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Psychoanalytische Traumatherapie - Frauennotruf Bremen

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30 Jahre psychoanalytische <strong>Traumatherapie</strong><br />

im Notruf für vergewaltigte Frauen und Mädchen <strong>Bremen</strong><br />

<strong>Bremen</strong>, April 2011<br />

Dr. phil. Gabriele Treu<br />

Psychoanalytikerin<br />

Im Oktober 2009 feierte der Notruf für vergewaltigte Frauen und Mädchen <strong>Bremen</strong> sein<br />

30jähriges Jubiläum. Seit den feministischen Anfängen Ende der 70er Jahre hat sich in<br />

der Psychologischen Beratungsstelle vieles geändert. Dennoch ist die Arbeit des Notruf<br />

von Kontinuität getragen. In den letzten Jahrzehnten hat sich deutlich gezeigt, dass die<br />

psychosoziale Vernetzung, ein Hauptanliegen des Notruf, im Sinne der sekundären<br />

Versorgung der Betroffenen unerlässlich ist. Ohne den beständigen Fachaustausch mit<br />

PolizistInnen, KriminologInnen, JuristInnen, GynäkologInnen, PsychotherapeutInnen,<br />

PsychiaterInnen, KlinikärztInnen und PolitikerInnen hätten viele strukturelle<br />

Verbesserungen im Lande <strong>Bremen</strong> so nicht umgesetzt werden können. Der<br />

Schwerpunkt der Arbeit liegt jedoch nach wie vor auf einer umfassenden Betreuung von<br />

Frauen und Mädchen, seit einigen Jahren auch von Männern und Jungen, die Opfer<br />

eines sexuellen Übergriffs geworden sind. Die Menschen, die in die Beratungsstelle<br />

kommen, sind in den allermeisten Fällen traumatisiert. Es reicht nicht, sie auf die<br />

Notwendigkeit einer medizinischen Behandlung hinzuweisen oder ihnen die Visitenkarte<br />

einer versierten Rechtsanwältin in die Hand zu drücken. Vielmehr geht es häufig um<br />

Kriseninterventionen und psychotherapeutische Versorgung. Der Notruf nimmt seit<br />

vielen Jahren für sich in Anspruch, ein psychoanalytisches Konzept entwickelt zu<br />

haben, das auf diese sehr spezifischen Bedürfnisse von Traumatisierten abgestimmt ist.<br />

Aber ist es überhaupt möglich, so wird manchmal gefragt, mit Traumatisierten<br />

psychoanalytisch zu arbeiten? Die Antwort lautet: Ja. Seit mehr als hundert Jahren<br />

befasst sich die Psychoanalyse mit Psychotraumatologie. 1 Viele Begrifflichkeiten, die<br />

uns heute selbstverständlich erscheinen, entstammen konzeptuell der Psychoanalyse.<br />

Die Annahme des Unbewussten zum Beispiel, die ihrerseits die Mechanismen des<br />

Unbewusstmachens (Abwehr) überhaupt erst darstellbar gemacht hat. Oder die<br />

Vorstellung, der Mensch habe ein Ich, das durch Reizüberflutung überfordert und durch<br />

die psychotherapeutische Arbeit gestützt werden könne. Unter dem Dach der<br />

Psychoanalyse wurden umfangreiche klinische Erfahrungen dokumentiert und<br />

theoretisch konzeptualisiert. Eine auch nur annähernd vollständige Auflistung all der<br />

Arbeiten ist an dieser Stelle natürlich nicht möglich. Lediglich einige Stationen<br />

psychoanalytischer Traumaforschung können hier erwähnt werden, etwa die<br />

Ausführungen Sigmund Freuds zu den „sog. Kriegsneurosen“ (1920, S. 943), die<br />

Untersuchungen Anna Freuds zu den Auswirkungen von Bombenangriffen auf<br />

Kleinkinder während des Zweiten Weltkriegs (1949). Desweiteren die Arbeiten zu<br />

Extremtraumatisierungen von Holocaust-Opfern (Grubrich-Simitis 1979, Niederland<br />

1980) und zur Transgenerationalität solcher Traumata (Kestenberg 1974, Bergmann u.<br />

Jucovy 1982), die groß angelegte Langzeit-Untersuchung Keilsons von jüdischen<br />

Kriegsweisen (1979). Seit den 50er Jahren untersuchte Winnicott die traumatischen<br />

Auswirkungen defizitärer Mutter-Kind-Beziehungen (1952, 1965). Später folgten die<br />

Ausführungen Khans über kumulative Traumatisierungen, die durch das wiederholte<br />

Versagen der Mutter in ihrer Funktion als Reizschutz für das kleine Kind entstehen<br />

