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> 51<br />

<strong>Die</strong> passive Formulierung »klopfte es bei ihm, und es ergab sich« deutet an,<br />

dass da etwas Schicksal- 34 und Märchenhaftes, jedenfalls Bedeutendes passiert.<br />

Nun hat Castorp es geschafft. Objektiv verheisst der Besuch der Oberin<br />

Ungutes. Denn Zeit hat sie ja nur für Kranke. Ihre Tüchtigkeit und<br />

Flüchtigkeit entspricht der Flinkheit, Unbeständigkeit, Wandelbarkeit des<br />

Götterboten Hermes; nebenbei antizipiert es die zweckmässigen Irrläufe<br />

Hans Castorps <strong>im</strong> Krieg. N<strong>im</strong>mt man das Verb »auftauchen« wörtlich, so<br />

lassen sich damit die schon genannten Sinngehalte von Meer und Unterwelt<br />

verbinden. Ihre St<strong>im</strong>me ist unvorteilhaft: Sie quäkt, wie eine Kröte.<br />

Weiter heisst es:<br />

... durch seinen Katarrh herbeigezogen, klopfte sie knöchern hart und kurz an seine<br />

Stubentür und trat ein, fast bevor er Herein gesagt, indem sie sich auf der Schwelle<br />

noch einmal zurückbeugte, um sich der Z<strong>im</strong>mernummer gewiss zu machen. >VierunddreissigEs st<strong>im</strong>mt. [...]<<br />

Es fällt auf, dass der Akt des Klopfens zwe<strong>im</strong>al Erwähnung findet. Be<strong>im</strong><br />

zweitenmal nun in aktiver Wendung: Es ist die Oberin, die da »knöchern<br />

hart und kurz« an die Türe klopft. In der Vorstellung (knöchern 35 - Knochen<br />

- Skelett) klopft noch jemand mit: der bei jedem einmal klopft. 36 Das Klopfen<br />

der Äbtissin Mylendonk steht in Verbindung auch mit jenem der weltentsagenden<br />

Novizin (III, 25); und mit dem Klopfen des Hofrats (III, 250).<br />

Es ist der Rhythmus der Zauberbergmusik, zu der Mme Chauchat die Melodie<br />

- das »Miauen« 37 - beiträgt. Es ist das Schlagzeug der Totentanzmusik.<br />

<strong>Die</strong> Schwester auf der Schwelle - ein hermetischer Ort des Übergangs; zu<br />

Hermes' Aufgaben gehörte das Türhüten. Auch Mme Chauchat, eine weitere<br />

Hermes-Figuration, wird, als sie Castorp auffordert, ihr den Bleistift zurückzubringen,<br />

»rückwärts gewandt« auf der Schwelle stehen (III, 478). <strong>Die</strong><br />

Rück-Bewegung der Versicherung, die Überprüfung der Z<strong>im</strong>mernummer<br />

lenkt den Blick sodann auf die nicht zufällige Zahl. 38 Castorp ist in diesem<br />

34 Angespielt wird auch auf Beethovens Wort über das Klopfmotiv in seiner Fünften Symphonie<br />

(»So pocht das Schicksal an die Pforten«). Vgl. VII, 317, 366.<br />

35 Das Knöcherne steht in direkter Verbindung mit dem demeterkultischen Kindsopfer <strong>im</strong><br />

Schneetraum und den «spröden Knöchlein« (III, 683) des zerrissenen Kindes.<br />

36 In Tristan pocht Rätin Spatz an die Stubentür, als sie die Schreckensmeldung über den Gesundheitszustand<br />

Gabriele Klöterjahns bringt und so deren Tod ankündigt (VIII, 259).<br />

37 III, 491. Ihre Sprache wird gerade auch als »knochenlos« bezeichnet (III, 163).<br />

38 34 ist eine zusammengesetzte Zahl, deren Quersumme der leitmotivischen Siebenzahl entspricht.<br />

Vgl. Sandt, S. 45 ff., 304. Dort noch weitere, erwas spekulative kabbalistische Deutungen.<br />

-Vgl. auch CG. Jung: Psychologie und Alchemie (1944), Ölten: Walter 1972, S. 41 f.: »Vier<br />

hat die Bedeutung des Weiblichen, Mütterlichen, Physischen, Drei die des Männlichen, Väterlichen,<br />

Geistigen.«<br />

Moment keine Person, sondern Nummer. Nicht dass er in Z<strong>im</strong>mer 34 liegt,<br />

ist relevant, sondern dass er in Z<strong>im</strong>mer 34 liegt. Noch hat er keine Identität<br />

als Kranker, keine Krankengeschichte.<br />

<strong>Die</strong> Oberin lässt es an jeder Dezenz fehlen. Sie »quäkt« vielmehr, und zwar<br />

»ungedämpft«. Vielleicht weist ihr Auftritt schon voraus auf die okkulte Szene<br />

<strong>im</strong> Abschnitt »Fragwürdigstes«, wo es »laut und abgeschmackt« zugeht<br />

(III, 941). Im Reich der Schatten darf man keine Höflichkeit, keine bürgerlichen<br />

Rücksichten erwarten. 39<br />

>Menschenskind, on me dit, que vous avez pris froid, I hear, you have caught a cold,<br />

Wy, katschetsja, prostudilisj, ich höre, Sie sind erkältet? Wie soll ich reden mit Ihnen?<br />

Deutsch, ich sehe schon. Ach, der Besuch vom jungen Ziemssen, ich sehe schon. Ich<br />

muss in den Operationssaal. Da ist einer, der wird chloroformiert und hat Bohnensalat<br />

gegessen. Wenn man seine Augen nicht überall hat... Und Sie, Menschenskind,<br />

wollen sich hier erkältet haben?<<br />

Hans Castorp war verblüfft über diese Redeweise einer altadligen Dame. (III, 233 f.)<br />

Zum ersten Mal spricht sie ihn an, hört er, hören wir sie reden. Altadelig und<br />

vornehm ist es nicht, da hat Castorp ganz recht. (Für eine Oberschwester,<br />

die <strong>unter</strong> Dauerdruck steht, pausenlos Verantwortlichkeiten wahrzunehmen<br />

und nie genügend Zeit hat, scheint die Redeweise hingegen plausibel.) Sie<br />

spricht deutsch, französisch, englisch und russisch. Dass sie verschiedene<br />

Sprachen benutzt, lässt sich realistisch leicht motivieren: Sie hat ja Patienten<br />

aus aller Welt; auch auf dem Davoser Friedhof schweigt man in allen Zungen<br />

(III, 447). Ihre Vielsprachigkeit entspricht jener des Hofrats. Sie zeigt aber<br />

auch, dass die Oberin unvorbereitet zu Castorp kommt und ihn, seine Herkunft<br />

und Muttersprache nicht kennt. Noch anerkennt sie ihn nicht als Kranken;<br />

gleich will sie wieder weg. <strong>Die</strong> Redeweise der Oberin korrespondiert<br />

ihrer Körpersprache, dem Unsteten, Umkreisenden, dem Haltlosen. Und sie<br />

zeigt schliesslich eine gewisse verbale Beliebigkeit. Was und in welcher Sprache<br />

sie es sagt, ist nicht wichtig. So scheint es ihr jedenfalls selbst:<br />

Während sie sprach, ging sie über ihre eigenen Worte hinweg, indem sie unruhig, in<br />

rollender, schleifenförmiger Bewegung den Kopf mit suchend erhobener Nase hin<br />

und her wandte, wie Raubtiere <strong>im</strong> Käfig tun, und ihre sommersprossige Rechte, leicht<br />

geschlossen und den Daumen nach oben, vor sich <strong>im</strong> Handgelenk schlenkerte, als<br />

wollte sie sagen: >Rasch, rasch, rasch! Hören Sie nicht auf das, was ich sage, sondern<br />

reden Sie selbst, dass ich fortkomme!< (III, 234)<br />

39 Insofern müsste man die oben besprochene Szene mit dem Moribunden, der nicht sterben<br />

will (III, 81), dahingehend deuten, dass sich die ärztliche Rüge nicht auf die Laut- und Wildheit<br />

des Widerstandes, sondern auf den Widerstand als solchen bezieht.


52 <strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

<strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> 53<br />

Dass sie ihre Augen »überall hat«, zeigt sich in diesem Licht als positiver<br />

Zug. Sie überwacht die ihr Anvertrauten. Auch dies kann als hermetisch betrachtet<br />

werden: Hermes ist der »gute Hirte« und Gott der Herden.<br />

Erzähltechnisch ist festzustellen, dass die Oberin zuerst redet, bevor sie<br />

näher beschrieben wird. <strong>Die</strong>s ist »noch öfter bei den komplexer angelegten<br />

Porträts späterer <strong>Werk</strong>e zu beobachten [...], während die karikaturistischen<br />

Schilderungen des Frühwerks in der Regel die Reihenfolge a) Namensnennung<br />

b) Inspizierung von Gestalt[,] Kleidung und Gesicht und c) wörtliche<br />

Rede einhalten«. 40 Und nun die Beschreibung:<br />

Sie war eine Vierzigerin, kümmerlichen Wuchses, ohne Formen, angetan mit einem<br />

weissen, gegürteten, klinischen Schürzenkleid, auf dessen Brust ein Granatkreuz lag.<br />

Unter ihrer Schwesternhaube kam spärliches rötliches Haar hervor, ihre wasserblauen,<br />

entzündeten Augen, an deren einem zum Überfluss ein in der Entwicklung sehr<br />

weit vorgeschrittenes Gerstenkorn sass, waren unsteten Blicks, die Nase aufgeworfen,<br />

der Mund froschmässig, ausserdem mit schief vorstehender Unterlippe, die sie<br />

be<strong>im</strong> Sprechen schaufelnd bewegte. (Ebd.)<br />

Nun bekommen wir Gewissheit über vieles, was bisher nur mit ersten Signalen<br />

angetönt worden ist. <strong>Die</strong> Oberin ist eine Hadesfigur; ihr werden gleich<br />

mehrere der von <strong>Thomas</strong> Mann öfter verwendeten Todesattribute zugeschrieben:<br />

»das rote Haar, die aufgeworfene Nase; ferner gehören zu diesem<br />

Bereich das Froschartige, die schaufelnden Mundbewegungen, das raubtierhaft<br />

