Die Wurzel der Alraune - BookRix
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Maximilian Rifenkoek<br />
<strong>Die</strong> <strong>Wurzel</strong> <strong>der</strong> <strong>Alraune</strong><br />
Werden des Gottesbildes
Copyright: 2009 Maximilian Rifenkoek<br />
CIP-Kurztitelaufnahme <strong>der</strong> Deutschen Bibliothek:<br />
Maximilian Rifenkoek<br />
<strong>Die</strong> <strong>Wurzel</strong> <strong>der</strong> <strong>Alraune</strong><br />
Titelfoto: Konstanze Gruber - Fotolia.com<br />
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Nor<strong>der</strong>stedt<br />
ISBN 978-3-83-708305-7
Drang und Geist sind Attribute des Göttlichen.<br />
In <strong>der</strong> Klärung des Dranges zum Geist klärt sich das<br />
Göttliche selbst. Das Göttliche in Gott ‚west’.<br />
Der Mensch – ein kurzes Fest in den gewaltigen<br />
Zeitdauern universaler Lebensentwicklung – bedeutet<br />
also etwas für die Werdebestimmung <strong>der</strong> Gottheit selbst.<br />
Der Mensch ist hinein geflochten in das Werden <strong>der</strong><br />
Gottheit selbst.<br />
Max Scheler
Inhaltsübersicht<br />
I. Prolog....................................................................................... 9<br />
II. Im Zeitalter <strong>der</strong> Zwillinge ..................................................... 13<br />
1. <strong>Die</strong> Wildbeuter .......................................................................................14<br />
2. <strong>Die</strong> Tochter des Schamanen...................................................................20<br />
III. Im Zeitalter des Stieres ........................................................ 29<br />
Ahnen werden zu Göttern ..........................................................................30<br />
IV. Im Zeitalter des Wid<strong>der</strong>s ..................................................... 41<br />
1. Polytheismus: Nomadengötter und Bauerngötter ..................................42<br />
2. Hen kai Pan – Eines ist Alles .................................................................55<br />
V. Im Zeitalter <strong>der</strong> Fische .......................................................... 71<br />
1. Monotheismus: «Geistliche Anleihen» ..................................................72<br />
2. Monotheismus: «Sic et non» ................................................................101<br />
3. Pantheismus: «Deus sive natura».........................................................124<br />
4. Panheismus: «Humanitas» ...................................................................139<br />
a) Ichentfaltung ....................................................................................142<br />
b) Weltanschauungen ...........................................................................156<br />
c) Gottesvorstellungen..........................................................................181<br />
VI. Epilog ................................................................................ 209
I. Prolog<br />
Da war es, dieses handkantenlange, schwarz-gräulich glänzende<br />
<strong>Wurzel</strong>männchen. Ich erkannte es sofort wie<strong>der</strong>.<br />
In meiner Jugend, ich mochte sechs o<strong>der</strong> sieben Jahre alt gewesen<br />
sein, hatte mein Großvater es mir gezeigt und gesagt: „Es ist<br />
ein Zaubermännchen und schon uralt.”<br />
Voll Ehrfurcht hatte ich dieses Etwas betrachtet und wollte<br />
dann wissen:<br />
„Wie alt ist es denn, Opa?“<br />
„Genau weiß ich es auch nicht. Als ich so alt war wie Du, hab’<br />
ich meinem Großvater die gleiche Frage gestellt. Doch auch er hatte<br />
im Kindesalter schon zur Antwort bekommen, dass es uralt sei.”<br />
Ich war mit einer Aufgabe beschäftigt, die unangenehm ist, aber<br />
einem nicht erspart bleibt, wenn man die Angehörigen <strong>der</strong> Vorgeneration<br />
überlebt, <strong>der</strong> Wohnungsauflösung.<br />
Meine Tante war gestorben. Als Nachkömmling meiner Großeltern<br />
hatte sie bis zu <strong>der</strong>en Tod im Hause ihrer Eltern gelebt, nie<br />
geheiratet, sich danach mit ihrem Lebensgefährten ein Reihenhaus<br />
erarbeitet und auch ihn überlebt.<br />
Nun war ich, letzter Stamm <strong>der</strong> Familie, Erbe des Reihenhauses<br />
und des <strong>Wurzel</strong>männchens, mit besagter Wohnungsauflösung betraut.<br />
Sinnend wog ich das <strong>Wurzel</strong>männchen in meinen Händen.<br />
„Du hast die napoleonischen Kriege schon in unserer Familie<br />
überlebt. Du bleibst, Du wirst nicht verkauft!”<br />
Wochen später, bei einem Glas Wein erzählte ich meinem<br />
Freund von meiner Errungenschaft.
„Zeig mir mal Dein Erbstück!” Prüfend betrachtete er es von<br />
allen Seiten.<br />
„Wenn Du es mir für kurze Zeit überlässt, lasse ich das Alter<br />
feststellen. Ich bin als Chemiker zwar selbst nicht dazu in <strong>der</strong> Lage,<br />
aber wir haben in unserem Institut Botaniker und Archäologen.<br />
<strong>Die</strong> werden das rauskriegen.”<br />
„Du, das ist mein Hausgeist, den will ich wie<strong>der</strong>haben!”<br />
„Keine Sorge, ich passe schon auf ihn auf.”<br />
Wie<strong>der</strong> vergingen Wochen. Mein Freund rief an:<br />
„Du, halt’ Dich fest. Das Ding ist 9 000 Jahre alt. Es ist eine<br />
Mandragora, aus <strong>der</strong> Familie <strong>der</strong> Salanaceae, zu Deutsch eine<br />
Zauberwurzel, die <strong>Wurzel</strong> einer <strong>Alraune</strong>. Das Institut will diese<br />
<strong>Wurzel</strong> Dir abkaufen.”<br />
„Auf keinen Fall. Bring’ mir ja meinen Klabautermann wie<strong>der</strong>.”<br />
Entsprechend ihrem Alter wurde die Heimkehr <strong>der</strong> Zauberwurzel<br />
nicht nur mit einer Flasche Wein gefeiert.<br />
„Das mit Deinem Klabautermann war ja wohl ein Witz. Klabautermänner<br />
sind doch Kobolde, die Seeleuten das Leben schwer<br />
machen.”<br />
„OK. Aber stell’ Dir mal vor, unsere Mittel- o<strong>der</strong> Jungsteinzeitvorfahren<br />
wären zur See gefahren, was sie nach unseren bisherigen<br />
Kenntnissen nicht konnten, sie lebten ja noch im Zeitalter <strong>der</strong><br />
Zwillinge.”<br />
Je mehr Akademiker trinken, umso hochtraben<strong>der</strong> werden ihre<br />
Gespräche. Und wenn sie zudem Pädagogen sind, wächst die Neigung,<br />
an<strong>der</strong>e zu belehren. Sein fragen<strong>der</strong> Blick ließ mich meine<br />
Neigung voll auskosten.<br />
„Du weißt, die Erde läuft auf ihrer Bahn um die Sonne in einer<br />
gewissen Schräglage, Ekliptik genannt. Dadurch steht die Sonne<br />
scheinbar in jedem Monat in einem an<strong>der</strong>en <strong>der</strong> zwölf Sternbil<strong>der</strong>,<br />
und wir haben Sommer und Winter. Der Schnittpunkt <strong>der</strong> Sonnenbahnebene<br />
mit <strong>der</strong> Äquatorebene <strong>der</strong> Erde, die Tag- und
Nachtgleiche, ist zurzeit beim Frühlingspunkt im Sternbild <strong>der</strong><br />
Fische. Wir leben also im Zeitalter <strong>der</strong> Fische.<br />
Nun versucht die Sonne mit ihrer Anziehungskraft – <strong>der</strong> Mond<br />
und die Planeten spielen dabei auch eine Rolle, aber das lassen wir<br />
weg, das wird zu kompliziert – die Erdachse aufzurichten. Wie alle<br />
Kreisel – die Erde kreist ja in 24 Stunden einmal um sich selbst –<br />
reagiert die Erde mit einer Gegenkraft, die in einem Winkel von<br />
90° auf die Sonnenanziehung wirkt.<br />
Zur Erklärung: Du weißt doch, ich habe im 2. Weltkrieg bei<br />
<strong>der</strong> Luftwaffe das Fliegen gelernt. Und wenn Du so eine einmotorige<br />
Propellermaschine in die Luft bringen willst, musst Du, bevor<br />
Du abhebst, die Maschine in die Waagerechte bringen – wir Flieger<br />
sagten, den Schwanz heben. Bugrä<strong>der</strong> hatten die Maschinen<br />
damals noch nicht. Bei dieser Steuerbewegung kommt aber auch<br />
die Propellerachse, die vorher schräg stand, in die Waagerechte.<br />
Das Flugzeug reagiert darauf und versucht um 90° nach rechts auszubrechen,<br />
wenn Du nicht rechtzeitig mit dem Seitenru<strong>der</strong> gegensteuerst.<br />
<strong>Die</strong>ses Ausbrechen <strong>der</strong> Erdachse nennt man in <strong>der</strong> Astronomie<br />
Präzession. Sie erfolgt entgegen dem Sonnenlauf.<br />
<strong>Die</strong> Sonne wan<strong>der</strong>t von den Fischen in den Wid<strong>der</strong>, in den<br />
Stier usw., <strong>der</strong> Frühlingspunkt von den Fischen in den Wassermann,<br />
den Steinbock usw., nur viel langsamer. Braucht die Sonne<br />
ein Jahr, um alle Sternbil<strong>der</strong> zu durchlaufen, so braucht die Erdachse<br />
nicht ganz 26 000 Jahre, um einmal um ihren imaginären<br />
Mittelpunkt zu kreisen.<br />
Zur Zeit Christi Geburt ist <strong>der</strong> Frühlingspunkt in das Sternbild<br />
<strong>der</strong> Fische gewan<strong>der</strong>t, 2 160 Jahre vorher in das Sternbild Wid<strong>der</strong><br />
usw. Um etwa 7 000 vor Christi war also das Zeitalter <strong>der</strong> Zwillinge.”<br />
Es wurde eine lange Nacht.<br />
Steht die Auffor<strong>der</strong>ung Gottes an Abraham, nicht seinen erstgeborenen<br />
Sohn, son<strong>der</strong>n einen Wid<strong>der</strong> als Opfer darzubringen,
sinnbildlich für den Übergang vom Zeitalter des Stieres zum Zeitalter<br />
des Wid<strong>der</strong>s?<br />
Kündigt deshalb <strong>der</strong> Stern von Bethlehem im Sternbild Fische<br />
Christus den Menschenfischer an?<br />
Sinnbild <strong>der</strong> ersten Christen waren die Fische.<br />
Wie gesagt, es wurde eine lange Nacht. <strong>Die</strong> Tiefgründigkeit <strong>der</strong><br />
Gespräche wuchs mit <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> geleerten Flaschen.<br />
Später im Bett hatte ich einen langen Traum. Ich war Wildbeuter<br />
und lernte erstmalig die Zauberwurzel kennen.
II. Im Zeitalter <strong>der</strong> Zwillinge<br />
6 540 v. Chr. – 4 380 v. Chr.
1. <strong>Die</strong> Wildbeuter<br />
Es war Nacht. Ich lag neben an<strong>der</strong>en Gestalten am Boden in einer<br />
Höhle. Vor mir brannte ein Feuer. Zum Ausgang <strong>der</strong> Höhle<br />
hin witterten zwei wolfartige Hunde.<br />
Ich stand auf, trat vor die Höhle, blickte nach Osten. In <strong>der</strong><br />
Bergspalte wurde es schon hell. Doch die beiden Augen des Drachen<br />
<strong>der</strong> Finsternis über <strong>der</strong> Bergspitze waren noch offen. Erst<br />
wenn sie sich schlossen, weil die Sonne aus <strong>der</strong> Bergspalte aufleuchtete,<br />
hatte <strong>der</strong> Geist des Lichtes über den Geist <strong>der</strong> Finsternis<br />
gesiegt. Der Mondgott legte sich blutig leuchtend vom Kampf gegen<br />
den Drachen <strong>der</strong> Finsternis im Westen zur Ruhe 1 .<br />
Ich legte mein Bärenkleid an, stülpte den Bärenkopf über mein<br />
Haupt und begann mit dumpfem Bärenbrummen um das Feuer zu<br />
tanzen. Immer mehr Jäger <strong>der</strong> Horde nahmen ihre Speere in die<br />
Hand und stampften tanzend um mich und das Feuer herum, dabei<br />
den Höhlenausgang freilassend, so dass eine mäan<strong>der</strong>artig sich<br />
windende Männerschlange entstand.<br />
<strong>Die</strong> Weiber <strong>der</strong> Horde traten nach und nach in den offenen<br />
Halbkreis <strong>der</strong> Männer und warfen getrocknete Kräuter in das Feuer.<br />
Auch sie begannen zu tanzen und wanden sich als stampfende<br />
Schlange mäan<strong>der</strong>artig um mich und die tanzenden Männer,<br />
<strong>Die</strong> Luft wurde immer schwerer und betäuben<strong>der</strong>. Ich war unter<br />
meinem Bärenfell zusammengesunken und flehte den Geist des<br />
heraufziehenden Lichtes um reichhaltige Beute an.<br />
Ich sah mich im Wald inmitten einer Herde von Hirschen und<br />
1 Für die Wildbeuter des 7. Jahrtausends wurde es Frühling, wenn zur Zeit <strong>der</strong> Tag-<br />
und Nachtgleiche im Osten die Sonne die Hauptsterne Castor und Pollux des Sternbildes<br />
Zwillinge überstrahlte.
Hirschkühen. Sooft ich meinen Speer auf einen Hirsch schleu<strong>der</strong>te,<br />
traf ich und <strong>der</strong> Hirsch fiel tot um. Sobald ich aber auf eine<br />
Hirschkuh zielte, zerbrach <strong>der</strong> Speer mitten im Flug und die<br />
Hirschkuh blieb unversehrt.<br />
Ich erwachte aus meiner Trance, erhob mich unter meinem Bärenfell,<br />
stieß einen röhrenden Schrei aus, nahm einem <strong>der</strong> mich<br />
erwartungsvoll anstarrenden Krieger den Speer aus <strong>der</strong> Hand und<br />
schleu<strong>der</strong>te ihn mit Schwung gegen die Höhlendecke. Zitternd<br />
blieb er in einer Felsspalte und damit im Hals eines dort dargestellten<br />
Hirsches stecken. <strong>Die</strong> Jägerhorde reagierte mit einem röhrenden<br />
Schrei. Dann legte ich einen Pfeil auf die Sehne meines Bogens<br />
und zielte auf eine <strong>der</strong> hinter dem Hirsch gezeichneten Hirschkühe.<br />
Der Pfeil zerbrach wie auch alle an<strong>der</strong>en bei den folgenden<br />
Versuchen. <strong>Die</strong> Horde reagierte mit verblüfftem Schweigen 2 .<br />
Der Tanz setzte wie<strong>der</strong> ein.<br />
Ich trat vor die Höhle und starrte auf die immer heller werdende<br />
Bergspalte. Da, das erste Licht blitzte auf, <strong>der</strong> Lichtgeist war da. Er<br />
würde von jetzt an immer früher den Drachen <strong>der</strong> Finsternis besiegen.<br />
Zurück in <strong>der</strong> Höhle hob ich einen <strong>der</strong> zerbrochenen Pfeile auf<br />
und legte ihn einem <strong>der</strong> tanzenden Weiber auf die Schulter. Sie löste<br />
sich aus <strong>der</strong> Gruppe, kniete vor dem Feuer nie<strong>der</strong>, legte den<br />
Kopf auf die ausgestreckten Hände und wiegte ihren Hinterleib im<br />
2 <strong>Die</strong> Jagdtechnik <strong>der</strong> Menschen <strong>der</strong> mittleren Steinzeit war inzwischen so erfolgreich<br />
geworden, dass durch sie die Herden <strong>der</strong> Großwildtiere fühlbar dezimiert wurden. Um<br />
diese Entwicklung aufzuhalten, malten sie die Abbil<strong>der</strong> ihrer Jagdtiere an die Wände<br />
ihrer Höhlen und beschworen sie als <strong>der</strong>en Geister um Jagdglück.<br />
Alles, was diese Menschen sahen, war für sie belebt. Wir nennen daher heute dieses<br />
Zeitalter das Zeitalter <strong>der</strong> Animation (von anima = Seele).<br />
Wenn <strong>der</strong> Schamane nur die Jagd auf männliche Tiere als erfolgreich prophezeite, so<br />
versuchte er, <strong>der</strong> Dezimierung <strong>der</strong> Herden entgegen zu wirken, denn es genügen wenige<br />
männliche Tiere, um den Nachwuchs zu sichern. Der Fruchtbarkeitstanz <strong>der</strong> Horde<br />
for<strong>der</strong>t die Geister <strong>der</strong> Tiere dazu auf, für diesen Nachwuchs zu sorgen. Dass die Jäger<br />
<strong>der</strong> mittleren Steinzeit um diese Problematik wussten, beweist ein fossiler Müllhaufen<br />
in Syrien aus dieser Zeit, in <strong>der</strong> die Archäozoologen ausschließlich kleine Knochen und<br />
junge Gebisse von männlichen Gazellen fanden. <strong>Die</strong> Forscher vermuten, dass die Jäger<br />
die Herden in aus Flechtwerk gebildete Sackgassen getrieben haben und dort gezielt<br />
nur die männlichen Jungtiere getötet haben.
Rhythmus des Tanzes. Jedes von mir mit dem zerbrochenen Pfeil<br />
berührte Weib folgte dem Beispiel.<br />
Der Tanz <strong>der</strong> Männer um die vor ihnen knieenden Weiber<br />
wurde immer hektischer. Ich nahm wie<strong>der</strong> den Bogen, legte einen<br />
frischen Pfeil auf die Sehne und hob den Bogen höher und höher,<br />
während die Männer mir stöhnend zusahen. Der Pfeil schoss zischend<br />
zur Decke und zerbrach. Das war das Signal für die Männer.<br />
Sie stürzten sich auf die ihnen entgegenleuchtenden Hinterteile<br />
<strong>der</strong> Frauen und vollzogen den Fruchtbarkeitskult.<br />
Ich wachte aus meiner Urzeit auf. Irgendetwas Hartes war mir<br />
auf den Kopf gefallen. Es war das <strong>Wurzel</strong>männchen, das auf dem<br />
Bücherbord über dem Kopfende meines Bettes seinen Platz gefunden<br />
hatte.<br />
„Du fällst mir nicht mehr auf den Kopf”, murmelte ich, böse<br />
darüber, dass es mich an <strong>der</strong> interessantesten Stelle des Traumes<br />
aufgeweckt hatte.<br />
Ich schob das <strong>Wurzel</strong>männchen unter die Bettdecke. Und<br />
schon war ich wie<strong>der</strong> eingeschlafen.<br />
Ich stand neben zwei an<strong>der</strong>en Jägern vor dem Schamanen. Ihm<br />
zur Seite drei junge Frauen einer benachbarten Horde.<br />
Er nahm eines <strong>der</strong> Mädchen, schob sie mir zu und führte ihre<br />
und meine Hand zusammen. Ich war von nun an ihr Jäger, sie<br />
meine Sammlerin. Um den Hals trug sie an einer Bastschnur einen<br />
<strong>Wurzel</strong>geist, das Totem ihrer Horde 3 .<br />
3 Ein Totem, wie hier die <strong>Alraune</strong>, war ein Schutzgeist. Er schützte die Träger des Totems<br />
vor bösen Geistern. Umgekehrt for<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Schutzgeist, dass man ihn we<strong>der</strong> jagte<br />
noch verzehrte. Totems wurden in weiblicher Linie vererbt, wie wir von den Aborigien,<br />
den Ureinwohnern Australiens, wissen.<br />
Der Geschlechtsverkehr <strong>der</strong> Angehörigen eines Totems unterliegt einem Tabu. Er ist<br />
daher verboten zwischen Mutter und Sohn und unter Geschwistern, nicht aber zwischen<br />
Vater und Tochter, da sie verschiedenen Totemgemeinschaften angehören. <strong>Die</strong>ses<br />
Verbot verhin<strong>der</strong>t die Inzucht und zwingt dazu, sich Ehepartner bei an<strong>der</strong>en Horden<br />
zu suchen.
Es war Sommer.<br />
Ich lauerte am Waldrand auf Wild. Sie sammelte Körner, Beeren<br />
und Pilze. Jedes Mal wenn sie sich bückte, blitzten ihre prallen<br />
Hinterbacken auf. In mir wallte das Blut und stieg in meine Lenden.<br />
Ich sprang auf sie und wollte aufreiten.<br />
Bevor es dazu kam, drehte sie sich um und kniete vor mir nie<strong>der</strong>.<br />
Sie nahm mit <strong>der</strong> einen Hand mein Glied. In <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en hatte<br />
sie ihr Totem. Sie streichelte sanft mit dem <strong>Wurzel</strong>geist mein<br />
Glied, setzte sich mit gespreizten Beinen vor meine Füße und ließ<br />
sich dann nach hinten gleiten, immer mit <strong>der</strong> einen Hand mein<br />
stärker und stärker anschwellendes Glied festhaltend. Ich sank<br />
zwischen ihre Schenkel auf die Knie. Sie rutschte von mir weg,<br />
mein Glied festhaltend führte sie es in ihren Schoß, klammerte ihre<br />
Beine um meinen Leib und sog mir die Kraft aus meinen Lenden.<br />
Mein Kopf sank auf ihre Brust, mein Mund fand eine <strong>der</strong> angeschwollenen<br />
Warzen und sog daran. Ihr Mund formte Laute, die<br />
wie „Ejah! Ejah!” klangen, während ich „Oojeh! Oojeh!” stöhnte.<br />
Unsere Körper und unsere Seelen schmolzen zusammen.<br />
Der Pfeil des Jägers war zerbrochen, schlapp hing er zwischen<br />
den Lenden. Sie sah es lächelnd, umschlang mich mit ihren Armen<br />
und flüsterte: „Oojeh, oojeh”, zeigte dann auf mich „Oojeh” und<br />
dann auf sich „Ejah”.<br />
Es war Frühjahr.<br />
Ejah saß neben mir und wartete mit mir darauf, dass die in <strong>der</strong><br />
Ferne weidenden Bergziegen näher kamen. Ihr Leib war geschwollen,<br />
sie stöhnte leise und manchmal zuckte sie zusammen. <strong>Die</strong> Abstände<br />
wurden immer kürzer. Keiner <strong>der</strong> in solchen Dingen erfahrenen<br />
Weiber war in <strong>der</strong> Nähe.<br />
Ich bettete Ejah sanft auf das Moos des Waldbodens und umarmte<br />
ihren Leib, während sie die Beine spreizte. Sie starrte mich<br />
an und stöhnte: „Oojeh!”, stieß einen Schrei aus, dass die Bergziegen<br />
davon stoben und aus ihrem Schoß quoll zunächst <strong>der</strong> Kopf,<br />
dann Körper und Beine eines Knaben.
