Psychokardiologie und Achtsamkeit - Novego
Psychokardiologie und Achtsamkeit - Novego
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<strong>Psychokardiologie</strong> <strong>und</strong> <strong>Achtsamkeit</strong><br />
<strong>Achtsamkeit</strong><br />
Wie können achtsamkeitsbasierte Ansätze beim Umgang mit<br />
Erkrankungen von Herz <strong>und</strong> Kreislauf helfen?<br />
Despina Muth-Seidel <strong>und</strong> Charlotte Husen<br />
Zusammenfassung<br />
Die Autoren befassen sich mit der Begriffsklärung<br />
von <strong>Psychokardiologie</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Achtsamkeit</strong> <strong>und</strong> der Wechselwirkung von<br />
psychiatrischen <strong>und</strong> kardiologischen Erkrankungen.<br />
Die Inhalte <strong>und</strong> die Struktur<br />
einer psychokardiologischen Therapie<br />
werden aufgezeigt. Einsatzmöglichkeiten<br />
systemischer Techniken in der Psychotherapie<br />
werden ebenso erläutert wie<br />
die angewandte <strong>Achtsamkeit</strong>. Psychotherapeutische<br />
Ansätze zur Unterstützung<br />
im Umgang mit Herzschrittmachern <strong>und</strong><br />
implantierbaren Defibrillatoren (ICD)<br />
werden am Beispiel eines zwölfwöchigen<br />
Online-Unterstützungsprogramms von<br />
<strong>Novego</strong> abschließend beispielhaft dargestellt.<br />
Kardiologische Erkrankungen gehören<br />
zu den häufigsten körperlichen Leiden<br />
unserer Zeit. 2020 wird die koronare<br />
Herzerkrankung die bedeutsamste Ursache<br />
krankheitsbedingter Beeinträchtigungen<br />
sein (Murray & Lopez 1997). Betroffene<br />
berichten je nach Störung über<br />
Herzstolpern, Herzrasen, Herzklopfen,<br />
Atemnot oder Schwindel. Oft ist nicht<br />
nur die Herzerkrankung an sich eine große<br />
Belastung, sondern auch die daraus<br />
resultierenden psychischen Folgen wie<br />
Depressionen <strong>und</strong> Ängste. Psychische<br />
Folgeerkrankungen können den angemessenen<br />
Umgang mit einer derartigen<br />
Erkrankung verzögern oder sogar verhindern.<br />
Die <strong>Psychokardiologie</strong> setzt genau<br />
an diesen Wechselwirkungen zwischen<br />
Körper <strong>und</strong> Psyche an – insbesondere<br />
achtsamkeitsbasierte Ansätze können für<br />
Prävention, Bewältigung <strong>und</strong> Prognose<br />
von kardiologischen Erkrankungen wertvolle<br />
Impulse liefern.<br />
Begriffsklärung <strong>Psychokardiologie</strong><br />
Die Disziplin, die sich mit der medizinischen<br />
<strong>und</strong> der psychologischen Seite<br />
von Herzerkrankungen beschäftigt,<br />
nennt sich <strong>Psychokardiologie</strong>. Sie<br />
beschreibt die Schnittstelle zwischen<br />
Psychosomatik <strong>und</strong> Kardiologie.<br />
Der Aufschwung der <strong>Psychokardiologie</strong><br />
begann in den 1990er Jahren, besonders<br />
in den vergangenen 10 Jahren hat die<br />
Psychosomatik in der Kardiologie an zunehmender<br />
Bedeutung gewonnen. Psychosomatische<br />
Fragestellungen werden<br />
seitdem als Bereicherung in der Kardiologie<br />
angesehen. Inzwischen haben auch<br />
psychosomatische Aspekte ihren Platz in<br />
den Leitlinien zur Behandlung von Herzerkrankungen<br />
gef<strong>und</strong>en (Dietz & Rauch<br />
2004, Rauch 2007). Die <strong>Psychokardiologie</strong><br />
fordert sowohl die Internisten als<br />
auch die Psychotherapeuten auf, das<br />
Krankheitsbild ganzheitlich zu betrachten,<br />
um die Behandlung auf physiologischer<br />
<strong>und</strong> psychischer Ebene individuell<br />
anpassen zu können.<br />
Begriffklärung <strong>Achtsamkeit</strong><br />
Im Buddhismus wird <strong>Achtsamkeit</strong> bereits<br />
seit vielen tausend Jahren kultiviert,<br />