Unruhige und Witternde«. Zwischen ihrem hässlichen Erscheinungsbild<br />

und dem, wofür sie mythopoetisch, als Allegorie, steht, ergibt sich eine<br />

hintergründige Spannung: ein »kümmerliches« Wesen als »Personifikation<br />

des gierigen Todes«. 41<br />

Blicken wir nun auf die Einzelheiten: <strong>Die</strong> sommersprossige Hand verstärkt<br />

den Eindruck des Raubtierartigen: Man könnte an das gefleckte Fell eines<br />

Tigers denken. 42 Der Frosch-Eindruck, zu dem Mund und St<strong>im</strong>me beitragen,<br />

führt wieder zur Assoziation »Sumpf«. Ausserdem kann man das<br />

Froschartige symbolisch lesen. Der Frosch gilt als Erscheinungsform der armen<br />

Seele. In der Bibel wird das Tier als Verkörperung dämonischer Mächte<br />

40 Schneider, S. 212.<br />

41 Ebd. <strong>Die</strong> Spannung zwischen der für »innere Wirklichkeit« stehenden Hässlichkeit und<br />

der Schönheit wird dann von Naphta anhand seiner Pietä erläutert (III, 544).<br />

n Rote Haare und Sommersprossen haben schon mehrere vorgehende <strong>Manns</strong>che Figuren:<br />

die Konsulin Buddenbrook (I, 78), Pfühl, der Organist in der Marienkirche (I, 495 f.), dann<br />

Friedrich Schiller (VIII, 373); und schliesslich, am Anfang des Tod in Venedig, der fremde Wanderer<br />

am Münchner Nordfriedhof, seinerseits eine Hermes-Figur (VIII, 445).<br />

betrachtet. 43 <strong>Die</strong> Kirchenväter erblickten <strong>im</strong> Frosch dem Teufel zugehörige<br />

Wesen. 44<br />

Mit ihren mehr als vierzig Jahren zählt die Oberin auch altersmässig zum<br />

»mittelalterlichen« Personal. Sie muss als verblüht betrachtet werden, wenn<br />

sie denn je geblüht hat. Sie ist deutlich älter als die begehrenswerte Mme<br />

Chauchat. So gesehen ist sie bereits alterslos, »zeitlos« geworden, was wiederum<br />

zu ihrer Hadesrolle passte.<br />

Weiteres setzt sie in Beziehung zu Mme Chauchat. Bleiben wir nur bei<br />

dem bisher <strong>im</strong> Roman Gesagten: Mme Chauchat hat ihrerseits rötlichblondes<br />

Haar (III, 110); das Granatkreuz der Mylendonk weist antagonistisch<br />

voraus auf den Granatapfel der Chauchat. 45 Vom Granatapfel, der <strong>unter</strong> anderem<br />

das Attribut mediterraner Muttergöttinnen (Aphrodite) war, wird<br />

umgekehrt das Granatkreuz beleuchtet. Im Demeter-Persephone-Mythos<br />

weist er auf Unterwelt und Liebe. Nach dem Genuss des Granatapfels (der<br />

Liebe) bleibt Persephone, Tochter der Demeter und des Zeus, auf dessen<br />

Geheiss ein Drittel des Jahres zu ihrem Gatten Hades in die Unterwelt verbannt.<br />

Clawdia Chauchat wird so zur Persephone, zu Demeters Tochter -<br />

und die Mylendonk wieder zu Demeter selbst. 46<br />

Dass ihre Augen nicht nur blau, sondern »wasserblau« sind, <strong>unter</strong>streicht<br />

ihren Bezug zum Wasser. Farbe und Entzündung korrespondieren den<br />

43 2 Moses 8,1-14; Offenbarung 16,13.<br />

44 Manfred Lurker (Hrsg.): Wörterbuch der Symbolik, 5. Aufl., Stuttgart: Kröner 1991, S.<br />

222. Vgl. auch Faust I, V. 1516 f., wo Mephisto sich »Herr der [...] Frösche« nennt.<br />

45 Vgl. III, 493. - Das Granatkreuz weist auch zurück auf das Granatapfel-Getränk Gustav<br />

von Aschenbachs (VIII, 511). In der Bibel wird der Granatapfel als Zeichen eines überirdischen<br />

Segens verstanden, der aus dem Bund mit Gott entspringt. <strong>Die</strong> erotische Deutung des Persephone-<br />

Mythos hat <strong>Thomas</strong> Mann möglicherweise von Schopenhauer übernommen (vgl. <strong>Die</strong> Welt als<br />

Wille und Vorstellung, 4. Buch, § 60).<br />

46 <strong>Die</strong> Bedeutung des Demeter-Persephone-Mythos <strong>im</strong> Zauberberg hat Lotti Sandt hervorgehoben<br />

(S. 126 f.): »Eine mythologisch äusserst wichtige Gestalt <strong>im</strong> >Zauberberg< ist die Frau<br />

Oberin <strong>im</strong> Berghof, die Adriatica von Mylendonck [sie]. Mit dem Thermometer in der Tasche<br />

wird sie zur Hüterin des >HeiligenZauberberg-Tempek Sie kontrolliert, überwacht<br />

und misst die Wärme ihrer Zöglinge, und sie wird zunächst zur Vestalin-Gestalt. [...] Der<br />

>Zauberberg< rückt damit in ein neues Licht, und ein Vergleich mit Dantes Hölle und Purgatorium<br />

drängt sich auf. [...] <strong>Die</strong> Vesta oder Hestia ist Demeter nahe verwandt, und spätere Mystiker<br />

machten sie geradezu zur Herrin des Universums, zum Zentralfeuer der Welt und vermengten<br />

sie mit Demeter. Auch Adriatica verkörpert bei <strong>Thomas</strong> Mann die beiden Gottheiten Vesta und<br />

Demeter. Als Vesta ist sie die Beschützerin des häuslichen Herdes und zugleich auch die Göttin<br />

der Schutzflehenden. [...] <strong>Die</strong> Vestalin hat ihren <strong>Die</strong>nst mit grösster Gewissenhaftigkeit zu versehen<br />

[...]. <strong>Die</strong> Vestalin ist Jungfrau und muss den reinen jungfräulichen Stand 30 Jahre bewahren<br />

[...].« Das Gerstenkorn zeigt die Mylendonk als Demeter, Vesta und Allmutter (Sandt, S.<br />

131). »Demeter« wird etymologisch <strong>unter</strong> anderem von »deai-meter« abgeleitet; »Deai« heisst<br />

kretisch »Gerste«. Demeter ist eine Vegetationsgottheit; das Unstete, Wechselhafte der Oberin<br />

entspricht nach Sandt (S. 92) auch dem ewigen Wechsel der Vegetation. Bevor sie zur Allmutter<br />

wurde, war Demeter Verschlingerin und Menschenfresserin (Sandt, S. 134).


54<br />

<strong>Thomas</strong> Sprecher <strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong><br />

»blut<strong>unter</strong>laufenen Blauaugen« (III, 741) des Hofrats. Es zieht sich eine Linie<br />

von ihren Augen zu jenen Chauchats (III, 206) und zu jenen Hippes (III,<br />

170). 47<br />

Indem die Allegorie der Kälte »Erkältung« nicht gelten lässt, bestätigt Joach<strong>im</strong><br />

Ziemssens Warnung, dass Erkältungen <strong>im</strong> »Berghof« »nicht recus« seien<br />

(III, 233).<br />

Nach diesem Porträt geht die Szene weiter. Kaum kann man von einem<br />

Dialog sprechen, fast redet nur die Oberin.<br />

>Was ist denn das für eine Erkältung, he?< fragte die Oberin wieder, indem sie ihre<br />

Augen durchdringend zu machen suchte, was aber nicht gelang, da sie abschweiften.<br />

>Wir lieben solche Erkältungen nicht. [...] Wir sollten hier nicht von >Erkältung<<br />

reden, geehrtes Menschenskind, das ist so ein Schnickschnack von unten.< (Das Wort<br />

>Schnickschnack< nahm sich ganz abscheulich und abenteuerlich aus in ihrem Munde,<br />

wie sie es mit der Unterlippe schaufelnd hervorbrachte.) >Sie haben den wunderschönsten<br />

Katarrh der Luftwege, das gebe ich zu, das sieht man Ihnen an den Augen<br />

an. - < (Und wieder machte sie den sonderbaren Versuch, ihm durchdringend in die<br />

Augen zu blicken, ohne dass es ihr recht gelingen wollte.) >[...] es fragt sich nur, ob<br />

eine unschuldige Infektion vorliegt oder eine weniger unschuldige, alles andere ist<br />

Schnickschnacke (Schon wieder das schauderhafte >SchnickschnackIst ja möglich,<br />

dass Ihre Aufnahmelustigkeit mehr zum Harmlosen neigtHaben Sie sich gemessen?^<br />

Castorp verneint. »>Warum nicht?< fragte sie und liess ihre schräg vorgeschobene<br />

Unterlippe in der Luft stehen...« (III, 235)<br />

Castorp verhält sich nun wie in der Schule: »... er hatte sich noch das Verstummen<br />

des Schuljungen bewahrt, der in der Bank steht, nichts weiss und<br />

schweigt.« <strong>Die</strong> Oberin wird zur Lehrerin. <strong>Die</strong>ses Verhältnis wiederholt sich<br />

ter das Tragen eines Gürtels <strong>unter</strong>sagt. Vgl. Lurker, S. 270. Auch Hesse sich der Gürtel als Abglanz<br />

der ritterlichen Rüstung verstehen.<br />

50 Maar betont die Traditionslinien, in denen die Mylendonkschen Augenblicke stehen. Sie<br />

habe »die Kunst der Frau von Rinnlingen und der Schneekönigin, das flackrige Festsehen, [...]<br />

ausdrucksstark weiterenrwickelt« (Maar, S. 306).<br />

51 Zum »penetrierenden Merkur« vgl. Jung, S. 342. - Im Gegensatz dazu steht Schwester<br />

Berta: Ihre Augen »saugen«, »wollen zurückziehen« (III, 152 f.).<br />

52 Maskulin (oder aber zwischen den Geschlechtern stehend; Merkur, chthonischer<br />

Offenbarungsgott und Geist des Quecksilbers, gilt als Hermaphrodit) wirkt die Formenlose<br />

ohnehin (was wohl erst die Hermes-Perspektive zulässt). Wenn man will, kann man auch der<br />