Vorsichtig lagerte ich ihn zur Seite, band mit Bast die Nabelschnur<br />
ab und trennte den Knaben von seiner Mutter.<br />
<strong>Die</strong> Fruchtblase kam nicht. Stattdessen quollen zwei Beine aus<br />
dem Schoß. Der Rest wollte und wollte nicht kommen. Als das<br />
Kind – es war ein Mädchen – endlich da war, war es tot. Ejah blutete<br />
und blutete, es wollte nicht aufhören. Sie wurde bleicher und<br />
bleicher, bis auch ihr Geist sie verlassen hatte. <strong>Die</strong> Sonne ging unter,<br />
ich sank zusammen und glaubte, ebenfalls zu sterben.<br />
Als ich aufwachte, neben mir krähte <strong>der</strong> Knabe, war es Tag, und<br />
Schäfchenwolken zogen über den Himmel. Vor mir weideten die<br />
Bergziegen. Bei einer <strong>der</strong> Ziegen stand ein Zicklein und saugte an<br />
dem Euter <strong>der</strong> Mutter.<br />
Ich nahm mein Wurfholz und surrend traf es den Kopf <strong>der</strong> Ziege.<br />
Bevor sie aus ihrer Betäubung aufwachte, hatte sie eine Schlinge<br />
um den Hals und war angebunden an einem Baumstamm. Vorsichtig<br />
legte ich den Knaben an einen ihrer Euter, das Zicklein<br />
beiseite drängend. Kräftig begann <strong>der</strong> Knabe zu saugen.<br />
Ich begrub mein Weib und die ungelebte Zwillingsschwester<br />
meines Sohnes und band diesen auf meinen Rücken 4 . Während ich<br />
nach dem Totem griff, erhielt ich einen Stoß von <strong>der</strong> Ziege in die<br />
Seite …<br />
… und erwachte. Ich fühlte den Schmerz. Aber er kam nicht<br />
von dem Ziegenschubs, son<strong>der</strong>n von dem <strong>Wurzel</strong>männchen, das<br />
ich im Schlaf unter mir begraben hatte.<br />
Es war schon hell. Ich nahm meine <strong>Alraune</strong>wurzel in die Hand.<br />
„Bist Du es, die mir diese blöden Träume eingegeben hat?”<br />
4 Der Tod <strong>der</strong> Mutter bei <strong>der</strong> Geburt zwingt den Vater dazu, sich tierische Muttermilch<br />
zu beschaffen. Beispielhaft wird hier <strong>der</strong> Übergang vom Wildbeuter zum Hirten<br />
deutlich, <strong>der</strong> historisch um diese Zeit einsetzt.<br />
Symbolisch deutet <strong>der</strong> Tod des Zwillingsmädchens an, dass die Zeit für das Seßhaftwerden<br />
des Menschen noch nicht gekommen ist. <strong>Die</strong>se „Neolithische Revolution”,<br />
ebenfalls eine Folge <strong>der</strong> Vernichtung <strong>der</strong> Großwildherden, geschieht erst zweitausend<br />
Jahre später zu Beginn <strong>der</strong> Jungsteinzeit.
Ist Oojeh nun zu seiner eigenen Horde zurückgekehrt o<strong>der</strong> zu<br />
<strong>der</strong> seines Weibes, um ihnen von ihrem Tod zu erzählen und um<br />
eine Ersatzmutter für seinen Sohn zu bitten?<br />
Ich wurde die beiden Träume nicht los. In Wachträumen fabulierte<br />
mein Geist, wie die Geschichte wohl weiterging.<br />
Das Ergebnis war die folgende Legende von <strong>der</strong> „Tochter des<br />
Schamanen”.
2. <strong>Die</strong> Tochter des Schamanen<br />
<strong>Die</strong> Frau hockte schon seit Stunden vor <strong>der</strong> Feuerstelle, – im<br />
Halbkreis um sie herum die übrigen Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Sippe. Im flackernden<br />
Schein des Feuers leuchtete ein Stein auf, <strong>der</strong> eine Grabstätte<br />
verschloss 5 .<br />
Sie waren am Nachmittag aus dem Tal heraufgekommen, hatten<br />
den Stein beiseite gewälzt, die Grabstätten gesäubert, Gaben<br />
hineingestellt und den Stein wie<strong>der</strong> vor die Graböffnung geschoben.<br />
Dann hatte die Frau in das Wasser, das sie in <strong>der</strong> letzten<br />
Vollmondnacht vor Frühlingsanfang aus <strong>der</strong> heiligen Quelle geschöpft<br />
hatte, eine nur ihr bekannte Mixtur aus Kräutern gestreut<br />
und den Tontopf in das Feuer gestellt. Im Duft <strong>der</strong> betäubenden<br />
Dämpfe wiegte sie ihren Oberkörper hin und her und flehte die<br />
Geister <strong>der</strong> Verstorbenen um Hilfe für die Lebenden an 6 .<br />
5 <strong>Die</strong> Hirtennomaden <strong>der</strong> Jungsteinzeit begruben ihre Toten in Steingräbern, einmal<br />
um sie vor dem Fraß <strong>der</strong> Wildtiere zu schützen, zum an<strong>der</strong>n um die Grabstätte in <strong>der</strong><br />
Weite <strong>der</strong> Steppe wie<strong>der</strong>zufinden, wenn es galt, an<strong>der</strong>e Sippenangehörige dort zu begraben<br />
bzw. die Geister <strong>der</strong> Verstorbenen zu besänftigen.<br />
Manche <strong>der</strong> in solchen Steingräbern gefundenen Skelette deuten darauf hin, dass die<br />
Toten in Hockerstellung begraben wurden, Man nimmt an, dass diese Toten, verschnürt<br />
in Weidengeflecht, aufgehoben wurden, bis die Horde das Sippengrab erreichte.<br />
6 <strong>Die</strong> Welt, in <strong>der</strong> die Menschen des frühen Neolithikums lebten, war erfüllt von Geistern.<br />
<strong>Die</strong> Seelen <strong>der</strong> Toten verließen die Körper und bestimmten als Schutzgeister<br />
o<strong>der</strong> böse Geister das Schicksal <strong>der</strong> Lebenden.<br />
In dieser manisch-magischen Welt, die den Animismus <strong>der</strong> Altsteinzeit abgelöst hatte,<br />
versuchten die Schamanen mit diesen Geistern Kontakt aufzunehmen, um das gnaden-<br />
o<strong>der</strong> schadensreiche Wirken mächtiger Toter aus dem Grab heraus vorhersagen<br />
zu können. Dazu versetzten sich die Schamanen mit Hilfe bestimmter Ingredienzien in<br />
einen psychotischen Rauschzustand. Zweifellos wussten sie um die Betäubungswirkung<br />
bestimmter Alkaloide in <strong>der</strong> <strong>Wurzel</strong> <strong>der</strong> <strong>Alraune</strong>, um die Rauschzustände durch<br />
den Genuss von Fliegenpilzen, um die LSD-Wirkung von Mutterkorn und des Krötengiftes<br />
Bufotenin.
Sie sah im flackernden Licht die Ritzzeichnung auf dem Stein:<br />
eine Sonne im Osten, die Wellenlinie und die Silhouette eines<br />
Bootes. Der hier begraben lag, war ihr Vater, <strong>der</strong> große Schamane,<br />
<strong>der</strong> sie auf einem Floß über das Meer aus dem Osten hierher geführt<br />
hatte. Spätere Generationen werden ihn Kronos nennen, weil<br />
er ein neues Zeitalter begründet hat.<br />
Dort unten am Fluss waren sie vor Jahren auf Flößen mit Hab<br />
und Gut angekommen. Ihre Gedanken wan<strong>der</strong>ten zurück.<br />
Aufgewachsen war sie zusammen mit ihrem Zwillingsbru<strong>der</strong> in<br />
einem Dorf an einem großen Meer. Ständig war in <strong>der</strong> Ferne das<br />
Donnern eines großen Wasserfalles zu hören und ständig stieg <strong>der</strong><br />
Wasserspiegel des Meeres. <strong>Die</strong> Fischer klagten von Jahr zu Jahr<br />
mehr, dass <strong>der</strong> Fischreichtum zurückging und dass das Wasser salziger<br />
wurde.<br />
Das muss nicht immer so gewesen sein. Ihr Vater hatte ihr erzählt,<br />
dass zu Zeiten seines Vaters kein Donnern eines Wasserfalls<br />
zu hören war, dass <strong>der</strong> Meeresspiegel gleichbleibend, das Wasser<br />
süß und das Meer voller Fische war.<br />
Ihr Großvater, ebenfalls Schamane <strong>der</strong> Sippe, hatte in einer kalten<br />
Winternacht, zu <strong>der</strong> Zeit, als die Tage wie<strong>der</strong> anfingen, länger<br />
zu werden, im Südosten kurz vor Sonnenaufgang das Füllhorn Tritons,<br />
des Wassermanns, so glitzern gesehen, dass die Sterne des<br />
Füllhorns zusammen mit den ersten Sonnenstrahlen sich im hohen<br />
Schnee bis zu ihm ergossen. Er prophezeite seiner Sippe ein wasserreiches<br />
Frühjahr.<br />
Er sollte Recht behalten. Der warme Regen des Frühjahrs<br />
schmolz den Schnee ungewöhnlich rasch hinweg und ließ die Flüsse<br />
ansteigen. Dann begann es. Zuerst war es nur ein fernes Rauschen,<br />
das sich binnen Wochen zu dem seitdem gewohnten Donnern des<br />
Wasserfalls<br />
Jahr für Jahr opferte die Sippe ihre erstgeborenen Kin<strong>der</strong> dem<br />
Wassergeist und flehte ihn an, in sein altes Bett zurückzukehren.
Es half nichts. Auch ihr älterer Bru<strong>der</strong> war auf diese Weise geopfert<br />
worden.<br />
Als ihre Mutter, Tochter des Sippenältesten eines befreundeten<br />
Hirtenstammes, danach Zwillinge gebar, wurde gelobt, dass dieser<br />
Segen auch dem Stamme ihrer Mutter zuteil werden sollte. Ihr<br />
Zwillingsbru<strong>der</strong> war, seit er Mann war, Mitglied dieses Hirtenstammes.<br />
Wie es ihm wohl gehen mag? Seit das Wasser auch die Weiden<br />
jenseits des Dorfes überspült hatte, war <strong>der</strong> Hirtenstamm, wie<br />
sonst alljährlich, nicht mehr vorbeigekommen. 7 .<br />
Ihr Vater hatte bis zur Erschöpfung im Tanz die Geister angefleht,<br />
seiner Sippe zu helfen. Da, als das Dorf schon rings vom<br />
7 Etwa um 5600 v. Chr. stürzten die Fluten des Mittelmeeres am Bosporus in das<br />
Schwarze Meer, dessen Ufer ehemals gut 120 m unter dem heutigen Wasserspiegel lag.<br />
Mit <strong>der</strong> Eisschmelze am Ende <strong>der</strong> Eiszeit um 12 500 v. Chr. sammelte sich das<br />
Schmelzwasser zunächst in den Bodensenken, die <strong>der</strong> Druck <strong>der</strong> gewaltigen Eisschicht<br />
geschaffen hatte. <strong>Die</strong> Riesenschmelzwasserseen hatten nach Süden zunächst keinen<br />
Abfluss, weil <strong>der</strong> Eisschild in seinem Vordringen die nachgebende Erdkruste als Erdwall<br />
vor sich hergeschoben hatte. Erst als diese Seen überquollen, ergoss sich das Schmelzwasser<br />
kaskadenartig in den Aralsee, das Kaspische Meer und das Schwarze Meer. Der<br />
Meeresspiegel des Schwarzen Meeres stieg dadurch über den des Mittelmeeres. Das<br />
Süßwasser des Schwarzen Meeres schuf sich einen Abfluss ins Marmarameer, und dieses<br />
über die Dardanellen einen ins Mittelmeer.<br />
<strong>Die</strong> Phase <strong>der</strong> nacheiszeitlichen Erwärmung wurde durch einen Rückfall in fast eiszeitliche<br />
Umweltbedingungen zwischen 10 500 bis 9 400 v. Chr. unterbrochen, eine Periode,<br />
die sich durch extreme Trockenheit auszeichnete.<br />
Das Schmelzwasser wurde spärlicher und floss nicht mehr nach Süden, son<strong>der</strong>n nach<br />
Westen in Nord- und Ostsee (Urstromtäler). Der Meersspiegel des Schwarzen Meeres<br />
sank unter den des Mittelmeeres.<br />
Menschen und Tiere entflohen <strong>der</strong> Unwirtlichkeit ihrer bisherigen Lebensräume und<br />
fanden an den Süßwasserufern des Schwarzen Meeres eine neue Heimat. <strong>Die</strong> Archäologen<br />
haben in Kleinasien viele während dieser Jahrtausende aufgegebene Siedlungsstätten<br />
gefunden.<br />
In diesem kulturellen Schmelztiegel an den Ufern des Schwarzen Meeres muss es zu<br />
vielen Errungenschaften des Neolithikums gekommen sein.<br />
Erst nach <strong>der</strong> Katastrophe in <strong>der</strong> Mitte des 6. Jahrtausends tauchen die Bandkeramiker<br />
in Europa, die Städtesiedlungen in Jericho und die Sumerer an Euphrat und Tigris auf.<br />
Sprachforscher haben eine Verwandtschaft des Baskischen mit dem Schrifttum <strong>der</strong><br />
Sumerer festgestellt.
Wasser umspült war, ist ihm <strong>der</strong> Flussgeist des Westens erschienen<br />
und hat ihn aufgefor<strong>der</strong>t, aus den Balken <strong>der</strong> Häuser Flöße zu bauen<br />
und zu ihm zu kommen.<br />
Sie erinnert sich noch genau, wie sie die Balken zusammengebunden<br />
hatten, günstige Ostwinde abgewartet, Felle als Segel aufgespannt<br />
und mit Hab und Gut in tage- und nächtelanger Fahrt,<br />
vorbei an aus dem Wasser ragenden toten Bäumen, die Mündung<br />
des Flusses erreicht hatten. Kurz vor ihrem Aufbruch war ihre<br />
Mutter gestorben. Seitdem trug sie das Totem <strong>der</strong> Sippe ihrer<br />
Mutter, die <strong>Wurzel</strong> <strong>der</strong> <strong>Alraune</strong>.<br />
<strong>Die</strong> Augen <strong>der</strong> Frau schweiften nach oben. Noch standen die<br />
Zwillingssterne im Zenith. Erst wenn sie im Osten erloschen,<br />
würde die Sonne aufgehen, ein Zeichen, dass <strong>der</strong> Frühling nahte.<br />
Als Kin<strong>der</strong> hatten sie und ihr Zwillingsbru<strong>der</strong> diese Sterne als ihre<br />
Sterne angesehen, ihr Bru<strong>der</strong> den etwas helleren und sie den etwas<br />
kleineren. Als <strong>der</strong> endgültige Abschied von ihrem Bru<strong>der</strong> nahte,<br />
hatte sich die Geschwisterliebe in eine verzehrende Leidenschaft<br />
gewandelt. Ob er beim Anblick dieser Sterne heute noch seiner<br />
Schwester gedachte wie sie dabei an ihren fernen Bru<strong>der</strong> und Vater<br />
ihrer Tochter denken musste? War etwa <strong>der</strong> Tod ihrer Tochter die<br />
Sühne für das von ihnen als Angehörige des gleichen Totems verletzte<br />
Tabu? 8<br />
Ihr Blick wandte sich wie<strong>der</strong> dem Stein zu. <strong>Die</strong> dort eingeritzte<br />
Ähre wies darauf hin, dass auch ihre Tochter ab heute in dem Grabe<br />
lag.<br />
Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ihre Gedanken schweiften<br />
zurück zu den Tagen, als sie für ihren toten Vater diese Grabstätte<br />
errichteten.<br />
Ihre Tochter, die sie zärtlich Kore nannte, rannte geschäftig um<br />
die Grabstätte herum und streute überall Samen und Körner auf<br />
die aufgeschüttete Erde, damit <strong>der</strong> Ahne in seinem jenseitigen Leben<br />
etwas zu essen hatte.<br />
8 vgl. (3)
Auch bei <strong>der</strong> Rückkehr ins Tal spielte sie noch den Großvater<br />
mit Nahrung versorgen. Sie hatte den Boden zu einer Grabstätte<br />
aufgelockert und streute Körner von Emmer und Erbsen auf diese<br />
simulierte Grabstätte.<br />
Ein leichtes Lächeln huschte über die Gesichtszüge <strong>der</strong> Hockenden,<br />
als sie daran dachte, wie zornig ihre Tochter geworden<br />
war, als die Vögel begannen, diese Körner aufzupicken, wie sie sie<br />
mit einem Reisigbesen verscheucht hatte und dann mit diesem Besen<br />
die Körner zum Schutz vor diesen Vögeln unter die Erde geharkt<br />
hatte.<br />
Im Frühjahr hatte sich dichtes Grün über die von ihrer Tochter<br />
angelegte Grabstätte gebreitet. Im Laufe <strong>der</strong> Monde entfalteten<br />
sich daraus Ähren tragende Halme und Erbsen tragende Wicken.<br />
<strong>Die</strong> Menschen sahen es mit Staunen, dankten dem Geist des verstorbenen<br />
Schamanen für diesen Segen und vergaßen nicht, einen<br />
Teil <strong>der</strong> Ernte dem Ahnengeist zu opfern.<br />
Als sie auch oben beim Grab des Schamanen diese Ährenfülle<br />
vorfanden, sahen sie darin den Willen des verehrten Toten, seine<br />
Enkelin mit dem Ahnenkult zu betrauen.<br />
Von Jahr zu Jahr stieg <strong>der</strong> Ertrag <strong>der</strong> Ernte, <strong>der</strong> Bestand <strong>der</strong><br />
Viehherde und auch die Zahl <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Sippe. Der Segen<br />
des Schamanen blieb <strong>der</strong> Sippe erhalten<br />
Ja, bis die Katastrophe hereinbrach. Es war ein sehr mil<strong>der</strong> Vorfrühling<br />
gewesen. <strong>Die</strong> Saat stand schon hoch im Grün. Jetzt zum<br />
Frühlingsanfang zogen sie hinauf zum Grab des Schamanen, um die<br />
Grabstätte zu säubern und mit ihm den Frühlingsanfang zu feiern.<br />
Ihre Tochter war vorausgeeilt, Von Ferne sahen sie, wie Kore<br />
mit einem Stock Ziegen vom Grab des Ahnen vertrieb, die die frische<br />
Saat abfraßen. Mit Entsetzen sahen sie aber auch, wie <strong>der</strong> fremde<br />
Hütejunge seine Hunde auf das Mädchen hetzte und wie diese die<br />
Enkelin des Schamanen zerfleischten. Bevor sie eingreifen konnten,<br />
waren Hütejunge, Hunde und Ziegen im Wald verschwunden.<br />
Fassungslos hatte sie sich über das tote Kind ihrer Liebe zu ihrem<br />
Zwillingsbru<strong>der</strong> geworfen, laut heulend die Haare gerauft, das
Gesicht mit Erde beschmiert, dann wie<strong>der</strong> tagelang versteinert neben<br />
ihrer Tochter gehockt und sie schließlich im Tal in einem<br />
Weidengeflecht aufgebahrt, bis ihr Tod gerächt werden konnte.<br />
Auch <strong>der</strong> Geist des Schamanen zürnte. An seinem Grab wuchsen<br />
keine Früchte, im Tal hatte ein Sommerhochwasser die Saat<br />
mitsamt <strong>der</strong> Erde weggespült.<br />
<strong>Die</strong> Gedanken <strong>der</strong> Hockenden kehrten in die Gegenwart zurück.<br />
Jetzt nach Jahr und Tag waren sie des Hütejungen habhaft<br />
geworden. Er lag als gefesseltes Bündel neben ihr.<br />
Ihre Züge versteinerten sich. Auf einen Wink hin hoben Männer<br />
den Gefangenen hoch und hielten seinen Kopf über das Loch<br />
<strong>der</strong> Grabstätte, aus dem die Seelen <strong>der</strong> Verstorbenen aus- und einfliegen<br />
konnten. <strong>Die</strong> Frau erhob sich und schnitt dem Hütejungen<br />
die Kehle durch, so dass sein Blut durch das Grabloch den Geistern<br />
<strong>der</strong> Ahnen als Sühneopfer zufließen konnte.<br />
Drei mitgefangene Ziegen des Hütejungen wurden ebenfalls geschächtet<br />
und dann als Brandopfer zu Ehren <strong>der</strong> Toten verspeist.<br />
Der tote Hütejunge wurde den Hunden zum Fraß vorgeworfen.<br />
Der Oberkörper <strong>der</strong> Hockenden wippte mit ausgebreiteten<br />
Armen vor und zurück. Ihr Singsang schwoll an, mit aufgerissenen<br />
Augen blickte sie ins Leere. Ihr durch die Kräuter erweitertes Bewusstsein<br />
schien etwas zu sehen. Gebannt starrten die Sippenmitglie<strong>der</strong><br />
sie an und warfen sich dann zitternd zu Boden. Erst als <strong>der</strong><br />
Singsang erstarb, wagten sie wie<strong>der</strong> aufzublicken. Sie sahen, dass<br />
die Frau sie fixierte, sie schien wie<strong>der</strong> in die Gegenwart zurückgekommen<br />
zu sein.<br />
Mit erschöpfter Stimme erklärte sie ihrer Sippe, dass <strong>der</strong> große<br />
Schamane ihr erschienen sei, die dargebrachten Opfer angenommen<br />
habe, gleichwohl bleibe <strong>der</strong> Ort wegen <strong>der</strong> Untat unfruchtbar.<br />
Er habe sie aufgefor<strong>der</strong>t, weiter flussaufwärts nach Westen zu<br />
ziehen, bis sie an einer Flussaue einen weidenden Stier mit seiner<br />
Herde fänden. Dort sollten sie sich nie<strong>der</strong>lassen, dort werde sein<br />
Geist sie auch weiterhin beschützen, denn <strong>der</strong> Stier sei ja das Totem<br />
<strong>der</strong> Sippe.