seit einiger Zeit spielt <strong>Achtsamkeit</strong> auch<br />
im psychotherapeutischen Kontext eine<br />
immer größere Rolle.<br />
<strong>Achtsamkeit</strong> bedeutet, die Aufmerksamkeit<br />
auf eine besondere Art auszurichten<br />
<strong>und</strong> zu nutzen. Jon Kabat-Zinn (2011)<br />
war einer der Ersten, der das <strong>Achtsamkeit</strong>sprinzip<br />
in den therapeutischen Bereich<br />
integrierte, er definiert <strong>Achtsamkeit</strong><br />
folgendermaßen:<br />
Die Aufmerksamkeit soll<br />
y absichtvoll,<br />
y nichtwertend <strong>und</strong><br />
y auf den gegenwärtigen Moment<br />
gerichtet sein.<br />
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Despina Muth-Seidel <strong>und</strong> Charlotte Husen<br />
Durch diese drei Aspekte wird aus Aufmerksamkeit<br />
<strong>Achtsamkeit</strong>. Der gegenwärtige<br />
Moment entgeht uns jedoch<br />
häufig. In vielen Situationen sind wir<br />
mit unseren Gedanken ganz woanders,<br />
wir überlegen z.B., was noch zu erledigen<br />
sei, was wir heute zu essen kochen<br />
sollen oder wen wir noch anrufen müssen.<br />
In derartigen Momenten funktionieren<br />
wir im sogenannten „Autopilotenmodus“<br />
<strong>und</strong> sind nicht mehr in der Lage,<br />
wirklich flexibel <strong>und</strong> situationsabhängig<br />
zu reagieren. Unser Erleben, Verhalten<br />
<strong>und</strong> Reagieren wird durch diese automatisierte,<br />
halbbewusste Informationsverarbeitung<br />
mechanisch <strong>und</strong> starr. Um den<br />
gegenwärtigen Moment bewusst zu erleben,<br />
müssen wir mit ihm in Kontakt treten<br />
<strong>und</strong> ihn im Hier <strong>und</strong> Jetzt erfahren.<br />
Dies geschieht absichtsvoll, das bedeutet,<br />
dass man sich immer wieder darauf<br />
besinnen muss, da es für unseren Geist<br />
verlockend ist, sich in den Autopilotenmodus<br />
zu begeben <strong>und</strong> abzuschalten.<br />
Die nichtwertende Einstellung versucht<br />
auftretende Bewusstseinsinhalte nicht als<br />
gut oder schlecht einzuordnen, sondern<br />
nur als das wahrzunehmen, was sie sind.<br />
Um achtsam zu sein, muss man einen<br />
offenen Geist haben, der die Dinge weder<br />
festhält, noch sie verdrängt oder vermeiden<br />
will. Wer achtsam durchs Leben<br />
geht, kann ohne Vorbehalte auf Situationen<br />
eingehen – ohne seinen automatisierten<br />
Reaktionsmustern zu erliegen. Dies<br />
soll allerdings nie erzwungen werden,<br />
sondern aus einem mitfühlenden Umgang<br />
mit sich selbst entstehen.<br />
Seit den 1970er Jahren wurden einige<br />
psychotherapeutische Ansätze entwickelt,<br />
in welchen <strong>Achtsamkeit</strong> als heilsames<br />
Prinzip eine besondere Rolle spielt.<br />
Zu diesen Ansätzen gehören die Acceptance-<br />
and Commitment Therapie (ACT),<br />
die Dialektisch-Behaviorale Therapie<br />
(DBT), die Mindfulness-Based Stress<br />
Reduction (MBSR) sowie die Mindfulness-Based<br />
Cognitive Therapy (MBCT).<br />
110 © ZSTB — Jg. 30 (3) — Juli 2012 — (S. 109 – 115)<br />
Wechselwirkungen: Psychische<br />
<strong>und</strong> kardiologische Erkrankungen<br />
Viele Patienten sind von den Symptomen<br />
ihrer kardiologischen Erkrankung<br />
verunsichert. Daraus resultieren Sorgen,<br />
Ängste sowie viele Unsicherheiten <strong>und</strong><br />
ungeklärte Fragen. Unter Patienten mit<br />
bekannten Herzrhythmusstörungen oder<br />
überlebtem plötzlichen Herztod weisen<br />
bis zu die Hälfte der Betroffenen Symptome<br />
einer Angsterkrankung <strong>und</strong>/oder<br />
Depression auf (Agelink et al. 2004, Ladwig<br />
et al. 2008).<br />
Psychische Phänomene wie Stressreaktionen,<br />
Depressionen oder Angsterkrankungen<br />
können auf verschiedene Art <strong>und</strong><br />