»suchend erhobenen Nase« und dem nach oben gehaltenen Daumen jene phallische Bedeutung<br />

zuschreiben, die unbestreitbar das Thermometer hat, für das die Schwester steht. In Spannung<br />

stehen auch das weibliche Weiss ihrer Kleidung mit dem männlichen Rot der Haare.<br />

55


56 <strong>Thomas</strong> Sprecher <strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> 57<br />

bei Mme Chauchat, bei der er (fast wie einst <strong>im</strong> Schulhof mit Hippe) die<br />

Schule der Liebe durchläuft, und gegenüber den Pädagogen Settembrini und<br />

Naphta, wie Castorp ja überhaupt <strong>im</strong> pädagogisch-hermetischen Raum des<br />

»Berghofs« sich als Schüler aufführt; zuerst als einer, der sitzen gebheben ist<br />

und nun den Vorteil geniesst, dass von ihm nichts mehr erwartet wird (III,<br />

116), dann als einer, der, aus der Erwartungslosigkeit heraus, dies und das zu<br />

lernen bestrebt ist.<br />

<strong>Die</strong> Schwester will weiter wissen, wo er sein Thermometer habe. Er antwortet,<br />

er habe keins, er sei ja gesund. <strong>Die</strong>se Antwort wischt sie mit einem<br />

»Schnickschnack« vom Tisch, und ohne zu fragen, kramt sie aus ihrer<br />

schwarzen Ledertasche zwei Thermometer hervor. »><strong>Die</strong>ser hier»kostet drei Franken fünfzig und der hier fünf Franken. Besser fahren Sie<br />

natürlich mit dem zu fünf. Das ist etwas fürs Leben, wenn Sie ordentlich<br />

damit umgehen.Abgemacht!< quäkte die Oberin.«<br />

<strong>Die</strong>ses »Abgemacht!« klingt nach einer Verschreibung. Es erinnert an <strong>Thomas</strong><br />

<strong>Manns</strong> frühe Erzählung Der Tod (1897), wo das dreifache »Abmachen«<br />

heisst, sich dem Tod auszuliefern (VII, 74 ff.; vgl. auch VIII, 47). Und es<br />

erinnert natürlich an den faustischen Teufelspakt. In der Tat, dieser Erwerb<br />

ist »eine wichtige Anschaffung« und »etwas fürs Leben«. Das Leben ist sein<br />

Mass. So etwas kauft man nur einmal <strong>im</strong> Leben, so wie man nur einmal in ein<br />

Kloster eintritt (vgl. III, 272) oder nur einmal stirbt. Wer ein Thermometer<br />

erwirbt, tut etwas Einmaliges, nie Wiederholtes, etwas Schicksalhaftes. Der<br />

Erwerb ist denn auch ein bedeutender Akt <strong>im</strong> Leben Castorps. Er adelt ihn<br />

ein für allemal zum Kranken.<br />

Nun steht »Krankheit«, »Fieber« ja <strong>im</strong>mer auch für Sexualität, und so hat<br />

das ganze Gespräch eine nur ganz knapp in den Schranken der Latenz gehaltene<br />

sexuelle Komponente. <strong>Die</strong> Oberin, die zum Mephisto wird, verkauft<br />

Hans Castorp ein rotes phallisches Gerät. Sie verkauft ihm, kurz, einen Phallus<br />

— der Phallus ist ja ein Hermes-Zeichen —, sie verkauft ihm Potenz. Sie<br />

rüstet ihn mit einem Genital aus. Sie gibt ihm die männliche Sexualität; so<br />

wie ihm Mme Chauchat dann ihre weibliche geben wird. Das Thermometer,<br />

giftigen Inhalts, aber »[sjchmuck wie ein Geschmeide« und »zierlich«, entspricht<br />

dem gleichfalls phallisch konnotierten Bleistift der Chauchat, einem<br />

»Galanteriesächelchen« 53 , wie der tödlichen Spritze Peeperkorns - »Galanterieware«<br />

auch sie (III, 865). Das nicht recht geheure schwarze Leder, aus<br />

dem die weisse Schwester ihre Gaben hervorholt, eine Büchse der Pandora,<br />

weckt Assoziationen wie An<strong>im</strong>alität, Unterwelt, auch »Domina« und »Sado-<br />

Masochismus«. Schwarz ist die Farbe der Unterwelt, der Nacht, der Hässlichkeit,<br />

des »Herrs der schwarzen Seelen«; und Dr. Krokowskis.<br />

Mit der Bezahlung, meint die Schwester, eile es nicht, »es kommt auf die<br />

Rechnung« (III, 236). Auch das tönt reichlich ominös. Es heisst, anders, in<br />

bedrohlicher Wendung gesagt: »<strong>Die</strong> Rechnung kommt noch.« Es korrespondiert<br />

der befremdlichen Mitteilung des seltsamen Gondoliers ohne Konzession<br />

an Gustav von Aschenbach: »>Sie werden bezahlend« (VIII, 466)<br />

Wie zuvor, als die Oberin, bevor sie ins Z<strong>im</strong>mer trat, sich zurücklehnte,<br />

n<strong>im</strong>mt sie Castorp das Gerät nochmals aus der Hand. Es ist wie ein »recouler<br />

pour mieux sauter«. »>Geben Sie herwir wollen ihn erst noch recht kleinmachen, ganz hin<strong>unter</strong>jagen<br />

- so. [...] Wird schon steigen, wird schon emporwandern, der Merkurius!Merkurius<<br />

amüsierte mich.« Wenn die Oberin vom Merkurius statt einfach vom Thermometer<br />

spricht, wird wieder das ganze, unendlich reiche Leitmotiv-Gewebe<br />

angerührt, das <strong>im</strong> Zauberberg das Hermetische ausmacht, und über die<br />

Mythologie hinaus hat die Erklärung der Schwester auch alchemistisch-medizinische<br />

und sexuelle Beiklänge. Hermes - dem der römische Merkur entspricht<br />

- ist ja vieles in einem. Er ist der Gott des Handels und Schutzherr<br />

53 III, 464. Auch er kommt aus einem Ledertäschchen (ebd.). Und schon Hippes Crayon war<br />

aus der Tasche genommen worden (III, 173).


58 <strong>Thomas</strong> Sprecher <strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> 59<br />

der Kaufleute. Er ist, wie erwähnt, Seelengeleiter und Götterbote. Er ist der<br />

göttliche Kuppler. Auch berufen sich die Alchemisten auf ihn. 54 In der Alchemie<br />

hiess das Quecksilber Merkur. In der naturphilosophischen Spekulation<br />

des späten Mittelalters galt der Geist des Quecksilbers bald als täuschender<br />

Kobold (cervus fugitivus), bald als hilfreicher Geist (famüiaris). 55 <strong>Die</strong><br />

Jungfrau 56 stellt die weibliche Seite des Spiritus mercurialis dar, der Löwe<br />

(oder das Einhorn) die männliche. <strong>Die</strong> Oberin verkörpert sozusagen beides:<br />

Jungfrau und rothaariges Raubtier. Mit Quecksilber glaubte man die Krankheit<br />

heilen zu können, die den Namen der Venus trug. Quecksilbrig unstet<br />

schliesslich ist auch die Oberin selbst. Indem sie das Thermometer »kleinmacht«,<br />

zeigt sie, dass sie für die Kälte, für Frigidität steht; die Febrilität wird<br />

dann von einer anderen kommen. Aber eben: Auch sie verkörpert als Kupplerin<br />

eine Spielart der Sexualität; zum Unterreich (souterrain) gehört auch<br />

der Unterleib.<br />

Natürlich wird sich ihre Prophezeiung (in medizinischer wie in sexueller<br />

Hinsicht) als richtig erweisen. Später n<strong>im</strong>mt der Erzähler ihre Worte auf:<br />

»Merkurius war kräftig emporgewandert« (III, 583).<br />

Dann gibt sie ihm das Ding zurück:<br />

>Hier haben Sie Ihre Erwerbung! Sie wissen doch wohl, wie es gemacht wird bei uns?<br />

Unter die werte Zunge damit, auf sieben Minuten, viermal am Tag, und gut die geschätzten<br />

Lippen drum schliessen. Adieu, Menschenskind! Wünsche gute Ergebnisse!<<br />

Und sie war aus dem Z<strong>im</strong>mer. (III, 236)<br />

»Sie wissen doch wohl, wie es gemacht wird bei uns«, das ist entschieden<br />

anzüglich. Der Rat »und gut die geschätzten Lippen drum schliessen« erinnert<br />

an Behrens' ebenso anzüglichen Befehl bei der Durchleuchtung (III,<br />

302): »>Das Brett umarmen! Stellen Sie sich meinetwegen was anderes dar<strong>unter</strong><br />

vor! Und gut an die Brust andrücken, als ob Glücksempfindungen damit<br />

verbunden wären!Das war nun die Oberin von MylendonkSettembrini mag sie nicht,<br />

und wahr ist es, sie hat ihre Unannehmlichkeiten. Das Gerstenkorn ist nicht schön,<br />

übrigens hat sie es ja wohl nicht <strong>im</strong>mer. Aber warum nennt sie mich <strong>im</strong>mer >Menschenskind»Womit?!»Das<br />

Thermometer hat Ihnen die Mylendonk zugesteckt?»Zugesteckt? Da der Bedarfsfall vorlag, habe<br />

ich ihr eines abgekaufte«<br />

Darauf Settembrini: »>Ich verstehe. Ein einwandfreies Handelsgeschäfte«<br />

Seine Antwort ist höchst ironisch, denn das ist es ja eben gerade nicht. <strong>Die</strong><br />

scharfsichtige Bemerkung wirft wieder die schon diskutierte Frage auf, was<br />

denn da eigentlich gehandelt, welches Gut <strong>im</strong> Grunde zu welchem Preis<br />

übertragen worden ist.<br />

4. Nun folgen einige flüchtige Erwähnungen der Oberin. Sie bestellt Hans<br />

Castorp ins Durchleuchtungslaboratorium (III, 285). Als sie ihm den genauen<br />

Termin mitteilt, sieht er, dass sie schon wieder ein Gerstenkorn hat, »es<br />

57 Vgl. Christian Virchow: Gehe<strong>im</strong>rat Professor Dr. Friedrich Jessen und »Der Zauberberg«.<br />

Eine Geschichte aus dem Davos von dazumal, in: Davoser Revue, Jg. 69,1994, Nr. 3, S. 34, 37;<br />

Nr. 4, S. 39.