Sie fanden die Stelle. <strong>Die</strong> eingebrachte Saat trug reichhaltige<br />
Frucht. Der dort in den Fluss mündende Bach lieferte nicht nur<br />
sauberes Trinkwasser, son<strong>der</strong>n enthielt auch gelbe Steine, die<br />
schwerer waren als normale Steine, aber nicht splitterten, wenn<br />
man sie bearbeitete 9 . Aus Dankbarkeit formten geschickte Hände<br />
daraus Stiersymbole und stellten diese Totems als Schutz vor die<br />
Hütten.<br />
Als nach Jahr und Tag ein Händler mit seinem Tragtier bei ihnen<br />
erschien und Bernstein gegen Otterfelle tauschen wollte, sah<br />
er diese Stiersymbole. Er bot für ein solches Stiersymbol milchige<br />
Steine, die er weiter im Westen erworben hatte. Dort seien Berge,<br />
die so hoch wären, dass man ihre Spitzen nicht sehen könne.<br />
Wahrscheinlich schabten diese Spitzen an dem Himmel und diese<br />
milchigen Steine, die ja wie <strong>der</strong> Himmel aussehen, wenn die Sonne<br />
nicht scheine, fielen herunter. <strong>Die</strong> Bewohner <strong>der</strong> Berge würden<br />
damit ihr Fleisch einreiben, das Fleisch schmecke danach ganz an<strong>der</strong>s,<br />
er habe es selbst ausprobiert 10 .<br />
<strong>Die</strong> Tochter des Schamanen fragte den Händler, ob er weiter<br />
im Osten eine Sippe kenne, die ein Totem habe, das so aussähe,<br />
wie das <strong>Wurzel</strong>männchen, das sie hier am Gürtel trage.<br />
In dreißig Tagereisen hoffe er da zu sein, war seine Antwort, <strong>der</strong><br />
Sippenälteste sei so alt wie sie, sähe ihr sehr ähnlich und hieße<br />
Zeus. Da übergab sie dem Händler ein weiteres Stiertotem und<br />
bat ihn, dieses Totem dem Zeus von seiner Zwillingsschwester<br />
Demeter zu überreichen.<br />
9 Gold kam in vielen Flüssen vor. Wie an<strong>der</strong>e Mineralien wurde es aus den Felsen gewaschen,<br />
blieb jedoch wegen seines hohen spezifischen Gewichtes und seiner chemischen<br />
Bindungsresistenz länger artrein in den Flussbetten eingelagert. Julius Cäsar hat<br />
Gallien erobert, nicht zuletzt um an das keltische Gold zu kommen, das diese wahrscheinlich<br />
auch aus dem Rhein (Rheingold) gewonnen hatten. Spätere römische Kaiser<br />
führten aus demselben Grund Krieg mit den Thrakern, die an <strong>der</strong> unteren Donau siedelten.<br />
Der kalifornische Goldrausch in <strong>der</strong> Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts am Sacramento<br />
o<strong>der</strong> am Ende dieses Jahrhun<strong>der</strong>ts in Alaska am Klondike sind Beispiele in <strong>der</strong> Neuzeit.<br />
10 <strong>Die</strong> milchigen Steine des Händlers sind Steinsalze aus dem Salzkammergut, die ebenso<br />
wie <strong>der</strong> Bernstein <strong>der</strong> Ostsee schon in frühester Zeit Gegenstand des Handelns waren.
Sie hoffe ihren Bru<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Ahnenverehrung an <strong>der</strong> Grabstätte<br />
ihres Vaters zu treffen. Sie werde da sein, wenn ihrer bei<strong>der</strong><br />
Sterne zum dritten Male im Osten dem Sonnenaufgang weichen<br />
müssten. Sie beschrieb dem Händler den Ort <strong>der</strong> Grabstätte <strong>der</strong><br />
Stiersippe und entließ ihn mit <strong>der</strong> Bitte, ihrem Bru<strong>der</strong> die Nachricht<br />
zu übermitteln.<br />
Am Tage des Treffens erschien Zeus mit einem wun<strong>der</strong>schönen<br />
Stier als Geschenk für seine Schwester und <strong>der</strong> Sippe seines Vaters.<br />
Demeter war jedoch vor einem halben Jahr gestorben.<br />
Ein Stier hatte sie angegriffen, seine mächtigen, geschwungenen<br />
Hörner tief in ihre Brust gebohrt und sie hoch über seinen Nacken<br />
zu Boden geschleu<strong>der</strong>t, wo sie tot liegen blieb. Sie hatte versucht,<br />
ihn und seine Herde von dem Feld mit <strong>der</strong> frischen Saat zu vertreiben.<br />
Nun am Tage des Wie<strong>der</strong>sehens führten ihre Leute sie in einem<br />
Weidenkorb mit, um sie neben ihrem Vater und ihrer Tochter in<br />
dem Sippengrab beizusetzen.<br />
Nach <strong>der</strong> Totenfeier nahm Zeus das <strong>Wurzel</strong>männchen seiner<br />
Schwester an sich, da sie die letzte <strong>der</strong> Stiersippe war, die über ihre<br />
Mutter gleichzeitig auch <strong>der</strong> Sippe <strong>der</strong> <strong>Alraune</strong> angehörte. Um auch<br />
in <strong>der</strong>en Sippengrab Teile <strong>der</strong> verehrten Toten bestatten zu können,<br />
erhielt Zeus den Schädel seiner Schwester als Grabbeigabe 11 .<br />
11 Auch heute noch werden die Überreste verehrenswürdiger Tote auf mehrere Gedenkstätten<br />
verteilt. Man denke nur an die Reliquien <strong>der</strong> heutigen Glaubensgemeinschaften.<br />
Ein Überbleibsel <strong>der</strong> Steinzeit?
III. Im Zeitalter des Stieres<br />
4 380 v. Chr. – 2 220 v. Chr.
Ahnen werden zu Göttern<br />
Über <strong>der</strong> Ansiedlung am Meer lag eine flirrende Hitze. <strong>Die</strong><br />
Sonne stand im Sternzeichen <strong>der</strong> Großen Mutter, die Ernte war eingebracht.<br />
<strong>Die</strong> Zeit für die Große Vereinigung zwischen <strong>der</strong> Göttin<br />
und dem Stier war nahe. Sie wurde alle 100 Monde gefeiert und<br />
<strong>der</strong> letzte <strong>der</strong> 100 Monde stand kurz vor seiner Vollendung 12 .<br />
Aus allen Dörfern des Stammes waren die Menschen mit ihren<br />
Opfergaben herbeigeströmt und hatten sie am Altar <strong>der</strong> Großen<br />
Mutter nie<strong>der</strong>gelegt, wo sie von <strong>der</strong> Schreiberin <strong>der</strong> Hohenpriesterin<br />
aufgezeichnet und dann den Vorräten <strong>der</strong> Göttin hinzugefügt<br />
wurden 13 .<br />
<strong>Die</strong> Weisen Frauen <strong>der</strong> einzelnen Siedlungen saßen mit Hekate,<br />
<strong>der</strong> Hohenpriesterin, zusammen, um Probleme des Stammes zu<br />
besprechen. Seit Jahren schon waren die Dörfer im Norden Opfer<br />
<strong>der</strong> Überfälle von Hirtenstämmen. Es waren Ungeheuer mit Pferdeleibern<br />
und menschlichen Oberkörpern sowie fürchterlichen<br />
12 In <strong>der</strong> Mitte des 4. Jahrtausends v. Chr. im Zeitalter des Stieres trat die Sonne Mitte<br />
Juni in das Sternbild <strong>der</strong> Jungfrau. Es war die Zeit, in <strong>der</strong> die Steinzeitbauern ihre Ernte<br />
einbrachten. Schon sie sahen in <strong>der</strong> Sternansammlung um den Hauptstern Spica eine<br />
weibliche Gestalt, eben die ihrer Großen Mutter.<br />
13 Bei den Ausgrabungen auf Kreta fand man zwei verschiedene Schriftformen, die in<br />
<strong>der</strong> Schriftforschung mit „Linear A” und „Linear B” gekennzeichnet werden.<br />
<strong>Die</strong> jüngere Schrift, Linear B, hat man inzwischen weitgehend entziffern können, weil<br />
die mykenischen Eroberer Kretas, etwa ab 1 500 v. Chr., sie für die Darstellung ihrer<br />
protohellenischen Sprache verwandten, die den Forschern bekannt ist.<br />
Linear A entzieht sich aber bis heute noch <strong>der</strong> Deutung, weil die Sprachforscher nicht<br />
wissen, welche Sprache im minoischen Kreta gesprochen wurde. Interessant ist aber,<br />
dass diese Schriftzeichen eine große Ähnlichkeit mit alteuropäischen Schriftzeichen aus<br />
dem 4. Jahrtausend aufweisen, wie man sie bei Ausgrabungen auf dem Balkan gefunden<br />
hat. Es wird vermutet, dass es sich bei den Schriftfunden um Inventarlisten von<br />
Opfergaben handelt.
Waffen: Streitäxte und Bögen, <strong>der</strong>en Pfeile weiter flogen als die des<br />
Stammes 14 .<br />
Außerdem musste <strong>der</strong> Ablauf des hohen Festes besprochen werden.<br />
Das Fest selbst würde nach uraltem Ritus ablaufen.<br />
Erst wird <strong>der</strong> heilige Weiße Stier die von den Bauern mitgebrachten<br />
Kühe besamen.<br />
Dann wird das Stierspringen stattfinden. Jedes Dorf wird seinen<br />
kräftigsten Jungstier als Opfertier mitbringen, gegen die freiwillig<br />
junge Männer antreten, um, den Stier bei den Hörnern packend,<br />
im Salto über ihn hinweg zu springen. Der jeweilige Verlierer,<br />
Springer o<strong>der</strong> Stier, wird <strong>der</strong> Großen Mutter feierlich zum Opfer<br />
dargebracht.<br />
Danach wird von den Weisen Frauen in geheimer Wahl <strong>der</strong>jenige<br />
ausgewählt, <strong>der</strong> als heiliger Stier, aus dem Meer aufsteigend,<br />
mit <strong>der</strong> Großen Mutter, versinnbildlicht in einer jungfräulichen<br />
Priesterin als heiliger Kuh, die Heilige Hochzeit feiert.<br />
In <strong>der</strong> Ansiedlung selbst herrschte geschäftiges Treiben. Ein<br />
Händler hatte seinen Stand aufgebaut und bot Bernstein sowie<br />
Felle seltener Tiere aus dem Norden gegen Perlen sowie Kupfer<br />
und an<strong>der</strong>e Metalle an 15 . Mehr noch als <strong>der</strong> Händler erregte sein<br />
Begleiter, ein großer blon<strong>der</strong>, fremdländisch gekleideter Jüngling,<br />
die Aufmerksamkeit <strong>der</strong> Menge.<br />
Ein junges Mädchen trat an den Stand, suchte sich eine Bern-<br />
14 Noch im 5. Jahrtausend v. Chr. lebten die Steinzeitbauern Südosteuropas getrennt<br />
von den Hirtenstämmen, die weiter im Osten nördlich des Schwarzen Meeres ihre<br />
Herden weideten. Zu Beginn des 4. Jahrtausends kam es allmählich zu Kontakten zwischen<br />
<strong>der</strong> alteuropäischen Bevölkerung und den Kurganvölkern, wie man heute diese<br />
ersten indogermanischen Stämme wegen ihrer Hügelgräber (Kurgane) nennt.<br />
<strong>Die</strong> Kontakte bestanden darin, dass die Nomaden nach <strong>der</strong> Erntezeit die Dörfer überfielen,<br />
um sich in den Besitz <strong>der</strong> Wintervorräte zu bringen. Sie ritten auf Pferden und<br />
waren mit ihren Doppelstreitäxten sowie ihren weiterreichenden Bögen den Dörflern<br />
militärisch weit überlegen. Angst und Schrecken ließ bei den überlebenden Flüchtlingen<br />
das Bild von Pferdemenschen (Zentauren) entstehen, eine Vorstellung, die in <strong>der</strong><br />
griechischen Mythologie sich nie<strong>der</strong>geschlagen hat.<br />
15 Metalle, wie Gold und Kupfer, waren den Menschen des 4. Jahrtausends bekannt.<br />
Doch verwendeten sie diese Metalle als Schmuckgegenstände. Ihr Werkzeugcharakter,<br />
vor allem mit <strong>der</strong> Legierung von Kupfer und Zinn, setzte erst später ein.
steinkette aus und bot dafür zwei Armreifen aus Kupfer. Der blonde<br />
Jüngling starrte sie unverwandt an und wurde feuerrot im Gesicht<br />
als sie ihn freundlich anlächelte.<br />
„Ich bin Europe, die Tochter von Hekate. Und wer bist Du?”<br />
„Asterios, Sohn des Kadmos”, stotterte er, denn soviel hatte er,<br />
trotz <strong>der</strong> ihm fremden Sprache, verstanden, dass sie sich ihm vorgestellt<br />
hatte.<br />
Als sie verschwunden war, bestürmte <strong>der</strong> Jüngling den Händler<br />
mit Fragen. Der erklärte ihm das bevorstehende Ritual und dass<br />
diesmal Europe die heilige Kuh sein werde, die <strong>der</strong> heilige Stier,<br />
aus dem Meer aufsteigend, befruchten werde. Ob auch Fremde am<br />
Stierkampf teilnehmen könnten, wollte er, ohne von <strong>der</strong> Technik<br />
des Stierspringens eine Ahnung zu haben, abschließend wissen.<br />
Am Tage des Stierspringens verfolgten Hun<strong>der</strong>te von Augenpaaren<br />
gespannt den Kampf zwischen Mensch und Stier.<br />
Von den sechs vor Asterios startenden Springern hatten vier einen<br />
Fehlsprung getan und waren anschließend von Stierhörnern<br />
zerfleischt worden.<br />
Als Asterios die Arena betrat und <strong>der</strong> Stier auf ihn zustürmte,<br />
packte <strong>der</strong> Jüngling ihn bei den langen Hörnern und ließ sich von<br />
ihm über den Nacken schleu<strong>der</strong>n. Doch mangels Springertechnik<br />
landete er nicht auf seinen Füßen, son<strong>der</strong>n fiel in den Sand <strong>der</strong><br />
Arena. So schnell jedoch wie <strong>der</strong> Stier wendete, so schnell stand<br />
Asterios wie<strong>der</strong> auf seinen Beinen. Mit einer geschickten Körperdrehung<br />
wich er dem heranstürmenden Stier seitwärts aus, packte<br />
ihn bei den Hörnern und drehte damit seinen Kopf so, dass <strong>der</strong> Stier<br />
von den Beinen kam und sich dabei gleichzeitig das Genick brach.<br />
Zweifellos war Asterios <strong>der</strong> Sieger, doch war dieser Kampf mit<br />
dem üblichen eleganten Stierspringen vergleichbar? Noch nie hatten<br />
die Zuschauer solchen Sieg eines Menschen über einen Stier<br />
gesehen. <strong>Die</strong> Weisen Frauen waren uneinig, ob <strong>der</strong> auf diese Weise<br />
besiegte Stier als Opfer für die Große Mutter dienen dürfe.<br />
Schließlich entschied Hekate, Asterios zu einer Befragung vor den<br />
Rat <strong>der</strong> Weisen Frauen zu laden.
„Woher kommst Du und wer bist Du?”, fragte Hekate. Asterios<br />
schaute fragend drein, bis eine <strong>der</strong> Weisen Frauen, seiner Sprache<br />
mächtig, übersetzte.<br />
„Ich komme aus dem Norden. Mein Name ist Asterios. Mein<br />
Vater ist <strong>der</strong> Fürst eines großen Hirtenstammes.<br />
Eure Art des Stierspringens ist uns fremd. Wir besiegen den<br />
Stier so, wie ich es tat. Wir töten die Stiere dabei nicht, wir markieren<br />
sie und dann lassen wir sie wie<strong>der</strong> frei.<br />
Unser Gott ist keine Frau. Unser Gott ist ein Mann. Er heißt<br />
Zeus.”<br />
Während Asterios sprach, fiel <strong>der</strong> Blick Hekates auf ein figürliches<br />
Etwas an seinem Gürtel. Sie erstarrte.<br />
„<strong>Die</strong> <strong>Wurzel</strong> <strong>der</strong> <strong>Alraune</strong>! Das heilige Kraut <strong>der</strong> Großen Mutter!<br />
Woher hast Du das?” Sie zeigte mit ihren Fingern auf das<br />
Zaubermännchen.<br />
„Das ist das Totem <strong>der</strong> Fürstensippe unseres Stammes. Es ist<br />
seit Urzeiten in unserer Familie. Meine Mutter gab es mir zum<br />
Schutz mit.”<br />
Asterios sah, wie die Frauen ihre Köpfe zusammensteckten und<br />
erregt in <strong>der</strong> ihm fremden Sprache miteinan<strong>der</strong> sprachen. Dann<br />
wandte sich Hekate wie<strong>der</strong> dem Fremdling zu und ließ übersetzen:<br />
„Du trägst das Heilige Zeichen. Dich hat die Große Mutter geschickt.<br />
Du bringst uns die Fruchtbarkeit. Du bist <strong>der</strong> Heilige<br />
Stier <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Heiligen Kuh die Heilige Hochzeit feiern wird.”<br />
Am Tage <strong>der</strong> Großen Vereinigung wurde am Strand das Weidengerüst<br />
errichtet. Über vier Pfosten war ein Weidengeflecht gespannt.<br />
Ein Kuhfell mit Kopf lag darüber.<br />
Langsam sank die Sonne im Westen. Auf dem Altar brannten<br />
Herz, Leber und Hirn <strong>der</strong> Opfer sowie Früchte <strong>der</strong> Fel<strong>der</strong>. <strong>Die</strong><br />
Priesterinnen umschritten singend den Altar. Der Rauch <strong>der</strong> Opfer<br />
stieg senkrecht nach oben. <strong>Die</strong> Große Mutter hatte das Opfer angenommen.<br />
<strong>Die</strong> Priesterinnen füllten die um den Altar aufgestapelten Op-
fergaben in geflochtene mit Blättern ausgelegte Schalen und verteilten<br />
die nun geweihten Gaben an die im großen Halbkreis um<br />
den Altar sitzenden Mitglie<strong>der</strong> des Stammes.<br />
<strong>Die</strong> Dämmerung brach herein und überall flammten kleine Feuer<br />
auf, an denen die Gaben zubereitet wurden.<br />
Im Osten zeigte sich ein heller Schein, dann stieg langsam <strong>der</strong><br />
volle Mond aus dem Meer auf.<br />
Das war das Zeichen für die Priesterinnen. Zusammen mit einer<br />
ganz in weißes Linnen gehüllten Gestalt schritten sie zu dem Weidengerüst,<br />
hoben die Gestalt hoch und legten sie bäuchlings auf<br />
das Weidengerüst. Sie nahmen das weiße Linnen weg und banden<br />
Hand- und Fußgelenke <strong>der</strong> nunmehr nackten Gestalt mit Weidenruten<br />
an den vier Pfosten fest. Dann legten sie ihr das Kuhfell über<br />
den Rücken.<br />
<strong>Die</strong> Weisen Frauen stellten sich im Halbkreis um das Weidengestell.<br />
Hekate begann zu beten und wiegte sich dabei mit ausgestreckten<br />
Händen hin und her.<br />
„Du, Große Mutter, bist Anfang und Ende. Du lässt unsere<br />
Saaten keimen, Du lässt unsere Früchte reifen, Du segnest unsere<br />
Ernte. Segne nun auch die Heilige Hochzeit <strong>der</strong> himmlischen<br />
Mondkuh mit dem Heiligen Stier aus dem Meer!”<br />
<strong>Die</strong> Menge im weiten Rund verstummte und hielt den Atem an.<br />
Aus dem Schatten <strong>der</strong> Klippe löste sich ein Stierhaupt,<br />
schwamm in den hellen Strahl, den das Mondlicht auf das Wasser<br />
warf und aus dem Meer stieg eine mächtige nackte Gestalt. Der<br />
Mann mit dem Stierhaupt zögerte, schaute sich suchend um und<br />
schritt dann mit bedächtigen Schritten auf die himmlische Mondkuh<br />
zu.<br />
<strong>Die</strong> Menge sah die Tropfen auf dem Körper des Mannes im<br />
Mondlicht schimmern, sah wie das Glied des Mannes immer<br />
mächtiger wurde, wie es rot im Schein <strong>der</strong> zahlreichen Feuer aufglänzte.<br />
Der heilige Stier hob das Fell <strong>der</strong> himmlischen Mondkuh und<br />
schob sein mächtiges Glied in das Vlies <strong>der</strong> Mondkuh. <strong>Die</strong> Frau
auf dem Weidengeflecht schrie auf. Der Mann hielt inne, streichelte<br />
ihre Brüste und schob sein Glied langsam immer tiefer in ihr<br />
Vlies hinein.<br />
Wie<strong>der</strong> hielt er inne, bis er merkte, dass <strong>der</strong> Schoß sein Glied<br />
annahm. Immer mehr fanden seine ziehenden und schiebenden<br />
Bewegungen Unterstützung. Seine Stöße wurden schneller, ihr<br />
Hinterteil hob und senkte sich im Rhythmus <strong>der</strong> Stöße. Sein Keuchen<br />
vermischte sich mit ihrem immer lustvoller klingenden Stöhnen.<br />
Das Weidengerüst wankte unter dem sich heftig bewegenden<br />
Gewicht bei<strong>der</strong> Körper. Schließlich stürzte es in sich zusammen.<br />
Der Mann befreite hastig die Frau von ihren Fesseln. Kaum befreit,<br />
drehte sie sich um, umschlang mit ihren Armen seinen Hals und<br />
mit ihren Beinen seine Hüften, bedeckte sein Gesicht mit Küssen<br />
und drängte mit einem lustvollen Stöhnen sein Glied wie<strong>der</strong> in ihren<br />
Schoß.<br />
<strong>Die</strong> Menge hatte zunächst atemlos <strong>der</strong> Heiligen Hochzeit zugesehen,<br />
sie dann aber mehr und mehr mit Anfeuerungsrufen begleitet.<br />
Nun aber, wo man nur noch sich am Boden wälzende, ineinan<strong>der</strong><br />
verschlungene Körper sah, folgten immer mehr Männer und<br />
Frauen dem erlebten Beispiel. Bald sah man auch hier verschlungene<br />
Körper, hörte das Stöhnen von Männern und das lustvolle Kreischen<br />
von Frauen.<br />
Der Heilige Stier und seine Mondkuh waren inzwischen erschöpft<br />
zusammengesunken. Nach einer Weile erhob sich <strong>der</strong><br />
Mann, nahm die Frau auf seine Arme und strebte unbemerkt von<br />
<strong>der</strong> Menge dem Wasser zu und entschwand mit ihr zu den Klippen,<br />
von denen er gekommen war.<br />
Zurück blieben ein Stierhaupt, ein Kuhfell und ein zerstörtes<br />
Weidengeflecht.<br />
Mit Frühjahrsbeginn, im Zeichen des Stieres, gebar Europe einen<br />
Sohn. Sie nannte ihn Tauros.
