05.05.2013 Aufrufe

Die Krankenschwesterfiguren im frühen Werk Thomas Manns unter ...

Die Krankenschwesterfiguren im frühen Werk Thomas Manns unter ...

Die Krankenschwesterfiguren im frühen Werk Thomas Manns unter ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

44 <strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> 45<br />

führt. 20 <strong>Die</strong> Mylendonk entspricht Lachesis, der »Massnehmenden« bzw.<br />

»Massgebenden«, der Zuteilenden. (Vielleicht liesse sich auch sagen, dass sie,<br />

indem sie, worauf noch eingegangen wird, Thermometer verkauft, also das<br />

<strong>im</strong> »Berghof« massgebliche Instrument der Zeitmessung, indirekt überhaupt<br />

erst Zeit und damit Leben verleiht.) <strong>Die</strong> Deutung der Mylendonk als Schicksalsgöttin<br />

wird erhärtet durch Behrens' ironisch-beiläufige Bezeichnung<br />

»Küchenfee«. 21 Denn Feen sind die romantische Erscheinungsform der<br />

Schicksalskünderinnen. Etymologisch geht das Wort auf hx..fata, Schicksalsgöttin,<br />

zurück, das zu fatum, Schicksal, gehört.<br />

Ein Wort noch zum Rauchen: Vom Romanganzen her wissen wir, dass<br />

das Rauchen sexuell eminent aufgeladen ist, bei Castorp mit seinen Maria<br />

Mancinis, aber natürlich auch bei dem Witwer Behrens. <strong>Die</strong> Oberin überwacht<br />

(und beschränkt, »kastriert«) in psychoanalytischer Deutung also<br />

nicht nur sein Raucher-, sondern auch sein Sexualleben; sie schützt ihn vor<br />

allzuviel tristitia. 22<br />

Dass der Hofrat so nun vor dem Laster und der Schwermut bewahrt wird,<br />

müsste den Beifall Settembrinis finden. Doch Settembrini lobt die Schwester<br />

nicht. Er nennt sie spöttisch »unsere verehrungswürdige Frau« und fragt<br />

dann Castorp:<br />

>Sie kennen auch unsere Oberin schon? Nicht? Aber das ist ein Fehler! Sie tun unrecht,<br />

sich nicht um ihre Bekanntschaft zu bewerben. Aus dem Geschlechte derer<br />

von Mylendonk, mein Herr! Von der Mediceischen Venus <strong>unter</strong>scheidet sie sich dadurch,<br />

dass sie dort, wo sich bei der Göttin der Busen befindet, ein Kreuz zu tragen<br />

pflegt...< (III, 88)<br />

20 Den griechischen Moiren entsprechen in der germanischen Mythologie die Nornen, die<br />

<strong>Thomas</strong> Mann natürlich schon aus Götterdämmerung kannte.<br />

21 III, 365. Auch die aussergewöhnliche, gehe<strong>im</strong>nisvolle, rothaarige Gerda Buddenbrook wird<br />

»Fee« genannt (I, 427); die kalte Mutter, der Hanno die Inspiration zur tödlichen Musik verdankt.<br />

Sodann ist an die andere, frühere Gerda, die femme fatale aus Der kleine Herr Friedemann,<br />

zu denken: rotblond, sommersprossig, gefährlich, mit Jagd und Teufel assoziiert (VIII,<br />

85). Sie ist kinderlos und entbehrt ausdrücklich »jedes weiblichen Reizes« (VIII, 84).<br />

12 Natürlich lässt sich die Schwermut von Behrens auch realistisch erklären. <strong>Die</strong> private Situation<br />

des Witwers ist eher traurig, seine Angestelltenfunktion zwingt ihn, als Anstaltsleiter zu<br />

tolerieren, was er als Arzt verbieten müsste, und sehr wohl weiss er auch um die beschränkte<br />

Wirkung seiner medizinischen Künste. Viele Ärzte <strong>im</strong> Frühwerk <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> <strong>unter</strong>liegen<br />

einem «nachsichtigen Pess<strong>im</strong>ismus« (VIII, 216). Ihre Einsicht in die (medizinhistorisch gegebene)<br />

Unheilbarkeit der behandelten Krankheiten führt sie dem Fatalismus nahe. Mit ratverlegener<br />