60<br />

<strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

konnte nicht mehr dasselbe sein, offenbar war dies harmlose, aber entstellende<br />

Leiden in ihrer Verfassung gelegen«. 58<br />

Es ist bekannt, dass <strong>Thomas</strong> Mann viele seiner Figuren, vor allem der Nebenfiguren,<br />

mit einem markanten, oft skurrilen physiognomischen Detail<br />

ausgestattet hat. Es hat dies verschiedene erzählerische Funktionen. Man erkennt<br />

den Träger des Details wieder, und meist äussert dieses komisch-karikierende<br />

Wirkungen. In vielen Fällen aber, und so auch be<strong>im</strong> Gerstenkorn,<br />

geht es um mehr als um Belustigung des Publikums. Das signifikante Kennzeichen<br />

setzt stilistisch das Immergleiche um, an das sich das Leben hält.<br />

Manchmal wachsen ihm leitmotivische Gehalte zu. Im Wiedererkennen liegt<br />

dann das Erkennen eines Neuen. Das Gerstenkorn 59 nun, Hordeolum, ist ein<br />

Abszess der Liddrüsen. Eitererreger rufen eine Entzündung der Haarbalgdrüse<br />

einer W<strong>im</strong>per hervor. Bei einer chronischen Entzündung bildet sich<br />

ein erbsengrosser Knoten am Lid. Das Gerstenkorn <strong>unter</strong>scheidet Adriatica<br />

von Mylendonk von allen anderen Oberinnen der Welt. Es gehört konstitutionell<br />

zu ihr, wie das Sanatorium konstitutionell zum Flachland gehört. Es<br />

weist sie selbst als krank aus; das verbindet sie mit Behrens, dem »kranken<br />

Arzt« 60 . Und es verbindet sie mit Mme Chauchat. Sie ist dieser Kranken<br />

Schwester. <strong>Die</strong> Art der Krankheit weist wieder auf die Augenproblematik.<br />

Als solches bedeuten »Gerste« und »Korn« und gar das <strong>im</strong>mer nachwachsende,<br />

das »reife« Korn den Inbegriff der Fruchtbarkeit. Das Korn ist das<br />

Attribut Demeters und auch der Muttergottes. 61 Aber Adriatica ist die Negation<br />

der nährenden Mutter. Ihre Brust gibt nichts her, und das wachsende<br />

Korn ist bei ihr eine Krankheit - Unfruchtbarkeit auf allen Etagen. Sie ist<br />

nicht kerngesund, sondern kornkrank; »Korn«, trägt also, wie »Ke<strong>im</strong>«, positive<br />

und negative Valenzen in sich. Ihr Korn wird mit »Überfluss« verbunden<br />

(»zum Überfluss« sitze ein Gerstenkorn an ihren entzündeten Augen;<br />

III, 234), was aber gerade nicht <strong>im</strong> Sinne der Fülle, sondern der Überflüssigkeit<br />

gemeint ist. Den Sinn der Fülle und - wörtlich - des Überflusses treffen<br />

wir dann bei Peeperkorn, der das Korn ja schon <strong>im</strong> Namen trägt und während<br />

seiner biblischen Abendgesellschaft nach »ein wenig Brot« verlangt (III,<br />

764). Das Gläschen mit dem »Korndestillat«, heisst es dann, »war so voll<br />

58 III, 294. <strong>Die</strong>s bestätigt sich ganz am Schluss des Romans, also Erzähljahre später, als die<br />

Mylendonk erneut ein hochreifes Gerstenkorn trägt (III, 981).<br />

59 Das Gerstenkorn wird in der Medizin - nicht <strong>im</strong> Roman - auch als »Hagelkorn« bezeichnet;<br />

was wieder mit »Eis« zu assoziieren wäre.<br />

60 Vgl. <strong>Thomas</strong> Sprecher: Kur-, Kultur- und Kapitalismuskritik <strong>im</strong> »Zauberberg«, in: Auf<br />

dem Weg zum »Zauberberg«. <strong>Die</strong> Davoser Literaturtage 1996, hrsg. von <strong>Thomas</strong> Sprecher, Frankfurt/Main:<br />

Klostermann 1997 (= <strong>Thomas</strong>-Mann-Studien, Bd. XVI), S. 187-249,200 f.<br />

61 Ein Beispiel für die Darstellungsform »Maria <strong>im</strong> Ährenkleid« ist bei Sandt, S. 133, abgebil-<br />

det.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> 61<br />

geschenkt, dass das >Brot< an allen Seiten daran her<strong>unter</strong>lief« (III, 765). Eine<br />

Verbindung mit dem Gerstenkorn etablieren sodann auch die Brotkugeln,<br />

die Mme Chauchat unfeinerweise dreht. 62<br />

Expressis verbis zusammengeführt werden Fräulein von Mylendonk und<br />

Mme Chauchat, als Castorp erfahren muss, dass der Hofrat letztere malt.<br />

Mit seinem künstlerischen Stilgefühl hat Settembrini es ihm gegenüber einst<br />

erklärt, dass Behrens die Mylendonk als Oberin akzeptierte. Nun ist es an<br />

Castorp, die Oberin in die Kunst einzubeziehen. Wenn der Hofrat bei sich<br />

zu Hause male, müsse man hoffen, dass »wenigstens Fräulein von Mylendonk<br />

bei den Sitzungen anwesend« sei (III, 292). <strong>Die</strong> Mylendonk soll also<br />

Aufpasserin sein. Sie ist es schon, aber eben in anderem Sinn, als Castorp es<br />

wünscht. Da sie ihre Augen überall hat, kann ihr das Tun des Hofrats nicht<br />

verborgen bleiben. Das Malen ist ein erotischer, hier ein heterosexueller Akt,<br />

den die Oberin zulässt, <strong>im</strong> Gegensatz zum zu vielen, für Autoerotik stehenden<br />

Zigarrenrauchen. Denn anders als das übermässige Rauchen macht das<br />

»Malen« den Hofrat offenbar nicht schwermütig.<br />

Wie sehr das Rauchen libidinös aufgeladen ist, zeigt sich, als der Hofrat<br />

einmal zu viel raucht. Er sei, wie er bei einem Männergespräch über Zigarren<br />

Hans Castorp mitteilt, in eine Angst gestürzt worden, wie sie den »Bengel«<br />

befalle, »der zum erstenmal ein Mädchen haben soll« (III, 355). Beinahe sei<br />

er >»geschmolzen, mit wogendem Busen wollte ich abtanzen. Aber die Mylendonk<br />

brachte mich mit ihren Anwendungen aus der St<strong>im</strong>mung. Eiskompressen,<br />

Bürstenfrottage, eine Kampferinjektion, und so blieb ich der<br />

Menschheit erhaltene« Auch hier wieder wirkt die Schwester erkältend. Ihr<br />

Eis stört und stoppt das heisse Tanzvergnügen.<br />

Versteckt sie ihm den Tabak, so hält er umgekehrt eine Kaffeemühle mit<br />

obszöner Ornamentik vor ihr verschlossen (III, 365) - sie könnte sich, wie er<br />

geltend macht, »>die Augen daran verderben


62<br />

<strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

Mylendonk als »nicht korrekt«. Sie erscheint, nachdem er seinen Wunsch<br />

bekundet hat, mit Behrens zu sprechen, auf seinem Balkon, n<strong>im</strong>mt »durch<br />

fremdartige Sitten« seine »Wohlerzogenheit [...] stark in Anspruch« (III, 602<br />

f.) und kanzelt ihn ab:<br />

Das geehrte Menschenskind, erfuhr er, möge sich gefälligst ein paar Tage gedulden,<br />

[...] da er ja angeblich gesund sei, so müsse er sich schon daran gewöhnen, dass er<br />

hier nicht Nummer Eins sei [.. .]• Etwas anderes, wenn er etwa eine Untersuchung<br />

beantragen wolle, - worüber sie, Adriatica, sich weiter nicht wundern würde, er solle<br />

sie doch mal ansehen, so, Auge in Auge, die seinen seien etwas trübe und flackernd,<br />

und wie er da so vor ihr liege, sehe er alles in allem nicht viel anders aus, als ob auch<br />

mit ihm nicht alles so ganz in Ordnung sei, nicht so ganz sauber, er solle sie recht<br />

verstehen [...].<br />

<strong>Die</strong> Zumutungen, denen der Konsul da ausgesetzt wird, sind pr<strong>im</strong>är komisch,<br />

weil sich hier eine merkantile Intention ableiten lässt, jeden Besucher<br />

auch zum lange liegenden und lange zahlenden Patienten zu machen. <strong>Die</strong><br />

Mylendonk wendet aber auch die Theorie Krokowskis an, dass es ganz gesunde<br />

Menschen nicht gebe (III, 29 f.).<br />

Den Konsul dünkt das »Frauenz<strong>im</strong>mer« »abschreckend«, was er geradewegs<br />

zu sagen aber zu höflich ist, und so erkundigt er sich bloss bei seinem<br />

Neffen, die Oberin »sei wohl eine recht originelle Dame«. Und nun ist die<br />

Reaktion Castorps bezeichnend. Er geht auf Tienappels Frage gar nicht ein,<br />

sondern fragt nur, nach einer Pause, zurück, ob ihm die Mylendonk ein Thermometer<br />

verkauft habe. Das also ist, das also begreift Castorp als das Entscheidende<br />

an ihr: dass sie Thermometer verkauft. Sie hat Castorp zu den<br />

Kranken aufsteigen lassen, und das Thermometer war die Leiter dafür, jeder<br />

Grad eine Sprosse. Erst wer ein Thermometer erwirbt, wird zum »Hiesigen«<br />

(III, 253).<br />

Der Konsul ist ob der Frage irritiert. Bei sich überlegt er, »dass, wenn die<br />

Oberin ihm tatsächlich ein Thermometer angeboten hätte, er es gewiss zurückgewiesen<br />

haben würde, dass dies aber am Ende nicht richtig gewesen<br />

wäre, da man ein fremdes, zum Beispiel das des Neffen, zivilisierterweise<br />

nicht benutzen konnte« (III, 603). Das sind flachländische Gedanken, die<br />

zeigen, dass ihm die hermetische Bedeutung des Thermometers verschlossen<br />

ist. Anders als bei Castorp ist Tienappels »Geist des Flachlandes« (III, 601)<br />

noch stark, er will nicht krank werden oder, sich messend, als krank erscheinen.<br />

