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Die Krankenschwesterfiguren im frühen Werk Thomas Manns unter ...

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50 <strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

<strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> 51<br />

<strong>Die</strong> passive Formulierung »klopfte es bei ihm, und es ergab sich« deutet an,<br />

dass da etwas Schicksal- 34 und Märchenhaftes, jedenfalls Bedeutendes passiert.<br />

Nun hat Castorp es geschafft. Objektiv verheisst der Besuch der Oberin<br />

Ungutes. Denn Zeit hat sie ja nur für Kranke. Ihre Tüchtigkeit und<br />

Flüchtigkeit entspricht der Flinkheit, Unbeständigkeit, Wandelbarkeit des<br />

Götterboten Hermes; nebenbei antizipiert es die zweckmässigen Irrläufe<br />

Hans Castorps <strong>im</strong> Krieg. N<strong>im</strong>mt man das Verb »auftauchen« wörtlich, so<br />

lassen sich damit die schon genannten Sinngehalte von Meer und Unterwelt<br />

verbinden. Ihre St<strong>im</strong>me ist unvorteilhaft: Sie quäkt, wie eine Kröte.<br />

Weiter heisst es:<br />

... durch seinen Katarrh herbeigezogen, klopfte sie knöchern hart und kurz an seine<br />

Stubentür und trat ein, fast bevor er Herein gesagt, indem sie sich auf der Schwelle<br />

noch einmal zurückbeugte, um sich der Z<strong>im</strong>mernummer gewiss zu machen. >VierunddreissigEs st<strong>im</strong>mt. [...]<<br />

Es fällt auf, dass der Akt des Klopfens zwe<strong>im</strong>al Erwähnung findet. Be<strong>im</strong><br />

zweitenmal nun in aktiver Wendung: Es ist die Oberin, die da »knöchern<br />

hart und kurz« an die Türe klopft. In der Vorstellung (knöchern 35 - Knochen<br />

- Skelett) klopft noch jemand mit: der bei jedem einmal klopft. 36 Das Klopfen<br />

der Äbtissin Mylendonk steht in Verbindung auch mit jenem der weltentsagenden<br />

Novizin (III, 25); und mit dem Klopfen des Hofrats (III, 250).<br />

Es ist der Rhythmus der Zauberbergmusik, zu der Mme Chauchat die Melodie<br />

- das »Miauen« 37 - beiträgt. Es ist das Schlagzeug der Totentanzmusik.<br />

<strong>Die</strong> Schwester auf der Schwelle - ein hermetischer Ort des Übergangs; zu<br />

Hermes' Aufgaben gehörte das Türhüten. Auch Mme Chauchat, eine weitere<br />

Hermes-Figuration, wird, als sie Castorp auffordert, ihr den Bleistift zurückzubringen,<br />

»rückwärts gewandt« auf der Schwelle stehen (III, 478). <strong>Die</strong><br />

Rück-Bewegung der Versicherung, die Überprüfung der Z<strong>im</strong>mernummer<br />

lenkt den Blick sodann auf die nicht zufällige Zahl. 38 Castorp ist in diesem<br />

34 Angespielt wird auch auf Beethovens Wort über das Klopfmotiv in seiner Fünften Symphonie<br />

(»So pocht das Schicksal an die Pforten«). Vgl. VII, 317, 366.<br />

35 Das Knöcherne steht in direkter Verbindung mit dem demeterkultischen Kindsopfer <strong>im</strong><br />

Schneetraum und den «spröden Knöchlein« (III, 683) des zerrissenen Kindes.<br />

36 In Tristan pocht Rätin Spatz an die Stubentür, als sie die Schreckensmeldung über den Gesundheitszustand<br />

Gabriele Klöterjahns bringt und so deren Tod ankündigt (VIII, 259).<br />

37 III, 491. Ihre Sprache wird gerade auch als »knochenlos« bezeichnet (III, 163).<br />

38 34 ist eine zusammengesetzte Zahl, deren Quersumme der leitmotivischen Siebenzahl entspricht.<br />

Vgl. Sandt, S. 45 ff., 304. Dort noch weitere, erwas spekulative kabbalistische Deutungen.<br />

