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Die Krankenschwesterfiguren im frühen Werk Thomas Manns unter ...

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64<br />

<strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

das chronisch-sonderbare Fugen-s ausdrücklich aufmerksam gemacht werden<br />

und gleich danach das Wort »Menschenlos« fällt. Ziemssen wird zum<br />

»Menschenkind« und die Mylendonk zur Menschenmutter (zur Mutter<br />

nicht nur aller Schwestern, sondern aller Menschen).<br />

Was Floskel war, wird Ernst. <strong>Die</strong> Szene gewinnt hier christlich-existentiellen<br />

Gehalt: Es geht um Leben und Tod. Nicht das Sich-Verschlucken ist<br />

»Menschenlos« - als welches es Ziemssen oder der Erzähler charakterisieren<br />

-, sondern das, wofür es steht, das Sterben. 64 <strong>Die</strong> Frage der Schwester<br />

zeigt, dass sie es für möglich hält oder - aufgrund ihrer medizinischen Kompetenz;<br />

als Schicksalsgöttin; als allwissender Hermes - weiss, dass Ziemssen<br />

ein Gezeichneter ist. Sie offenbart ihm dies aber nicht direkt, sondern weicht<br />

auf die - für Castorp und den Leser zu erkennende - Notlüge »Erkältung«<br />

aus und lässt, wie einst bei Castorp - wo sie umgekehrt einst gerade keine<br />

»Erkältung« gelten lassen wollte -, Formamint zurück. Das ist ein Verhalten,<br />

das gütig oder gnädig oder menschlich oder christlich genannt werden<br />

kann. 65 Bei Castorp heisst es »hoch-menschliches Liebeserbarmen« (III,<br />

735). Ganz offenbar ist Sym-pathie, Mit-leid, <strong>im</strong> Spiel; die Mutter leidet mit<br />

ihrem sterbenden Sohn, dem Schmerzensmann; der gute Hirte für sein Schaf.<br />

Es ist einer der wenigen positiven Einbrüche in die sonstige Negativität der<br />

mylendonkschen Figurenzeichnung.<br />

Ziemssen beginnt dann tatsächlich, sich zu verschlucken, weshalb er auf<br />

die zum »verdammten Frauenz<strong>im</strong>mer« herabgesunkene Oberschwester<br />

schilt. (Als »Frauenz<strong>im</strong>mer« hat sie schon Tienappel [III, 603] - und hat<br />

Hans Castorp Clawdia Chauchat [III, 111] bezeichnet.) Sie habe »mit ihrer<br />

vom Zaun gebrochenen Frage ihm einen Floh ins Ohr gesetzt und ihm etwas<br />

eingeredet und angehext [...], der Teufel solle sie holen« (III, 728). <strong>Die</strong> Mylendonk<br />

als zauberische Hexe, dafür könnten auch ihre roten Haare stehen,<br />

denn solche hatten <strong>im</strong>mer die Hexen. Es erinnert an die Diskussionen über<br />

den mittelalterlichen Inquisitionsprozess und die Folter zwischen Naphta<br />

und Settembrini (III, 634 f.) und an die »Hexenbrüste« (III, 683) der beiden<br />

raubtierhaften Greuelweiber <strong>im</strong> zweiten Teil von Castorps Schneetraum.<br />

Das Motiv des Hexens begegnet <strong>im</strong> Zauberberg auch sonst. Viel früher hatte<br />

der Hofrat Ziemssen einmal vorgehalten, er müsse sich als Patient gedulden,<br />

Manuskript des Zauberberg als <strong>unter</strong>gegangen gelten muss, lässt sich dies nicht mehr nach-<br />