Gewiss macht es einen Unterschied, dass Tienappel erst einen Tag da ist,<br />

Castorp bei seiner ersten Begegnung mit der Mylendonk aber schon drei<br />

Wochen. Und da sich Tienappel weder als erkältet noch sonst für krank erklärt,<br />

bietet ihm die Schwester auch kein Thermometer an.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong><br />

Auch ihm gegenüber sagt sie »MenschenskMnd«, und sie beruft sich auf<br />

»die leidende Menschheit« und »christliche Grundsätze«: »Das geehrte Menschenskind<br />

[...] möge sich gefälligst ein paar Tage gedulden, der Hofrat sei<br />

besetzt, [...] die leidende Menschheit gehe vor, nach christlichen Grundsätzen<br />

[...].« (III, 602) Das ist keineswegs so salopp zu nehmen, wie es daherkommt.<br />

Abgesehen davon, dass es ethisch grundsätzlich richtig ist, den<br />

Kranken den Vorrang zu geben, reflektiert es auch die informelle Hierarchie<br />

<strong>im</strong> »Berghof«. Es <strong>unter</strong>streicht ferner die Übereinst<strong>im</strong>mung mit Behrens,<br />

dem hermesartig sich Entziehenden, der seinerseits der »leidenden Menschheit«<br />

(III, 580) dienen will, und die Christlichkeit der Oberschwester. Und<br />

es führt sie mit Lodovico Settembrini zusammen, der mit seinem Buch »Soziologie<br />

der Leiden« zur »Beseitigung der Leidensursachen« beitragen will<br />

(III, 343 f.). Auch der Vorname Adriatica etabliert <strong>im</strong> übrigen eine Verbindung<br />

zu dem Italiener.<br />

6. Das Zusammentreffen mit dem Konsul wird ganz in indirekter Rede erzählt.<br />

Der Erzähler gestattet der Oberin aber noch einen zweiten Auftritt.<br />

Ihre letzte Szene hat sie bei der finalen Erkrankung Joach<strong>im</strong> Ziemssens. Es<br />

sind also ausnahmslos Männer, auf die man sie treffen sieht. Auch bei Ziemssen<br />

klopft sie ans Z<strong>im</strong>mer (III, 726), und zwar sehr bald - das Hässliche ist<br />

das Verlässliche.<br />

Noch am Abend [...] klopfte Adriatica bei Joach<strong>im</strong> [...] und erkundigte sich kreischend<br />

nach den Wünschen und Klagen des jungen Offiziers. Halsschmerzen? Heiserkeit?<<br />

wiederholte sie. >Menschenskind, was machen Sie für Sprünge?« Und sie<br />

<strong>unter</strong>nahm den Versuch, ihm durchdringend ins Auge zu blicken, wobei es nicht an<br />

Joach<strong>im</strong> lag, dass ein Ineinanderruhen ihrer Blicke misslang: der ihre war es, der beiseite<br />

schweifte. Dass sie es <strong>im</strong>mer wieder versuchte, wenn es ihr nun doch erfahrungsgemäss<br />

einmal nicht gegeben war, das Unternehmen durchzuführen!<br />

Dann äugt sie Ziemssen in den Schlund, und zwar auf komisch-<strong>im</strong>provisierende<br />

Art. Sie muss dazu auf die Zehenspitzen stehen, während Hans Castorp<br />

mit der Nachttischlampe für Beleuchtung sorgt. Er wird zu ihrem Gehilfen,<br />

so wie sie Behrens assistiert; er wird selbst zur »Schwester«, und die<br />

Mylendonk lässt ihrerseits ärztliche Kompetenz erkennen. Sie äussert keinen<br />

Befund, sondern fragt Ziemssen nur: »>Sagen Sie mal, geehrtes Menschenkind,<br />

— haben Sie sich schon mal verschluckt?


64<br />

<strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

das chronisch-sonderbare Fugen-s ausdrücklich aufmerksam gemacht werden<br />

und gleich danach das Wort »Menschenlos« fällt. Ziemssen wird zum<br />

»Menschenkind« und die Mylendonk zur Menschenmutter (zur Mutter<br />

nicht nur aller Schwestern, sondern aller Menschen).<br />

Was Floskel war, wird Ernst. <strong>Die</strong> Szene gewinnt hier christlich-existentiellen<br />

Gehalt: Es geht um Leben und Tod. Nicht das Sich-Verschlucken ist<br />

»Menschenlos« - als welches es Ziemssen oder der Erzähler charakterisieren<br />

-, sondern das, wofür es steht, das Sterben. 64 <strong>Die</strong> Frage der Schwester<br />

zeigt, dass sie es für möglich hält oder - aufgrund ihrer medizinischen Kompetenz;<br />

als Schicksalsgöttin; als allwissender Hermes - weiss, dass Ziemssen<br />

ein Gezeichneter ist. Sie offenbart ihm dies aber nicht direkt, sondern weicht<br />

auf die - für Castorp und den Leser zu erkennende - Notlüge »Erkältung«<br />

aus und lässt, wie einst bei Castorp - wo sie umgekehrt einst gerade keine<br />

»Erkältung« gelten lassen wollte -, Formamint zurück. Das ist ein Verhalten,<br />

das gütig oder gnädig oder menschlich oder christlich genannt werden<br />

kann. 65 Bei Castorp heisst es »hoch-menschliches Liebeserbarmen« (III,<br />

735). Ganz offenbar ist Sym-pathie, Mit-leid, <strong>im</strong> Spiel; die Mutter leidet mit<br />

ihrem sterbenden Sohn, dem Schmerzensmann; der gute Hirte für sein Schaf.<br />

Es ist einer der wenigen positiven Einbrüche in die sonstige Negativität der<br />

mylendonkschen Figurenzeichnung.<br />

Ziemssen beginnt dann tatsächlich, sich zu verschlucken, weshalb er auf<br />

die zum »verdammten Frauenz<strong>im</strong>mer« herabgesunkene Oberschwester<br />

schilt. (Als »Frauenz<strong>im</strong>mer« hat sie schon Tienappel [III, 603] - und hat<br />

Hans Castorp Clawdia Chauchat [III, 111] bezeichnet.) Sie habe »mit ihrer<br />

vom Zaun gebrochenen Frage ihm einen Floh ins Ohr gesetzt und ihm etwas<br />

eingeredet und angehext [...], der Teufel solle sie holen« (III, 728). <strong>Die</strong> Mylendonk<br />

als zauberische Hexe, dafür könnten auch ihre roten Haare stehen,<br />

denn solche hatten <strong>im</strong>mer die Hexen. Es erinnert an die Diskussionen über<br />

den mittelalterlichen Inquisitionsprozess und die Folter zwischen Naphta<br />

und Settembrini (III, 634 f.) und an die »Hexenbrüste« (III, 683) der beiden<br />

raubtierhaften Greuelweiber <strong>im</strong> zweiten Teil von Castorps Schneetraum.<br />

Das Motiv des Hexens begegnet <strong>im</strong> Zauberberg auch sonst. Viel früher hatte<br />

der Hofrat Ziemssen einmal vorgehalten, er müsse sich als Patient gedulden,<br />

Manuskript des Zauberberg als <strong>unter</strong>gegangen gelten muss, lässt sich dies nicht mehr nach-<br />

64 Als Varianten des Motivs des Sich-Verschluckens kennt man aus Buddenbrooks das Verschlucken<br />

von Bedrohlichem (1,70), das Nicht-schlucken-Können (1,263,663) und das Sterben<br />

am Schluckauf (I, 233, 246, 342, 699); vgl. auch I, 292, 451, 670.<br />

65 Während »die protestantische Diakonissin« Berta in kruder Direktheit vom »zu Tode<br />

[PJflegen« spricht (III, 739).<br />

<strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> 65<br />

hexen könnten sie auch nicht (III, 249); sein Durchleuchtungsraum wurde<br />

allerdings gerade mit einer »Hexenoffizin« verglichen (III, 301). Und natürlich<br />

stehen <strong>im</strong> Hintergrund die Blocksberg-Hexen aus dem Faust. Geschichtlich<br />

diente die »Verhexung« heilkundiger Frauen dazu, sie »aus der<br />

praktischen Medizin zu verdrängen und studierte professionelle männliche<br />

Ärzte an ihre Stelle zu setzen. <strong>Die</strong> Hexenv^rfolgungen waren [...] ein Mittel<br />

zur Durchsetzung dieses Ziels.« 66<br />

Castorp übersetzt das Wort »Hexerei« dann mit dem psychoanalytischen<br />

Begriff der »Suggestion«, was eine seinen Vetter beruhigende Rationalisierung<br />

darstellt. (III, 728) Nur der Erzähler scheint sich noch ein wenig weiter<br />

über die Vorstellung Ziemssens zu amüsieren: <strong>Die</strong>ser habe sich, heisst es,<br />

»fortan mit Erfolg der Hexerei« erwehrt und sich »nicht häufiger mehr als<br />

nichtbehexte Leute« verschluckt. 67<br />

Aber mit Ziemssen geht es zu Ende, was sich an seinen Augen zeigt. Sie<br />

seien »unsicher und scheu« geworden. Das nun ist die Chance der Schwester:<br />

»Noch neulich war Oberin Mylendonk mit ihrem Durchbohrungsversuch<br />

an seinem sanften dunklen Blick gescheitert, allein wenn sie jetzt ihr<br />

Heil noch einmal versuchte, war man wahrhaftig nicht mehr sicher, wie die<br />

Sache ablaufen würde.« (III, 729 f.) Wenig später wird die potentielle Begegnung<br />

abermals erwähnt: »Warum aber kehrte [...] so oft der Ausdruck trüber<br />

Scheu in seine sanften Augen zurück, - jene Unsicherheit, die der Oberin,<br />

wenn sie es noch einmal hätte darauf ankommen lassen, wahrscheinlich<br />

den Sieg gebracht haben würde?« (III, 735)<br />

<strong>Die</strong> Augen der Schwester dringen offenbar nur bei den Moribunden durch.<br />

Ihre Blicke töten nicht (sie »tun es« einem auch nicht »an«, wie jene der<br />

Chauchat [III, 848]); wen ihr aber ins Auge zu fassen gelingt, dessen Leben<br />

ist hin. Ihr Blick schliesst gewissermassen die Lider. Sie ist die Ruhelose, die<br />

Unerlöste, die »Verdammte«, die »ihr Heil« Suchende, 68 die, in der umgangssprachlichen<br />

