Prof. Kalicki - Evangelische Akademie Meissen
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Defizite in der Erziehungskompetenz<br />
von Eltern<br />
Formen, Verbreitung, Implikationen für die Krippenpädagogik<br />
<strong>Prof</strong>. Dr. Bernhard <strong>Kalicki</strong><br />
<strong>Evangelische</strong> Hochschule für Soziale Arbeit Dresden (FH)<br />
Staatsinstitut für Frühpädagogik (IFP), München
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
1 Formen elterlichen Fehlverhaltens:<br />
begriffliche Klärungen<br />
2 Zur Verbreitung von schädlichem<br />
Erziehungsverhalten<br />
3 Ursachen und Folgen von<br />
Missbrauch und Vernachlässigung<br />
4 Prävention und Intervention:<br />
praktische Schlussfolgerungen
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
1<br />
Formen<br />
elterlichen Fehlverhaltens:<br />
Begriffsklärungen
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
Kindesmisshandlung als eine…<br />
„nicht zufällige, gewaltsame psychische und/oder<br />
physische Beeinträchtigung oder Vernachlässigung<br />
des Kindes durch Eltern/Erziehungsberechtigte oder<br />
Dritte, die das Kind schädigt, verletzt, in seiner<br />
Entwicklung hemmt oder zu Tode bringt“<br />
(Blum-Maurice et al., 2000, S. 2)
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
Formen elterlichen Fehlverhaltens<br />
1. körperliche Misshandlung<br />
z. B. Ohrfeigen, Schlagen, Verbrennen etc.<br />
2. Vernachlässigung<br />
-unzureichende Pflege und Kleidung,<br />
-mangelnde Ernährung und Gesundheitsfürsorge,<br />
-fehlende Beaufsichtigung und Zuwendung<br />
-nachlässiger Schutz vor Gefahren<br />
-unzureichende Anregung und Förderung motorischer,<br />
geistiger, emotionaler und sozialer Fähigkeiten<br />
3. emotionale („seelische“) Misshandlung<br />
ausgeprägte Schädigung bzw. Beeinträchtigung der<br />
Entwicklung z. B. durch Ablehnung, Verängstigung,<br />
Terrorisierung oder Isolierung (auch Überfürsorge!)<br />
4. sexueller Missbrauch
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
Unterscheidung nach …<br />
1. Form des Fehlverhaltens<br />
2. Häufigkeit<br />
3. Schweregrad<br />
4. zeitlicher Dauer<br />
5. Altes des Kindes bzw. Jugendlichen<br />
beim sexuellen Missbrauch z. B. auch nach …<br />
-Altersunterschied zwischen Opfer und Täter<br />
-Übergriffen mit bzw. ohne Körperkontakt
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
2<br />
Verbreitung<br />
von schädlichem<br />
Erziehungsverhalten
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
Befragungen zu Kindheitserfahrungen<br />
Repräsenative Befragung von Kindern und Jugendlichen<br />
zu körperlicher Gewalt und Misshandlung durch die<br />
Eltern, durchgeführt vom KFN. Befragte im Alter von<br />
16 bis 59 Jahren (Wetzel & Pfeiffer 1997)<br />
Methodische Probleme solcher Studien:<br />
-Selbstauskünfte der Betroffenen<br />
(„sozial erwünschtes Antwortverhalten“)<br />
-Erfassung im Rückblick<br />
(Erinnerungsfehler; Bewältigung durch Bagatellisieren)<br />
- häufig recht unscharfe Erfassung von Form, Schweregrad,<br />
Häufigkeit, Zeitpunkt und Dauer der Viktimisierung
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
Befragungen zu Kindheitserfahrungen<br />
Repräsenative Befragung von Kindern und Jugendlichen<br />
zu körperlicher Gewalt und Misshandlung durch die<br />
Eltern, durchgeführt vom KFN. Befragte im Alter von<br />
16 bis 59 Jahren (Wetzel & Pfeiffer 1997)<br />
Fazit dieser Studie:<br />
-74,9 % der Befragten gaben an, in ihrer Kindheit<br />
körperliche Gewalt durch ihre Eltern erlitten zu haben<br />
-10,8 % der Befragten waren Opfer eindeutiger<br />
körperlicher Misshandlung<br />
-4,7 % der Befragten wurden „mehr als selten“<br />
körperlich misshandelt
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
Der deutliche Wandel der Erziehungseinstellungen<br />
von Eltern („antiautoritäre Erziehung“) ist empirisch gut<br />
belegt: Körperliche Strafen gelten allgemein als verpönt.<br />