(1963). Nicht zuletzt sollen die verschiedenen Arbeiten, die sich seit den 80er Jahren<br />

mit sexuellem Missbrauch und der Behandlung von Inzestopfern befassen, genannt<br />

werden, darunter Hirsch (seit 1987) und Kretschmann (1993).<br />

1 Bereits 1893 konzipierte Freud in einem Vortrag über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene das<br />

psychische Trauma als „Fremdkörper“, der als krankmachendes Agens, „als reizende Krankheitsursache“ im<br />

Psychischen wirksam ist (S. 85, vgl. Barwinski Fäh 2004, S. 2). Ein anschaulicher Überblick zur<br />

psychoanalytischen Traumaforschung findet sich bei Bohleber (2000) und Barwinski Fäh (2004, S. 1 - 6)


<strong>Bremen</strong>, April 2011<br />

Dr. phil. Gabriele Treu<br />

Psychoanalytikerin<br />

Sich mit dieser wissenschaftlichen Vielfalt auseinanderzusetzen, sich in einen<br />

permanenten Diskurs zu begeben, bei dem es eben keine monokausalen<br />

Erklärungsmuster und keine standardisierten Behandlungsabläufe gibt, bei dem es<br />

vielmehr konsequent darum geht, die besondere psychische Realität eines<br />

traumatisierten Menschen zu erfassen, - das ist die Basis einer psychoanalytischen<br />

<strong>Traumatherapie</strong>.<br />

<strong>Psychoanalytische</strong> <strong>Traumatherapie</strong><br />

Was bedeutet das jedoch für die Behandlung? In der psychoanalytischen Arbeit mit<br />

Traumatisierten ist eine Systematisierung klinischen Erfahrungswissens keineswegs<br />

bedeutungslos. Es gibt Techniken des Verstehens, die für die Diagnostik unentbehrlich<br />

sind, wie die Interpretation von Gegenübertragung und szenischen Darstellungen<br />

(Lorenzer 1970). Es ist zum Beispiel unerlässlich zu explorieren, in welchem Zustand<br />

sich das Ich eines Betroffenen befindet und in welcher Weise es die traumatisierenden<br />

Ereignisse zu bearbeiten versucht. Ein psychischer Vorgang, der fast zwangsläufig<br />

eintritt, wenn das Ich unvereinbare Anforderungen zu bewältigen hat, ist die<br />

„Ichspaltung“, die allerdings auf Kosten eines „Einrisses im Ich, der nie wieder<br />

verheilen, aber sich mit der Zeit vergrößern wird“ (S. Freud 1940, S. 60), geht. Gerade<br />

traumatische Erfahrungen werden mittels Dissoziation abgewehrt und können deshalb<br />

häufig nicht verbal vermittelt werden.<br />

Das führt mitunter dazu, dass Traumatisierungen selbst in klinischen Kontexten<br />

unterschätzt werden oder behördlicherseits unerkannt bleiben, oftmals mit tragischen<br />

Folgen für die Betroffenen. „Psychoanalytisch aufgeklärte Gesprächsführungen<br />

ermöglichen aber abgespaltene Persönlichkeitsanteile zu erfassen, nichtsprachliche<br />

Kommunikation in Sprache zu übersetzen und Traumatisierten zum Sprechen zu<br />

verhelfen“ (Henningsen 2003, S. 103). Solcherlei Überlegungen führen unweigerlich zu<br />

den Techniken der Behandlung. Ein sorgsam gewahrtes Setting beispielsweise kann<br />

einen beruhigenden, ordnenden Einfluss ausüben, wenn der Reizschutz eines<br />

Menschen durchbrochen wurde und seine Ich-Grenzen beschädigt sind. Da sich<br />

aufgrund bestimmter psychischer Mechanismen bei vielen Betroffenen nach dem<br />

erlittenen Übergriff schwere Schuldgefühle und eine verzerrte Wahrnehmung der<br />

äußeren Realität einstellen, kann es bei aller Einfühlung notwendig sein, ein aufgeklärt<br />

rationales Verständnis der Ereignisse zu vertreten und somit ein intaktes<br />

Realitätsprinzip zu repräsentieren. Doch wäre es zugleich ein Fehler, ausgerechnet<br />

denjenigen Menschen, die akut unter den Folgen einer schweren Grenzverletzung<br />

leiden, eine psychotherapeutische Intervention aufzunötigen. Im Notruf wird die Abwehr<br />

respektiert, mehr noch, es wird den Betroffenen die Wahl des richtigen Zeitpunkts<br />

zugetraut. Das gilt insbesondere auch für die Versprachlichung des Traumas. Die<br />

Erfahrung hat gezeigt, dass es einen unnötigen oder sogar kontraindizierten Eingriff<br />

darstellen kann, standardmäßig therapeutische Behandlungstechniken in Anwendung<br />

zu bringen, anstatt den psychischen Bewegungen, den vorsichtig geäußerten Signalen<br />

der Betroffenen Raum zu geben und zu folgen. Im Notruf setzen wir darauf, dass die<br />