Wendung, nicht »ein Auge auf jemanden werfen«, die sich vereinen<br />

69 kann nur mit dem Todgeweihten. 70<br />

66<br />

Theweleit, S. 170; Ehrenreich, Barbara/English, Deidre: Hexen, Hebammen und Krankenschwestern,<br />

4. Aufl., München: Frauenoffensive 1975, S. 17-26.<br />

67<br />

Er braucht dann aber den Begriff »verhext« (III, 752) selbst.<br />

M<br />

»Erlösung« sucht schon Fräulein von Osterloh - und »Ostern« meint ja auch Erlösung der<br />

Menschheit durch Christus. .<br />

"CG Jung bezeichnete den Tod »[s]ub specie aeternitatis« als »eine Hochzeit, ein Mysterium<br />

Coniunctionis. <strong>Die</strong> Seele erreicht sozusagen die ihr fehlende Hälfte, sie erlangt Ganzheit«<br />

(Erinnerungen, Träume, Gedanken von CG. Jung, aufgezeichnet und herausgegeben von Amela<br />

Jaffe, Zürich: Rascher 1962, S. 317.)<br />

70<br />

Vgl auch Faust I, V. 4190 ff.: »Es ist ein Zauberbild, ist leblos, ein Idol. / Ihm zu begegnen,<br />

ist nicht gut: / Vom starren Bück erstarrt des Menschen Blut, / Und er wird fast in Stein verkehrt;<br />

/ Von der Meduse hast du ja gehört.«


66<br />

<strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

Mit Ziemssen verschwindet die Mylendonk aus der Erzählung; nur nebenbei<br />

noch wird sie zwe<strong>im</strong>al erwähnt (III, 864, 981).<br />

III.<br />

Wie gering auch ihre manifeste Präsenz ist <strong>im</strong> Roman - ihre dauernde Hintergrundspräsenz<br />

(vielleicht ist die Haube ja auch ein siegfriedscher Tarnhelm,<br />

der sie unsichtbar werden lässt und mit märchenhafter Geschwindigkeit<br />

an jeden Ort befördert) macht sie indes zu einer grauen Eminenz -, so<br />

ist Adriatica von Mylendonk doch in vielem eine Gegenfigur zur Protagonistin<br />

Clawdia Chauchat. In charakteristischen Einzelheiten vertreten sie Gegenpole.<br />

Aber in manchem sind Gegenpole sich ja auch gleich. Betrachten<br />

wir also zuerst die Gemeinsamkeiten:<br />

- Beide sind »unfruchtbar« 71 , d. h. kinderlos; keine Mütter <strong>im</strong> engeren Sinn.<br />

Sie verkörpern nicht das Prinzip Hoffnung, sie weisen nicht in die Zukunft,<br />

sie sind Gegenwart bzw. Vergangenheit, nach ihnen kommt nichts<br />

mehr. <strong>Die</strong> Mylendonk ist eine Todesschwester. Sie gehört dem Totenreich<br />

an. Selbst unerlöst, erlöst sie nicht in die Liebe, sondern in den Tod. Auch<br />

Mme Chauchat gehört nicht dem Leben; vielmehr verschmilzt sie mit<br />

Hippe, dem Sensenmann.<br />

- Beide fallen gesellschaftlich aus dem Rahmen und sind »nicht korrekt«.<br />

- Beide sind (massig) krank. <strong>Die</strong> Dezenz ihrer Defekte lässt sie indes weitgehend<br />

unbehindert.<br />

- Beide bewegen sich leicht zwischen den verschiedenen Nationen und<br />

sind vielsprachig; daraus lässt sich, über die Internationalität hinaus, ein<br />

Anspruch auf allmütterliche Universalität ableiten.<br />

- Beide sind auf ältere, väterliche, künstlerische und kranke Männer bezogen<br />

(Maler Behrens, auch »Künstler der Auskultation« [III, 576]; Schauspieler<br />

Peeperkorn). Und doch sind beide <strong>im</strong> Grunde einsam.<br />

- Beide agieren als »Verführerinnen«, die Mylendonk (massig) aktiv als<br />

Kupplerin, die Chauchat passiv durch ihre Attraktivität. <strong>Die</strong>s macht sie<br />

zu femmes fatales, zu »Schicksalsfrauen«. Übrigens sind beide exklusiv<br />

und lassen auf sich warten.<br />

- Mythopoetisch sind beide Hermes-Figurationen.<br />

71 Zur Verbindung der »Unfruchtbarkeit« mit der Homosexualität - mit der sowohl Chauchat/<br />

Hippe wie die Mylendonk in Verbindung zu bringen sind - vgl. <strong>Thomas</strong> Sprecher: Ehe als Erlösung?,<br />

in: Vom »Zauberberg« zum »Doktor Faustus«. <strong>Die</strong> Davoser Literaturtage 1998, hrsg.<br />

von <strong>Thomas</strong> Sprecher, Frankfurt/Main: Klostermann 2000 (= <strong>Thomas</strong>-Mann-Studien, Bd. XXIII),<br />

S. 185-236,225.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong><br />

Beide haben Züge von Katia Mann übernommen. Wie Nietzsche 72 steckt<br />

auch Katia Mann in verschiedenen Zauberberg-Figuren, nicht in Mme<br />

Chauchat allein, 73 sondern auch in ihrer Gegenfigur. 74 Katia, die in der<br />

Familie »Mielein« genannt wurde, entspricht das Maskuline, Resolute,<br />

Tüchtige. Dann auch ihre Ungeduld 75 und ihre rasche und schnippische<br />

Sprechweise. 76 Dann ihre sprudelnde Vielsprachigkeit.<br />

72<br />

Vgl. Erkme Joseph: Nietzsche <strong>im</strong> »Zauberberg«, Frankfurt/Main: Klostermann 1996 (-<br />

<strong>Thomas</strong>-Mann-Studien, Bd. XIV).<br />

73<br />

Vgl. Hans Wysüng: »Der Zauberberg« - als Zauberberg, in: Das »Zauberberg«-Symposium<br />

1994 in Davos, hrsg. von <strong>Thomas</strong> Sprecher, Frankfurt/Main: Klostermann 1995 (= <strong>Thomas</strong>-<br />

Mann-Studien, Bd. XI), S. 43-57, 49. - Und ferner den auffälligen Fingerzeig (III, 196): »...<br />

Katjenka [...] heisst sie nun einmal best<strong>im</strong>mt nicht.«<br />

74<br />

Altersmässig entsprach sie zu Beginn der Niederschrift des Zauberberg etwa Mme Chauchat,<br />

an ihrem Ende etwa der Oberin.<br />

75<br />

Vgl. Erika Mann: Meine Mutter, Frau <strong>Thomas</strong> Mann, in: Mein Vater, der Zauberer, hrsg.<br />

von Irmela von der Lühe und Uwe Naumann, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996, S. 272-<br />

278, 274: »Eine gewisse Ungeduld [...] eignet dem Mielein [Katia Mann] überhaupt. Zwar hat<br />

sie so viel zu tun, dass sie <strong>im</strong>mer in Eile und nie befugt ist, Zeit irgend zu verschwenden.«<br />

76<br />

Zu verweisen ist auf Notizen, die <strong>Thomas</strong> Mann, auf Katia bezogen, für das geplante (und<br />

nie verwirklichte) Ehekapitel der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull gemacht hat, <strong>im</strong><br />

wesentlichen in den Jahren 1910-1914: »Sie spricht sehr rasch und undeutlich, aus Geringschätzung<br />

der Wichtigkeit dessen, was sie sagt.« (Hans Wysling: Narzissmus und illusionäre Existenzform<br />

Zu den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull, 2. Aufl., Frankfurt/Main: Klostermann<br />

1995 [= <strong>Thomas</strong>-Mann-Studien, Bd. V], S. 426. - S. 428: »Was liegt an mir?« (Vgl. III,<br />

234.) Dort auch die an Hans Castorp denken lassende Notiz: »Während ihrer Krankheit Stolz<br />

und Vergnügen über jeden Grad Fieber. Sie ruft ihn eigens und bringt ihn zur Frage. Dann mit<br />

triumphierendem Lächeln: >38 Grad!


68 <strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

Und nun die Unterschiede:<br />

Adriatica von Mylendonk<br />

Mittelalter, Altertum<br />

Haushälterin, Mutter<br />

Caritas<br />

Hund (Zerberus); Raubtier<br />

laut<br />

knöchern<br />

kalt<br />

Unterwelt<br />

hässlich, unsinnlich<br />

deutsch, Europa<br />

unverheiratet, »treu«, gebunden<br />

christlich<br />

»Heilige«, Maria<br />

Demeter, Vesta<br />

Bordellmutter, Kupplerin<br />

Clawdia Chauchat<br />

Gegenwart<br />

Geliebte<br />

eros<br />

Katze<br />

lautlos<br />

knochenlos, weich<br />

warm<br />

Oberwelt, Oberfläche<br />

schön, sinnlich<br />

russisch, Asien<br />

verheiratet, untreu, ungebunden<br />

heidnisch<br />

Venus (Tannhäuser), Isolde,<br />

Lucinde, Lilith etc.<br />

Persephone<br />

Hure<br />

Während die Mylendonk für Mittelalter und Altertum steht, repräsentiert<br />

Mme Chauchat die Gegenwart; sie spricht »Neuhochdeutsch« (III,<br />

491). Sie ist auch jünger an Jahren.<br />

Zwar stehen beide in Beziehung zu Hofrat Behrens. <strong>Die</strong> eine aber ist<br />

Haushälterin, die andere Geliebte. Allgemein n<strong>im</strong>mt die Mylendonk eher<br />

die Rolle einer Anstaltsmutter ein. Sie vertreten verschiedene Formen der<br />

Liebe: die eine den eros, die andere die Caritas. Allerdings entwickelt sich<br />

Mme Chauchat nach Peeperkorns Tod, die Entwicklung von <strong>Thomas</strong><br />