64 Als Varianten des Motivs des Sich-Verschluckens kennt man aus Buddenbrooks das Verschlucken<br />

von Bedrohlichem (1,70), das Nicht-schlucken-Können (1,263,663) und das Sterben<br />

am Schluckauf (I, 233, 246, 342, 699); vgl. auch I, 292, 451, 670.<br />

65 Während »die protestantische Diakonissin« Berta in kruder Direktheit vom »zu Tode<br />

[PJflegen« spricht (III, 739).<br />

<strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong> 65<br />

hexen könnten sie auch nicht (III, 249); sein Durchleuchtungsraum wurde<br />

allerdings gerade mit einer »Hexenoffizin« verglichen (III, 301). Und natürlich<br />

stehen <strong>im</strong> Hintergrund die Blocksberg-Hexen aus dem Faust. Geschichtlich<br />

diente die »Verhexung« heilkundiger Frauen dazu, sie »aus der<br />

praktischen Medizin zu verdrängen und studierte professionelle männliche<br />

Ärzte an ihre Stelle zu setzen. <strong>Die</strong> Hexenv^rfolgungen waren [...] ein Mittel<br />

zur Durchsetzung dieses Ziels.« 66<br />

Castorp übersetzt das Wort »Hexerei« dann mit dem psychoanalytischen<br />

Begriff der »Suggestion«, was eine seinen Vetter beruhigende Rationalisierung<br />

darstellt. (III, 728) Nur der Erzähler scheint sich noch ein wenig weiter<br />

über die Vorstellung Ziemssens zu amüsieren: <strong>Die</strong>ser habe sich, heisst es,<br />

»fortan mit Erfolg der Hexerei« erwehrt und sich »nicht häufiger mehr als<br />

nichtbehexte Leute« verschluckt. 67<br />

Aber mit Ziemssen geht es zu Ende, was sich an seinen Augen zeigt. Sie<br />

seien »unsicher und scheu« geworden. Das nun ist die Chance der Schwester:<br />

»Noch neulich war Oberin Mylendonk mit ihrem Durchbohrungsversuch<br />

an seinem sanften dunklen Blick gescheitert, allein wenn sie jetzt ihr<br />

Heil noch einmal versuchte, war man wahrhaftig nicht mehr sicher, wie die<br />

Sache ablaufen würde.« (III, 729 f.) Wenig später wird die potentielle Begegnung<br />

abermals erwähnt: »Warum aber kehrte [...] so oft der Ausdruck trüber<br />

Scheu in seine sanften Augen zurück, - jene Unsicherheit, die der Oberin,<br />

wenn sie es noch einmal hätte darauf ankommen lassen, wahrscheinlich<br />

den Sieg gebracht haben würde?« (III, 735)<br />

<strong>Die</strong> Augen der Schwester dringen offenbar nur bei den Moribunden durch.<br />

Ihre Blicke töten nicht (sie »tun es« einem auch nicht »an«, wie jene der<br />

Chauchat [III, 848]); wen ihr aber ins Auge zu fassen gelingt, dessen Leben<br />

ist hin. Ihr Blick schliesst gewissermassen die Lider. Sie ist die Ruhelose, die<br />

Unerlöste, die »Verdammte«, die »ihr Heil« Suchende, 68 die, in der umgangssprachlichen<br />

Wendung, nicht »ein Auge auf jemanden werfen«, die sich vereinen<br />

69 kann nur mit dem Todgeweihten. 70<br />

66<br />

Theweleit, S. 170; Ehrenreich, Barbara/English, Deidre: Hexen, Hebammen und Krankenschwestern,<br />

4. Aufl., München: Frauenoffensive 1975, S. 17-26.<br />

67<br />

Er braucht dann aber den Begriff »verhext« (III, 752) selbst.<br />

M<br />

»Erlösung« sucht schon Fräulein von Osterloh - und »Ostern« meint ja auch Erlösung der<br />

Menschheit durch Christus. .<br />

"CG Jung bezeichnete den Tod »[s]ub specie aeternitatis« als »eine Hochzeit, ein Mysterium<br />

Coniunctionis. <strong>Die</strong> Seele erreicht sozusagen die ihr fehlende Hälfte, sie erlangt Ganzheit«<br />

(Erinnerungen, Träume, Gedanken von CG. Jung, aufgezeichnet und herausgegeben von Amela<br />

Jaffe, Zürich: Rascher 1962, S. 317.)<br />

70<br />

Vgl auch Faust I, V. 4190 ff.: »Es ist ein Zauberbild, ist leblos, ein Idol. / Ihm zu begegnen,<br />

ist nicht gut: / Vom starren Bück erstarrt des Menschen Blut, / Und er wird fast in Stein verkehrt;<br />

/ Von der Meduse hast du ja gehört.«

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