72 <strong>Thomas</strong> Sprecher Ich komme zum Schluss und fasse zusammen. Adriatica von Mylendonk trägt auf der autobiographisch-realistischen Ebene Züge von Alyke von Tümpling und Katia Mann. Aber wer und wie <strong>im</strong>mer Frau von Tümpling war, und bei allem Respekt vor Katia <strong>Manns</strong> Modellhaftigkeit, Adriatica von Mylendonk ist unendlich viel mehr. Wer ausschliesslich realistisch liest, wie manche Kritiker es getan haben, verfehlt das Ziel, verfehlt das Spiel. Natürlich ginge es auf der realistischen Ebene gar nicht ohne: Ein Sanatorium braucht Schwestern. Aber die strukturelle Funktion der Mylendonk geht, so wenig Raum ihr in Beschreibung und Szene auch zugesprochen wird, weit über die Realistik hinaus. Sie ist wie Mme Chauchat, zu deren Gegenfigur sie wird, literarisch und mythologisch vielfältig verknüpft. Sie fügt sich in viele der Formen und Masken von Hermes, gleicht sich den Schicksalsgöttinnen an, der Allmutter, der Urmutter Istar, der ägyptischen Isis, der hellenischen Demeter, der römischen Vesta, der christlichen Maria. Im Roman <strong>unter</strong>hält sie zahlreiche Bedeutungsbrücken auch zu den Ärzten Behrens und Krokowski, zu Naphta und zu Settembrini, zu Hans Castorp, der auch ihr in seinen karitativen Anwandlungen (<strong>im</strong> Abschnitt »Totentanz«) nacheifert. Alle ihre Züge stehen verstärkend oder kontrapunktisch zu anderen semantischen Aussagen des Romans. Durch ihre Mephisto-Rolle und die Hexenhaftigkeit gehört sie zum Faust-Suhstrzx und hilft mit, den Roman an die grosse literarische Tradition anzuschliessen. Zudem steht sie zitatweise in der Tradition des vorgehenden <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong>chen <strong>Werk</strong>s. Selbst eine scheinbar so unscheinbare Person wie die Oberin ist also nicht bloss Trägerin auffälliger Merkmale, sondern, jenseits der reinen Karikatur und bei voll gewahrter realistischer, psychologischer und sozialer Plausibilität, eine hochdifferenzierte, zwischen vierfachen Bedeutungen oszillierende und dennoch konsistente Kunstfigur — auch sie also ein Beweis für <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> ungemeine Kunst der Figurenzeichnung. Renate Böschenstein Analyse als Kunst <strong>Thomas</strong> Mann und Sigmund Freud <strong>im</strong> Kontext der Jahrhundertwende I. »Also wissen Sie, der Onkel, er war der Mann von meiner Tant', die Sie da gesehen haben, hat damals mit der Tant' das Wirtshaus auf dem ;: " :: "kogel gehabt, jetzt sind sie geschieden, und ich bin schuld daran, dass sie geschieden sind, weil's durch mich aufgekommen ist, dass er's mit der Franziska hält [...].« <strong>Die</strong>ses Familiendrama erzählt die junge Bedienerin in einer Berghütte dem Wanderer, der dort die Aussicht geniesst. Woher stammt dieser Text? Aus einem der am Ende des 19. Jahrhunderts beliebten Bauernromane? - Keineswegs: Das Gespräch ist Teil einer medizinischen Fallgeschichte, einer der Studien über Hysterie., die Freud und sein Kollege und - damaliger - Freund Josef Breuer 1895 veröffentlichten. (GW I, 187) 1 - Zur Psychologie des Leidenden war der Titel eines - verlorenen - Manuskripts, das der junge <strong>Thomas</strong> Mann <strong>im</strong> gleichen Jahr verfasste, als »homme de lettres und Psycholog«, wie er sich verstand. (BrGr, 61, 68). »Still! Wir wollen in eine Seele schauen« beginnt die Erzählung Ein Glück, die er eine »Studie« nannte (VIII, 349). Freud fühlte die Notwendigkeit, den literarischen Charakter seiner Fallgeschichten gegenüber seinen Fachkollegen zu legit<strong>im</strong>ieren: Ich bin nicht <strong>im</strong>mer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, dass die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und dass sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muss mich damit trösten, dass für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwordich zu machen ist als meine Vorliebe [...], und schon hier verweist er darauf, dass eine »eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist«, erlaubt, 1 Freuds Texte werden in diesem Aufsatz mit der Sigle [GW Band, Seite] zitiert (= Sigmund Freud: Gesammelte <strong>Werk</strong>e, chronologisch geordnet, hrsg. von Anna Freud u. a., Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1999. <strong>Die</strong>se Ausgabe ist textgleich mit der Standardausgabe von 1952).
THOMAS-MANN-STUDIEN HERAUSGEGEBEN VOM THOMAS-MANN-ARCHIV DER EIDGENÖSSISCHEN TECHNISCHEN HOCHSCHULE IN ZÜRICH SECHSUNDZWANZIGSTER BAND LITERATUR UND KRANKHEIT IM FIN-DE-SIECLE (1890-1914) THOMAS MANN IM EUROPÄISCHEN KONTEXT DIE DAVOSER LITERATURTAGE 2000 HERAUSGEGEBEN VON THOMAS SPRECHER II« »III VITTORIO KLOSTERMANN • FRANKFURT AM MAIN VITTORIO KLOSTERMANN • FRANKFURT AM MAIN