<strong>Manns</strong> eigener Ehe reflektierend, von der Geliebten zur Gefährtin, Kameradin,<br />

kurz: zur Schwester. 77 Auch schon ihre Beziehung zu Peeperkorn<br />

hat Krankenschwesterhaftes.<br />

Mme Chauchat verkörpert das Katzenhafte und trägt die Katze auch in<br />

ihrem Namen. <strong>Die</strong> Katzen gelten als Tiere, die sich nur um sich selbst<br />

kümmern. Der Narzissmus katzenhafter Frauen macht nach Freud gera-<br />

7 »Schwester« nennt auch Klaus Heinrich seine Braut Imma (II, 285, 337).<br />

<strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong><br />

de ihre Attraktivität für das andere Geschlecht aus. Demgegenüber entspricht<br />

die Oberin eher dem Hund, genauer: Zerberus, der nach der griechischen<br />

Mythologie den Eingang der Unterwelt bewacht. Der Hund ist<br />

ein Tier der Schwelle. <strong>Die</strong> Caniden galten auch als Führer in die Totenwelt.<br />

Daneben wird der Mylendonk auch etwas Raubtierhaftes zugeschrieben.<br />

<strong>Die</strong>s gleicht sie wiederum der Chauchat an, insofern auch Katzen<br />

Raubtiere sind.<br />

Adriatica ist laut und knöchern, Clawdia lautlos und weich.<br />

Ebenfalls in Mme Chauchats Namen enthalten ist das Element »warm«.<br />

Ihretwegen wandert Merkurius nach oben; der Mylendonk hingegen ist<br />

die Eiseskälte zugeordnet.<br />

<strong>Die</strong> Mylendonk vertritt die Unterwelt (wobei sie allerdings auch zwischen<br />

Ober- und Unterwelt vermittelt), die Chauchat die Oberwelt, um<br />

nicht zu sagen die Oberfläche, den schönen Schein.<br />

<strong>Die</strong> Mylendonk ist von einer bedrohlichen, geradezu dämonischen Hässlichkeit.<br />

Formenlos und schattenhaft, wirkt sie geschlechtslos bzw. maskulin.<br />

Mme Chauchat andererseits ist, in Hans Castorps Augen, aussergewöhnlich<br />

attraktiv, der Inbegriff der Weiblichkeit. Allerdings hat auch<br />

sie hermaphroditische Züge: dunkle St<strong>im</strong>me, schmale Hüften; leicht<br />

deckt sie sich mit Hippe.<br />

<strong>Die</strong> Mylendonk steht für »Deutschland« und »Europa« 78 , die Chauchat<br />

für »Russland«, den Osten, »Asien«.<br />

Fräulein von Mylendonk ist unverheiratet, ihrem Witwer Behrens aber<br />

treu; Mme Chauchat ist verheiratet, aber untreu. Sie ist es nicht nur dem<br />

fernen Ehemann gegenüber, sondern auch dem »Berghof«: Sie kommt<br />

und geht nach Lust und Laune. Sie kommt von Ost und reist nach West,<br />

nach Spanien, kehrt dann wieder zurück. Demgegenüber verkörpert die<br />

Mylendonk das starre, das Prinzip der Gebundenheit: Sie gehört dem<br />

»Berghof«.<br />

Während die Mylendonk durch das Kreuz über der Brust und ihre Ahnenschaft<br />

dem Christentum zugewiesen ist, steht die Chauchat für die<br />

Ungebundenheit des Heidentums.<br />

Nach der Mythologie des Mittelalters ist Mme Chauchat unverkennbar<br />

eine den Tannhäuser zitierende Venus-Inkarnation - und steht daneben<br />

in der Nachfolge einer ganzen Reihe von mythisch-literarischen Figuren<br />

wie Isolde, Lucinde, Lilith etc. -, während die keusche Schwester dem<br />

Typus der Heiligen entspricht: Sie dient den anderen, opfert sich auf und<br />

bringt so das Kunststück fertig, eine <strong>unter</strong>weltliche Überirdische zu sein.<br />

78 Hermes-Merkur ist auch Herr des Westh<strong>im</strong>mels.<br />

69


70<br />

<strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

Eine besondere Nähe gewinnt sie zu Maria, der Muttergottes, der christlichen<br />

Magna Mater, H<strong>im</strong>melskönigin und Virgo Celestis. Settembrinis Bezeichnung<br />

»unsere verehrungswürdige Frau« (III, 88) deutet darauf hin, auch<br />

ihre weisse Jungfräulichkeit, ihre Christlichkeit, vielleicht auch ihr Vorname.<br />

<strong>Die</strong> roten Haare sprechen nicht dagegen: <strong>Die</strong> bildenden Künstler haben die<br />

Madonna in allen Haarfarben geschätzt und ihr insbesondere auch rote Haare<br />

zugedacht. 79 Auch das Dreieck Behrens - Krokowski - Mylendonk weist<br />

ihr als einziger Frau diese Rolle zu: Der Hofrat n<strong>im</strong>mt in dem Sanatorium<br />

eine (fast) allgewaltige Stellung ein, und Krokowski wird explizit mit »dem<br />

Herrn Jesus am Kreuz« (III, 183) verglichen. 80 Dazu passen ihre schon erwähnte<br />

Menschenmutterschaft und die Assoziation mit der Maria <strong>im</strong> Ährenkranz.<br />

Zur Interpretation der Mylendonk als Maria-Figur lädt auch die Tatsache<br />

ein, dass literarische Mariendarstellungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts<br />

keineswegs selten waren. 81 Das Interesse konzentrierte sich nicht auf marianische<br />

Frömmigkeit. Stefan George (<strong>Die</strong> Bücher der Hirten und Preisegedichte,<br />

der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten, 1895), Rilke (Gebete<br />

der Mädchen zu Maria, 1898; Marienleben, 1912), Döblin (Maria<br />

Empfängnis, 1911), Brecht (Weihnachtsgedichte, 1922-26), Hesse (<strong>unter</strong> anderem<br />

Narziss und Goldmund, 1930), ihnen allen war vielmehr daran gelegen,<br />

mit Maria als literarischer Figur Grundhaltungen des Menschen zur<br />

Wirklichkeit überhaupt zu spiegeln. 82<br />

Auch <strong>im</strong> Frühwerk <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> - der einmal eine Mary sogar heiraten<br />

wollte (vgl. XI, 117 f.) und der die von Heinrich Mann geschenkte Madonna<br />

Murillos »als Staffeleibild auf meinem Tisch« aufstellte (29.12.1900 an Heinrich<br />

Mann) - kommt Maria <strong>im</strong>mer wieder vor. Gleich zu Beginn von Gefallen<br />

(1894) begegnen »wächserne Madonnen« (VIII, 11). Über Hanno Buddenbrooks<br />

Bett hängt die Sixtinische Madonna (1901; I, 703). Natürlich wird<br />

79<br />

Brigitte Kronauer: Maria wie Milch und Blut, in: Neue Zürcher Zeitung, Jg. 217, Nr. 292,<br />

14715.12.1996, S. 67 f.<br />

80<br />

Eine »Maria«, eine <strong>im</strong> Mittelpunkt stehende Mutter mit Kind, taucht dann <strong>im</strong> Schneetraum<br />

wieder auf (III, 681). Vgl. <strong>Thomas</strong> Sprecher: Davos <strong>im</strong> »Zauberberg«. <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> Roman<br />

und sein Schauplatz, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 1996, S. 286 f. - Es h'esse sich auch<br />

von einer christlichen Trinität - Adriatica-Hermes als Heiliger Geist - oder von einer<br />

alchemistischen Trinität - gebildet von König, Sohn und Hermes - sprechen. Vgl. Jung, S. 392 ff.<br />

81<br />

Und schon der Protestant Novalis hatte 1800, die christliche Symbolik frei und überkonfessionell<br />

benutzend und zu individueller Blickweise und Darstellung an<strong>im</strong>ierend, gedichtet:<br />

»Ich sehe dich in tausend Bildern / Maria, lieblich ausgedrückt, /Doch keins von allen kann dich<br />

schildern, / Wie meine Seele dich erblickt.«<br />

82<br />

Auch an Max Grads 1896 publizierte Novelle Madonna (in: Neue deutsche Rundschau, Jg.<br />

7,1896, S. 988-996) ist zu denken, die, worauf Hans Rudolf Vaget hingewiesen hat, eine literarische<br />

Vorlage für die Madonna aus Gladius Dei darstellte.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> 71<br />

in Buddenbrooks die Lübecker Marienkirche erwähnt (I, 589), und dann<br />

auch die Münchner Mariensäule (I, 308). Vielleicht darf noch das pikante<br />

Lied »That's Maria!« (I, 263) erwähnt werden, das Christian Buddenbrook<br />

so fasziniert und das übrigens schon in Luischen (1900; VIII, 176) vorkommt.<br />

83 In GUdius Dei (1902) wird eine wollüstige Madonna-Figur in der<br />

Kunsthandlung von M. Blüthenzweig zum Streitgegenstand. 84 In der Erzählung<br />

Be<strong>im</strong> Propheten (1904) heisst die Schwester des Propheten, als ob dessen<br />

<strong>im</strong>itatio Christi nicht schon augenfällig genug wäre, Maria Josefa (VIII,<br />

364). Im Zauberberg heisst die »Venus« Ziemssens, Castorps alter ego, Marusja,<br />

was »Marie« bedeutet (III, 104, 99).<br />

<strong>Die</strong> asketische, in leidende Spiritualität zurückgenommene Pietä 85 Naphtas<br />

ist geradezu seine Antwort auf die Sinnlichkeit von M. Blüthenzweigs<br />

Madonna. 86 Der Bezug der Pietä andererseits zu Schwester Adriatica wird,<br />

über die Christlichkeit hinaus, augenfällig durch ihre Hässlichkeit, ihr Alter<br />

- sie stammt aus dem 14. Jahrhundert (während die Oberin »nicht lange nach<br />

der Mitte des 13. Jahrhunderts« auf die Welt gekommen sein soll), es ist<br />

»Mittelalter, wie es <strong>im</strong> Buche steht« - und ihre rheinische Herkunft hergestellt.<br />

Ausserdem trägt auch die Gottesmutter eine Haube. Selbst die Farbe<br />

rot kommt vor: Der Sockel ist »rot verkleidet«, und beschrieben werden<br />

»Trauben geronnenen Bluts«. Schliesslich kann auch das Element »Kunst«<br />

genannt werden: Einem »Künstler« hat die Oberin ihre »Berghof«-Existenz<br />

zu verdanken (was ja auch <strong>im</strong> buchstäblichen Sinn gilt). <strong>Die</strong> »Geronnenheit«,<br />