Weise mit kardiologischen Erkrankungen<br />
in Verbindung stehen. Zum einen werden<br />
sie häufig als auslösende bzw. einleitende<br />
Faktoren für Herzrhythmusstörungen<br />
beschrieben (Rugulies 2002). Weitere Risikofaktoren<br />
können u.a. niedriger sozialer<br />
Status, chronischer Stress oder Konflikte,<br />
sowie eine Neigung zu Feindseligkeit<br />
<strong>und</strong> Ärger sein (Ladwig et al. 2008,<br />
Schubmann & Seekatz 2011). Die enge<br />
Verbindung von Stresserleben <strong>und</strong> Herzerkrankungen<br />
verdeutlicht auch die „Tako-Tsubo-Kardiomyopathie“,<br />
das sogenannte<br />
„Syndrom des gebrochenen Herzens“,<br />
das hauptsächlich bei Frauen über<br />
60 Jahren auftritt (Nef et al. 2006). Es<br />
beschreibt eine schwerwiegende, reversible<br />
Funktionsstörung des Herzens, dessen<br />
Symptome einem akuten Herzinfarkt<br />
gleichen. Die Ursache dieser Störung ist<br />
nicht vollständig geklärt, man konnte bei<br />
den betroffenen Personen jedoch eine<br />
deutliche Erhöhung der Stresshormone<br />
im Blut <strong>und</strong> eine zeitliche Nähe zu ungewöhnlich<br />
negativen, aber auch ungewöhnlich<br />
positiven Ereignissen in ihrem<br />
Leben feststellen.<br />
Psychische Erkrankungen können allerdings<br />
auch gleichzeitig mit Herzerkrankungen<br />
vorliegen, <strong>und</strong> vor allem können<br />
sie eine Folgeerkrankung darstellen <strong>und</strong><br />
somit die Prognose beeinflussen, sollten<br />
sie nicht behandelt werden. Herzrhythmusstörungen<br />
können durch ein verändertes<br />
Körper- <strong>und</strong> Selbstbild zu einer<br />
großen Angst vor dem Alltag <strong>und</strong> insbesondere<br />
vor jeglicher Art von Aktivitäten<br />
führen. Daraus resultiert oft ein übermäßiges<br />
Vermeidungs- <strong>und</strong> Schonverhalten,<br />
was wiederum zu vermehrtem sozialen<br />
Rückzug, Unzufriedenheit <strong>und</strong> mangelnder<br />
Bestätigung in Belastungssituationen<br />
führt. Die Betroffenen sind in ihrem Alltag<br />
sowie in ihrer Lebensqualität stark<br />
eingeschränkt <strong>und</strong> entwickeln nicht selten<br />
eine ausgeprägte Abhängigkeit zu ihren<br />
Bezugspersonen. Durch diesen negativen<br />
Teufelskreis können reaktive Depressionen<br />
<strong>und</strong> Angsterkrankungen entstehen<br />
<strong>und</strong> aufrechterhalten werden.<br />
Säulen der psychokardiologischen<br />
Therapie<br />
Eine psychokardiologisch orientierte<br />
Therapie besteht aus mehreren Säulen:<br />
y Medikamentöse Behandlung,<br />
y operative Eingriffe <strong>und</strong><br />
y psychologische Betreuung.<br />
Eine optimale Behandlung erfordert eine<br />
engmaschige Koordination von ärztlicher<br />
<strong>und</strong> psychologischer Betreuung. Die medikamentöse<br />
Behandlung erfolgt von<br />
ärztlicher Seite ebenso wie die Entscheidung<br />
über einen operativen Eingriff. Hier<br />
erfolgt dann gegebenenfalls das Einsetzen<br />
eines Herzschrittmachers oder eines<br />
Defibrillators. Obwohl das beobachtete<br />
Ausmaß an affektiven Störungen klinisch<br />
höchst bedeutsam ist, werden immer<br />
noch zu selten therapeutische Konsequenzen<br />
ergriffen. Die Indikation für<br />
eine psychotherapeutische Begleitung<br />
wird oft übersehen, da infolge der somatischen<br />
Ursache der psychischen Belastungsformen<br />
keine der gängigen psychiatrischen<br />
Diagnosen eindeutige Anwendung<br />
findet.<br />
Am besten kann nach bisherigem Forschungsstand<br />
eine Therapie wirken, die
<strong>Psychokardiologie</strong> <strong>und</strong> <strong>Achtsamkeit</strong><br />
aus einer Kooperation von dem behandelnden<br />
Kardiologen, Hausarzt <strong>und</strong> Psychotherapeuten<br />
