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Die Krankenschwesterfiguren im frühen Werk Thomas Manns unter ...

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62<br />

<strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

Mylendonk als »nicht korrekt«. Sie erscheint, nachdem er seinen Wunsch<br />

bekundet hat, mit Behrens zu sprechen, auf seinem Balkon, n<strong>im</strong>mt »durch<br />

fremdartige Sitten« seine »Wohlerzogenheit [...] stark in Anspruch« (III, 602<br />

f.) und kanzelt ihn ab:<br />

Das geehrte Menschenskind, erfuhr er, möge sich gefälligst ein paar Tage gedulden,<br />

[...] da er ja angeblich gesund sei, so müsse er sich schon daran gewöhnen, dass er<br />

hier nicht Nummer Eins sei [.. .]• Etwas anderes, wenn er etwa eine Untersuchung<br />

beantragen wolle, - worüber sie, Adriatica, sich weiter nicht wundern würde, er solle<br />

sie doch mal ansehen, so, Auge in Auge, die seinen seien etwas trübe und flackernd,<br />

und wie er da so vor ihr liege, sehe er alles in allem nicht viel anders aus, als ob auch<br />

mit ihm nicht alles so ganz in Ordnung sei, nicht so ganz sauber, er solle sie recht<br />

verstehen [...].<br />

<strong>Die</strong> Zumutungen, denen der Konsul da ausgesetzt wird, sind pr<strong>im</strong>är komisch,<br />

weil sich hier eine merkantile Intention ableiten lässt, jeden Besucher<br />

auch zum lange liegenden und lange zahlenden Patienten zu machen. <strong>Die</strong><br />

Mylendonk wendet aber auch die Theorie Krokowskis an, dass es ganz gesunde<br />

Menschen nicht gebe (III, 29 f.).<br />

Den Konsul dünkt das »Frauenz<strong>im</strong>mer« »abschreckend«, was er geradewegs<br />

zu sagen aber zu höflich ist, und so erkundigt er sich bloss bei seinem<br />

Neffen, die Oberin »sei wohl eine recht originelle Dame«. Und nun ist die<br />

Reaktion Castorps bezeichnend. Er geht auf Tienappels Frage gar nicht ein,<br />

sondern fragt nur, nach einer Pause, zurück, ob ihm die Mylendonk ein Thermometer<br />

verkauft habe. Das also ist, das also begreift Castorp als das Entscheidende<br />

an ihr: dass sie Thermometer verkauft. Sie hat Castorp zu den<br />

Kranken aufsteigen lassen, und das Thermometer war die Leiter dafür, jeder<br />

Grad eine Sprosse. Erst wer ein Thermometer erwirbt, wird zum »Hiesigen«<br />

(III, 253).<br />

Der Konsul ist ob der Frage irritiert. Bei sich überlegt er, »dass, wenn die<br />

Oberin ihm tatsächlich ein Thermometer angeboten hätte, er es gewiss zurückgewiesen<br />

haben würde, dass dies aber am Ende nicht richtig gewesen<br />

wäre, da man ein fremdes, zum Beispiel das des Neffen, zivilisierterweise<br />

nicht benutzen konnte« (III, 603). Das sind flachländische Gedanken, die<br />

zeigen, dass ihm die hermetische Bedeutung des Thermometers verschlossen<br />

ist. Anders als bei Castorp ist Tienappels »Geist des Flachlandes« (III, 601)<br />

noch stark, er will nicht krank werden oder, sich messend, als krank erscheinen.<br />

Gewiss macht es einen Unterschied, dass Tienappel erst einen Tag da ist,<br />

Castorp bei seiner ersten Begegnung mit der Mylendonk aber schon drei<br />

Wochen. Und da sich Tienappel weder als erkältet noch sonst für krank erklärt,<br />

bietet ihm die Schwester auch kein Thermometer an.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong><br />

Auch ihm gegenüber sagt sie »MenschenskMnd«, und sie beruft sich auf<br />

»die leidende Menschheit« und »christliche Grundsätze«: »Das geehrte Menschenskind<br />

[...] möge sich gefälligst ein paar Tage gedulden, der Hofrat sei<br />

besetzt, [...] die leidende Menschheit gehe vor, nach christlichen Grundsätzen<br />

[...].« (III, 602) Das ist keineswegs so salopp zu nehmen, wie es daherkommt.<br />

Abgesehen davon, dass es ethisch grundsätzlich richtig ist, den<br />

Kranken den Vorrang zu geben, reflektiert es auch die informelle Hierarchie<br />

<strong>im</strong> »Berghof«. Es <strong>unter</strong>streicht ferner die Übereinst<strong>im</strong>mung mit Behrens,<br />

dem hermesartig sich Entziehenden, der seinerseits der »leidenden Menschheit«<br />

(III, 580) dienen will, und die Christlichkeit der Oberschwester. Und<br />

es führt sie mit Lodovico Settembrini zusammen, der mit seinem Buch »Soziologie<br />

der Leiden« zur »Beseitigung der Leidensursachen« beitragen will<br />

(III, 343 f.). Auch der Vorname Adriatica etabliert <strong>im</strong> übrigen eine Verbindung<br />

zu dem Italiener.<br />

6. Das Zusammentreffen mit dem Konsul wird ganz in indirekter Rede erzählt.<br />

Der Erzähler gestattet der Oberin aber noch einen zweiten Auftritt.<br />

Ihre letzte Szene hat sie bei der finalen Erkrankung Joach<strong>im</strong> Ziemssens. Es<br />

sind also ausnahmslos Männer, auf die man sie treffen sieht. Auch bei Ziemssen<br />

klopft sie ans Z<strong>im</strong>mer (III, 726), und zwar sehr bald - das Hässliche ist<br />

das Verlässliche.<br />

Noch am Abend [...] klopfte Adriatica bei Joach<strong>im</strong> [...] und erkundigte sich kreischend<br />

nach den Wünschen und Klagen des jungen Offiziers. Halsschmerzen? Heiserkeit?<<br />

wiederholte sie. >Menschenskind, was machen Sie für Sprünge?« Und sie<br />

<strong>unter</strong>nahm den Versuch, ihm durchdringend ins Auge zu blicken, wobei es nicht an<br />

Joach<strong>im</strong> lag, dass ein Ineinanderruhen ihrer Blicke misslang: der ihre war es, der beiseite<br />

schweifte. Dass sie es <strong>im</strong>mer wieder versuchte, wenn es ihr nun doch erfahrungsgemäss<br />

einmal nicht gegeben war, das Unternehmen durchzuführen!<br />

Dann äugt sie Ziemssen in den Schlund, und zwar auf komisch-<strong>im</strong>provisierende<br />

Art. Sie muss dazu auf die Zehenspitzen stehen, während Hans Castorp<br />

mit der Nachttischlampe für Beleuchtung sorgt. Er wird zu ihrem Gehilfen,<br />

so wie sie Behrens assistiert; er wird selbst zur »Schwester«, und die<br />

Mylendonk lässt ihrerseits ärztliche Kompetenz erkennen. Sie äussert keinen<br />

Befund, sondern fragt Ziemssen nur: »>Sagen Sie mal, geehrtes Menschenkind,<br />

— haben Sie sich schon mal verschluckt?

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