Als <strong>der</strong> Sommer zur Neige ging und die Ernte eingebracht war,<br />
traten zwei Ereignisse ein, die die Welt des Stammes verän<strong>der</strong>n<br />
sollte.<br />
Als erstes trafen Flüchtlinge aus dem Norden ein. Sie hatten<br />
Hab und Gut verloren durch die Überfälle <strong>der</strong> Hirtenvölker. Ihre<br />
Berichte glichen denen, die Hekate aus dem Vorjahr kannte.<br />
Fast gleichzeitig tauchte <strong>der</strong> Händler wie<strong>der</strong> auf. Er hatte den<br />
Eltern im Norden von den Erlebnissen und <strong>der</strong> Hochzeit ihres<br />
Sohnes berichtet. Als Geschenk für Asterios hatten sie dem Händler<br />
ein feuriges Ross, einen Eibenholzbogen mit reich verziertem<br />
Köcher sowie eine Doppelstreitaxt mit scharfer Onyxklinge<br />
mitgegeben.<br />
Hekate ließ Asterios rufen.<br />
„Asterios, Du kommst aus dem Norden. Sag mir, wie können<br />
wir uns gegen diese Hirtenvölker wehren?”<br />
„Komm Hekate, ich will Dir was zeigen. Hole den besten Bogenschützen<br />
des Stammes!”<br />
Als <strong>der</strong> Bogenschütze kam, for<strong>der</strong>te Asterios ihn auf, ein Ziel in<br />
<strong>der</strong> Reichweite seines Bogens anzuvisieren und zu schießen. Zitternd<br />
blieb <strong>der</strong> Pfeil in dem anvisierten Ziel stecken. Dann for<strong>der</strong>te<br />
ihn Asterios auf, fünfzig Schritte zurückzutreten und mit einem<br />
zweiten Pfeil das anvisierte Ziel zu treffen. Der Pfeil fiel dreißig<br />
Schritt vor dem Ziel zu Boden. An demselben Standort hob Asterios<br />
seinen Eibenholzbogen, zielte kurz und sein Pfeil blieb dicht<br />
neben dem ersten Pfeil des Bogenschützen stecken.<br />
Dann legte Asterios eine Melone in die Astgabel eines Baumes,<br />
sprang auf sein Pferd, preschte fünfzehn Schritt an dem Baum vorbei<br />
und schleu<strong>der</strong>te seine Streitaxt, die, nachdem sie die Frucht gespalten<br />
hatte, in <strong>der</strong> Baumgabel stecken blieb.<br />
Er zügelte sein Pferd vor Hekate und sprang ab.<br />
„Hekate, Du siehst, die Ungeheuer <strong>der</strong> Hirtenvölker sind keine<br />
Zentauren. <strong>Die</strong> Völker des Nordens haben das Pferd gezähmt, sie<br />
spannen es nicht nur vor ihre Wagen, son<strong>der</strong>n sie reiten sogar auf<br />
ihm, wie ich Dir gezeigt habe. Beides macht sie schneller und be-
weglicher. Sie haben Streitäxte und die Pfeile ihrer Bögen aus Eibenholz<br />
fliegen weiter als Eure Pfeile.<br />
Auf all diesen Gebieten ist Dein Stamm hoffnungslos unterlegen.<br />
Aber Ihr habt etwas, was die Hirtenvölker nicht haben. Ihr<br />
habt Boote.<br />
Ich bin mit Deinen Fischern drüben auf <strong>der</strong> Insel gewesen. Auf<br />
ihr sind Weiden, es fließen Bäche und sie ist menschenleer. Von<br />
den Bergspitzen <strong>der</strong> Insel kann man im Süden weitere Inseln sehen.<br />
Auch die sind, so haben es mir Fischer erzählt, fruchtbar und<br />
menschenleer.<br />
Lass die Flüchtlinge Deines Stammes auf dieser Insel dort draußen<br />
Häuser errichten und den Boden bebauen und sorge dafür,<br />
dass ihr restliches Hab und Gut und ihr Vieh mit den Booten zur<br />
Insel gebracht werden.”<br />
Hekate rief die Weisen Frauen zusammen. Als auch sie nach einer<br />
erneuten Demonstration durch Asterios von <strong>der</strong> waffentechnischen<br />
Überlegenheit <strong>der</strong> Hirtenvölker überzeugt waren, stimmten<br />
sie seinem Vorschlag zu.<br />
<strong>Die</strong> Flüchtlinge wurden aus den Vorräten <strong>der</strong> Großen Mutter<br />
mit dem Notwendigen ausgestattet. Europe sollte die Priesterin<br />
<strong>der</strong> Insel werden und auch den heiligen weißen Stier in Sicherheit<br />
bringen.<br />
Europe, Asterios und <strong>der</strong> kleine Tauros bestiegen das erste<br />
Boot. Im Schlepptau an einem Seil schwamm <strong>der</strong> weiße Stier<br />
hinterher 16 . <strong>Die</strong> an<strong>der</strong>en Boote folgten, beladen mit Saatgut und<br />
dem Kleinvieh. Auch sie hatten im Schlepptau schwimmende<br />
Kühe. Doch bedurfte es mehrerer Fahrten zwischen Festland und<br />
Insel, bis alles glücklich angelandet war.<br />
Fieberhaft arbeiteten die neuen Siedler, um vor den Herbst-<br />
16 Hier wurde versucht, den realen historischen Kern <strong>der</strong> in <strong>der</strong> griechischen Mythologie<br />
berichteten Entführung <strong>der</strong> Europa durch Zeus aufzuspüren, nämlich dass die alteuropäische<br />
Bevölkerung bei ihrer Flucht vor den patriarchalisch ausgerichteten Indogermanen<br />
ihre heiligen Stiere mitnahmen.
stürmen ein schützendes Dach zu errichten und die Saat in den<br />
Boden zu bringen. Mit den Stürmen brach die Verbindung zum<br />
Festland ab.<br />
In einer kleinen Höhle hatte Europe einen Altar errichtet. Im<br />
Kreise <strong>der</strong> Inselbewohner dankte sie <strong>der</strong> Großen Mutter, dass sie<br />
den Winden Einhalt geboten hatte, bis <strong>der</strong> Keim <strong>der</strong> Fruchtbarkeit<br />
in ihrer neuen Heimat dem Boden anvertraut werden konnte.<br />
<strong>Die</strong> Winterzeit hatte man in <strong>der</strong> Siedlung auf dem Festland dazu<br />
benutzt, für die auf <strong>der</strong> Insel verbliebenen Boote Ersatz zu<br />
schaffen. Zusätzlich wurde den Bootsbauern aufgetragen, größere<br />
seetüchtigere Boote zu entwickeln und anzufertigen. Außerdem<br />
hatte <strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> Weisen Frauen beschlossen, die Opfervorräte <strong>der</strong><br />
Großen Mutter, die als Ausgleich für schlechte Ernten dienen, auf<br />
die Insel auszulagern, damit sie dem Zugriff <strong>der</strong> Hirtenvölker<br />
entzogen werden.<br />
Hekate hatte ihrer Tochter mit dem Aufklaren des Wetters die<br />
Entscheidungen des Rates durch einen Fischer zukommen und Europe<br />
eine dafür geeignete größere Höhle herrichten lassen. So<br />
konnten schon vor dem Einbringen <strong>der</strong> neuen Ernte die Opfervorräte<br />
auf <strong>der</strong> Insel in Sicherheit gebracht werden.<br />
Asterios hatte mit Hilfe <strong>der</strong> größeren Boote die weiter draußen<br />
liegenden Inseln erkundet und auf ihnen Schafe und Ziegen ausgesetzt.<br />
Gleichzeitig wurden auf diesen Inseln Hütten für Fischer errichtet.<br />
<strong>Die</strong>se Fischer sollten mit den ihnen überlassenen kleineren Booten<br />
die besten Fischgründe erkunden und durch Trocknen und<br />
Räuchern Fangvorräte für die Zeiten anlegen, in denen sie nicht<br />
auf See hinaus fahren konnten.<br />
All diese Maßnahmen führten dazu, dass Siedlungen des Stammes<br />
um so früher aufgegeben wurden, je weiter sie im Norden lagen.<br />
Es führte dazu, dass <strong>der</strong> Bootsbau erweitert und verbessert
wurde und dass immer weiter draußen im Meer liegende Inseln besiedelt<br />
wurden 17 .<br />
Als Hekate starb, wurde auch die Siedlung am Meer aufgegeben.<br />
Streifende Horden <strong>der</strong> Hirtenvölker waren zuletzt nur noch<br />
eine Tagesreise nördlich <strong>der</strong> Siedlung gesehen worden.<br />
In einem Pithoi, einer mannshohen Totenvase, wurde ihre Leiche<br />
mit dem letzten Boot zur Insel gebracht, wo Europe sie erwartete.<br />
<strong>Die</strong> Totengruft für die Priesterinnen war feierlich hergerichtet<br />
worden.<br />
„Demeter. Große Mutter, nimm Deine Tochter Hekate, die<br />
Deine Stellvertreterin war, gnädig in Deinem Schoß wie<strong>der</strong> auf,<br />
aus dem sie gekommen war, um segensreich für Deine Kin<strong>der</strong> hier<br />
auf Erden zu walten.”<br />
So betete Europe, die inzwischen selbst das Amt <strong>der</strong> Hohenpriesterin<br />
übernommen hatte.<br />
17 Gegen Ende des 4. Jahrtausends tauchen auf den dem griechischen Festland östlich<br />
vorgelagerten Inseln, den Kykladen, bei den Funden Motive auf, wie sie aus <strong>der</strong> alteuropäischen<br />
Kultur bekannt waren. <strong>Die</strong> Archäologen haben sich darüber gewun<strong>der</strong>t,<br />
dass die Kykladenkultur um 3200 vor Chr. plötzlich aus dem Nichts auftaucht. Auf<br />
einer pfannenförmigen Palette, die man auf <strong>der</strong> Insel Syros ausgegraben hat, ist ein<br />
Schiff mit Fischverzierung (heilige Barke?) zu erkennen.<br />
Auf Kreta sind im 3.Jahrtausend nicht nur alteuropäische Siedler eingewan<strong>der</strong>t, son<strong>der</strong>n<br />
auch aus Kleinasien. Auch dort weicht die einheimische Bevölkerung dem Druck<br />
<strong>der</strong> indogermanischen Hirtenvölker durch Flucht auf die ägäischen Inseln. Sie brachten<br />
die Kenntnisse <strong>der</strong> Bronzeherstellung mit. Wahrscheinlich sind in ihre Schmelzöfen<br />
zufällig neben Kupfererze auch Zinnerze hineingeraten und, da Zinn eine nie<strong>der</strong>e<br />
Schmelztemperatur hat, dadurch eine Legierung aus Kupfer und Zinn, die Bronze angefallen.
IV. Im Zeitalter des Wid<strong>der</strong>s<br />
2 220 v. Chr. – 60 v. Chr.
1. Polytheismus: Nomadengötter und Bauerngötter<br />
Wie ein Pferd im Galopp so ritt das Schiff auf den sich in gleiche<br />
Richtung wälzenden Wogen. Auf dem Wellenkamm konnte<br />
man die Häuser von Phaistos noch sehen, im Wellental sah man<br />
nur noch den Kamm des Gebirges. Im Morgengrauen hatten sie<br />
den Hafen verlassen, ru<strong>der</strong>nd den Windschatten des Gebirges<br />
überwunden und nun das Rahsegel aufgezogen, das sie gleichmäßig<br />
nach Süden trieb.<br />
Nur sie, die Kreter, trauten sich, mit ihren Schiffen auf das offene<br />
Meer hinauszufahren. Ihr Inselleben hatte sie gezwungen, sich<br />
mit den Winden und den Meeresströmungen vertraut zu machen.<br />
Jetzt nach den Frühjahrsstürmen begann auf dem Festland im<br />
Norden die Schneeschmelze und es wehte ein gleichmäßiger<br />
Nordwind, <strong>der</strong> südlich <strong>der</strong> Insel bei schönem Wetter die Fahrt<br />
nach Afrika ermöglichte.<br />
So waren sie im Morgengrauen aus Phaistos ausgelaufen, drei<br />
Handelsschiffe und ein Kriegsschiff zu ihrem Schutz, um Handelsgüter<br />
nach Ägypten zu schaffen. Auf hoher See bestand keine Gefahr<br />
eines feindlichen Überfalls. Aber entlang <strong>der</strong> libyschen Küste<br />
auf dem Weg ins Nildelta konnten durchaus Piraten versucht sein,<br />
Beute zu machen.<br />
Der Kapitän des Kriegsschiffes beobachtete amüsiert die schmale<br />
Gestalt des Jünglings, <strong>der</strong>, sich am Achtersteven festhaltend, unverwandt<br />
den hinter dem Horizont versinkenden Gestaden Kretas<br />
nachstarrte. Erst als auch <strong>der</strong> letzte Zacken des Gebirges verschwunden<br />
war, drehte er sich um und schwankte bleich, offensichtlich<br />
mit einer beginnenden Seekrankheit kämpfend, auf den<br />
Kapitän zu.
„Wann werden wir wie<strong>der</strong> Land sehen?”, wollte er wissen.<br />
„Wenn wir genau gen Mittag segeln und <strong>der</strong> Wind so bleibt, in<br />
etwa drei Tagen. Doch wir müssen damit rechnen, dass nachts <strong>der</strong><br />
Wind einschläft. Außerdem segeln wir nicht direkt auf die afrikanische<br />
Küste zu, son<strong>der</strong>n, wie du siehst, zur Zeit auf die Sonne zu,<br />
obgleich sie erst die Hälfte ihres höchsten Standes erreicht hat.<br />
Dadurch segeln wir schräg auf die afrikanische Küste zu. <strong>Die</strong><br />
Strecke, die wir Richtung Sonnenaufgang entlang <strong>der</strong> afrikanischen<br />
Küste ru<strong>der</strong>n müssen, wird dadurch kürzer und damit die Gefahr<br />
feindlicher Überfälle.<br />
Alles in allem rechne ich mit fünf Tagen.”<br />
Wenig getröstet torkelte <strong>der</strong> seekranke Jüngling zur Reling und<br />
opferte dem Meeresgott seinen Mageninhalt.<br />
Am Abend des nächsten Tages schien er seine Seekrankheit<br />
überwunden zu haben. Er hatte eine frische Melone gegessen und<br />
kam nun, seine Bewegungen dem Rollen des Schiffes besser anpassend,<br />
auf den Kapitän zu.<br />
„Woran orientiert man sich eigentlich in <strong>der</strong> Nacht?”<br />
„Siehst du den großen Wagen hinter uns am Sternenhimmel?<br />
Wenn du dem Bogen <strong>der</strong> Deichsel folgst, kommst du zu drei großen<br />
Sternen. Sie stehen da, wo die Sonne am Vormittag steht.<br />
<strong>Die</strong>ses Sterndreieck wan<strong>der</strong>t des Nachts wie die Sonne über den<br />
Himmel. So wie wir tagsüber ständig unseren Kurs gegenüber dem<br />
Sonnenstand nach links verschieben, so verfahren wir des Nachts<br />
mit unserem Kurs gegenüber diesen drei Sternen 18 .<br />
Übrigens siehst du diese sieben eng beieinan<strong>der</strong> stehenden Sterne<br />
da, wo vorhin die Sonne untergegangen ist? Für uns Seeleute ist<br />
es das Blinzeln des Meeresgottes. Wenn im Frühjahr dieses Sieben-<br />
18 Gemeint sind die Sterne Arktur im Bootes, Spica in <strong>der</strong> Jungfrau und Denebola im<br />
Löwen. <strong>Die</strong>ses Dreieck war zur Orientierung in klaren Nächten für die Seefahrer sehr<br />
nützlich. Im Zeitalter des Wid<strong>der</strong>s erschien es im Monat März im Osten, wan<strong>der</strong>te des<br />
Nachts über den Meridian und senkte sich gegen Morgen im Westen.<br />
Heute bildet statt Denebola (Schwänzchen des Löwen) <strong>der</strong> hellere Stern Regulus (Herz<br />
des Löwen) zusammen mit Arktur und Spica eine größere Version des Frühlingsdreiecks.
gestirn am Abendhimmel auftaucht, wissen wir, dass <strong>der</strong> Gott uns<br />
einlädt, wie<strong>der</strong> aufs Meer hinaus zu fahren, ohne seine Stürme befürchten<br />
zu müssen 19 .”<br />
Am Nachmittag des fünften Tages kam die afrikanische Küste in<br />
Sicht. <strong>Die</strong> Schiffe fuhren ostwärts an ihr entlang, bis sie den Deltaarm<br />
des Nils erreichten, <strong>der</strong> sie nach Auaris, dem Ziel ihrer Reise<br />
brachte.<br />
Am Anleger standen schon die Lagerschreiber und registrierten<br />
die kretischen Güter: die schönen Vasen, die Bronzegefäße und<br />
Bronzewaffen, berühmt wegen ihrer Härte, sowie Honig und kretischen<br />
Wein. Als Gegenleistung luden die Schiffe Kupferbarren,<br />
Papyros und Bast für Schiffstaue.<br />
<strong>Die</strong> Ägypter erzeugten zwar erstklassiges Kupfer, doch fehlte<br />
ihnen das zur Bronze notwendige Zinn, das sich die Kreter aus<br />
dem westlichen Ende des Meeres besorgten, – und sie kannten<br />
nicht das Geheimnis <strong>der</strong> Legierung, welches die kretische Bronze<br />
so hart machte 20 .<br />
Der junge Mann ging auf den Kapitän zu um sich zu verabschieden.<br />
„Wie verständigt ihr euch mit den Leuten hier? Ich verstehe<br />
kein Wort.”<br />
„<strong>Die</strong> Fürsten sind Hyksos. Sie sprechen die gleiche Sprache, wie<br />
die Leute des Festlandes, jenseits von Kreta. Sie teilen mit ihnen ja<br />
19 <strong>Die</strong> Pleiaden im Stier, das Siebengestirn, erschien vor 4000 Jahren im März kurz nach<br />
Sonnenuntergang im Westen. Es war das Zeichen für die Seefahrer, dass die Zeit <strong>der</strong><br />
Frühjahrsstürme vorbei war und sie sich wie<strong>der</strong> aufs Meer hinauswagen konnten.<br />
20 <strong>Die</strong> von den Kretern zu Bronze verarbeiteten Zinnbarren kamen aus Spanien und<br />
England. Es ist unwahrscheinlich, dass sie mit ihren Schiffen den Weg über den Atlantik<br />
und die stürmische Biskaya nach England nahmen, um dort ihre Güter gegen Zinn<br />
einzutauschen. Wahrscheinlicher haben die zu dieser Zeit in Westeuropa lebenden<br />
Glockenbecherleute die Zinnbarren als Handelsgut über den Ärmelkanal und Frankreich<br />
nach Spanien gebracht, wo sie von den Kretern gegen ihre Produkte eingetauscht<br />
wurden.<br />
Fest steht, dass die Kreter die Schmelztechnik ihrer Bronzeherstellung so verfeinert hatten,<br />
dass ihre Bronzequalität unübertroffen war. Zudem härteten sie ihre Bronzewaffen<br />
durch mehrmaliges Erhitzen und Schmieden aus, eine Technik, die dann in <strong>der</strong> späteren<br />
Eisenzeit bei <strong>der</strong> Stahlherstellung wie<strong>der</strong> angewendet wurde.