besteht (Ladwig et al.<br />
2008). Es ist sehr wichtig, dass diese Kooperation<br />
gut aufeinander abgestimmt<br />
ist, da sich körperliche <strong>und</strong> psychische<br />
Faktoren gegenseitig beeinflussen können.<br />
Bei der psychologischen Betreuung<br />
sollten insbesondere die Ängste <strong>und</strong> Sorgen<br />
des Patienten aufgefangen <strong>und</strong> ein<br />
aktiver <strong>und</strong> selbstbestimmter Umgang<br />
zur Krankheitsverarbeitung vermittelt<br />
werden. Idealerweise wird gemeinsam<br />
ein Krankheitsmodell erarbeitet. Dieses<br />
kann auch mit den Angehörigen besprochen<br />
werden, die meist ebenso viele<br />
Fragen haben <strong>und</strong> deutlich verunsichert<br />
sind, wie sie mit dem Betroffenen umgehen<br />
sollen.<br />
Elemente psychotherapeutischer<br />
Behandlung in der <strong>Psychokardiologie</strong><br />
Die Edukation zu kardialen Schutz-<br />
<strong>und</strong> Risikofaktoren (u.a. das Wissen um<br />
die eigene Belastbarkeit, Techniken zu<br />
Stressmanagement, Bedeutung von Sport<br />
<strong>und</strong> Ernährung) ist Gr<strong>und</strong>lage jeder psychokardiologischen<br />
Behandlung. Psychologische<br />
Beratung <strong>und</strong> Therapie gibt<br />
es speziell in den Bereichen Angstabbaustrategien,<br />
kognitive Umstrukturierung<br />
<strong>und</strong> Wahrnehmungslenkung sowie<br />
biografische Arbeit mit Schwerpunkt auf<br />
die belastenden Ursachen. Ein angstgesteuertes<br />
Schonverhalten kann durch die<br />
Vermittlung gezielter Entspannungsverfahren<br />
abgebaut werden. Gleichzeitig<br />
lernt der Patient dabei einen adäquaten<br />
Umgang mit Stress <strong>und</strong> aufkommenden<br />
Angstsituationen.<br />
Viele Patienten profitieren zusätzlich von<br />
Selbsthilfegruppen. Dort können sie sich<br />
über den Umgang mit kardiologischen<br />
Erkrankungen mit anderen Betroffenen<br />
austauschen <strong>und</strong> erleben Unterstützung<br />
<strong>und</strong> Verständnis von Menschen, die in<br />
der gleichen Situation sind wie sie.<br />
In der psychotherapeutischen Behandlung<br />
können die systemische Therapie<br />
<strong>und</strong> achtsamkeitsbasierte Ansätze sinnvoll<br />
eingesetzt werden:<br />
– Systemische Therapie<br />
In der psychotherapeutischen Unterstützung<br />
kardiologischer Patienten können<br />
systemische Fragetechniken wie zirkuläres<br />
Fragen, Skalierungs- oder hypothetische<br />
Fragen äußerst hilfreich sein, um die<br />
Betroffenen zu einem Perspektivwechsel<br />
einzuladen <strong>und</strong> in Bezug auf die eigene<br />
Erkrankung neue Lösungen <strong>und</strong> Handlungsoptionen<br />
zu entdecken. Techniken<br />
des Refraiming können helfen, die Erkrankung<br />
in einem anderen Bedeutungs-<br />
<strong>und</strong> Interpretationszusammenhang zu sehen<br />
– paradoxe Interventionen können<br />
festgefahrene, unges<strong>und</strong>e Verhaltensmuster<br />
aufbrechen. Auch Aufstellungen<br />
oder Soziogramme können den Betroffenen<br />
ermöglichen, die Erkrankung in ihrer<br />
Entstehung <strong>und</strong> ihren Auswirkungen aus<br />
einem systemischen Blickwinkel zu betrachten.<br />
Durch diese Interventionen <strong>und</strong><br />
Hilfestellungen lässt sich die Motivation<br />
für das aktive <strong>und</strong> selbstbestimmte Mitwirken<br />
an der eigenen Ges<strong>und</strong>ung erhöhen.<br />
– <strong>Achtsamkeit</strong><br />
Angewandte <strong>Achtsamkeit</strong> macht bewusste<br />
<strong>und</strong> somit nicht automatisierte Reaktionen<br />
möglich, wenn der sogenannte „Autopilot“<br />
abgeschaltet wird. Angenehme<br />
Situationen können intensiver wahrgenommen<br />