Veränderung der Erziehungspraktiken<br />
in den vergangenen Jahrzehnten?<br />
Forschungsmethodik zur Klärung dieser Frage:<br />
-repräsentative und vergleichbare Erhebungen zu<br />
unterschiedlichen Zeitpunkten (60er, 80er, heute)<br />
-Befragung unterschiedlicher Altersgruppen zu ihren<br />
Kindheitserfahrungen (jugendliche Teenager, junge<br />
Erwachsene usw.)<br />
methodische Schwächen dieser<br />
„querschnittlichen Altersvergleiche“
• Zunahme der Personengruppe, die keinerlei elterliche Gewalt erfährt<br />
• der Anteil derjenigen, die körperliche Gewalt der Eltern erfahren,<br />
bleibt auf relativ hohem Niveau (69,5 %)<br />
• auch schmilzt die Gruppe derjenigen, die Opfer körperlicher<br />
Misshandlung werden, kaum ab (von 11,2 auf 9,4 %)
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
Verbreitung von Vernachlässigung<br />
-belastbare Zahlen fehlen<br />
-grobe Schätzungen für 6-jährige in Deutschland<br />
liegen zwischen 50.000 und dem Zehnfachen davon<br />
Emotionale („seelische“) Misshandlung<br />
-Identifikation und Erfassung sind extrem schwierig<br />
Sexueller Missbrauch<br />
-10-15 % der Frauen und etwa 5-10 % der Männer<br />
erleben bis zum Alter von 14 oder 16 Jahren<br />
„mindestens einmal einen unerwünschten oder durch<br />
die ‚moralische‘ Übermacht einer deutlich älteren Person<br />
oder durch Gewalt erzwungenen sexuellen Körperkontakt“<br />
(Ernst 1997, S. 69)
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
3<br />
Missbrauch<br />
und Vernachlässigung:<br />
Ursachen und Folgen
Ursachen<br />
Formen<br />
elterlichen<br />
Fehlverhaltens<br />
Folgen<br />
körperlicher<br />
Missbrauch<br />
emotionaler<br />
Missbrauch<br />
sexueller<br />
Missbrauch<br />
Vernachlässigung
Ursachen<br />
Formen<br />
elterlichen<br />
Fehlverhaltens<br />
Folgen<br />
• sozioökonomische Belastungen und Ressourcen<br />
• Persönlichkeitsmerkmale der Eltern<br />
• psychische Erkrankung, Sucht<br />
• Qualität der elterlichen Partnerschaft<br />
• Merkmale des Kindes (Geschlecht, Temperament, Behinderung)<br />
• kulturelle Faktoren (Erziehungsideale und Erziehungspraktiken,<br />
„staatliche Normverdeutlichung“)
körperliche<br />
Ursachen Folgen<br />
Misshandlung<br />
• psychische Erkrankung der Eltern<br />
-steigende Fertilität psychisch kranker Menschen<br />
-etwa ein Drittel aller Frauen, die ihr Kind töten, ist psychisch schwer erkrankt<br />
-die Tötung des Neugeborenen unmittelbar nach der Entbindung ist nicht<br />
mit psychischer Krankheit assoziiert, sondern mit sehr niedrigem Alter der Mutter,<br />
ungewollter Schwangerschaft und fehlender sozialer Unterstützung<br />
-Diagnosen misshandelnder Mütter:<br />
Depression, Angststörung, Persönlichkeitsstörung, Selbstverletzung<br />
-typische Diagnose misshandelnder Väter:<br />
dissoziale Persönlichkeit
körperliche<br />
Ursachen Folgen<br />
Misshandlung<br />
• Qualität der elterlichen Partnerschaft<br />
-Dynamik von Paarkonflikten: Eskalation destruktiver Konflikte<br />
-Erziehungsverhalten abhängig vom Wohlbefinden der Erziehungsperson<br />
(Lebenszufriedenheit, aktuelle Stimmung)<br />
-Spill-over-Hypothese: Unzufriedenheit in einem Lebensbereich „schwappt<br />
über“ auf den anderen Lebensbereich
körperliche<br />
Ursachen Folgen<br />
Misshandlung<br />
• zur Anhäufung von Risikofaktoren:<br />
-wenn Gewalt zwischen den Eltern herrscht, ist das Risiko der<br />
Misshandlung und Vernachlässigung zwei- bis sechsfach erhöht<br />
(Dube et al., 2002)<br />
-Alkoholmissbrauch der Eltern erhöht dieses Risiko um das<br />
Zwei- bis Dreizehnfache, je nachdem ob die Mutter alleine, der Vater alleine<br />
oder beide Eltern trinken (Dube et al., 2001)<br />
-Passung von Belastungen und Ressourcen der Person entscheidend<br />
-persönliche Ressourcen (Wissen, Fertigkeiten, Kompetenzen)<br />
und Ressourcen des Kontextes (Netzwerke, soziale Infrastruktur)
erlebte<br />