Ich-Funktionen gestärkt und die Genesung auf allen psychischen Ebenen angeregt<br />

wird, wenn wir es unterstützen, dass die Betroffenen selbst ihren Weg aus der Krise<br />

finden.<br />

Techniken sind notwendig, doch aus sich selbst heraus werden sie nicht hilfreich sein<br />

können. Das tragende Element in der psychoanalytischen Arbeit mit Traumatisierten ist<br />

die Beziehung. Ferenczi betont, dass es das „Vertrauen zum Therapeuten ist …, das


<strong>Bremen</strong>, April 2011<br />

Dr. phil. Gabriele Treu<br />

Psychoanalytikerin<br />

den unerlässlichen Kontrast zwischen der Gegenwart und der traumatogenen<br />

Vergangenheit statuiert.“(1933, S. 306) In der (therapeutischen) Beziehung kann ein<br />

Betroffener erfahren, dass seine wortlose Not ausgehalten und getragen wird. Und<br />

wenn der Betroffene sich stark genug dafür fühlt, wird er zulassen können, dass beide<br />

das traumatisch abgekapselte Erleben allmählich wahrnehmen und Worte dafür finden<br />

können.<br />

Literatur:<br />

Barwinski Fäh, Rosmarie (2004): Traumabearbeitung in psychoanalytischen<br />

Langzeitbehandlungen. Einzelfallstudie und Fallvergleich auf der Grundlage<br />

psychotraumatologischer Konzepte und Modelle. Kröning: Asanger.<br />

Bergmann, Martin S., Jucovy, Milton E. (1982): Generations of Holocaust. New York: Basic<br />

Books.<br />

Bohleber, Werner (2000): Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse. In: Psyche,<br />

54, Heft 9/10, S. 797 – 839.<br />

Ferenczi, Sándor (1933): Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Die<br />

Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft. In: Schriften zur Psychoanalyse. Band II.<br />

Frankfurt: Fischer. S. 303 – 313.<br />

Freud, Anna (1949): Heimatlose Kinder. Frankfurt am Main: Fischer, 1971.<br />

Freud, Sigmund (1893): Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene.<br />

Vorläufige Mitteilungen. GW 1, S. 81 – 98.<br />

Freud, Sigmund (1920): über Kriegsneurosen, Elektrotherapie und Psychoanalyse. Ein Auszug<br />

aus dem Protokoll des Untersuchungsverfahrens gegen Wagner-Jauregg im Oktober<br />

1920. In: Psyche, XXVI, 12. Heft, 1972. S. 939 – 951.<br />

Freud, Sigmund (1940): Die Ichspaltung im Abwehrvorgang. GW XVII. Frankfurt: S. Fischer.<br />

S. 59 – 62.<br />

Grubrich-Simitis, Ilse (1979): Extremtraumatisierung als kumulatives Trauma. Psyche, 33, S.<br />

991 – 1038.<br />

Henningsen, Franziska (2000): Destruktion und Schuld. Spaltungen und<br />

Reintegrationsprozesse in der Analyse eines traumatisierten Patienten. In: Psyche, 54,<br />

Heft 9/10. S. 974 – 1001.<br />

Henningsen, Franziska (2003): Traumatisierte Flüchtlinge und der Prozess der Begutachtung.<br />

In: Psyche, 57, Heft 2, S. 97 – 120.<br />

Hirsch, M. (1987): Realer Inzest. Psychodynamik des sexuellen Missbrauchs in der Familie.<br />

Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo: Springer.<br />

Keilson, Hans (1979): Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Stuttgart: Enke.<br />

Kestenberg, Judith S. (1974): Kinder von Überlebenden der Naziverfolgung. Psyche, 18, S. 249<br />

– 265.


<strong>Bremen</strong>, April 2011<br />

Dr. phil. Gabriele Treu<br />

Psychoanalytikerin<br />

Khan, Mohammed Masud R. (1977): Selbsterfahrung in der Therapie. Theorie und Praxis.<br />

München: Kindler.<br />

Kretschmann, Ulrike (1993): Das Vergewaltigungstrauma. Krisenintervention und Therapie mit<br />

vergewaltigten Frauen. Münster: Westfälisches Dampfboot.<br />

Lorenzer, Alfred (1970): Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt am Main: Suhrkamp.<br />

Niederland, William G. (1980): Folgen der Verfolgung. Das Überlebenden-Syndrom. Frankfurt:<br />

Suhrkamp.<br />

Winnicott, Donald W. (1952): Psychosen und Kinderpflege. Primitive Stadien der emotionalen<br />

Entwicklung. In: Köhler, Willi (Hrsg., 1983): D. W. Winnicott. Von der Kinderheilkunde zur<br />

Psychoanalyse. Frankfurt am Main: Fischer.<br />

Winnicott, Donald W. (1965): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. München: Kindler,<br />

1974.

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