werden <strong>und</strong> das Leben so noch<br />
mehr bereichern. Aber auch bei unangenehmen<br />
Erlebnissen wie körperlichen<br />
Erkrankungen, ermöglicht eine achtsame<br />
Gr<strong>und</strong>haltung einen konstruktiveren Umgang.<br />
Negative Gedankens- <strong>und</strong> Gefühlsspiralen,<br />
die gerade als Reaktionen auf<br />
körperliche Einschränkungen häufig auftreten<br />
<strong>und</strong> schnell automatisiert ablaufen,<br />
können so frühzeitig erkannt <strong>und</strong> durchbrochen<br />
werden. <strong>Achtsamkeit</strong> ermöglicht<br />
einen veränderten Umgang mit Gedanken<br />
<strong>und</strong> Gefühlen. Die Betroffenen se-<br />
hen sich nicht weiter mit ihren<br />
negativen Gedanken <strong>und</strong><br />
Gefühlen verschmolzen, sondern können<br />
diese mit ein wenig Distanz als Teil ihrer<br />
Erkrankung erkennen <strong>und</strong> dementsprechend<br />
damit umgehen. Häufig werden<br />
psychische Erkrankungen durch<br />
eine Unterdrückung der Gedanken oder<br />
Vermeidungsverhalten aufrechterhalten.<br />
<strong>Achtsamkeit</strong> ermöglicht einen bewussten<br />
<strong>und</strong> hilfreichen Umgang auch mit dysfunktionalen<br />
Prozessen.<br />
Bei jeglichen körperlichen Erkrankungen<br />
spielt im Zusammenhang mit <strong>Achtsamkeit</strong><br />
auch insbesondere das Thema<br />
Akzeptanz eine wichtige Rolle. Akzeptanz<br />
beschreibt eine innere Haltung, das<br />
anzunehmen, was ist <strong>und</strong> diese Erfahrung<br />
weder innerlich noch äußerlich zu<br />
vermeiden. Dies gilt für angenehme wie<br />
auch für unangenehme Erfahrungen. Auf<br />
keinen Fall soll hier ein passives Ertragen<br />
oder Erdulden gemeint sein, sondern<br />
eine bewusste Entscheidung. Gerade bei<br />
körperlichen Erkrankungen kann die Akzeptanz<br />
dieser das Vermeidungsverhalten<br />
beenden <strong>und</strong> die Betroffenen wieder<br />
handlungs- <strong>und</strong> entscheidungsfähig werden<br />
lassen. <strong>Achtsamkeit</strong> bezieht den Körper<br />
mit ein, alle achtsamkeitsbasierten<br />
Übungen fördern einen akzeptierenden,<br />
wertfreien <strong>und</strong> somit gelasseneren Umgang<br />
mit dem eigenen Körper – dies ist<br />
besonders für Herzpatienten wichtig, da<br />
diese mitunter jede Körperreaktion übermäßig<br />
wahrnehmen <strong>und</strong> als gefährlich<br />
bewerten.<br />
Kardiologische Erkrankungen stehen<br />
häufig im Zusammenhang mit ungünstigen<br />
Umgangsmustern mit Gefühlen<br />
wie Ärger, Wut oder Feindseligkeit. Eine<br />
achtsame Akzeptanz der eigenen Gefühle<br />
kann helfen, einen ges<strong>und</strong>heitsfördernden<br />
Umgang mit ihnen kennenzulernen<br />
<strong>und</strong> umzusetzen. Häufig entstehen psychische<br />
Symptome aus dem Versuch,<br />
erfolglos die Kontrolle über die eigenen<br />
Gefühle zu behalten. Dies kann aller-<br />
© ZSTB — Jg. 30 (3) — Juli 2012 — (S. 109 – 115) 111
Despina Muth-Seidel <strong>und</strong> Charlotte Husen<br />
dings die Symptomatik überhaupt erst<br />
hervorrufen oder verstärken. <strong>Achtsamkeit</strong>sbasierte<br />
Übungen können helfen,<br />
Gefühle im Alltag wahrzunehmen <strong>und</strong><br />
wertfrei zu benennen, sowie zu erkennen,<br />
dass kein Gefühl von Dauer ist. Diese<br />
Akzeptanz von der Unkontrollierbarkeit<br />
<strong>und</strong> Vergänglichkeit von Gefühlen unterstützt,<br />
sich nicht von Gefühlen überrollt<br />
zu fühlen.<br />
<strong>Achtsamkeit</strong> ist auch Bestandteil eines<br />
guten Umgangs mit sich selbst – der sogenannten<br />
Selbstfürsorge. Dies bedeutet,<br />
sich gut um sich zu kümmern, auf sich<br />
achtzugeben <strong>und</strong> die eigenen Bedürfnisse<br />