auch die Vorliebe für Rosse und Streitwagen. <strong>Die</strong> Leute hier in<br />
den Lagerhallen sprechen wie die Leute von Byblos. Ägyptisch<br />
spricht hier kaum einer.”<br />
„Dafür muss ich aber die Sprache <strong>der</strong> Ägypter lernen. Ich komme<br />
ja auf Einladung des Hohenpriesters. Lebt wohl!”<br />
Der Kapitän sah, wie sein Fahrgast eines <strong>der</strong> Feluken bestieg<br />
und mit ihr langsam nilaufwärts nach On segelte, dem Ort, wo <strong>der</strong><br />
Nil sich in seine Deltaarme aufzuteilen beginnt.<br />
In On legte <strong>der</strong> Segler am Ufer des weitläufigen Tempelbezirks<br />
an. Während <strong>der</strong> junge Kreter einem Bediensteten zu den Privatgemächern<br />
des Hohenpriesters folgte, staunte er über die fremdartigen,<br />
so gar nicht seiner Heimat ähnelnden Tempelanlagen. Sie<br />
waren viel imposanter und von einer asketischen Strenge, bar jener<br />
farbenfrohen Heiterkeit und Gelöstheit seiner kretischen Heimat.<br />
„Du bist also Piktos, <strong>der</strong> kretische Künstler, den mir <strong>der</strong> kretische<br />
Hof angekündigt hat?”<br />
Den jungen Künstler riss es aus <strong>der</strong> Versunkenheit, mit <strong>der</strong> er<br />
eine lebensgroße Statue mit Kuhhörnern und einer goldenen<br />
Scheibe zwischen den Hörnern betrachtet hatte. Sie stellte offensichtlich<br />
eine ägyptische Göttin dar, doch ihre Gesichtszüge glichen<br />
denen einer jungen Kreterin.<br />
Vor ihm stand ein vornehmer Ägypter, leicht ergraut, <strong>der</strong> ihn in<br />
seinem kretischen Dialekt angesprochen hatte.<br />
„Ich bin Imunhep, <strong>der</strong> Hohepriester von On. Sei mir willkommen!<br />
Folge dem Bediensteten, er wird Dich in Deine Gemächer führen,<br />
wo Du Dich frisch machen und Deine Klei<strong>der</strong> wechseln<br />
kannst. Alles Weitere werden wir dann beim Abendmahl besprechen.”<br />
Der junge Kreter wusste zwar, dass er nach On geschickt worden<br />
war, um im Palast des Hohenpriesters Räume mit kretischen<br />
Motiven auszumalen. Was er nicht wusste, war, dass Imunhep vor<br />
zwanzig Jahren von den Hyksos, den Machthabern des ägyptischen<br />
Unterlandes, nach Kreta geschickt worden war, um die durch den
Einfall <strong>der</strong> neuen Machthaber unterbrochenen Handelsbeziehungen<br />
zwischen Ägypten und Kreta wie<strong>der</strong> anzuknüpfen 21 .<br />
Nicht nur daher stammten die kretischen Sprachkenntnisse des<br />
Hohenpriesters. Er hatte auf Kreta auch seine Frau kennengelernt<br />
und mit ihr eine jetzt achtzehnjährige Tochter. Das Heimweh seiner<br />
Frau nach Kreta war auch <strong>der</strong> Auslöser für den Plan Imunheps,<br />
Räume seines Palastes mit kretischen Motiven ausmalen zu lassen.<br />
Das Abendmahl fand in einem zum Garten des Innenhofes offenen<br />
Raum statt. Zwei Säulen trennten diese Terrasse von dem mit<br />
Blumen und Kräutern bepflanzten Garten. Sie strömten in <strong>der</strong> beginnenden<br />
Abendkühle einen betörenden Duft aus.<br />
„Das ist Piktos, unser Gast aus Kreta. Piktos, ich darf Dir meine<br />
Gemahlin Dinyme und meine Tochter Hathor vorstellen.”<br />
Der junge Kreter starrte Hathor minutenlang an.<br />
„Ich habe Dich schon mal gesehen. Warte, du bist die Göttin<br />
mit den Kuhhörnern und <strong>der</strong> goldenen Scheibe.”<br />
Imunheb half <strong>der</strong> errötenden Hathor aus ihrer Verlegenheit.<br />
„Gratuliere Piktos. Ich sehe, Du hast als Künstler einen Blick<br />
für das, was an<strong>der</strong>e Künstler schaffen. <strong>Die</strong> Statue mit den Kuhhörnern<br />
ist die Göttin Hathor. Sie entspricht <strong>der</strong> Großen Mutter, die<br />
ihr auf Kreta verehrt. Aus Dankbarkeit zu ihr hat meine Gemahlin<br />
21 Ausgelöst wurde die Invasion Ägyptens gegen Ende des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts vor Chr.<br />
durch die Hyksos von den indogermanischen Wan<strong>der</strong>ungen nach Kleinasien. Ob die<br />
Hyksos selbst Indogermanen waren, ist zweifelhaft, wenn dann nur eine dünne Oberschicht.<br />
<strong>Die</strong> größere Masse <strong>der</strong> Invasoren bestand aus kleinasiatischen Mitläufern, die,<br />
aus ihrer Heimat vertrieben, sich dem Beutezug anschlossen. Dass die Hyksos nach ihrer<br />
Vertreibung aus Ägypten zu Beginn des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts spurlos als Volk aus <strong>der</strong><br />
Geschichte verschwanden, ist ein Indiz für diese These.<br />
Waffentechnisch waren die über das Delta in Ägypten eindringenden Hyksos den<br />
Ägyptern überlegen. Ihr größter Vorteil waren die Geschwindigkeit und Schlagkraft<br />
des Streitwagens mit seinem Pferdegespann, <strong>der</strong> in Ägypten unbekannt war. <strong>Die</strong> Hyksos<br />
trugen Panzerhemden, neuartige Schwerter, Dolche sowie Bögen aus zusammengeleimten<br />
Holzschichten, Sehnen und Horn, die eine wesentlich größere Schussweite<br />
und Durchschlagskraft hatten als die einfachen Bogen <strong>der</strong> Ägypter.<br />
<strong>Die</strong> Hyksos-Herrscher selbst, eine nur dünne Oberschicht, lebten getrennt von den<br />
Ägyptern in befestigten Lagern. Was sie wollten, waren ägyptische Tributzahlungen,<br />
nicht Einglie<strong>der</strong>ung in die ägyptische Kultur.
ihre Tochter Hathor genannt und einen ägyptischen Künstler gebeten,<br />
ihre Gesichtszüge <strong>der</strong> Göttin Hathor zu verleihen.”<br />
„Piktos, was ist das für ein seltsames Amulett, das Du um den<br />
Hals trägst?”<br />
Mit dieser Frage wandte sich Dinyme an den Gast des Hauses.<br />
„<strong>Die</strong>ses Amulett ist seit Urzeiten in unserer Familie. Meine<br />
Mutter hängte es mir um den Hals, als ich mich auf die Reise nach<br />
Ägypten begab. Es solle mich vor Gefahren beschützen.”<br />
„Seltsam, es ist hart wie Stein. Es scheint mir die <strong>Wurzel</strong> einer<br />
<strong>Alraune</strong> zu sein. Es muss wirklich uralt sein.”<br />
„Du musst wissen, Piktos, meine Frau und durch sie meine<br />
Tochter sind Kräuterweiber”, schalt sich Imunhep in das Gespräch ein.<br />
„Im Garten wimmelt es von Heilkräutern. <strong>Die</strong> Leute verehren<br />
meine Frau, weil sie mit ihren Kräutern schon manchen Kranken<br />
hat heilen können.<br />
Übrigens diese Terrasse, die zu dem Garten führt, sollst Du<br />
kretisch ausmalen. Morgen bei Tageslicht wirst Du Dir einen ersten<br />
Eindruck verschaffen können.”<br />
Der Abend verlief für unseren Künstler sehr harmonisch. Man<br />
sprach kretisch und die Hausherrin hatte kretische Gerichte auftischen<br />
lassen. <strong>Die</strong> Schönheit <strong>der</strong> Tochter, die er von <strong>der</strong> Seite verstohlen<br />
betrachtete und die, wenn sich ihre Blicke trafen, errötend<br />
zur Seite schaute, trug ebenfalls zu seiner Hochstimmung an diesem<br />
Abend bei.<br />
„<strong>Die</strong> beiden Säulen werde ich als stilisierte Korkeichen gestalten,<br />
die zur Kräuterseite des Gartens als junge und die zum Blumengarten<br />
als knorrige alte Korkeiche. Der obere Teil <strong>der</strong> Säulen<br />
wird als Zweige in den blassblauen kretischen Himmel hineinragen,<br />
zu dem ich die Decke auszumalen gedenke. <strong>Die</strong> Wände will<br />
ich mit kretischem Leben füllen und <strong>der</strong> Boden soll das Meer mit<br />
seinen Lebewesen verdeutlichen.”<br />
Das waren die Vorschläge des Künstlers, nachdem er die Terrasse<br />
und den Garten am an<strong>der</strong>en Morgen von allen Seiten aus be-
gutachtet hatte. Sie fanden die Zustimmung des Hausherrn und<br />
vor allem auch die seiner kretischen Gemahlin.<br />
Wochen gingen ins Land. Piktos hatte seine Decke ausgemalt<br />
und die Zweige ragten aus den in Baumstämme verwandelten Säulen<br />
in den gemalten Himmel. Hathor hatte es sich angewöhnt, ihm<br />
zuzuschauen, wenn sie sich in ihrer täglichen Gartenarbeit eine<br />
Pause gönnte. Sie bewun<strong>der</strong>te seine Feinarbeit, wie er den Zweigen<br />
Blatt für Blatt hinzufügte. Umgekehrt kam er, wenn er in seiner<br />
Arbeit aussetzte, zu ihr in den Garten und schaute ihr zu, wie<br />
sie mit Liebe jede einzelne Pflanze umhegte.<br />
Sie nannte die Namen <strong>der</strong> einzelnen Pflanzen und erklärte ihm<br />
ihre heilende Wirkung; den Fenchel, Kardamon, Kümmel, Knoblauch,<br />
Senna. Schlafmohn und schließlich auch die <strong>Alraune</strong>, <strong>der</strong>en<br />
versteinerte <strong>Wurzel</strong> er als Amulett trug.<br />
Inzwischen war Sothis am Morgenhimmel erschienen, <strong>der</strong><br />
Stern, <strong>der</strong> den Ägyptern den Beginn <strong>der</strong> Nilschwemme anzeigte 22 .<br />
<strong>Die</strong> sommerliche Hitze wurde immer schwüler und die abendliche<br />
Mückenplage immer unerträglicher, zumal für einen Kreter, <strong>der</strong><br />
auch im Sommer abends kühlende Seeluft gewohnt war.<br />
Piktos hatte sich <strong>der</strong> zweiten Säule zugewandt, <strong>der</strong> alten Korkeiche,<br />
<strong>der</strong>en Zweige verdorrt waren und keine Blätter mehr trieben.<br />
Stattdessen ließ er aus einer Baumhöhle Bienen herausfliegen,<br />
die den Betrachter vermuten lassen, dass dort ein Bienennest sich<br />
befindet. <strong>Die</strong> Bienen, zunächst winzig klein, wurden, je näher sie<br />
kamen, immer größer.<br />
Piktos hatte sich schon den ganzen Morgen nicht wohl gefühlt.<br />
Jetzt stand er auf <strong>der</strong> Leiter und fügte einer riesengroßen Biene<br />
ihre Flügel an. Da hatte er die Halluzination, als begännen die Flü-<br />
22 <strong>Die</strong> heißen ägyptischen Sommerwinde lösen im Spätsommer in Äthiopien Monsunregen<br />
aus, <strong>der</strong> die Nilquellen anschwellen lässt und das langersehnte Nilhochwasser<br />
verursacht. Zur gleichen Zeit erscheint Sirius, Hauptstern des Sternbildes „Großer<br />
Hund”, am Osthimmel, für die Ägypter ein Zeichen, sich auf die Hochwasserflut vorzubereiten.
gel <strong>der</strong> Biene zu schwirren und sie selbst käme mit gezücktem Stachel<br />
drohend auf ihn zu.<br />
Als er wie<strong>der</strong> zu sich kam, lag er in einem verdunkelten kühlen<br />
Raum auf einer Liege. Über ihn gebeugt, Hathor, die ihm ein<br />
feuchtes Linnen auf die Stirn gelegt hatte.<br />
„Wo bin ich? Was ist passiert?”<br />
„Wir haben Dich ohnmächtig am Fuß <strong>der</strong> Leiter gefunden. Das<br />
war vor acht Tagen. Der Fiebergeist des Deltas hatte Dich in seinen<br />
Klauen. Dank <strong>der</strong> Kräutertees meiner Mutter ist er von Dir<br />
gewichen.”<br />
„Und dank <strong>der</strong> aufopfernden Pflege Hathors”, ergänzte Didyme,<br />
die unbemerkt den Raum betreten hatte. „Sie hat Dir ständig<br />
feuchte Tücher auf Deine Stirn gelegt und die fiebernassen Leinentücher<br />
wechseln lassen.”<br />
Es dauerte Wochen, bis <strong>der</strong> fiebergeschwächte Künstler seine<br />
Arbeit wie<strong>der</strong> aufnehmen konnte. Er saß des Abends mit Hathor<br />
auf <strong>der</strong> Terrasse, genoss die Kühle und den Duft <strong>der</strong> Kräuter.<br />
„Hathor, erzähle mir von den Göttern Ägyptens!”<br />
„Früher, vor uralten Zeiten, haben die Menschen hier im Delta<br />
nur an die Göttin Hathor, <strong>der</strong>en Namen ich trage, geglaubt. Sie<br />
war das, was bei Euch die Große Mutter ist. Auch Euren heiligen<br />
Stier, das Sinnbild <strong>der</strong> Fruchtbarkeit, kennen wir. Er heißt bei uns<br />
Apis.<br />
Doch in Theben verehren die Leute heute einen heiligen Wid<strong>der</strong>.<br />
Er ist, wie mein Vater mir erzählte, als Chnum von den Menschen<br />
am 1. Katarakt verehrt worden.<br />
Dann haben die Leute des Oberlandes, auf <strong>der</strong> Suche nach<br />
Weiden für ihr Vieh mit ihrem König Osiris das Volk im Delta angegriffen.<br />
Doch <strong>der</strong>en König Seth hat gesiegt und Osiris dabei getötet.<br />
Doch immer wie<strong>der</strong> haben die Herrscher des Oberlandes<br />
versucht, die beiden Län<strong>der</strong> zu vereinen. Mein Vater sagt, das<br />
muss ein Generationen dauern<strong>der</strong> Kampf gewesen sein.<br />
Der Sieger schließlich sagte, er sei Horus, ein Gott <strong>der</strong> fernen<br />
Räume, wie <strong>der</strong> Falke ein Gott des Himmels, er verkörpere
Hathor und Nut, die Göttinnen, die für Ober- und für Unterägypten<br />
stehen 23 .<br />
In <strong>der</strong> Folge galten die Herrscher Ägyptens als Gott Re. So wie<br />
die Sonne im Westen untergeht, so kehrt <strong>der</strong> tote Pharao in das<br />
im Westen liegende Totenreich heim, während Re sofort in dem<br />
neuen Pharao wie<strong>der</strong> aufersteht.<br />
Du siehst, es ist eine an<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> Auferstehung, wie ihr sie<br />
auf Kreta als jährliche Wie<strong>der</strong>kehr <strong>der</strong> Fruchtbarkeit feiert.<br />
Übrigens Herr des Totenreiches ist Osiris, unser früherer Totengott<br />
Anubis ist jetzt im Totenreich sein Gehilfe.”<br />
„Du sagtest, die Pharaonen galten als Gott Re. Ist das heute<br />
nicht mehr?”<br />
„Du weißt, seit die Hyksos hier sind, gibt es kein vereinigtes<br />
23 Soweit Ägypten vom Nil abhing, war es ein Land. Im Innern dagegen zerfiel es in zwei<br />
unterschiedliche Regionen, die lange schmale Wanne Oberägyptens im Süden und das<br />
weite, auseinan<strong>der</strong>strebende Deltaland Unterägyptens im Norden.<br />
In <strong>der</strong> alten wie in <strong>der</strong> neuen Zeit sprachen die beiden Landesteile merklich verschiedene<br />
Dialekte und vertraten wesentlich verschiedene Lebensanschauungen. Es waren<br />
tatsächlich, in einer staatlichen Einheit zusammengefasst, „zwei Län<strong>der</strong>”.<br />
Wahrscheinlich sind die Wildbeuter Nordafrikas durch die klimatischen Verän<strong>der</strong>ungen<br />
in <strong>der</strong> Nacheiszeit, wodurch die Savannenlandschaft <strong>der</strong> Sahara zunehmend austrocknete,<br />
gezwungen worden, zusammen mit ihren Beutetieren sich auf das Niltal als<br />
einzige Wasserquelle zurückzuziehen. <strong>Die</strong> Vernichtung <strong>der</strong> Großwildherden durch bessere<br />
Jagdtechnik und die Konzentration dieser Tiere an den Wasserstellen des Nils<br />
zwingt auch diese Menschen sich vom Wildbeuter zum Hirten zu wandeln.<br />
Dort in Oberägypten war die Abhängigkeit vom Hochwasser des Nils größer als in<br />
Nordägypten. Daher war die gesellschaftliche Organisation zwingen<strong>der</strong> und die Not<br />
größer. <strong>Die</strong> Vereinigung <strong>der</strong> beiden Län<strong>der</strong> erfolgte daher vom Süden aus. <strong>Die</strong> Mentalität<br />
des Frühzeitmenschen war animistisch, kannte keine scharfen Grenzen zwischen<br />
den verschiedenen Seinsweisen. Daher fiel es ihm leicht vom Menschlichen zum Göttlichen<br />
hinüberzugleiten und sich auf den Glaubenssatz zu verlassen, <strong>der</strong> den Pharao,<br />
obgleich er unter Menschen lebte, als sei er selbst ein sterbliches Wesen von Fleisch<br />
und Blut, zu einem Gott machte.<br />
In Unterägypten, im Delta, hatte sich, wie in Europa auf dem Balkan, eine Bauerngesellschaft<br />
mit einer matriarchalischen Gottesvorstellung entwickelt, <strong>der</strong>en Göttin<br />
Hathor mit einem Kuhhaupt dargestellt wurde. Auch hier wurde ein heiliger Stier als<br />
Symbol <strong>der</strong> Fruchtbarkeit verehr.<br />
Durch die Eroberung des Nordens trat eine Vermischung von patriarchalischer und<br />
matriarchalischer Gottesvorstellung ein, bei <strong>der</strong> die Götter Südägyptens die Oberhand<br />
gewannen.
