Die Krankenschwesterfiguren im frühen Werk Thomas Manns unter ...

56 Thomas Sprecher Die Krankenschwesterfiguren im frühen Werk Thomas Manns 57
bei Mme Chauchat, bei der er (fast wie einst im Schulhof mit Hippe) die
Schule der Liebe durchläuft, und gegenüber den Pädagogen Settembrini und
Naphta, wie Castorp ja überhaupt im pädagogisch-hermetischen Raum des
»Berghofs« sich als Schüler aufführt; zuerst als einer, der sitzen gebheben ist
und nun den Vorteil geniesst, dass von ihm nichts mehr erwartet wird (III,
116), dann als einer, der, aus der Erwartungslosigkeit heraus, dies und das zu
lernen bestrebt ist.
Die Schwester will weiter wissen, wo er sein Thermometer habe. Er antwortet,
er habe keins, er sei ja gesund. Diese Antwort wischt sie mit einem
»Schnickschnack« vom Tisch, und ohne zu fragen, kramt sie aus ihrer
schwarzen Ledertasche zwei Thermometer hervor. »>Dieser hier»kostet drei Franken fünfzig und der hier fünf Franken. Besser fahren Sie
natürlich mit dem zu fünf. Das ist etwas fürs Leben, wenn Sie ordentlich
damit umgehen.Abgemacht!< quäkte die Oberin.«
Dieses »Abgemacht!« klingt nach einer Verschreibung. Es erinnert an Thomas
Manns frühe Erzählung Der Tod (1897), wo das dreifache »Abmachen«
heisst, sich dem Tod auszuliefern (VII, 74 ff.; vgl. auch VIII, 47). Und es
erinnert natürlich an den faustischen Teufelspakt. In der Tat, dieser Erwerb
ist »eine wichtige Anschaffung« und »etwas fürs Leben«. Das Leben ist sein
Mass. So etwas kauft man nur einmal im Leben, so wie man nur einmal in ein
Kloster eintritt (vgl. III, 272) oder nur einmal stirbt. Wer ein Thermometer
erwirbt, tut etwas Einmaliges, nie Wiederholtes, etwas Schicksalhaftes. Der
Erwerb ist denn auch ein bedeutender Akt im Leben Castorps. Er adelt ihn
ein für allemal zum Kranken.
Nun steht »Krankheit«, »Fieber« ja immer auch für Sexualität, und so hat
das ganze Gespräch eine nur ganz knapp in den Schranken der Latenz gehaltene
sexuelle Komponente. Die Oberin, die zum Mephisto wird, verkauft
Hans Castorp ein rotes phallisches Gerät. Sie verkauft ihm, kurz, einen Phallus
— der Phallus ist ja ein Hermes-Zeichen —, sie verkauft ihm Potenz. Sie
rüstet ihn mit einem Genital aus. Sie gibt ihm die männliche Sexualität; so
wie ihm Mme Chauchat dann ihre weibliche geben wird. Das Thermometer,
giftigen Inhalts, aber »[sjchmuck wie ein Geschmeide« und »zierlich«, entspricht
dem gleichfalls phallisch konnotierten Bleistift der Chauchat, einem
»Galanteriesächelchen« 53 , wie der tödlichen Spritze Peeperkorns - »Galanterieware«
auch sie (III, 865). Das nicht recht geheure schwarze Leder, aus
dem die weisse Schwester ihre Gaben hervorholt, eine Büchse der Pandora,
weckt Assoziationen wie Animalität, Unterwelt, auch »Domina« und »Sado-
Masochismus«. Schwarz ist die Farbe der Unterwelt, der Nacht, der Hässlichkeit,
des »Herrs der schwarzen Seelen«; und Dr. Krokowskis.
Mit der Bezahlung, meint die Schwester, eile es nicht, »es kommt auf die
Rechnung« (III, 236). Auch das tönt reichlich ominös. Es heisst, anders, in
bedrohlicher Wendung gesagt: »Die Rechnung kommt noch.« Es korrespondiert
der befremdlichen Mitteilung des seltsamen Gondoliers ohne Konzession
an Gustav von Aschenbach: »>Sie werden bezahlend« (VIII, 466)
Wie zuvor, als die Oberin, bevor sie ins Zimmer trat, sich zurücklehnte,
nimmt sie Castorp das Gerät nochmals aus der Hand. Es ist wie ein »recouler
pour mieux sauter«. »>Geben Sie herwir wollen ihn erst noch recht kleinmachen, ganz hinunterjagen
- so. [...] Wird schon steigen, wird schon emporwandern, der Merkurius!Merkurius<
amüsierte mich.« Wenn die Oberin vom Merkurius statt einfach vom Thermometer
spricht, wird wieder das ganze, unendlich reiche Leitmotiv-Gewebe
angerührt, das im Zauberberg das Hermetische ausmacht, und über die
Mythologie hinaus hat die Erklärung der Schwester auch alchemistisch-medizinische
und sexuelle Beiklänge. Hermes - dem der römische Merkur entspricht
- ist ja vieles in einem. Er ist der Gott des Handels und Schutzherr
53 III, 464. Auch er kommt aus einem Ledertäschchen (ebd.). Und schon Hippes Crayon war
aus der Tasche genommen worden (III, 173).