zu erkennen <strong>und</strong> zu respektieren. Ein<br />
wichtiger weiterer Baustein ist die Selbstakzeptanz,<br />
also eine positive Einstellung<br />
zu sich selbst als Person. Hierzu gehört<br />
eine Zufriedenheit mit sich selbst, die eigenen<br />
Meinungen <strong>und</strong> Reaktionen wertzuschätzen<br />
<strong>und</strong> sich in sich selbst zuhause<br />
zu fühlen. Die Selbstakzeptanz gilt auch<br />
für eigene vermeintliche Schwächen oder<br />
Fehler. Diese beiden Aspekte – Selbstfürsorge<br />
<strong>und</strong> Selbstakzeptanz – sind vielen<br />
von kardiologischen Problemen Betroffenen<br />
kaum noch möglich. Oft spielen<br />
Selbstvorwürfe oder ein Hadern mit dem<br />
eigenen Schicksal eine große Rolle. Hier<br />
brauchen sie therapeutische Unterstützung,<br />
um sich selbst <strong>und</strong> ihrem erkrankten<br />
Körper positiv zuzuwenden <strong>und</strong> liebevoll<br />
mit sich umzugehen. <strong>Achtsamkeit</strong> schärft<br />
die eigene Sinnesaufmerksamkeit <strong>und</strong> erhöht<br />
so die Wahrnehmung; man begegnet<br />
sich selbst mit einer gr<strong>und</strong>sätzlich positiv<br />
gefärbten Aufmerksamkeit – insbesondere<br />
in Bezug auf die eigenen Bedürfnisse.<br />
Das Ziel ist es, sich selbst so liebevoll zuzuwenden,<br />
wie man es sonst nur bei einem<br />
anderen Menschen tut, der eine besondere<br />
Bedeutung für einen hat.<br />
Ein achtsamer Umgang mit sich selbst<br />
wirkt sich in der Regel auch auf die Gestaltung<br />
<strong>und</strong> Einteilung des eigenen Lebens<br />
<strong>und</strong> die Gewichtung der Lebensbereiche<br />
aus. („Wie viel Zeit nehmen<br />
112 © ZSTB — Jg. 30 (3) — Juli 2012 — (S. 109 – 115)<br />
bestimmte Lebensbereiche in Anspruch?<br />
Wie viel Zeit bleibt neben der Arbeit<br />
noch für andere Dinge? Wo bleibe ich?“)<br />
Zu diesem Themenbereich gehört auch<br />
ein ges<strong>und</strong>er Umgang mit Stress. Techniken<br />
zum Zeit- <strong>und</strong> Stressmanagement<br />
können hilfreiche Unterstützung bieten,<br />
um das Leben wieder in eine bewusste<br />
Balance zu bringen. Dies kann als unterstützender,<br />
aber auch schon als präventiver<br />
Faktor im Rahmen von kardiologischen<br />
Erkrankungen wirken.<br />
Unterstützung im Umgang mit<br />
Herzschrittmachern oder implantierten<br />
Defibrillatoren<br />
Zur Therapie kardiologischer Erkrankungen<br />
kann das Einsetzen eines Herzschrittmachers<br />
oder eines implantierbaren Defibrillators<br />
gehören. Zunächst wird das<br />
Einsetzen eines Herzschrittmachers oder<br />
eines Defibrillators von den Patienten<br />
meist als Erleichterung gesehen <strong>und</strong> das<br />
Wohlbefinden der Betroffenen verbessert<br />
sich in den folgenden Monaten. Allerdings<br />
kommt es danach häufig zu psychischen<br />
Folgen (Tavenaux et al. 2011). Das<br />
Wissen, einen Fremdkörper in sich zu<br />
tragen, der den Herzrhythmus reguliert,<br />
führt bei vielen Patienten nicht zu einem<br />
Gefühl von Sicherheit, sondern zu einem<br />
Gefühl von Kontroll- <strong>und</strong> Autonomieverlust.<br />
Speziell die Patienten mit einem<br />
Herzschrittmacher können sich „fremdgesteuert“<br />
<strong>und</strong> „ohnmächtig“ fühlen.<br />
Diese Gefühle können dazu führen, dass<br />
die Patienten den Herzschrittmacher wieder<br />
loswerden wollen – vor allem dann,<br />
wenn seine Lebensnotwendigkeit nicht<br />
erlebt wird. Bei Trägern eines implantierten<br />
Cardioverter-Defibrillators (ICD)<br />
können häufige Schocks zu schweren<br />
Ängsten, Depressionen oder auch posttraumatischen<br />
Belastungsreaktionen führen.<br />
Die Patienten haben Angst, dass jeden<br />
Moment ein erneuter Stromschock<br />
erfolgen könnte. Diese Schocks werden<br />
