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Die Krankenschwesterfiguren im frühen Werk Thomas Manns unter ...

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48<br />

<strong>Thomas</strong> Sprecher<br />

lastes gemacht hat. [...] Frau Adriatica sagt es jedem, der es hören will, und den andern<br />

auch, dass eine Mylendonk Mitte des dreizehnten Jahrhunderts Äbtissin eines<br />

Stiftes zu Bonn am Rheine war. Sie selbst kann nicht lange nach diesem Zeitpunkt das<br />

Licht der Welt erblickt haben.. .< (III, 89)<br />

Stilgefühl, das würde heissen: Sie passt, sie passt zum Stil des Hauses. 29 Was<br />

über sie gesagt wird, darf daher Geltung beanspruchen auch für das Institut,<br />

über das sie die Aufsicht innehat. Sie ist repräsentativ. 30<br />

Mit dem Begriff >Petrefakt< assoziieren sich Vorstellungen von Leblosigkeit<br />

und Verwunschenheit. Ein Petrefakt ist eine Versteinerung. <strong>Die</strong>s erinnert<br />

wieder an Hermes, dem die zur Orientierung der Wanderer best<strong>im</strong>mten<br />

phallischen Steinpfeiler heilig waren; von ihnen hat er vermutlich auch seinen<br />

Namen (hermaion, Steinhaufen). Hermen standen auch vor den Häusern<br />

und auf Gräbern. Viel später, <strong>im</strong> sozusagen <strong>unter</strong>weltlichen zweiten Teil<br />

seines Schneetraums, auf dem Gang zu den Müttern, in den Tempel Demeters,<br />

wird Hans Castorp wieder und richtigen »steinernen Frauenfiguren«<br />

(III, 682) begegnen: einem Standbild von Demeter und Persephone, wie in<br />

der Forschung allgemein angenommen wird, von Mutter und Tochter. <strong>Die</strong><br />

Mutter hat »leere Augen« (III, 682). Schon dadurch also wird die Mylendonk<br />

zur Demeter.<br />

<strong>Die</strong> Bezeichnung >Petrefakt< geht wohl auf Fontane zurück: So hat schon<br />

Dubslav Stechlin seine Schwester, die Domina des Klosters Wutz, genannt. 31<br />

Dadurch, aber viel direkter noch durch die selbst vorgenommene Identifizierung<br />

mit ihrer Ahne rückt die Mylendonk ihrerseits in die Rolle einer<br />

Äbtissin. Auch so wird sie der geistlich-kirchlichen, der metaphysischen<br />

Sphäre zugeschlagen. Klösterliche Züge hat ja vielfach auch der »Berghof«,<br />

obwohl ihm die Bezeichnung »Schreckenspalast« hier eher das Gesicht eines<br />

Zuchthauses verleiht. Dass die Oberin einem jedem ihre adlige Abstammung<br />

aufdrängt (aber vielleicht ist dies eine settembrinische Unterstellung?), lässt<br />

sie wieder als - gerade unvornehm - mitteilsam erscheinen. Ihren Stolz teilt<br />

sie mit Schwester Berta, die sich auf ihre »Herkunft aus gebildeter Gesellschaftsschicht«<br />

viel zugute hält. 32 Ihre familiären Wurzeln in Bonn am Rhei-<br />

29 In Tristan ist der Schriftsteller Spinell »des Stiles wegen« <strong>im</strong> Sanatorium (VIII, 227).<br />

30 Der Mittelposition der Oberschwester entspricht, dass das Sanatorium seinerseits in mehrfacher<br />

Hinsicht eine Zwischenstellung einn<strong>im</strong>mt. Es ist Durchgangsort, Provisorium, Vorhölle.<br />

Zu seiner Rolle als Purgatorium vgl. in diesem Band den Beitrag von Peter Pütz.<br />

31 Hinweis von Schneider, S. 329.<br />

32 III, 152. Historisch wurden zahlreiche Oberschwester-Stellen von Adligen besetzt; das war<br />

einer der Berufe, der adligen Töchtern offenstand. Ihre gesellschaftliche Stellung war höher als<br />

jene vieler Ärzte; Doktor konnten ja auch Söhne von Lotsenkommandeuren werden (1,123 ff.).<br />

Schwester Martha von Stuckrad, die Oberin des Münchner Gisela-Kinderspitals in München<br />

<strong>Die</strong> <strong>Krankenschwesterfiguren</strong> <strong>im</strong> <strong>frühen</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Manns</strong><br />

ne <strong>unter</strong>streichen ihr (partielles) Deutschtum noch und machen sie wieder,<br />

wie ihr Vorname, zum Wasserwesen, nämlich zur an den Ring erinnernden<br />

Rheintochter.<br />

<strong>Die</strong> Verweisung auf das Geschlecht der Mylendonk ersetzt <strong>im</strong> übrigen den<br />

Lebenslauf. Anders als Castorp, Behrens oder Naphta, bekommt die Oberin<br />

vom Erzähler keine persönliche Herkunft, das heisst: Sie hat keine. Sie ist<br />

nicht, was sie geworden ist, sondern sie ist, was sie ist, besser: Sie ist, was sie<br />

war^Und sie macht während der Romanjahre keine Entwicklung durch: kein<br />

Woher und kein Wohin.<br />

Nach diesen Mitteilungen taucht die Oberin für hundert Seiten wieder ab<br />

ins erzählerische Dunkel. Dann wird enpassant mitgeteilt, »jene altadelige<br />

Dame« (III, 187) stehe Behrens' »Witwerhaushalte« vor (III, 188). Sie hilft<br />

ihrem Chef also auch privat. Sie ist seine Haushälterin; <strong>im</strong> Wortsinn geht sie<br />

ja mit seinem Tabak haushälterisch um. Immer noch hat Castorp sie erst<br />

»flüchtig« gesehen (III, 187 f.); szenisch ist sie noch überhaupt nicht aufgetreten.<br />

3. <strong>Die</strong> Stunde der Bekanntschaft schlägt mit Castorps Erkältung. Sie wird<br />

erzählt <strong>im</strong> Abschnitt »Das Thermometer« (III, 233 ff.). Das Thermometer<br />

wird denn auch zum entscheidenden Attribut der Adriatica von Mylendonk.<br />

33<br />

... als Hans Castorp [...] in sein Z<strong>im</strong>mer zurückkehrte, klopfte es bei ihm, und es<br />

ergab sich für ihn die persönliche Bekanntschaft mit dem Fräulein von Mylendonk<br />

oder der >Frau Oberin

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