Ägypten mehr. Daher werden im Unterland die Herrscher auch<br />
nicht mehr als Gott Re angesehen. Doch da fragst Du besser meinen<br />
Vater. Du weißt, <strong>der</strong> Tempel von On ist die Heimat des Gottes<br />
Re.”<br />
Piktos begann mit <strong>der</strong> Ausgestaltung <strong>der</strong> Seitenwände. Unter<br />
dem Eindruck <strong>der</strong> Gespräche mit Hathor verwandelte sich die<br />
dem alten, knorrigen Baum zugewandte Seite in eine karge Küstenlandschaft,<br />
bevölkert mit Schafen und Ziegen hütenden Hirten.<br />
In <strong>der</strong> Ferne glänzten die schneebedeckten Gipfel des Idagebirges.<br />
Auf <strong>der</strong> gegenüberliegenden Seite entstand eine üppige Talaue,<br />
<strong>der</strong>en Bach sich im Vor<strong>der</strong>grund in den noch zu gestaltenden Fußboden<br />
ergoss. Fe<strong>der</strong>vieh durchstreifte den Schilfsaum des Baches.<br />
Auf <strong>der</strong> Wiese dahinter erfreuten sich junge Kreterinnen <strong>der</strong> Blumen.<br />
Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite des Baches lauerte im Dickicht ein<br />
Leopard, während im Hintergrund ein ahnungsloser Bauer sein<br />
Feld bestellte. Über allem strich ein Kranich hinweg.<br />
Während Piktos letzte Feinarbeiten an seinem Kranich durchführte,<br />
war Imunhep in den Raum getreten und hatte die gegenüberliegenden<br />
Wände minutenlang schweigend betrachtet.<br />
„Du hast das Wesen des Oberlandes und des Unterlandes geistig<br />
in die Darstellung Deiner kretischen Heimat komponiert. Das<br />
ist Dir hervorragend gelungen. Auf <strong>der</strong> einen Seite das karge Oberland,<br />
auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite das fruchtbare Unterland, dazu die Bedrohung<br />
des Unterlandes durch das wilde Tier.”<br />
„Ich danke Dir für Dein Lob, Imunhep. Doch ich glaube, das<br />
Lob steht zum Teil Deiner Tochter zu.<br />
Wir haben uns über die ägyptische Götterwelt unterhalten, die<br />
so ganz an<strong>der</strong>s ist als die kretische. <strong>Die</strong> künstlerische Umsetzung<br />
ist das, was Dir aufgefallen ist.<br />
Steckengeblieben waren wir bei <strong>der</strong> Frage, warum die herrschenden<br />
Pharaonen nicht mehr als Gott Re gelten. Sie meinte, du<br />
könntest mir die Frage besser beantworten.”<br />
„Wir Priester sagen heute, Re stirbt nicht mehr mit dem leben-
dem Pharao und steht mit seinem Nachfolger wie<strong>der</strong> auf, son<strong>der</strong>n<br />
wir sagen Re ist unsterblich.<br />
Er spricht durch den jeweiligen Pharao zu seinem gläubigen<br />
Volk, <strong>der</strong> Pharao ist gewissermaßen das Sprachrohr Res.”<br />
„Damit gewinnt Eure Priesterschaft mehr Macht in Ägypten.”<br />
„Machtpolitisch hast Du Recht, aber theologisch ist das nicht<br />
unser Problem. Das theologische Problem hast Du künstlerisch<br />
schon dargestellt, ohne es zu wissen.<br />
Aus dem Spalt an dieser knorrigen alten Eiche lässt Du Bienen<br />
herausschwärmen und sie beim Näherkommen immer größer werden.<br />
<strong>Die</strong>se Bienen sind unsere Götter, ihre Größe die Bedeutung<br />
für Ägypten. Alle diese Götter sind unsterblich, doch geboren, das<br />
heißt, aus an<strong>der</strong>en Gottheiten hervorgegangen. Welches ist die<br />
Gottheit, ungeboren und unsichtbar, die jenseits von Zeit und<br />
Raum, all das aus sich heraus geschaffen hat?<br />
Auch bei Deinem Baum sieht man nur die Bienen, was in dem<br />
Spalt ist, bleibt dem Auge verborgen.<br />
<strong>Die</strong> Priester von Theben nennen ihren Stadtgott Amun-Re. Aus<br />
Amun ist Re hervorgegangen, Amun selbst bleibt unsichtbar, verborgen.<br />
Ich vermute, diese Glaubensrichtung wird in Zukunft an<br />
Bedeutung gewinnen.“ 24<br />
Imunheb ließ den jungen Künstler zutiefst verunsichert zurück.<br />
<strong>Die</strong>se Aufgewühltheit fand ihren Ausdruck in den großen Meereswellen,<br />
mit denen er den Fußboden ausmalte. Doch je mehr<br />
sein Gemüt sich beruhigte, umso sanfter wurden die Wellen. Waren<br />
durch die hohen Wellen in <strong>der</strong> Ferne allerlei Meeresgetier<br />
durcheinan<strong>der</strong> gewirbelt worden, so ließ er am Ufer des Unterlandes<br />
sich einen blauen Delphin auf seine Schwanzflossen erheben,<br />
24 <strong>Die</strong> Vorstellung eines unsichtbaren ewigen Gottes muss in den Köpfen <strong>der</strong> priesterlichen<br />
Führungselite dieser Zeit sich entwickelt haben und dann von Generation zu<br />
Generation als Geheimwissen weitergegeben worden sein.<br />
Wahrscheinlich hat Amenophis IV., 300 Jahre später, als Pharao davon Kenntnis erhalten<br />
und als Echnaton seinen Glauben an Aton, dem einen Gott, <strong>der</strong> durch ihn, den<br />
Pharao zu seinem Volke spricht, daraus abgeleitet.
um neugierig ein Rind zu betrachten, das aus dem Bachwasser<br />
trank, bevor <strong>der</strong> Bach sich in das Meer ergoss.<br />
Imunheb betrachtete sinnend das fertige Werk.<br />
„Ich finde die Beziehung zwischen Ägypten und Kreta, die Du<br />
durch das Rind und den Delphin hergestellt hast, sehr symbolisch.<br />
Nur eins ist nicht erkennbar. Welches <strong>der</strong> beiden Figuren ist<br />
männlich und welches ist weiblich? Je nach Auslegung erhält die<br />
Symbolik einen an<strong>der</strong>en Aspekt.”<br />
Piktos errötete.<br />
„Liebst Du Hathor?”<br />
„Ja, und ich glaube, sie mag mich auch! Ich würde gerne hier<br />
bleiben. Arbeit für einen Künstler ist genug hier. Im Tempelbezirk<br />
ist vieles künstlerisch zu erneuern.”<br />
Imunheb lächelte.<br />
„Von Deiner Qualität als Künstler hast Du mich überzeugt.<br />
Über Deine Qualität als Ehemann soll Hathor entscheiden.”<br />
Jahre waren ins Land gegangen. Hathor und Piktos lebten bei<br />
Imunheb im Tempelbezirk zu On. Ihr Sohn Dymos leitete die kretische<br />
Handelsstation seines Schwiegervaters in Auaris.<br />
„Dymos”, sagte Imunhep zu seinem Enkel, als <strong>der</strong> von Auaris zu<br />
Besuch gekommen war, „ich habe Nachricht aus Theben. Es wird<br />
Krieg geben. Der Gaufürst weigert sich, den Tribut an die Hyksos<br />
zu zahlen. Er hat, das weißt Du aus Deinen Lieferungen, aufgerüstet.<br />
Er verfügt jetzt wie die Hyksos über Pferde und Streitwagen,<br />
hat die gleichen Bogen, aber mehr Soldaten.<br />
Wir im Tempelbezirk zu On werden wahrscheinlich nichts zu<br />
befürchten haben. Doch Du giltst als Auslän<strong>der</strong> und Deine Lagervorräte<br />
werden geplün<strong>der</strong>t werden. Ich rate Dir, löse Deine Handelsstation<br />
auf und kehre nach Kreta zurück.”<br />
„Deshalb bin ich heute hier. Ihr wisst, auch wir Händler haben<br />
unsere Informationen.<br />
Mein Schwiegervater hat mir mit den beiden Schiffen, die vor<br />
ein paar Tagen aus Kreta angekommen sind, den Auftrag gegeben,
nach Verkauf <strong>der</strong> Ladungen an die Hyksos die Stationsvorräte einzuladen<br />
und mit ihnen nach Ugarit zu segeln. Ich soll dort die<br />
Handelsstation übernehmen.<br />
Mesope, mein Weib, und meine Tochter Dydime lösen bereits<br />
in Auaris unseren Haushalt auf. Ich möchte auch in ihren Namen<br />
‚Lebet wohl’ sagen.”<br />
Piktos erhob sich, umarmte seinen Sohn und hing ihm sein<br />
Amulett um den Hals.<br />
„So wie meine Mutter mir die <strong>Alraune</strong> mitgegeben hat, als ich<br />
aus Kreta aufbrach, so soll sie auch Dir in Deiner neuen Heimat<br />
Schutz gewähren.”<br />
„Nein, Dymos, wir werden nicht hier von einan<strong>der</strong> Abschied<br />
nehmen“, meldete sich Hathor zu Wort, „Piktos und ich werden<br />
Dich nach Auaris begleiten. Ich will meine Enkelin und meine<br />
Schwiegertochter noch einmal sehen.”<br />
Vier Tage später standen sie am Ufer, winkten und sahen, mit<br />
Tränen in den Augen, den langsam nilabwärts gleitenden kretischen<br />
Schiffen nach. Sie ahnten, dass es ein Abschied für immer<br />
sein würde.
2. Hen kai Pan – Eines ist Alles<br />
Auf <strong>der</strong> Bank unter <strong>der</strong> großen Korkeiche saß, die Hände auf<br />
seinen knorrigen Wan<strong>der</strong>stab gestützt, ein Greis. Dem Aussehen<br />
nach musste er uralt sein. Das von langen silberweißen Haaren<br />
eingerahmte Gesicht war tief zerfurcht. <strong>Die</strong> durchgeistigten Züge<br />
gaben diesem Antlitz jedoch eine Altersschönheit, wie man sie<br />
normalerweise bei so alten Menschen nicht findet.<br />
Der Weißhaarige schien tief in Gedanken versunken. Er beachtete<br />
das vor ihm im Gegenlicht glitzernde Meer nicht. Eine Eichel<br />
fiel auf seinen Kopf und brachte ihn in die Gegenwart zurück. Er<br />
blickte nach oben und sah noch den buschigen Schwanz eines erschrocken<br />
davon stiebenden Eichhörnchens.<br />
Seine Augen schweiften über die Bucht und blieben an dem<br />
schwarzen Schatten eines auf dem Wasser schaukelnden Fischerbootes<br />
hängen, in dem gerade ein Fischer sein Netz auswarf.<br />
„Wie lange ist es her, als ich mit Anaximenes in eben solch einem<br />
Boot saß? Ich glaube, es müssen über 70 Jahre sein.”<br />
Er war mit einer Ladung Wollballen und einer Ölpresse von<br />
seinem Vater zu Thales nach Milet geschickt worden.<br />
„Du bist jetzt über 20 Jahre alt. Geh’ zu Thales nach Milet.<br />
Von ihm kannst Du noch lernen. Er ist ein weiser Mann und zudem<br />
auch ein geschickter Kaufmann.”<br />
<strong>Die</strong> Eltern des Thales und seine Großeltern waren zusammen<br />
aus Phönizien geflohen, wo die Assyrer regelmäßig wie die Heuschrecken<br />
einfielen, die Menschen ausraubten und ihre Häuser anzündeten.<br />
Seine Großeltern hatten sich in Kolophon nie<strong>der</strong>gelassen,<br />
die Eltern des Thales waren nach Milet gezogen.
Aus dem gemeinsamen Schicksal wurde eine Geschäftsbeziehung.<br />
<strong>Die</strong> Wolle, die seine Familie von den Bauern <strong>der</strong> Umgebung<br />
aufkaufte, verarbeiteten die Milesier zu Stoffen.<br />
„Was meint Thales, wenn er sagt, alles käme aus dem Wasser?”,<br />
hatte er Anaximenes gefragt, <strong>der</strong> als Schüler schon mehrere Jahre<br />
im Hause des Thales lebte.<br />
Anaximenes blickte von seiner Angelschnur hoch.<br />
„Unser Boot schwimmt hier auf dem Wasser. Ich versuche aus<br />
dem Wasser Fische zu fangen. Anaximandros, auch ein Schüler von<br />
Thales, Du hast ihn nicht kennen gelernt, er lebt heute auf Samos,<br />
meint sogar alle Lebewesen hätten früher im Wasser gelebt. Durch<br />
Weiterentwicklung seien etwa die Delphine aufs Land gekrochen<br />
und hätten sich nach und nach zum Menschen entwickelt.<br />
Thales meint, das Wasser nehme verschiedene Gestalt an.<br />
Wenn es aus den Wolken regnet, wie kommt das Wasser in die<br />
Wolken?<br />
Wenn es im Winter bei Euch im Gebirge schneit, fließt, wenn<br />
es wärmer wird, aus dem Schnee Wasser. Wie kommt das Wasser<br />
in den Schnee?<br />
Wenn Du mit dem Spaten ein Loch in trockene Erde gräbst,<br />
stößt Du spätestens nach einem halben Meter auf feuchte Erde.<br />
Wie ist das Wasser in die Erde gekommen?<br />
Wenn Du frühmorgens über eine Wiese gehst, hängt Tau an<br />
Gräsern und Blättern. Wie kommt <strong>der</strong> Tau dahin, obgleich es<br />
nachts nicht geregnet hat?<br />
Ich glaube aber, die Luft ist <strong>der</strong> Urstoff. Wenn Du keine Luft<br />
mehr bekommst, erstickst Du und bist tot. Wenn Du Dich überanstrengst,<br />
atmest Du schneller, die Luft verdichtet sich in Dir und<br />
<strong>der</strong> Schweiß tritt als Wasser auf Deine Stirn.<br />
Wenn die Luft sich bei schönem Wetter verdünnt, saugt sie das<br />
Wasser auf und <strong>der</strong> Boden trocknet aus. Verdichtet sich die Luft,
entstehen am Himmel Wolken, aus denen es bei zunehmen<strong>der</strong><br />
Verdichtung regnet.”<br />
Ein Donnergrollen holte unseren Greis wie<strong>der</strong> in die Gegenwart<br />
zurück. Im Norden hatten sich die Wolken aufgetürmt und ihr<br />
Zusammenprall führte zu Blitz und Donner.<br />
Er erinnerte sich.<br />
Der Zusammenprall <strong>der</strong> Lydier und Perser am Halys wurde seiner<br />
Familie zum Verhängnis. Nicht Kroisos, <strong>der</strong> Ly<strong>der</strong>, siegte, son<strong>der</strong>n<br />
Kyros, <strong>der</strong> Perser. Das große Reich, das Kroisos beim Überschreiten<br />
des Halys laut dem Orakel von Delphi zerstören würde,<br />
war sein eigenes nicht das <strong>der</strong> Perser.<br />
Als die Botschaft vom Ausgang <strong>der</strong> Schlacht Milet erreichte,<br />
war er in einem Gewaltritt von Milet nach Kolophon geeilt. Doch<br />
er kam zu spät. Zwischen den rauchenden Trümmern seines Vaterhauses<br />
lagen die Leichen seiner Eltern und Geschwister. Der<br />
Versuch, Hab und Gut vor <strong>der</strong> Plün<strong>der</strong>ung zu bewahren, hatte ihnen<br />
das Leben gekostet.<br />
Mit Tränen in den Augen hatte er das Amulett vom Halse seines<br />
Vaters abgenommen und bei dieser <strong>Wurzel</strong> <strong>der</strong> <strong>Alraune</strong> geschworen,<br />
den Persern diese Gräueltat niemals zu vergessen.<br />
Er hatte seine Angehörigen bestattet und war dann nach Milet<br />
zurückgeritten, leeren Herzens und ha<strong>der</strong>nd mit den Göttern.<br />
Milet war unverän<strong>der</strong>t. <strong>Die</strong> Perser hatten Thales wissen lassen,<br />
dass sie um seinetwillen – und, wie Thales glaubte, wegen <strong>der</strong> Bedeutung<br />
Milets als Ausfuhrhafen für den Handel mit den Inseln<br />
und dem griechischen Mutterland, – die Stadt verschonen würden,<br />
solange ihre Bewohner sich nicht gegen sie auflehnten.<br />
„Woher wusstest Du”, hatte er den Thales damals gefragt, „dass<br />
vor vierzig Jahren, als die Lydier gegen die Me<strong>der</strong> kämpften, eine<br />
Sonnenfinsternis eintreten würde?”<br />
„Gewusst habe ich es nicht, nur vermutet.
Ich muss so alt gewesen sein, wie Du jetzt, da hat mich mein<br />
Vater nach Babylon geschickt zu einem Geschäftsfreund, von dem<br />
wir Güter aus Indien bezogen. Dort habe ich Einblick in die Jahrhun<strong>der</strong>te<br />
alten Aufzeichnungen <strong>der</strong> Chaldäer über die Bewegungen<br />
<strong>der</strong> Sonne und <strong>der</strong> Sterne nehmen können. Aufgefallen war mir<br />
dabei die Regelmäßigkeit, mit <strong>der</strong> Sonnenfinsternisse auftraten.<br />
Aus diesen Tabellen hatte ich errechnet, dass zur Zeit <strong>der</strong><br />
Schlacht zwischen den Lydiern und den Me<strong>der</strong>n wie<strong>der</strong> eine solche<br />
Sonnenfinsternis eintreten würde. Was ich nicht wusste, zu<br />
welcher Stunde genau <strong>der</strong> Schatten des Neumondes die Erde streifen<br />
würde und ob er das Schlachtfeld verdunkeln würde.<br />
Ich habe damals den Lydiern und den Me<strong>der</strong>n die Botschaft gesandt,<br />
dass die Götter ihren Kampf nicht wollten. Sollten sie dieser<br />
Botschaft keinen Glauben schenken, würden die Götter die Sonne<br />
verfinstern. Als es dann während ihres Kampfes Nacht wurde, haben<br />
sie vor Entsetzen den Kampf eingestellt und Frieden geschlossen.<br />
Seitdem gelte ich bei ihnen als Sprachrohr <strong>der</strong> Götter. <strong>Die</strong> Me<strong>der</strong><br />
sind mir darüber hinaus dankbar für vierzig Jahre Ruhe an <strong>der</strong><br />
Grenze zu Lydien.”<br />
Der Greis lächelte in sich hinein, als er daran dachte, wie unverständlich<br />
ihm damals die Äußerungen des Thales über die Bewegungen<br />
<strong>der</strong> Sonne und des Mondes gewesen waren.<br />
Fragend hatte er den Weisen von Milet angeschaut. Auch <strong>der</strong><br />
hatte das Unverständnis seines Gegenübers bemerkt.<br />
„Weißt Du, die genauen naturwissenschaftlichen Zusammenhänge<br />
sind mir erst später aufgegangen.<br />
Anaximenes hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass <strong>der</strong><br />
Mond kein eigenes Licht haben könne, sonst gäbe es keinen Neumond.<br />
Das Licht des Mondes müsse von <strong>der</strong> Sonne kommen.<br />
Vollmond ist nur dann, wenn <strong>der</strong> Mond im Osten aufgeht, wenn<br />
die Sonne im Westen untergeht. Steht <strong>der</strong> Mond in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong><br />
Sonne, so ist er nur als Sichel zu sehen.
Bilden Sonne, Erde und Mond eine Linie, dann fällt <strong>der</strong> Schatten<br />
<strong>der</strong> Erde auf den Mond und wir sehen eine Mondfinsternis.<br />
Mondfinsternisse gibt es also nur bei Vollmond.<br />
Liegen Sonne, Mond und Erde in einer Linie, dann fällt <strong>der</strong><br />
Schatten des Mondes auf die Erde und wir erleben eine Sonnenfinsternis.<br />
Sonnenfinsternisse gibt es folglich nur bei Neumond.<br />
Aus den Aufzeichnungen <strong>der</strong> Chaldäer wissen wir, dass diese<br />
Finsternisse sich in einem genauen zeitlichen Abstand wie<strong>der</strong>holen,<br />
wobei Mondfinsternisse häufiger zu sehen sind als Sonnenfinsternisse.<br />
Anaximenes vermutet daher, dass <strong>der</strong> Schatten <strong>der</strong> Erde größer<br />
ist als <strong>der</strong> des Mondes und er glaubt, die Erde muss eine Kugel<br />
sein, denn <strong>der</strong> Schatten <strong>der</strong> Erde wan<strong>der</strong>t kreisförmig über den<br />
Mond.”<br />
Der alte Mann auf <strong>der</strong> Bank hatte damals seinen Lehrer bewun<strong>der</strong>t<br />
angestarrt und ihn gefragt: „Glaubst Du an Götter?”<br />
„Für die vorausgesagte Sonnenfinsternis war es entscheidend,<br />
dass die Me<strong>der</strong> und die Lydier diese Finsternis als ein Zeichen <strong>der</strong><br />
Götter ansahen”, wich Thales <strong>der</strong> Frage aus, um dann fortzufahren,<br />
„wenn Du mich fragst, ob es Götter gibt, dann muss ich Dir<br />
sagen, es gibt so viele Götter, wie es Dinge und Ereignisse auf Erden<br />
gibt, die sich die Menschen nicht erklären können.”<br />
<strong>Die</strong>ser letzte Satz des Thales war für ihn, so stellte <strong>der</strong> Greis<br />
rückblickend fest, zu einem Schlüsselsatz geworden, <strong>der</strong> ihn zeit<br />
seines Lebens nicht mehr loslassen sollte.<br />
„Xenophanes”, hatte Thales damals noch väterlich zu ihm gesagt,<br />
„ich weiß um Deinen Hass auf die Perser und ich kann ihn<br />
verstehen. Aber solange ich lebe und die Milesier auf meinen Rat<br />
hören, bist Du hier sicher. Nach meinem Tode magst Du nach<br />
Samos ins freie Jonien zu Anaximandros gehen.”<br />
Er musste sein Ende gefühlt haben, denn wenige Wochen nach
diesem Gespräch war er, mitten unter Menschen, plötzlich tot zusammengebrochen.<br />
Dem Rat des Thales folgend, hatte er sich einige Wochen später<br />
nach Samos eingeschifft. Er sollte Anaximandros jedoch nie<br />
kennenlernen, denn <strong>der</strong> war kurz vor seiner Ankunft gestorben 25 .<br />
Mittellos doch glücklich genoss er die Atmosphäre des freien<br />
Joniens. Der Ruf, ein Schüler des hochverehrten Thales gewesen<br />
zu sein, öffnete ihm die Häuser <strong>der</strong> reichen Kaufleute von Samos.<br />
Mit seinen selbstverfassten Versen, die er als Rapsode, sich auf <strong>der</strong><br />
Lyra begleitend, auf den Festen <strong>der</strong> Kaufleute vortrug, wurde er<br />
zum begehrten Gast ihrer Einladungen.<br />
Hatte er in seinen Versen zunächst die übertriebene Verherrlichung<br />
<strong>der</strong> siegreichen Wettkämpfer in den athletischen Spielen<br />
kritisiert und über <strong>der</strong>en Leistungen das geistige Wissen gestellt,<br />
weil dieses allein für die gute Ordnung im Staate nützlich sei, so<br />
wurden seine polemischen Verssatiren, beson<strong>der</strong>s bei den Ausschweifungen<br />
<strong>der</strong> dionysischen Mysterien immer frecher.<br />
„Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt, was<br />
nur bei Menschen Schimpf und Schande ist:<br />
Stehlen und Ehebrechen und sich gegenseitig betrügen!<br />
25 Mit Thales, geb. ca. 624 v. Chr., gest. 546 v. Chr. in Milet, beginnt erstmalig ein<br />
Mensch Dinge und Ereignisse seiner Welt als natürliche Phänomene zu begreifen und<br />
nicht als von Göttern gesandte Zeichen und Schicksalsschläge.<br />
Ob die Aufzeichnungen <strong>der</strong> Chaldäer den Anstoß für diese Entwicklung gegeben haben,<br />
können wir nur vermuten. Sie wußten, dass sich Sonne, Mond und Erde nach 18<br />
Jahren und 10 1/3 bzw. 11 1/3 Tagen (je nach <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Schaltjahre) wie<strong>der</strong> in<br />
<strong>der</strong>selben Konstellation befinden (Saros-Zyklus). Das erlaubte schon diesen Sterndeutern<br />
<strong>der</strong> Antike, Sonnen- und Mondfinsternisse voraussagen zu können.<br />
Für Thales, und das ist das epochal Neue, waren Sonnen- und Mondfinsternisse keine<br />
Zeichen <strong>der</strong> Götter, son<strong>der</strong>n Regelmäßigkeiten natürlicher Abläufe.<br />
Zusammen mit Anaximan<strong>der</strong>, geb. ca. 610 v. Chr. in Milet, gest. 545 v. Chr. auf Samos,<br />
und Anaximenes, geb. ca.585 v. Chr., gest. 528 v. Chr. in Milet, suchte er nach<br />
den Grundstoffen des Universums. Für ihn war es das Wasser, für Anaximenes die<br />
Luft, während für Anaximan<strong>der</strong> <strong>der</strong> Urstoff das Apeiron war, was man als das unbestimmte<br />
Unendliche o<strong>der</strong> das unendlich Unbestimmte übersetzen kann.<br />
<strong>Die</strong>se drei Milesier versuchen erstmalig sich die Natur rational zu erklären. Sie gelten<br />
daher in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Philosophie als die Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Naturphilosophie.