Ursachen Folgen<br />
Partnergewalt<br />
• „internalisierende“ Störungen<br />
(Ängstlichkeit, sozialer Rückzug,<br />
geringer Selbstwert, depressive<br />
Verstimmung, psychosomatische<br />
Störungen)<br />
• „externalisierende“ Störungen<br />
(aggressives oder hyperaktives<br />
Verhalten, Regelverletzungen)
sexueller<br />
Ursachen Folgen<br />
Missbrauch<br />
• Selbstbildstörungen<br />
reduzierter Selbstwert und destruktives<br />
Selbst<br />
• Kognitive Verzerrungen<br />
Schwarz/Weiß-Denken, Pauschalisierung,<br />
Schuldgefühle<br />
• Störungen der sozialen Kompetenz<br />
(Empathie, soziale Wahrnehmung)<br />
• Sexualisiertes Verhalten<br />
• Diverse Symptome<br />
(Depression, Rückzug, Selbstverletzung,<br />
Impulsivität, aggressives oder gehemmtes<br />
Verhalten, Ängste, Suchtverhalten,<br />
psychosomatische Symptome)
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
4<br />
Prävention und Intervention:<br />
praktische Schlüsse
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
Die geschilderten statistischen Zusammenhänge<br />
zwischen verschiedenen Bedingungsfaktoren<br />
(z.B. psychische Erkrankung der Eltern)<br />
und tatsächlicher Misshandlung bzw. Vernachlässigung<br />
erlauben keine sicheren Schlüsse im Einzelfall.<br />
Daher bedarf es einer sorgfältigen Einschätzung<br />
der Eltern-Kind-Beziehung sowie der zusätzlichen<br />
Risikofaktoren.<br />
Die Kindertageseinrichtung hat hierbei eine wichtige<br />
Monitorfunktion. Bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung<br />
sollten Fachdienste eingeschaltet werden.
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
Handlungsmöglichkeiten der Fachstellen<br />
-Abklärung des Verdachts, Diagnostik<br />
-Inobhutnahme<br />
-Information und Beratung der Betroffenen, Hilfeplanung<br />
-ambulante Hilfen zur Erziehung<br />
(z.B. Erziehungs-/Familienberatung, Jugendberatung;<br />
Suchtberatung; Erziehungsbeistand; Betreuungshilfe;<br />
Sozialpädagogische Familienhilfe)<br />
-„Fremderziehung“<br />
(Pflegefamilien, Adoption, professionell agierende<br />
Lebensgemeinschaften)<br />
-Begleiteter Umgang
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe<br />
(KICK), seit 1.10.2005 in Kraft<br />
Neu eingeführter § 8a SGB VIII, der den Schutzauftrag<br />
des Jugendamtes bei Kindeswohlgefährdung regelt:<br />
„(1) Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für<br />
die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen<br />
bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken<br />
mehrerer Fachkräfte abzuschätzen. […]<br />
(2) In Vereinbarungen mit den Trägern von Einrichtungen<br />
und Diensten ist sicherzustellen, dass deren Fachkräfte den<br />
Schutzauftrag in entsprechender Weise wahrnehmen und<br />
bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos eine insoweit<br />
erfahrene Fachkraft hinzuziehen. Insbesondere ist die<br />
Verpflichtung aufzunehmen, dass die Fachkräfte bei den<br />
Personensorgeberechtigten oder den Erziehungsberechtigten<br />
auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, wenn<br />
sie diese für erforderlich halten, und das Jugendamt<br />
informieren, falls die angenommenen Hilfen nicht ausreichend<br />
erscheinen, um die Gefährdung abzuwenden.“
Kindertageseinrichtung
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
Anzeichen (Indikatoren)<br />
einer Gefährdung des Kindes<br />
Aufschlussreich für die Gefährdung durch psychisch<br />
kranke Eltern ist zunächst die Eltern-Kind-Interaktion,<br />
übrigens auch schon im Umgang mit dem Säugling.<br />
Gesunde Eltern, die nicht allzu sehr durch Erschöpfung,<br />
Not und andere Belastungen beeinträchtigt sind,<br />
gehen mit ihren Babys responsiv und feinfühlig um.<br />
Komponenten elterlicher Feinfühligkeit:<br />
-kindliche Signale werden bemerkt,<br />
-die Signale werden richtig gedeutet,<br />
-die Reaktion ist angemessen und effektiv,<br />
-die Reaktion erfolgt prompt.
