05.05.2013 Aufrufe

Die Krankenschwesterfiguren im frühen Werk Thomas Manns unter ...

Die Krankenschwesterfiguren im frühen Werk Thomas Manns unter ...

Die Krankenschwesterfiguren im frühen Werk Thomas Manns unter ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

60<br />

<strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

konnte nicht mehr dasselbe sein, offenbar war dies harmlose, aber entstellende<br />

Leiden in ihrer Verfassung gelegen«. 58<br />

Es ist bekannt, dass <strong>Thomas</strong> Mann viele seiner Figuren, vor allem der Nebenfiguren,<br />

mit einem markanten, oft skurrilen physiognomischen Detail<br />

ausgestattet hat. Es hat dies verschiedene erzählerische Funktionen. Man erkennt<br />

den Träger des Details wieder, und meist äussert dieses komisch-karikierende<br />

Wirkungen. In vielen Fällen aber, und so auch be<strong>im</strong> Gerstenkorn,<br />

geht es um mehr als um Belustigung des Publikums. Das signifikante Kennzeichen<br />

setzt stilistisch das Immergleiche um, an das sich das Leben hält.<br />

Manchmal wachsen ihm leitmotivische Gehalte zu. Im Wiedererkennen liegt<br />

dann das Erkennen eines Neuen. Das Gerstenkorn 59 nun, Hordeolum, ist ein<br />

Abszess der Liddrüsen. Eitererreger rufen eine Entzündung der Haarbalgdrüse<br />

einer W<strong>im</strong>per hervor. Bei einer chronischen Entzündung bildet sich<br />

ein erbsengrosser Knoten am Lid. Das Gerstenkorn <strong>unter</strong>scheidet Adriatica<br />

von Mylendonk von allen anderen Oberinnen der Welt. Es gehört konstitutionell<br />

zu ihr, wie das Sanatorium konstitutionell zum Flachland gehört. Es<br />

weist sie selbst als krank aus; das verbindet sie mit Behrens, dem »kranken<br />

Arzt« 60 . Und es verbindet sie mit Mme Chauchat. Sie ist dieser Kranken<br />

Schwester. <strong>Die</strong> Art der Krankheit weist wieder auf die Augenproblematik.<br />

Als solches bedeuten »Gerste« und »Korn« und gar das <strong>im</strong>mer nachwachsende,<br />

das »reife« Korn den Inbegriff der Fruchtbarkeit. Das Korn ist das<br />

Attribut Demeters und auch der Muttergottes. 61 Aber Adriatica ist die Negation<br />

der nährenden Mutter. Ihre Brust gibt nichts her, und das wachsende<br />

Korn ist bei ihr eine Krankheit - Unfruchtbarkeit auf allen Etagen. Sie ist<br />

nicht kerngesund, sondern kornkrank; »Korn«, trägt also, wie »Ke<strong>im</strong>«, positive<br />

und negative Valenzen in sich. Ihr Korn wird mit »Überfluss« verbunden<br />

(»zum Überfluss« sitze ein Gerstenkorn an ihren entzündeten Augen;<br />

III, 234), was aber gerade nicht <strong>im</strong> Sinne der Fülle, sondern der Überflüssigkeit<br />

gemeint ist. Den Sinn der Fülle und - wörtlich - des Überflusses treffen<br />

wir dann bei Peeperkorn, der das Korn ja schon <strong>im</strong> Namen trägt und während<br />

seiner biblischen Abendgesellschaft nach »ein wenig Brot« verlangt (III,<br />

764). Das Gläschen mit dem »Korndestillat«, heisst es dann, »war so voll<br />

58 III, 294. <strong>Die</strong>s bestätigt sich ganz am Schluss des Romans, also Erzähljahre später, als die<br />

Mylendonk erneut ein hochreifes Gerstenkorn trägt (III, 981).<br />

59 Das Gerstenkorn wird in der Medizin - nicht <strong>im</strong> Roman - auch als »Hagelkorn« bezeichnet;<br />

was wieder mit »Eis« zu assoziieren wäre.<br />

60 Vgl. <strong>Thomas</strong> Sprecher: Kur-, Kultur- und Kapitalismuskritik <strong>im</strong> »Zauberberg«, in: Auf<br />

dem Weg zum »Zauberberg«. <strong>Die</strong> Davoser Literaturtage 1996, hrsg. von <strong>Thomas</strong> Sprecher, Frankfurt/Main:<br />

Klostermann 1997 (= <strong>Thomas</strong>-Mann-Studien, Bd. XVI), S. 187-249,200 f.<br />

61 Ein Beispiel für die Darstellungsform »Maria <strong>im</strong> Ährenkleid« ist bei Sandt, S. 133, abgebil-<br />

det.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> 61<br />

geschenkt, dass das >Brot< an allen Seiten daran her<strong>unter</strong>lief« (III, 765). Eine<br />

Verbindung mit dem Gerstenkorn etablieren sodann auch die Brotkugeln,<br />

die Mme Chauchat unfeinerweise dreht. 62<br />

Expressis verbis zusammengeführt werden Fräulein von Mylendonk und<br />

Mme Chauchat, als Castorp erfahren muss, dass der Hofrat letztere malt.<br />

Mit seinem künstlerischen Stilgefühl hat Settembrini es ihm gegenüber einst<br />

erklärt, dass Behrens die Mylendonk als Oberin akzeptierte. Nun ist es an<br />

Castorp, die Oberin in die Kunst einzubeziehen. Wenn der Hofrat bei sich<br />

zu Hause male, müsse man hoffen, dass »wenigstens Fräulein von Mylendonk<br />

bei den Sitzungen anwesend« sei (III, 292). <strong>Die</strong> Mylendonk soll also<br />

Aufpasserin sein. Sie ist es schon, aber eben in anderem Sinn, als Castorp es<br />

wünscht. Da sie ihre Augen überall hat, kann ihr das Tun des Hofrats nicht<br />

verborgen bleiben. Das Malen ist ein erotischer, hier ein heterosexueller Akt,<br />

den die Oberin zulässt, <strong>im</strong> Gegensatz zum zu vielen, für Autoerotik stehenden<br />

Zigarrenrauchen. Denn anders als das übermässige Rauchen macht das<br />

»Malen« den Hofrat offenbar nicht schwermütig.<br />

Wie sehr das Rauchen libidinös aufgeladen ist, zeigt sich, als der Hofrat<br />

einmal zu viel raucht. Er sei, wie er bei einem Männergespräch über Zigarren<br />

Hans Castorp mitteilt, in eine Angst gestürzt worden, wie sie den »Bengel«<br />

befalle, »der zum erstenmal ein Mädchen haben soll« (III, 355). Beinahe sei<br />

er >»geschmolzen, mit wogendem Busen wollte ich abtanzen. Aber die Mylendonk<br />

brachte mich mit ihren Anwendungen aus der St<strong>im</strong>mung. Eiskompressen,<br />

Bürstenfrottage, eine Kampferinjektion, und so blieb ich der<br />

Menschheit erhaltene« Auch hier wieder wirkt die Schwester erkältend. Ihr<br />

Eis stört und stoppt das heisse Tanzvergnügen.<br />

Versteckt sie ihm den Tabak, so hält er umgekehrt eine Kaffeemühle mit<br />

obszöner Ornamentik vor ihr verschlossen (III, 365) - sie könnte sich, wie er<br />

geltend macht, »>die Augen daran verderben

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!