Bonhomie und M<strong>unter</strong>keit drehen sie am Mühlrad der Sinn- und Hoffnungslosigkeit und verschreiben<br />

faute de mieux »ein wenig Taube, - ein wenig Franzbrot« (1,37). Der Spezialist weiss<br />

keine bessere Therapie als der Hausarzt (VIII, 220,248).<br />

Zunächst muss es als Fehler bezeichnet werden, dass Castorp dazu aufgefordert<br />

wird, die Oberin kennenzulernen. Weshalb sollte ein Gesunder von sich<br />

aus der Sphäre der Krankheit sich nähern? Er könnte es ja nicht einmal: Nur<br />

als Kranker, wie später zu lernen ist, kommt man der Schwester nahe. Der<br />

Rat geht also indirekt paradoxerweise dahin, krank zu werden; darin liegt<br />

seine objektive Ironie.<br />

Um die Bekanntschaft der Oberin muss man sich bewerben, wird gesagt.<br />

Nicht jedermann hat die Ehre. Auch damit begeht Settembrini einen Fehler.<br />

Er <strong>unter</strong>schätzt die patrizischen Instinkte Castorps, der Settembrinis Ironie<br />

nicht teilt, vielleicht auch nicht versteht, aber jetzt <strong>im</strong> Grunde tatsächlich<br />

nicht anders kann, als sich um die Bekanntschaft der Dame zu bewerben.<br />

Erstmals genannt wird nun ihr Name: von Mylendonk. Sie entstammt also<br />

einem alten, übrigens in Westfalen tatsächlich vorkommenden Adelsgeschlecht.<br />

23 Sie ist »von Familie« (I, 452; VII, 502; VIII, 382, 394).<br />

Settembrinis Spässchen mit dem fehlenden Busen und dem Kreuz gehört<br />

zu jenen Stellen, die man ins Felde geführt hat für die Behauptung, der Erzähler<br />

oder gar der Autor mache sich über seine Figuren lustig. Ich will sie<br />

hier auf sich beruhen lassen. Aus text<strong>im</strong>manenter Sicht ist die Frage, ob der<br />

Autor seine Figuren denunziere, von vornherein uninteressant. Vielmehr<br />

muss danach gefragt werden, wieweit eine Figurenzeichnung aus dem Roman<br />

heraus kompositioneil motiviert ist bzw. sich motivieren liesse. Das<br />

fragliche Spässchen nun steht nicht um seiner selbst willen da. Es stammt,<br />

wohlgemerkt, nicht vom Erzähler, sondern von Settembrini und charakterisiert<br />

zunächst diesen selbst: als krankheitshalber verhinderten, doch mauleifrigen<br />

Lebemann, als gebildeten Spötter, als boshaften und auch etwas<br />

oberflächlichen Gegner des medizinischen Personals. Indem er sich gegen<br />

sie stellt, stellt er die Oberin auf seine Gegenseite: Sie ist nicht weltlich, oberwelthch,<br />

nicht dem Aufklärerisch-Klassisch-Gesunden zugetan.<br />

<strong>Die</strong> kompositionelle Funktion der Aussage liegt in ihrem Beitrag zur mythopoetischen<br />

Topographie. <strong>Die</strong> Mylendonk ist keine Venus. Sie hat keinen<br />

Busen, dafür ein Kreuz. Erfahrene <strong>Thomas</strong>-Mann-Leser horchen auf: Ob sie<br />

zum Typus jener Figuren gehört, die faustischem Duft, der deutsch-<br />

Dürer'schen Sphäre von »Kreuz, Tod und Gruft« (X, 231) zuzuordnen sind?<br />

Jedenfalls verbindet sie das Kreuz mit dem Christentum. Und es macht sie<br />

zu einem Opfer. Ihr um den Busen reduzierter Körper stellt eine leibhaftige<br />

23 Gemäss freundlicher Auskunft von Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Sonderegger (Zürich) vom 27.<br />

September 2000 geht der Familienname von Mylendonk als sogenannter Herkunftsname auf die<br />

ehemalige reichsunmittelbare Herrschaft Mylendonk am Flusse Niers (rechter Nebenfluss der<br />

Maas) in der ehemaligen preussischen Provinz Westfalen zurück, ursprünglich territorial umschlossen<br />

vom Erzstift Köln und dem Herzogtum Jülich.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!