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
Anzeichen (Indikatoren)<br />
einer Gefährdung des Kindes<br />
Der feinfühlige Umgang zwischen Eltern und Kind<br />
ist gekennzeichnet durch Gegenseitigkeit,<br />
viel Blick-, Stimm- und Körperkontakt,<br />
geteilten Affekt und Kompromissfähigkeit<br />
auf beiden Seiten.<br />
Störungen in der Kommunikation und Beziehung sind<br />
Anzeichen einer Gefährdung des Kindes
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
Anzeichen (Indikatoren)<br />
einer Gefährdung des Kindes<br />
Unterstimulation<br />
-fehlende Responsivität; beobachtbar bei depressiven,<br />
passiven, erschöpften, chronisch schizophrenen Eltern<br />
-keine oder verzögerte Reaktion auf kindliche Signale<br />
-negative Verhaltensweisen des Kindes (Quengeln,<br />
Aggressivität, Ungehorsam) führen schließlich doch zu<br />
einer Reaktion, die dann aber negativ getönt ist<br />
-Sind die Eltern für das Kind nicht emotional erreichbar,<br />
zieht es sich passiv zurück. Der so vernachlässigte<br />
Säugling ist (zu) ruhig, wenig am Kontakt interessiert,<br />
ernst, wirkt selbst depressiv.
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
Anzeichen (Indikatoren)<br />
einer Gefährdung des Kindes<br />
Überstimulation<br />
-intrusives Interaktionsverhalten; beobachtbar bei<br />
ängstlich unsicheren, manischen und auch bei<br />
schizophrenen Eltern<br />
- das Kind wendet sich ab, reagiert mit Rückzugsversuchen<br />
oder Protest<br />
-bei offen aggressivem Interaktionsmuster der Eltern zeigt<br />
das Kind „erzwungenen Gehorsam“, z.T. mit falsch<br />
positiven Affektäußerungen<br />
-erzwungene Fürsorglichkeit als frühes Anzeichen<br />
für den Rollentausch (‚Parentifizierung‘; eine Form der<br />
emotionalen Misshandlung)
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
Anzeichen (Indikatoren)<br />
einer Gefährdung des Kindes<br />
Unberechenbarkeit<br />
- stark wechselndes Interaktionsverhalten; beobachtbar bei<br />
emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen<br />
-das Kind beobachtet die Mutter stark (als Versuch des<br />
Kontrollgewinns) und passt sein Verhalten an<br />
-Folgen für die kindliche Entwicklung:<br />
reaktive Bindungsstörungen, Hyperaktivität, beginnende<br />
Störungen des Sozialverhaltens mit Selbst- und Fremdaggressionen<br />
-Schwere der kindlichen Symptomatik nimmt mit dem<br />
Ausmaß an offener Aggression der Mutter zu
Defizite in der<br />
Erziehungskompetenz<br />
Voraussetzungen für ein richtiges Vorgehen<br />
der Kindertageseinrichtung<br />
-fachliche Kompetenz<br />
(rechtliche Grundlagen; Überblick über die Jugendhilfe;<br />
Fachwissen zu Missbrauch und Vernachlässigung)<br />
-Vernetzung der Einrichtung mit Kooperationspartnern<br />
(Jugendamt, Fachdienste, Gemeinwesen)<br />
-Unterstützung durch den Träger