<strong>Die</strong> Sterblichen wähnen, die Götter würden geboren und hätten<br />
Gewand und Stimme und Gestalt wie sie.<br />
<strong>Die</strong> Äthiopier behaupten, ihre Götter seien schwarz und<br />
stumpfnasig, die Thraker, blauäugig und rothaarig.<br />
Wenn die Rosse und Ochsen Hände hätten und mit ihren<br />
Händen malen könnten und Werke bilden wie die Menschen, so<br />
würden die Rosse rossähnliche und die Ochsen ochsenähnliche<br />
Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie ihre Art aussieht.”<br />
Sinnend wiegte <strong>der</strong> Greis auf <strong>der</strong> Bank seinen Kopf hin und her.<br />
Es waren damals wilde Jahre auf Samos, gewissermaßen seine<br />
Sturm- und Drangzeit.<br />
Er erinnerte sich. Er war in Spermos auf Samos Gast des reichen<br />
Goldschmiedes und Kaufmanns Mnesarchos und hatte gerade<br />
vorgetragen:<br />
„Und was nun die Wahrheit betrifft, so gab und wird es niemand<br />
geben, <strong>der</strong> sie wüsste in Bezug auf die Götter und alle Dinge,<br />
die ich nur immer erwähne. Denn spräche er auch einmal zufällig<br />
das Allervollendetste, so weiß er’s selber doch nicht. Denn nur<br />
Wahn ist allen beschieden.”<br />
Da wi<strong>der</strong>sprach ihm Pythagoras, <strong>der</strong> etwa gleichaltrige, fanatisch<br />
wirkende Sohn des Hauses:<br />
„Xenophanes, ich kenne das mathematische Gesetz, das Thales<br />
gefunden hat, mit dem man praktisch zum Beispiel die Höhe eines<br />
Hauses aus <strong>der</strong> Entfernung berechnen kann. Ich habe danach<br />
selbst die Höhe <strong>der</strong> Pyramiden in Ägypten errechnet.<br />
Aus den Aufzeichnungen <strong>der</strong> Ägypter habe ich als allgemeines<br />
Gesetz erkannt, dass das Quadrat über <strong>der</strong> Hypotenuse gleich <strong>der</strong><br />
Summe <strong>der</strong> Kathetenquadrate ist.<br />
Ich glaube auch, dass die Thesen des Thales über die Bewegungen<br />
von Sonne und Mond sich eines Tages mathematisch beweisen
lassen werden. <strong>Die</strong> Seeleute wissen seit langem, dass bestimmte<br />
Sterne des Nachts einen Kreis am Himmel beschreiben. Warum<br />
sollen die Sterne die unter dem Horizont versinken, das nicht auch<br />
tun. Nur schneidet ihr Kreis den Horizont.<br />
Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass <strong>der</strong> Abendstern nur dann<br />
leuchtet, wenn kein Morgenstern scheint und umgekehrt. Ich vermute,<br />
dass es sich dabei um denselben Stern handelt. Auch seine<br />
Bewegung gehorcht mathematischen Gesetzen, die wir nur noch<br />
nicht kennen.<br />
Wenn Du die Saiten Deiner Lyra in einem bestimmten Abstand<br />
festhältst, entstehen Töne, die harmonisch klingen. Ich habe festgestellt,<br />
dass Deine Griffe auf <strong>der</strong> Lyra in einem bestimmten Zahlenverhältnis<br />
zueinan<strong>der</strong> stehen.<br />
Ich glaube daher, dass nicht das Wasser, wie Thales meint, o<strong>der</strong><br />
die Luft, wie Anaximenes behauptet, son<strong>der</strong>n mathematische Gesetze<br />
die Welt geformt haben. Und wenn wir diese Gesetze kennen,<br />
dann ist das Wissen und kein Meinen mehr.”<br />
Mich hatten seine Worte beeindruckt. Doch wollte ich das<br />
nicht zugeben und trällerte:<br />
„Und es heißt, als er einmal vorüberging, wie ein Hündchen<br />
misshandelt wurde, soll er Mitleid empfunden und dieses Wort gesprochen<br />
haben: ‚Hör auf mit Deinem Schlagen. Denn es ist ja die<br />
Seele eines Freundes, die ich erkannte, wie ich ihre Stimme<br />
hörte.’“<br />
„Xenophanes, ich weiß, dass Du durch und durch ein Skeptiker<br />
bist, wahrscheinlich zu sehr von Thales geprägt. Ich weiß auch,<br />
worauf Du mit Deinem letzten Lied anspielst.<br />
Wenn Du Dir den Dionysoskult vor Augen führst, bei dem in<br />
jedem Herbst Dionysos stirbt, um im Frühjahr wie<strong>der</strong> aufzuerstehen,<br />
dann weißt Du, dass das uralte Fruchtbarkeitsmythen sind,<br />
denn auch die Phönizier und auch die Babylonier kennen ähnliche<br />
Kulte.
Im Frühjahr knospen nicht nur die Triebe <strong>der</strong> Pflanzen, son<strong>der</strong>n<br />
in den Mysterien des Dionysos alle Triebe <strong>der</strong> Menschen, die<br />
dann wie die Pflanzen die Schutzkapseln <strong>der</strong> Knospen alle Hemmungen<br />
abstreifen, um in Orgien ihre Triebe explodieren zu lassen.<br />
<strong>Die</strong> Triebe sind es nicht, die den Menschen von den Pflanzen<br />
und Tieren unterscheidet, denn die hat er mit ihnen gemeinsam.<br />
Was den Menschen von den an<strong>der</strong>en Lebewesen unterscheidet, ist,<br />
dass er Träger einer unsterblichen Seele ist.<br />
<strong>Die</strong> Aufgabe des Menschen ist es, sich dieser unsterblichen Seele<br />
würdig zu erweisen. Tut er das nicht, so muss die Seele nach seinem<br />
Tode in einem nie<strong>der</strong>en Körper fortleben.<br />
Das ist es wohl, worauf Du mit Deinem Spottlied anspielen<br />
wolltest.”<br />
Der alte Mann auf <strong>der</strong> Bank erinnerte sich. Er hatte damals in<br />
<strong>der</strong> Diskussion mit Pythagoras eine schlechte Figur gemacht. Doch<br />
hatte ihn die Vorstellung von <strong>der</strong> unsterblichen Seele nie richtig<br />
überzeugen können. Auch Heraklit, den er später in Ephesos getroffen<br />
hat, war kein Anhänger <strong>der</strong> Ideen des Pythagoras.<br />
Zu <strong>der</strong> Zeit war Pythagoras schon in Kroton. Er war nach<br />
Großgriechenland 26 gegangen, weil Polykrates Tyrann von Samos<br />
geworden war.<br />
Wahrscheinlich, so sinnierte im Rückblick <strong>der</strong> Alte auf seiner<br />
Bank, waren ihre Charaktere zu ähnlich, um zusammen auf Samos<br />
bestehen zu können.<br />
Seine fanatische Art und seine Überzeugungskraft hatten Pythagoras<br />
viele Jünger zugeführt, die ihn als einen Sohn Appolls verehr-<br />
26 Mit Großgriechenland ist Süditalien gemeint. So wie die Europäer des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
durch ihre Auswan<strong>der</strong>ung nach Nordamerika <strong>der</strong> Enge und den sozialen Verhältnissen<br />
ihrer alten Heimat den Rücken kehrten, so flohen viele Ionier vor <strong>der</strong> Bedrohung<br />
durch die Perser und den durch sie geschaffenen politischen Verhältnissen<br />
(Tyrannis) in das für sie freie Großgriechenland. Der Bevölkerungsüberschuß <strong>der</strong><br />
kleinasiatischen Ionerstädte verstärkte diesen Drang zur Auswan<strong>der</strong>ung.
ten. Wie Freunde erzählt hatten, soll er vor fünf Jahren in Metaponto<br />
am Golf von Tarent gestorben sein 27 .<br />
Der Greis nahm den Faden seiner Erinnerung wie<strong>der</strong> auf.<br />
Auch er hatte nach fünfjähriger Herrschaft des Polykrates die<br />
Insel Samos verlassen müssen. Mit den Spottversen auf die Knabenliebe<br />
des Tyrannen hatte er die Toleranzfähigkeit des Polykrates<br />
überstrapaziert 28 . Das Schiff, das ihn bei seiner eiligen Flucht<br />
aufnahm, segelte nach Naukratis, ins Nildelta.<br />
Er war damals nach Saïs gegangen, um sich die ägyptischen<br />
Tempel anzusehen. Ein Priester, <strong>der</strong> griechisch sprach, erklärte<br />
27 Pythagoras, geb. 570 v. Chr. in Samos, gest. 496 v. Chr. in Metapont, kannte sowohl<br />
Thales als auch den auf Samos lebenden Anaximan<strong>der</strong>. Zwischen 545 und 535 v. Chr.<br />
soll Pythagoras Forschungsreisen nach Babylonien und Ägypten unternommen haben.<br />
Dafür spricht, dass die Babylonier das praktische Wissen um die dem Pythagoras zugeschriebene<br />
Formel a 2 +b 2 =c 2 besaßen und die Ägypter die Bruchrechnung.<br />
Seine Entdeckung, dass in <strong>der</strong> Musik die verschiedenen Töne in einem bestimmten<br />
zahlenmäßigen Verhältnis zur Saitenlänge standen, verband er mit den mathematischen<br />
Erkenntnissen des Thales und schloss daraus, dass durch Zahlengesetze Strukturen<br />
entstehen, die aus dem unbestimmten Unendlichen des Urstoffes, des Apeiron bei<br />
Anaximan<strong>der</strong>, das Bestimmte <strong>der</strong> Stoffe schaffe. <strong>Die</strong> Form sei also das Prinzip des Seins.<br />
In diese Vorstellung, die Form sei das Prinzip des Seins, passt die auch von den Orphikern<br />
übernommene Lehre von <strong>der</strong> Seelenwan<strong>der</strong>ung. <strong>Die</strong> Seele, aus einer an<strong>der</strong>en, <strong>der</strong><br />
Geistwelt stammend, ist sündig geworden. Sie ist daher in einen Leib eingeschlossen,<br />
wan<strong>der</strong>t von Leib zu Leib und formt dabei die Lebewesen, in die sie eingeschlossen ist.<br />
Gelingt es ihr den Leib, in den sie eingeschlossen ist, frei von Sinnlichkeit zu machen,<br />
wird die Seele erlöst, frei und wie<strong>der</strong> ganz Geist.<br />
28 Polykrates, bekannt aus Schillers Ballade „Der Ring des Polykrates” war Tyrann auf<br />
Samos. Zusammen mit seinen Brü<strong>der</strong>n hat er 538 v. Chr. die Macht auf Samos übernommen.<br />
Im Kampf um die Alleinherrschaft tötete er den älteren seiner Brü<strong>der</strong>, während<br />
<strong>der</strong> jüngere an den Hof des persischen Großkönigs floh. Mit Hilfe eines starken<br />
Söldnerheeres, des Aufbaus einer beachtlichen Flotte und einer geschickten Bündnispolitik<br />
u.a. mit Ägypten gelang ihm eine zügige Ausbreitung seines Machtbereichs in<br />
<strong>der</strong> Ägäis.<br />
Unter ihm erlebte Samos seine größte Blüte. Raubzüge <strong>der</strong> Flotte, aber auch <strong>der</strong> Fernhandel,<br />
die Einführung <strong>der</strong> Münzwirtschaft, Veredlung des einheimischen Viehs<br />
durch Einführung von Zuchttieren, eine rege Bautätigkeit trugen zur Hebung des allgemeinen<br />
Lebensstandards bei.<br />
An seinen Hof versammelte Polykrates Künstler und Dichter und pflegte die Freundschaft<br />
zu den an<strong>der</strong>en Fürsten <strong>der</strong> Ägäis.<br />
Seine großzügige Verwendung des Reichtums ließen ihn in Geldnot geraten und in eine<br />
persische Falle tappen. Der Besuch bei dem persischen Satrapen Oroites im Jahre<br />
522 v. Chr. wurde für ihn zum Verhängnis. Er wurde verhaftet und grausam getötet.
ihm die dargestellten Statuen, hatte sich jedoch in seinem Redefluss<br />
plötzlich unterbrochen und auf die Brust seines Zuhörers gezeigt:<br />
„Was ist das?”<br />
„Das ist ein Amulett. Das ist die <strong>Wurzel</strong> <strong>der</strong> <strong>Alraune</strong>.”<br />
„Woher hast Du es?”<br />
„Es ist ein Erbstück <strong>der</strong> Familie. Es muss uralt sein. Ich habe es<br />
meinem Vater abgenommen, als ich ihn in den rauchenden Trümmern<br />
unseres Hauses in Kolophon, erschlagen von den Persern,<br />
fand. Aber warum fragst Du?”<br />
Doch <strong>der</strong> Priester forschte weiter.<br />
„Haben Deine Vorfahren immer in Kolophon gewohnt?”<br />
„Nein, sie stammen aus Phönizien, ich glaube aus Ugarit.”<br />
Der Priester blieb geheimnisvoll: „Bist Du bereit, mit mir nilaufwärts<br />
nach Heliopolis zu segeln. Ich möchte Dir etwas zeigen,<br />
was Dich überraschen wird.”<br />
In Heliopolis, dem früheren On, wurde er in die uralten Tempelanlagen<br />
des Amun-Rê geführt. In einem Raum blieb <strong>der</strong> Priester<br />
vor einem Wandbild stehen. Dargestellt war ein Mann mittleren<br />
Alters im Profil, offensichtlich kein Ägypter, aber das Verblüffende<br />
war, er trug an seinem Gürtel ein Amulett, das, wie ein Ei dem an<strong>der</strong>en,<br />
seinem eigenen Amulett glich.<br />
„Wir wissen von ihm, dass er aus Kreta stammte, dass er <strong>der</strong><br />
Schwiegersohn unseres Hohenpriesters Imunheb war und dass <strong>der</strong><br />
Enkelsohn des Imunheb zusammen mit den Hyksos nach Phönizien<br />
gegangen ist. Alles das haben wir den uralten Papyri jener Zeit<br />
entnehmen können.<br />
Wenn ich Dein Profil mit dem seinen vergleiche, ist eine gewisse<br />
Ähnlichkeit vorhanden. Ich möchte Dir noch etwas zeigen.”<br />
Der Priester hatte ihn in einen an<strong>der</strong>en Raum geführt.<br />
„Wir nennen diesen Raum die kretische Laube. Wir wissen,<br />
dass <strong>der</strong> Schwiegersohn des Imunheb diesen Raum ausgemalt hat.<br />
<strong>Die</strong> Wandbil<strong>der</strong> sind vor kurzem restauriert worden. <strong>Die</strong> Bienen,<br />
die dort aus dem uralten Baumstamm herausschwirren, symbolisieren<br />
die den Menschen vertrauten Götter.”
„Es gibt so viele Götter, wie es Dinge und Ereignisse gibt, die<br />
sich die Menschen nicht erklären können”, hatte er vor sich hingemurmelt.<br />
„Was hast Du gesagt”, fragte ihn <strong>der</strong> Priester, <strong>der</strong> sein Gemurmel<br />
nicht verstanden hatte.<br />
Er hatte den Satz wie<strong>der</strong>holt und hinzugefügt, dass es sich um<br />
eine Aussage seines Lehrers Thales handelt. Er selbst habe auf Samos<br />
als Sänger seinen Zuhörern vorgehalten, dass diese sich ihre<br />
Götter nach dem eigenen Ebenbild gestalten würden und dass an<strong>der</strong>e<br />
Völker mit ihren Göttern genau so verführen.<br />
Der Priester hatte ihn forschend angesehen und dann auf das<br />
dunkle Loch gewiesen, aus dem die Bienen herausströmten.<br />
„Das ist <strong>der</strong> Urgrund des Seins, unsichtbar und gestaltlos.”<br />
Der Greis schloss seine Augen. <strong>Die</strong> Sonne war im Westen aus<br />
den abziehenden Wolken des Gewitters hervorgetreten, und ihr<br />
Wi<strong>der</strong>schein auf dem Meer schuf ein gleißendes Licht.<br />
Fast zehn Jahre war er in Ägypten geblieben. Immer tiefer hatte<br />
man ihm Einblick in das Wissen <strong>der</strong> Eingeweihten gewährt. Einweihung<br />
war vor allem ein Prozess <strong>der</strong> Desillusionierung, eine Aufhebung<br />
<strong>der</strong> illusionären Bil<strong>der</strong>welt des Polytheismus.<br />
Er hatte noch die Worte des Hohenpriesters in seinen Ohren:<br />
„Einer ist er, aus sich selbst geworden. Aus Einem ist alles entsprungen.<br />
Unter den Sterblichen geht er umher, doch keiner erblickt<br />
ihn, er hingegen sieht alle.”<br />
Kurz bevor Kambysos, <strong>der</strong> Perser, Ägypten eroberte, war er<br />
nach Großgriechenland gesegelt. Auf Sizilien in Zankle und in Catania<br />
hatte er seine Verse, in die er seine Erkenntnisse geformt hatte,<br />
vorgetragen.<br />
Seine Lippen rezitierten lautlos Verse aus <strong>der</strong> Erinnerung:<br />
„Es gibt einen einzigen Gott, unter Göttern und Menschen <strong>der</strong><br />
größte, we<strong>der</strong> an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken.”<br />
„<strong>Die</strong> Gottheit ist ganz Auge, ganz Geist, ganz Ohr.”
