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Manfred Dierks: Der Wahn und die Träume. - Thomas–Mann–Archiv

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206 Literaturberichte Literaturberichte 207<br />

<strong>und</strong> dann von der Gefahr der Erkältung <strong>und</strong> Erstarrung. Sie handelt vom sehr<br />

menschlichen Wettkampf der Schreibenden. Storni gegen Geibel, auch das ist<br />

Paro<strong>die</strong> des Mannschen Schiller: <strong>die</strong> Eifersucht <strong>die</strong>ses Schwierigen da gegen<br />

den Hellen <strong>und</strong> Sinnlichen dort in Weimar. Jensen übrigens meidet, auf Anraten<br />

Maries, <strong>die</strong> Literaturszene, was ihm wohlbekommt. Die Geschichte<br />

schließlich erzählt vom libidinösen Verhältnis des Dichters zu seiner bedürftigen<br />

Gemeinde, vom unerhörten Glück des Vorlesens, der prekären unio mit<br />

dem Publikum, den Vielen hinten im Dunkel, <strong>die</strong>, anonym <strong>und</strong> gemeinsam,<br />

den Großen Traum der Prinzlichkeit niitträumen <strong>und</strong> ihn so verwirklichen helfen.<br />

Immer mehr Personal versammelt der Verfasser im Schatten seiner Erzählidee.<br />

München \mfin de siede, höchst interessantes Gewimmel; da wird ein<br />

Schwabinger Maskenfest auch in effigie gefeiert. Das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert neigt<br />

sich dem Ende zu, Nietzsche lebt immer noch, aber schon steht Dr. Freud vor<br />

der Tür. Zahlreiche Seelenzergliederer bevölkern <strong>die</strong> Bühne: Dr. Otto Gross<br />

(ein settembrinischer Kuchenverschliriger), Dr. Panizza, der Parapsychologe<br />

<strong>und</strong> Homosexualitätsforscher Dr. von Schrenck-Notzing. Neben den Psychologen,<br />

welche sich mit Geisterbeschwörungen <strong>und</strong> okkulten S6ancen beschäftigen,<br />

das Getümmel der Theosophen, der Lebensreformer, der Propheten <strong>und</strong><br />

Kosmiker, der Gruppe der Maler, wie Fidus, der „Schwabinger Malweiber".<br />

Von fernher Bekannte wie <strong>die</strong> unsterbliche Rätin Spatz oder Leo Putz geistern<br />

auf, <strong>und</strong> richtig findet auch Thomas Manns H<strong>und</strong> Titino ein narratives Unterkommen<br />

<strong>und</strong> gehört für drei Seiten zum Weltbild. Gründerzeit der Psychoanalyse,<br />

frühwissenschaftliche Farbigkeit <strong>und</strong> Fülle. Neue Krankheiten treten auf<br />

oder neue Namen dafür: Neurasthenische Hypersexualität; Nervosität; das<br />

[/mi/ig-Problem - das Leiden an der Homosexualität, <strong>die</strong>, wenn sie sich nach<br />

der Pubertät nicht legte, nach Behandlungsmöglichkeiten rief: Half Heilfasten<br />

(<strong>die</strong> Begierde aushungern), oder Suggestion? Auch Thomas Mann betrifft <strong>die</strong><br />

leidige Sinnlichkeit, das Geschlechtsproblem, <strong>und</strong> auch er wird durch mancherlei<br />

Krankheit, insbesondere gastrische Beschwerden <strong>und</strong> chronische Obstipation<br />

niedergeschlagen <strong>und</strong> emporvergeistigt. Literatur <strong>und</strong> Psychoanalyse<br />

beginnen sich aufeinander zu besinnen. Freud <strong>und</strong> Jung beugen sich über Jensens<br />

Grarf/va-Novelle, welcher (wie <strong>Dierks</strong> schon 1990 aufgedeckt hat) noch<br />

der Tod in Venedig Wesentliches verdankt.<br />

Leicht <strong>und</strong> spielerisch kommt <strong>die</strong>se Erzählung daher unter ihrem kecken<br />

Titel. Sie spielt mit vielem, zum Beispiel mit der Größe des Landhauses, das,<br />

wer in München was ist, hat oder zu haben hätte. Vor allem aber spielt sie mit<br />

unzähligen offenen, verdeckten <strong>und</strong> prächtig versteckten Zitaten. Für Thomas<br />

Manns frühe Tage steht beschränktes Material zur Verfügung, <strong>und</strong> so begegnet<br />

man vielem, was man erwarten konnte. Bei den Zitaten aus späterer Zeit aber<br />

gewinnt das Zitierspiel an Möglichkeiten <strong>und</strong>, da sie mit Kunst <strong>und</strong> Witz genutzt<br />

werden, an Beziehungsreichtum. Die Zitate scheinen so viel Authentizität<br />

zu verbürgen, daß man leicht übersieht, wo das Wahre zum „fast Wahren" abgleitet,<br />

will sagen hochsteigt. Wie denn überhaupt <strong>die</strong> Nahtstellen zu den<br />

(rein) fiktiven Elementen oft ins Schwererkennbare raffiniert worden sind.<br />

<strong>Dierks</strong>' Erzählung, an intellektueller Komik reich, gewährt ein aus mehre-<br />

ren Quellen gespeistes Vergnügen. Nicht <strong>die</strong> geringste unter ihnen ist <strong>die</strong> iro-<br />

nisch federnde, von der ökonomischen Bedachtheit des Autors schlank gehaltene,<br />

dabei aber doch sehr nuancierte Sprache; ein freches Fabulieren, ein präzis<br />

funkelndes Geflunker. (Nur <strong>die</strong> Kursivierung von Schlüsselwörtern ist eine<br />

Spur zu aufdringlich. Da wird dem Leser vorgehalten, auf was sein Kennerglück<br />

selbst zu stoßen wünschte.)<br />

Thomas Mann ist ein nicht einfacher, sperriger Gegenstand, gewiß, aber<br />

doch, quod erat demonstrandum, sehr wohl objektivier- <strong>und</strong> erzählbar. Und es<br />

gibt auch gute Gründe, ihn leibhaftig auftreten zu lassen. Denn mag er unentwegt<br />

von sich selbst gesprochen haben - alles über sich hat er nicht gesagt,<br />

nicht sagen können, selbst nicht im zun öffentlichen Versteck des Innersten<br />

sublimierten Werk. Und so sind Konjekturalbiographien, „kunstvolle Ergänzungsphantasien"<br />

(Hermann Kurzke) nicht nur berechtigt, sondern sogar notwendig.

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