in Bezug auf die Schmerzwahrnehmung<br />
ganz unterschiedlich erlebt. Insbeson-<br />
dere die mangelnde Vorhersagekraft der<br />
Schocks kann zu erheblichem Stress <strong>und</strong><br />
Ängsten der Patienten führen (Stingl<br />
2011). Patienten meiden häufig Aktivitäten,<br />
um die Situation unter Kontrolle zu<br />
bringen <strong>und</strong> einen erneuten Schock zu<br />
umgehen. Systemische Fragetechniken<br />
können auch hier helfen, einen anderen<br />
Zugang zu dem gefühlten Fremdkörper<br />
zu finden – <strong>Achtsamkeit</strong> <strong>und</strong> Akzeptanz<br />
unterstützen die Betroffenen, die Situation<br />
für sich anzunehmen.<br />
Gelingt es, den Herzschrittmacher<br />
oder den Defibrillator als einen „Lebensretter“<br />
oder einen „Schutzengel“<br />
zu sehen, hat es eine positive Auswirkung<br />
auf das Wohlbefinden <strong>und</strong> den<br />
Abbau von Ängsten. Der Herzpatient<br />
kann sich wieder wohlfühlen <strong>und</strong><br />
mehr Kraft empfinden.<br />
Ein Beispiel der Anwendung: PsychokardiologischeOnline-Unterstützung<br />
Ein Beispiel der Anwendung von achtsamkeitsbasiertem<br />
Vorgehen in der <strong>Psychokardiologie</strong><br />
bietet <strong>Novego</strong> (www.<br />
novego.de) mit einem Online-Unterstützungsprogramm<br />
bei Depressionen.<br />
Seit kurzem gibt es auch ein innovatives<br />
Modul für Herzpatienten bei begleitenden<br />
depressiven Symptomen <strong>und</strong> Ängsten,<br />
welches in Zusammenarbeit mit der<br />
Elektrophysiologie Bremen entwickelt<br />
wurde. Die psychokardiologisch ausgerichteten<br />
Inhalte sind integraler Bestandteil<br />
des <strong>Novego</strong> „Depressionshelfers“.<br />
Das Programm besteht aus zwölf aufeinander<br />
folgenden Wochenmodulen, die<br />
sich inhaltlich-methodisch an den nationalen<br />
Versorgungsleitlinien orientieren,<br />
verhaltenstherapeutische <strong>und</strong> systemische<br />
Methoden beinhalten <strong>und</strong> stets an<br />
den aktuellen Stand der Wissenschaft angepasst<br />
werden. Der „Depressionshelfer“<br />
wurde um zusätzliche Inhalte für Patienten<br />
der Kardiologie oder Elektrophysio-
<strong>Psychokardiologie</strong> <strong>und</strong> <strong>Achtsamkeit</strong><br />
logie erweitert. Das Programm enthält<br />
das exklusive Wochenthema „Mein Herz<br />
<strong>und</strong> ich“ <strong>und</strong> auch in allen weiteren Wochenthemen<br />
auf die Situation kardiologischer<br />
Patienten abgestimmte Wissensinhalte,<br />
Übungen, konkrete Hilfestellungen<br />
<strong>und</strong> Denkanstöße. Patienten, die über die<br />
Video-, Audio- <strong>und</strong> Textbeiträge der Online-Version<br />
hinaus die persönliche An-<br />
Abb. 1: Beispiel des Wochenthemas „Mein Herz <strong>und</strong> Ich“<br />
sprache suchen, können von einer angeschlossenen<br />
psychologischen Abteilung<br />
Feedback zu Übungen wie auch zusätzliche<br />
telefonische Beratung erhalten.<br />
Das Programm wurde speziell für Patienten<br />
mit Herzrhythmusstörungen entwickelt<br />
<strong>und</strong> bietet darüber hinaus spezifische<br />
Inhalte für Patienten nach Implanta-<br />
tion eines Herzschrittmachers<br />
oder Cardioverter-Defibrillators<br />
(ICD), um sich mit diesem Fremdkörper<br />
im eigenen Körper wohler zu fühlen.<br />
Es ist jedoch prinzipiell für alle Patienten<br />
mit psychischen Belastungsformen<br />
bei leichter bis schwerwiegender Herzerkrankung,<br />
für Patienten mit Ängsten bei<br />
eher harmlosem Herzstolpern bis hin zu<br />
lebensgefährlichem Herzrasen, für Patienten<br />
nach Wiederbelebung sowie auch<br />
für Patienten nach Herzinfarkt geeignet.<br />
Im Online-Angebot werden edukative<br />