-Vgl. auch CG. Jung: Psychologie und Alchemie (1944), Ölten: Walter 1972, S. 41 f.: »Vier<br />

hat die Bedeutung des Weiblichen, Mütterlichen, Physischen, Drei die des Männlichen, Väterlichen,<br />

Geistigen.«<br />

Moment keine Person, sondern Nummer. Nicht dass er in Z<strong>im</strong>mer 34 liegt,<br />

ist relevant, sondern dass er in Z<strong>im</strong>mer 34 liegt. Noch hat er keine Identität<br />

als Kranker, keine Krankengeschichte.<br />

<strong>Die</strong> Oberin lässt es an jeder Dezenz fehlen. Sie »quäkt« vielmehr, und zwar<br />

»ungedämpft«. Vielleicht weist ihr Auftritt schon voraus auf die okkulte Szene<br />

<strong>im</strong> Abschnitt »Fragwürdigstes«, wo es »laut und abgeschmackt« zugeht<br />

(III, 941). Im Reich der Schatten darf man keine Höflichkeit, keine bürgerlichen<br />

Rücksichten erwarten. 39<br />

>Menschenskind, on me dit, que vous avez pris froid, I hear, you have caught a cold,<br />

Wy, katschetsja, prostudilisj, ich höre, Sie sind erkältet? Wie soll ich reden mit Ihnen?<br />

Deutsch, ich sehe schon. Ach, der Besuch vom jungen Ziemssen, ich sehe schon. Ich<br />

muss in den Operationssaal. Da ist einer, der wird chloroformiert und hat Bohnensalat<br />

gegessen. Wenn man seine Augen nicht überall hat... Und Sie, Menschenskind,<br />

wollen sich hier erkältet haben?<<br />

Hans Castorp war verblüfft über diese Redeweise einer altadligen Dame. (III, 233 f.)<br />

Zum ersten Mal spricht sie ihn an, hört er, hören wir sie reden. Altadelig und<br />

vornehm ist es nicht, da hat Castorp ganz recht. (Für eine Oberschwester,<br />

die <strong>unter</strong> Dauerdruck steht, pausenlos Verantwortlichkeiten wahrzunehmen<br />

und nie genügend Zeit hat, scheint die Redeweise hingegen plausibel.) Sie<br />

spricht deutsch, französisch, englisch und russisch. Dass sie verschiedene<br />

Sprachen benutzt, lässt sich realistisch leicht motivieren: Sie hat ja Patienten<br />

aus aller Welt; auch auf dem Davoser Friedhof schweigt man in allen Zungen<br />

(III, 447). Ihre Vielsprachigkeit entspricht jener des Hofrats. Sie zeigt aber<br />

auch, dass die Oberin unvorbereitet zu Castorp kommt und ihn, seine Herkunft<br />

und Muttersprache nicht kennt. Noch anerkennt sie ihn nicht als Kranken;<br />

gleich will sie wieder weg. <strong>Die</strong> Redeweise der Oberin korrespondiert<br />

ihrer Körpersprache, dem Unsteten, Umkreisenden, dem Haltlosen. Und sie<br />

zeigt schliesslich eine gewisse verbale Beliebigkeit. Was und in welcher Sprache<br />

sie es sagt, ist nicht wichtig. So scheint es ihr jedenfalls selbst:<br />

Während sie sprach, ging sie über ihre eigenen Worte hinweg, indem sie unruhig, in<br />

rollender, schleifenförmiger Bewegung den Kopf mit suchend erhobener Nase hin<br />

und her wandte, wie Raubtiere <strong>im</strong> Käfig tun, und ihre sommersprossige Rechte, leicht<br />

geschlossen und den Daumen nach oben, vor sich <strong>im</strong> Handgelenk schlenkerte, als<br />

wollte sie sagen: >Rasch, rasch, rasch! Hören Sie nicht auf das, was ich sage, sondern<br />

reden Sie selbst, dass ich fortkomme!< (III, 234)<br />

39 Insofern müsste man die oben besprochene Szene mit dem Moribunden, der nicht sterben<br />

will (III, 81), dahingehend deuten, dass sich die ärztliche Rüge nicht auf die Laut- und Wildheit<br />

des Widerstandes, sondern auf den Widerstand als solchen bezieht.

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