überhaupt die Statue erinnern an »Versteinerung«, »Petrefakt«.<br />

- Im Horizont des Demeter-Persephone-Mythos stehen die Mylendonk<br />

und die Chauchat <strong>im</strong> Mutter-Tochter-Verhältnis zueinander. Sie sind von<br />

derselben Familie; ihre Identitäten decken sich teilweise.<br />

- Stellt die Mylendonk <strong>im</strong> Zeichen des Hermetisch-Vermittelnden wie des<br />

Mephistophelisch-Verführenden eine Kupplerin, eine Bordellmutter<br />

dar, 87 so wird Mme Chauchat zu ihrer Hure.<br />

83<br />

Vgl. auch Brief vom 26.1.1911 an Heinrich Mann.<br />

84<br />

VIII, 202 ff. Vgl. dazu auch Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II, Der<br />

Wanderer und sein Schatten, Nr. 73.<br />

85<br />

III, 544. Vgl. Bild und Text bei <strong>Thomas</strong> Mann, hrsg. von Hans Wysling <strong>unter</strong> Mitarbeit von<br />

Yvonne Schmidlin, Bern/München: Francke 1975, S. 176 f.; Sandt, S. 315.<br />

" VIII, 202. <strong>Die</strong> Gegenbewegung führt <strong>im</strong> späten Krull dann zum »königlichen Busen« Maria<br />

Pias (VII, 661).<br />

87<br />

Vgl. III, 580, wo Hofrat Behrens das Kuppelei-Motiv unvermittelt aufbringt. Indem er sich<br />

von den Eigentümern des Sanatoriums distanziert - er sei nicht »Hüttchenbesitzer« und »Kuppelonkel«,<br />

sondern nur Angestellter (III, 576, 580) -, schreibt er dem »Berghof« gerade Bordellcharakter<br />

zu. Und übrigens ist das Sanatoriumsgebäude mit einem Kuppelturm versehen.


72<br />

<strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

Ich komme zum Schluss und fasse zusammen. Adriatica von Mylendonk<br />

trägt auf der autobiographisch-realistischen Ebene Züge von Alyke von<br />

Tümpling und Katia Mann. Aber wer und wie <strong>im</strong>mer Frau von Tümpling<br />

war, und bei allem Respekt vor Katia <strong>Manns</strong> Modellhaftigkeit, Adriatica von<br />

Mylendonk ist unendlich viel mehr. Wer ausschliesslich realistisch liest, wie<br />

manche Kritiker es getan haben, verfehlt das Ziel, verfehlt das Spiel. Natürlich<br />

ginge es auf der realistischen Ebene gar nicht ohne: Ein Sanatorium<br />

braucht Schwestern. Aber die strukturelle Funktion der Mylendonk geht, so<br />

wenig Raum ihr in Beschreibung und Szene auch zugesprochen wird, weit<br />

über die Realistik hinaus. Sie ist wie Mme Chauchat, zu deren Gegenfigur sie<br />

wird, literarisch und mythologisch vielfältig verknüpft. Sie fügt sich in viele<br />

der Formen und Masken von Hermes, gleicht sich den Schicksalsgöttinnen<br />

an, der Allmutter, der Urmutter Istar, der ägyptischen Isis, der hellenischen<br />

Demeter, der römischen Vesta, der christlichen Maria. Im Roman <strong>unter</strong>hält<br />

sie zahlreiche Bedeutungsbrücken auch zu den Ärzten Behrens und Krokowski,<br />

zu Naphta und zu Settembrini, zu Hans Castorp, der auch ihr in<br />

seinen karitativen Anwandlungen (<strong>im</strong> Abschnitt »Totentanz«) nacheifert.<br />

Alle ihre Züge stehen verstärkend oder kontrapunktisch zu anderen semantischen<br />

Aussagen des Romans. Durch ihre Mephisto-Rolle und die Hexenhaftigkeit<br />

gehört sie zum Faust-Suhstrzx und hilft mit, den Roman an die<br />

grosse literarische Tradition anzuschliessen. Zudem steht sie zitatweise in der<br />

Tradition des vorgehenden <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong>chen <strong>Werk</strong>s. Selbst eine scheinbar<br />

so unscheinbare Person wie die Oberin ist also nicht bloss Trägerin auffälliger<br />

Merkmale, sondern, jenseits der reinen Karikatur und bei voll gewahrter<br />

realistischer, psychologischer und sozialer Plausibilität, eine hochdifferenzierte,<br />

zwischen vierfachen Bedeutungen oszillierende und dennoch konsistente<br />

Kunstfigur — auch sie also ein Beweis für <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> ungemeine<br />

Kunst der Figurenzeichnung.<br />

Renate Böschenstein<br />

Analyse als Kunst<br />

<strong>Thomas</strong> Mann und Sigmund Freud <strong>im</strong> Kontext der Jahrhundertwende<br />

I. »Also wissen Sie, der Onkel, er war der Mann von meiner Tant', die Sie da<br />

gesehen haben, hat damals mit der Tant' das Wirtshaus auf dem ;: " :: "kogel gehabt,<br />

jetzt sind sie geschieden, und ich bin schuld daran, dass sie geschieden<br />

sind, weil's durch mich aufgekommen ist, dass er's mit der Franziska hält<br />

[...].« <strong>Die</strong>ses Familiendrama erzählt die junge Bedienerin in einer Berghütte<br />

dem Wanderer, der dort die Aussicht geniesst. Woher stammt dieser Text?<br />

Aus einem der am Ende des 19. Jahrhunderts beliebten Bauernromane? -<br />

Keineswegs: Das Gespräch ist Teil einer medizinischen Fallgeschichte, einer<br />

der Studien über Hysterie., die Freud und sein Kollege und - damaliger -<br />

Freund Josef Breuer 1895 veröffentlichten. (GW I, 187) 1 - Zur Psychologie<br />

des Leidenden war der Titel eines - verlorenen - Manuskripts, das der junge<br />

<strong>Thomas</strong> Mann <strong>im</strong> gleichen Jahr verfasste, als »homme de lettres und Psycholog«,<br />

wie er sich verstand. (BrGr, 61, 68). »Still! Wir wollen in eine Seele<br />

schauen« beginnt die Erzählung Ein Glück, die er eine »Studie« nannte (VIII,<br />

349). Freud fühlte die Notwendigkeit, den literarischen Charakter seiner<br />

Fallgeschichten gegenüber seinen Fachkollegen zu legit<strong>im</strong>ieren:<br />

Ich bin nicht <strong>im</strong>mer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und<br />

Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt<br />

mich selbst noch eigentümlich, dass die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie<br />

Novellen zu lesen sind, und dass sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit<br />

entbehren. Ich muss mich damit trösten, dass für dieses Ergebnis die<br />

Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwordich zu machen ist als meine Vorliebe<br />

[...],<br />

und schon hier verweist er darauf, dass eine »eingehende Darstellung der seelischen<br />

Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist«, erlaubt,<br />

1 Freuds Texte werden in diesem Aufsatz mit der Sigle [GW Band, Seite] zitiert (= Sigmund<br />

Freud: Gesammelte <strong>Werk</strong>e, chronologisch geordnet, hrsg. von Anna Freud u. a., Frankfurt/Main:<br />

Fischer Taschenbuch Verlag 1999. <strong>Die</strong>se Ausgabe ist textgleich mit der Standardausgabe von<br />

1952).


THOMAS-MANN-STUDIEN<br />

HERAUSGEGEBEN VOM THOMAS-MANN-ARCHIV<br />

DER EIDGENÖSSISCHEN TECHNISCHEN HOCHSCHULE<br />

IN ZÜRICH<br />

SECHSUNDZWANZIGSTER BAND<br />

LITERATUR UND KRANKHEIT<br />

IM FIN-DE-SIECLE<br />

(1890-1914)<br />

THOMAS MANN IM EUROPÄISCHEN KONTEXT<br />

DIE DAVOSER LITERATURTAGE 2000<br />

HERAUSGEGEBEN VON THOMAS SPRECHER<br />

II« »III<br />

VITTORIO KLOSTERMANN • FRANKFURT AM MAIN VITTORIO KLOSTERMANN • FRANKFURT AM MAIN


Redaktion und Register: Katrin Bedenig<br />

<strong>Die</strong> Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme<br />

Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei<br />

Der Deutschen Bibliothek erhältlich.<br />

© Vittorio Klostermann GmbH Frankfurt am Main 2002<br />

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung.<br />

Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestartet, dieses <strong>Werk</strong> oder Teile in<br />

einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren zu verarbeiten,<br />

zu vervielfältigen und zu verbreiten.<br />

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier @isoa706<br />

Satz: bLoch Verlag, Frankfurt am Main<br />

Druck: Hubert & Co., Göttingen<br />

Printed in Germany<br />

ISBN 3-465-03163-6<br />

INHALT<br />

Vorbemerkung 7<br />

CHRISTIAN VIRCHOW: Zur Eröffnung 9<br />

JOCHEN EIGLER: <strong>Thomas</strong> Mann - Ärzte der Familie und Medizin<br />

in München - Spuren in Leben und <strong>Werk</strong> (1894-1925) 13<br />

THOMAS SPRECHER: <strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong><br />

<strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> <strong>unter</strong> besonderer Berücksichtigung<br />

von Adriatica von Mylendonk 35<br />

RENATE BÖSCHENSTEIN: Analyse als Kunst. <strong>Thomas</strong> Mann<br />

und Sigmund Freud <strong>im</strong> Kontext der Jahrhundertwende 73<br />

VOLKER ROELCKE: Psychiatrische Kulturkritik um 1900 und<br />

Umrisse ihrer Rezeption <strong>im</strong> Frühwerk <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> 95<br />

HELMUT KOOPMANN: Krankheiten der Jahrhundertwende <strong>im</strong><br />

Frühwerk <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> 115<br />

THOMAS RÜTTEN: Krankheit und Genie. Annäherungen an<br />

Frühformen einer <strong>Manns</strong>chen Denkfigur 131<br />

CHRISTIAN VIRCHOW: Das Sanatorium als Lebensform. Über<br />

einschlägige Erfahrungen <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> 171<br />

PETER PÜTZ: Das Sanatorium als Purgatorium 199<br />

DIETRICH VON ENGELHARDT: Neurose und Psychose in der<br />

Medizin um 1900 213<br />

INGE JENS: <strong>Thomas</strong> Mann. Auszeichnung durch Krankheit 233<br />

HELMUT KOOPMANN: Als Nachrede ein Interview 253

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