Inhalte, Strategien zur Reduktion der<br />
Angst, zu kognitiver Umstrukturierung,<br />
biografisches Arbeiten <strong>und</strong> vieles mehr<br />
umgesetzt durch offene Fragen, spezielle<br />
systemische Übungsangebote <strong>und</strong> Audios,<br />
die Ideen zu Veränderungsmöglichkeiten<br />
anbieten <strong>und</strong> einen vorsichtigen<br />
Blick auf die eigene Biografie <strong>und</strong> aktuelle<br />
Belastungen erlauben. Auch musiktherapeutische<br />
Elemente wurden in das<br />
Online-Angebot integriert <strong>und</strong> ermöglichen<br />
einen sinnlich-erfahrbaren Zugang<br />
zu dem eigenen Herzen. Eine achtsamkeitsbasierte<br />
therapeutische Gr<strong>und</strong>haltung<br />
spielt beim „Depressionshelfer“<br />
eine wichtige Rolle. An verschiedenen<br />
Punkten wird die <strong>Achtsamkeit</strong> trainiert<br />
<strong>und</strong> auch dem Thema Genuss wird sich<br />
besonders gewidmet. Ersten Fallzahlen<br />
zufolge bietet das Programm Herzpatienten<br />
eine sehr gute Möglichkeit zur Verringerung<br />
von depressiven Symptomen<br />
<strong>und</strong> Ängsten, wenn diese sek<strong>und</strong>är zur<br />
kardiologischen Erkrankung auftreten.<br />
© ZSTB — Jg. 30 (3) — Juli 2012 — (S. 109 – 115) 113
Despina Muth-Seidel <strong>und</strong> Charlotte Husen<br />
Abb. 2: Experten geben Ratschläge zu ges<strong>und</strong>er Lebensführung für Herzpatienten<br />
Die <strong>Psychokardiologie</strong> wird in den kommenden<br />
Jahren in ihrer wissenschaftlichen<br />
Erforschung <strong>und</strong> praktischen Relevanz<br />
weiter zunehmen. Niedrigschwellige<br />
Angebote wie Online-Selbsthilfeprogramme<br />
sind eine vielversprechende<br />
Möglichkeit, Menschen mit Erkrankungen<br />
von Herz <strong>und</strong> Kreislauf zu helfen<br />
<strong>und</strong> ihnen achtsamkeitsbasierte <strong>und</strong> systemische<br />
Ansätze näher zu bringen.<br />
114 © ZSTB — Jg. 30 (3) — Juli 2012 — (S. 109 – 115)<br />
Abstract<br />
The article focuses on the definition of<br />
the terms psychocardiology and mindfulness<br />
in the context of psychiatric and<br />
cardiological diseases and their interdependencies.<br />
The basic psychocardiological program<br />
in terms of therapeutic methods and<br />
structure is presented by the authors with<br />
a special focus on the systemic approach<br />
and practical applications of the mindfulness<br />
concept.<br />
Finally – using an exemplary internetbased<br />
12 week program developed by<br />
<strong>Novego</strong> – psychotherapeutic techniques<br />
to support patients with implanted pacemakers<br />
or defibrillators (ICD) are being<br />
discussed.<br />
Literatur:<br />
Agelink, M. W., Baumann, B., Sanner, D.,<br />
Kavuk, I. & Mück-Weymann, M. (2004). Komorbidität<br />
zwischen kardiovaskulären Erkrankungen<br />
<strong>und</strong> Depressionen. Deutsche Medizinische<br />
Wochenschrift (DMW) 129, 697-700.<br />
Dietz, R. & Rauch, B. (2003). Leitlinie zur<br />
Diagnose <strong>und</strong> Behandlung der chronischen<br />
koronaren Herzkrankheit der Deutschen Gesellschaft<br />
für Kardiologie – Herz-Kreislaufforschung<br />
(DGK). Zeitschrift für Kardiologie<br />
92, 501–521.<br />
Kabat-Zinn, J. (2011). Ges<strong>und</strong> durch Meditation:<br />
Full Catastrophe Living. München: O.W.<br />
Barth.<br />
Ladwig, K.H., Lederbogen, F., Völler, H.,<br />
Albus, C., Herrmann-Lingen, C., Jordan, J.,<br />
Köllner, V., Jünger, J., Lange, H. & Fritzsche,<br />
K. (2008). Positionspapier zur Bedeutung von<br />
psychosozialen Faktoren in der Kardiologie.<br />
Der Kardiologe, 3 (2), 274-287.<br />
Murray, C. J. & Lopez, A.D. (1997). AlternaAlternative projections of mortality and disability by