„Doch son<strong>der</strong> Mühe schwingt er das All mit des Geistes Denkkraft.”<br />
„Stets am selbigen Ort verharrt er, sich nirgends bewegend, und<br />
es geziemt ihm nicht bald hierhin bald dorthin zu wan<strong>der</strong>n.”<br />
Sein Blick wan<strong>der</strong>te über die Häuser unten in <strong>der</strong> Bucht. Hier<br />
in Elea hatten er und einige Schüler sich vor über dreißig Jahren<br />
nie<strong>der</strong>gelassen, um über diesen einzigen Gott und sein Werk zu<br />
diskutieren und zu schreiben<br />
Nur einmal noch hatte er Elea verlassen. Mit einlaufenden<br />
Schiffen war die Nachricht gekommen, Jonien sei frei, die Tyrannis<br />
<strong>der</strong> Perser abgeschüttelt. Da hatte ihn <strong>der</strong> unbändige Wunsch gepackt,<br />
die alte Heimat noch einmal wie<strong>der</strong>zusehen. Er hatte die<br />
Philosophenschule seinem fähigsten Schüler Parmenides anvertraut<br />
und sich selbst den Unbilden <strong>der</strong> See.<br />
Des Alten Augen leuchten in <strong>der</strong> hereinbrechenden Dämmerung.<br />
Er sieht sich noch am Bug des Schiffes stehen, als aus dem<br />
Dunst die fünf Felsspitzen des Latmosgebirges auftauchen und die<br />
baldige Ankunft in Milet ankündigen.<br />
Milet war brodelnd wie immer. Doch irgendwie auch an<strong>der</strong>s.<br />
Der Schutz des Thales war ihr genommen. Ein Hauch von Todesahnung,<br />
von Untergang, schien ihm durch die Straßen zu wehen.<br />
Auch Kolophon war an<strong>der</strong>s, irgendwie fremd. Es war nicht<br />
mehr die Stadt seiner Kindheit.<br />
In Ephesus hatte er Heraklit getroffen. Prüfend hatte <strong>der</strong> Jüngere<br />
den Älteren angeschaut und dann gesagt:<br />
„Xenophanes, Dein Dämon ist Dein Schicksal.“ 29<br />
Er hatte in ihm den Gleichartigen, den in die Mysterien Eingeweihten<br />
erkannt. Es folgten Wochen fruchtbarer Gespräche.<br />
„So wie unser Heute nur das Ergebnis von Gestern ist, so wird<br />
29 Unter Dämonen verstanden die Griechen die im Menschen wirkenden Kräfte, seien<br />
es Triebe, Vorstellungen o<strong>der</strong> Ideen. Hier meint Heraklit die innere Unruhe des Xenophanes<br />
und sein Gefühl, dass <strong>der</strong> in ihm wirkende Geist auf <strong>der</strong> Suche nach dem<br />
Logos, <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Ideen, in seiner Persönlichkeit sich nicht vollenden wird.
unser Morgen nur das Ergebnis von Heute sein. Das Heute muss<br />
sterben, damit das Morgen leben kann. Das Sterben ist Vergehen,<br />
um neuem Leben Platz zu machen. Man kann nicht zweimal in<br />
denselben Fluss hinabsteigen.”<br />
„Das Leben wird dem Menschen zur Gefahr, wenn er am Vergänglichen<br />
haftet. <strong>Die</strong> Ewigkeit ist ein spielendes Kind. Der<br />
Mensch müsste mit den Dingen spielen wie ein Kind, aber sein<br />
Trachten darauf richten, aus den Dingen das Göttliche zu holen,<br />
das in ihnen verzaubert schläft.”<br />
„Nur – <strong>der</strong> Krieg ist <strong>der</strong> Vater aller Dinge!”<br />
„Das Werden ist eingespannt zwischen Gegensätzen, und diese<br />
Gegensätze sind es, die Bewegung in den Fluss bringen.”<br />
„Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Friede,<br />
Sattheit und Hunger. Er ist <strong>der</strong> Logos, das Weltgesetz, letztlich<br />
die Weltvernunft, die das Werden regelt.“ 30<br />
Zum Abschied sagte Heraklit noch, er glaube nicht, dass Jonien<br />
frei bleibe, dafür sei Persien zu mächtig. Mag sein, dass aus <strong>der</strong><br />
Übermacht <strong>der</strong> Perser sich eine Gegenmacht entwickle. Aber wann<br />
die entstehen werde, könne man jetzt noch nicht erkennen.<br />
Heraklit sollte Recht behalten. Kurz nach seiner Rückkehr<br />
wurde <strong>der</strong> jonische Aufstand durch Darius nie<strong>der</strong>gekämpft, Milet<br />
zerstört. Doch auch die Gegenmacht zu Persien wurde sichtbar.<br />
Athen und Sparta wehrten sich erfolgreich gegen die Eroberung<br />
durch die Perser.<br />
<strong>Die</strong> Gedanken des alten Mannes auf seiner Bank kehrten zurück<br />
zu <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Dunkelheit vor ihm liegenden Philosophenschule.<br />
Parmenides hatte inzwischen seine, des Xenophanes Aussage,<br />
‚von dem einen, am selbigen Ort verharrenden und sich nicht be-<br />
30 Mit Heraklit aus Ephesus, geb. 535, gest. 475 v. Chr., tritt neben die Form das Werden<br />
als gestaltende Kraft in den Blickpunkt <strong>der</strong> Philosophie. Logos ist bei Heraklit das<br />
Weltgesetz, das das Werden regelt. <strong>Die</strong>se Vorstellung von <strong>der</strong> immanenten Werdegesetzlichkeit<br />
war für seine Zeitgenossen schwer zugänglich. Im Gegensatz zu Pythagoras<br />
hielt er aristokratische Distanz zu denen, die er nicht für ebenbürtig hielt. Wegen <strong>der</strong><br />
Unzugänglichkeit seiner Persönlichkeit hießen ihn die Alten auch den Dunklen.
wegenden Gott’ weiter entwickelt zu dem ‚einen’ zusammenhängenden,<br />
in sich ruhenden All’. Dabei spielte in <strong>der</strong> Aussage ‚Eines<br />
ist Alles’ bei ihm das IST den Angelpunkt. Wenn das Sein ist, kann<br />
es kein Nichtsein geben.<br />
Wie bei den Pythagoreern aus mathematischen Gesetzen sich<br />
an<strong>der</strong>e Gesetze ableiten, so schließt Parmenides aus dem gesetzten<br />
Sein, dass Werden nicht möglich sei, da Werden ein vorheriges<br />
Nichtsein bedeute. Denken ist für Parmenides ein Wie<strong>der</strong>geben<br />
<strong>der</strong> Gegenstandswelt und insofern mit dem Sein identisch.<br />
Für den alten Mann auf <strong>der</strong> Bank war die Philosophie des Parmenides<br />
zwar in sich logisch, doch mit <strong>der</strong> Realität nicht vereinbar.<br />
Für Parmenides war die Realität nur <strong>der</strong> Schein, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong><br />
Wahrheit des Seins nichts zu tun hatte 31 .<br />
Der Greis fasste sich ans Herz. <strong>Die</strong> äußere Dunkelheit schien<br />
jetzt auch in ihm sich auszubreiten. Ihm fielen die Worte Heraklits<br />
ein:<br />
„Der Dämon kann sich nicht innerhalb einer Persönlichkeit abschließen.<br />
Er hat Kraft, viele Persönlichkeiten zu beleben. Von<br />
Persönlichkeit zu Persönlichkeit vermag er sich zu wandeln.”<br />
„Lebwohl Logos”, flüsterte er, „und suche Dir einen Körper,<br />
<strong>der</strong> Dir hilft, die Weltvernunft weiter zu erhellen.”<br />
In <strong>der</strong> Philosophenschule herrschte am Morgen Aufregung.<br />
Man hatte dem Parmenides gemeldet, dass das Lager des Xenophanes<br />
unberührt geblieben war. Man fand ihn auf seiner Lieblingsbank,<br />
den Körper an die alte Korkeiche gelehnt, in seinen Gesichtszügen<br />
ein überirdisches Lächeln.<br />
31 Mit <strong>der</strong> Absolutierung des Seins setzt Parmenides aus Elea, geb. ca. 540 und gest.<br />
470 v. Chr. die Antithese zu Heraklits Werden. Das Denken ist für ihn <strong>der</strong> einzige Weg<br />
zur Wahrheit und, da Denken das Sein wi<strong>der</strong>spiegelt, führen nur die Sinneserkenntnisse<br />
zu feststehenden, mit sich selbst identischen Wahrheiten.<br />
Alles, was später in <strong>der</strong> Philosophie geschrieben und gesagt worden ist, sind Modifikationen<br />
<strong>der</strong> Gestaltungsprinzipien Form, Werden und Sein, erstmals aufgezeigt an <strong>der</strong><br />
Wende vom 6. zum 5. Jahrhun<strong>der</strong>t v. Chr. von diesen Vorsokratiern.
V. Im Zeitalter <strong>der</strong> Fische<br />
60 v. Chr. – 2 100 n. Chr.
1. Monotheismus: «Geistliche Anleihen»<br />
Dem denkwürdigen Kolloquium, das im Jahre 5 <strong>der</strong> Regierungszeit<br />
Justinians bzw. im Jahre 1285 nach <strong>der</strong> Gründung Roms<br />
in Ktesiphon stattfand, gingen mehrere Entscheidungen voraus,<br />
aber auch einige zufällige Ereignisse.<br />
<strong>Die</strong> erste Entscheidung war die Schließung <strong>der</strong> neuplatonischen<br />
Philosophenschule in Athen, kurz Akademie genannt, zwei Jahre<br />
nach Beginn <strong>der</strong> Regierungszeit Justinians 32 .<br />
Ein Vierteljahr nach <strong>der</strong> Schließung tauchte bei Simplikios,<br />
dem damaligen Leiter <strong>der</strong> Akademie, ein Syrer auf und bot ihm<br />
und den übrigen entlassenen Mitglie<strong>der</strong>n an, ihre Forschungen und<br />
Lehrtätigkeiten an <strong>der</strong> Akademie in Gondishapur fortzusetzen.<br />
Der künftige Herrscher des Sassanidenreiches Chusro Anoscharwan<br />
brauche für die von ihm geplanten Reformen die Erfahrungen<br />
und das Wissen <strong>der</strong> Griechen.<br />
Er bat Simplikios, die übrigen Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Akademie von<br />
seinem Angebot in Kenntnis zu setzen. <strong>Die</strong> Ausreisewilligen sollten,<br />
um die Mission nicht zu gefährden, als Grund für ihre Abreise<br />
angeben, sie nähmen eine Hauslehrerstelle in Antiochia an. Sein<br />
Schiff läge, von heute an in sechs Wochen, in Piräus bereit, um sie<br />
und ihre Angehörigen an Bord zu nehmen.<br />
Zu dem angegebenen Zeitpunkt traten acht Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Akademie mit ihren Angehörigen die Reise an.<br />
32 Platon, geb. 427 v. Chr. in Athen, gest. 347 v. Chr. in Athen, Schüler von Sokrates,<br />
gründete im Jahre 387 v. Chr. die Academie, seine Schule in Athen, die erst 529<br />
n.Chr. von Kaiser Justinian geschlossen wurde. Bedeutende Gelehrte prägten den Ruf<br />
dieser Schule Auch Aristoteles lehrte zeitweise an <strong>der</strong> Akademia.
Ein Jahr nach Schließung <strong>der</strong> Akademie nahm in Gondishapur<br />
die Philosophenschule wie<strong>der</strong> ihre Arbeit auf.<br />
An einem klaren Frühherbstmorgen des folgenden Jahres traten<br />
zwei Männer aus einem alten tempelartigen Gebäude in Velia 33 auf<br />
die Straße und strebten dem Hafen zu. Der Jüngere führte ein<br />
Maultier am Zügel, das offensichtlich sein Reisegepäck trug.<br />
„Lucanus, hab' Dank für alles, was ich hier in den zwei Jahren,<br />
die ich euer Gast war, habe lernen können.”<br />
„Du weißt, David, dass wir römischen Neuplatoniker selbst nur<br />
Gastrechte in dieser alten vor 1 000 Jahren von Xenophanes und<br />
Parmenides gegründeten Eleaten-Schule genießen, weil wir es<br />
vorgezogen haben, aus dem zu christlich dominierten Rom in die<br />
Provinz auszuweichen.<br />
Wer weiß, wie lange wir hier noch ungestört lehren können.<br />
Seit Boëthius 34 hingerichtet wurde, haben wir Philosophen bei den<br />
Ostgoten an Sympathie eingebüßt, und seit Theo<strong>der</strong>ich 35 tot ist,<br />
wird Justinian alles versuchen, Italien wie<strong>der</strong> dem römischen Reich<br />
einzuglie<strong>der</strong>n. Und was das für uns bedeutet, siehst Du an <strong>der</strong><br />
Schließung <strong>der</strong> Akademie vor zwei Jahren in Athen.”<br />
33 Velia, das frühere Elea <strong>der</strong> griechischen Antike, liegt im Cilento, <strong>der</strong> gebirgigen Halbinsel<br />
südlich von Neapel. Dort hat ein heute fast ausgetrockneter Fluss eine Talaue geschaffen<br />
und damit Siedlungsraum und einen Hafen für die griechischen Kolonnisten.<br />
Archäologen versuchen seit einigen Jahren in Grabungskampagnien sich ein Bild <strong>der</strong><br />
früheren Siedlung zu verschaffen.<br />
34 Boëthius (475 – 524 n. Chr.) lebte in Rom und wurde von dem Ostgotenkönig<br />
Theo<strong>der</strong>ich 510 zum Konsul ernannt und später <strong>der</strong> höchste Verwaltungsbeamte des<br />
Hofes. Er wurde wegen Hochverrats in den Kerker geworfen und 524 hingerichtet<br />
Seine Übersetzung und Kommentierung von Schriften griechischer Philosophen waren<br />
die einzigen Quellen des Mittelalters über das Wissen <strong>der</strong> Antike, bis das vom Islam gespeicherte<br />
griechische Kulturgut nach Europa gelangte.<br />
35 Theo<strong>der</strong>ich <strong>der</strong> Große, im Nibelungenlied <strong>Die</strong>trich von Bern genannt, führte seine<br />
Ostgoten mit Einverständnis weströmischer Herrscher vom Balkan nach Italien und<br />
gründete dort das Ostgotenreich. Durch die Schwäche seiner Nachfolger und durch<br />
das Erstarken des oströmischen Reiches unter Justinian ging in <strong>der</strong> Mitte des 6. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
dieses Ostgotenreich wie<strong>der</strong> unter.
Schweigend gingen die beiden Männer eine Zeitlang nebeneinan<strong>der</strong><br />
her. Dann ergriff Lucanus von neuem das Wort.<br />
„David, ich weiß, Du hast hier vor allem die Gelegenheit dazu<br />
benutzt, Dich mit <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Eleaten auseinan<strong>der</strong> zu setzen.<br />
Ich nehme auch an, dass Du, wenn Du wie<strong>der</strong> in Ägypten bist,<br />
in Heliopolis die Stätten aufsuchen willst, von denen Xenophanes<br />
berichtet hat.<br />
Hier ist ein Paket. Es enthält eine Handschrift, die Xenophanes<br />
von Ägypten mitgebracht haben soll, aber keiner kann diese Bil<strong>der</strong>schrift<br />
<strong>der</strong> alten Ägypter lesen. Vielleicht findest Du jemand in<br />
Ägypten, <strong>der</strong> noch ihre Schrift lesen kann und ihrer Sprache mächtig<br />
ist.<br />
Ferner enthält das Paket noch etwas, das Du kennst. Es soll eine<br />
Überraschung sein. Öffne es bitte erst, wenn Du auf See bist.”<br />
Sie hatten den Hafen und das wartende Schiff erreicht. Es war<br />
ein Handelsschiff, das Keramik aus Velia für Ägypten geladen hatte.<br />
Während sich David von Lucanus verabschiedete, ließ <strong>der</strong> Kapitän<br />
das Reisegepäck seines Fahrgastes an Bord bringen und gab<br />
dann das Zeichen zum Ablegen.<br />
Der ablandig wehende Wind blähte die Segel und das Schiff<br />
gewann zunehmend an Fahrt.<br />
David öffnete das Paket. Er erkannte sofort die als Amulett des<br />
Xenophanes verehrte uralte <strong>Wurzel</strong> <strong>der</strong> <strong>Alraune</strong>. Voll Rührung las<br />
er das Begleitschreiben des Lucanus:<br />
„Lieber David, <strong>der</strong> eine Teil in Dir sucht ständig nach Erkenntnis,<br />
<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e wird als Kaufmann im <strong>Die</strong>nste <strong>der</strong> Familientradition<br />
gezwungen, ständig nach neuen Handelswegen zu suchen. Du<br />
wirst also wie Xenophanes ein unstetes Leben führen. Das Amulett<br />
möge Dich schützen.<br />
Verzeih’ mir diese abergläubigen Anwandlungen. Aber ich wüsste<br />
keinen besseren Träger als Dich. Außerdem glaube ich, dass es<br />
bei Dir in dieser unruhigen Zeit sicherer aufgehoben ist als hier in<br />
Velia.”<br />
David ließ das Schreiben sinken.
Vor zwei Jahren war er im Auftrag seines Vaters, des reichen<br />
Kaufmanns Baruch aus Alexandria nach Velia gekommen, um<br />
ägyptischem Weizen gegen Keramik aus Velia einzutauschen.<br />
Ägypten als Kornkammer des römischen Reiches exportierte regelmäßig<br />
seine Weizenüberschüsse. Da Keramik in Alexandria<br />
knapp und teuer war, umgekehrt Italien seit Generationen auf Getreideimporte<br />
angewiesen war, hatte sein Vater ihn beauftragt, in<br />
Velia einen Geschäftspartner für den Austausch dieser Waren zu<br />
suchen.<br />
Seitdem hatte er als Vertreter des Kaufhauses Baruch die Geschäfte<br />
zwischen Velia und Alexandria geleitet. Da ihm diese Tätigkeit<br />
viel freie Zeit ließ, hatte er in <strong>der</strong> alten Eleatenschule seine<br />
philosophischen Kenntnisse vertieft.<br />
Nun war mit diesem Schiff ein Schreiben seines Vaters gekommen,<br />
das ihn zur Rückkehr auffor<strong>der</strong>te.<br />
„Mein Geschäftsfreund aus Indien hat mir durch seinen Sohn,<br />
<strong>der</strong> mit dem letzten Schiff aus Indien gekommen ist, mitteilen lassen,<br />
dass unser ägyptisches Leinen durch die hohen Schutzzölle <strong>der</strong><br />
arabischen Piratenschiffe kaum mehr absetzbar sei. Er habe daher<br />
die Menge an Gewürzen und Seide kürzen müssen, die er mir als<br />
Gegenlieferung zur Verfügung stelle.<br />
Wir müssen deshalb einen Weg nach Indien finden, <strong>der</strong> die<br />
Schutzzölle <strong>der</strong> arabischen Seepiraten vermeidet. Ich habe an einen<br />
Basar in Babylon o<strong>der</strong> in Ktesiphon gedacht. Deine Aufgabe ist<br />
es herauszufinden, ob Kamelkarawanen durch das Sassanidenreich<br />
möglich und günstiger sind als <strong>der</strong> Seeweg um Arabien herum.<br />
Übrigens, <strong>der</strong> Sohn meines indischen Geschäftsfreundes”, so<br />
hatte es als persönliche Anmerkung in dem Schreiben seines Vaters<br />
geheißen, „ist in Deinem Alter. Varahamihira 36 heißt er. Auch er<br />
36 Varahamihira (505 bis 587 n. Chr.) indischer Philosoph, Mathematiker und Astronom,<br />
schrieb eine Abhandlung, in <strong>der</strong> er das astronomische Wissen <strong>der</strong> Griechen,<br />
Ägypter, Römer und In<strong>der</strong> zusammenfasste. Seine als Mathematiker in <strong>der</strong> Trigonometrie<br />
aufgestellten Sinustabellen erlaubten den Astronomen genauere Berechnungen<br />
<strong>der</strong> Sternbewegungen durchzuführen.
ist wie Du Kaufmann nur aus Pflicht, aus Neigung aber Wissenschaftler.<br />
Ich glaube, ihr werdet euch gut verstehen.<br />
Das erste, was er von mir wissen wollte, war, wie er an die<br />
astronomischen Aufzeichnungen eines gewissen Hipparchos aus<br />
Rhodos kommen könne. Ich habe ihn an Gelinda, die die Bibliothek<br />
leitet, verwiesen. Seitdem taucht er bei mir nur auf um zu fragen,<br />
wann Du kommst, wobei er froh zu sein scheint über jeden<br />
Tag, <strong>der</strong> ihm für seine astronomischen Studien bleibt.”<br />
David legte das Schreiben seines Vaters beiseite und entrollte<br />
den alten Papyrosbogen des Xenophanes. Sinnend starrte er auf die<br />
geheimnisvollen Hieroglyphen. Was war für Xenophanes so wichtig<br />
gewesen, dass er ihn mit nach Elea gebracht hatte?<br />
Vielleicht könnte Gelinda ihm helfen. Wie sie wohl jetzt aussehen<br />
wird. Sie hatten beide seinerzeit als Jahrgangsbeste das Quadrivium,<br />
das höhere Schulwissen, in Alexandria am Museion abgeschlossen<br />
und sich dann aus den Augen verloren.<br />
Beide stammten sie aus alten alexandrinischen Geschlechtern.<br />
Während das Handelshaus Baruch sich bis auf Philo, <strong>der</strong> zur Zeit<br />
<strong>der</strong> julischen Cäsaren lebte, zurückverfolgen ließ, zählte Gelinda<br />
zu ihren Vorfahren die berühmte Mathematikerin Hypatia, die vor<br />
über hun<strong>der</strong>t Jahren vom christlichen Pöbel in Alexandria bestialisch<br />
ermordet wurde.<br />
Zwei Monate später folgten zwei Männer einer Frau in die uralten<br />
Tempelanlagen von Heliopolis.<br />
„Das muss <strong>der</strong> Raum sein, von dem Xenophanes in seinen Aufzeichnungen<br />
gesprochen hat”, wandte sich Gelinda an David. <strong>Die</strong><br />
Farben waren weitgehend verblasst, teilweise abgeblättert.<br />
„Was fasziniert Dich so an diesem Raum, David?”, fragte Varahamihira.<br />
„Xenophanes nannte diesen Raum die kretische Laube. Siehst<br />
Du diese Andeutung eines alten Baumes, aus dessen Loch, man<br />
sieht es kaum noch, Bienen herausfliegen. <strong>Die</strong>se Bienen symbolisieren<br />
die von den Menschen geschaffenen Götter, die, so stellten sie
sich vor, unsterblich, aber alle geboren worden sind. <strong>Die</strong>ses Loch,<br />
so deutete es <strong>der</strong> den Xenophanes begleitende Priester, ist <strong>der</strong> Urgrund<br />
allen Seins. O<strong>der</strong> um es mit <strong>der</strong> Inschrift auf dem Isistempel<br />
zu Saïs zu sagen:<br />
Ich bin alles, was war, ist und sein wird.<br />
Das Faszinierende daran ist, um auf Deine Frage zurückzukommen,<br />
dass die Priester vor über zweitausend Jahren in ihrer<br />
Geheimlehre schon monotheistische Vorstellungen hatten; Vorstellungen<br />
wie sie Xenophanes zeit seines Lebens beschäftigt haben,<br />
wobei er unter dem Einfluss von Heraklit mehr einem Pantheismus<br />
zuneigte, wie ich aus meinen Studien in Velia erfahren<br />
habe.”<br />
„<strong>Die</strong>ses Loch wird bei uns im Hinduismus Brahman genannt, es<br />
ist das alles durchdringende, selbstexistierende kosmische Absolute.<br />
Atma ist das im einzelnen Menschen wirkende Brahman. Der<br />
Hinduismus verbindet, wie in Deinem Bienengleichnis, das Polytheistische<br />
mit dem Pantheistischen. Er vermeidet, so scheint<br />
mir, den Zwischenschritt über den Monotheismus.”<br />
„Hen kai pan – Eines ist Alles”, flüsterte David.<br />
Dann verzog sich sein Gesicht zu einem schalkhaften Grinsen<br />
bei dem Gedanken, <strong>der</strong> in ihm hochstieg. Als die beiden an<strong>der</strong>en<br />
ihn fragend ansahen, fuhr es aus ihm heraus:<br />
„Der Spötter Xenophanes würde sagen:<br />
Und dann kam Moses, nahm das Loch, steckte es in eine Kiste,<br />
nannte es die Bundeslade und erklärte den mit ihm aus Ägypten<br />
fliehenden Israelis:<br />
Höre, Volk Israel, das ist das Heiligtum unseres namenlosen und<br />
unsichtbaren Gottes, <strong>der</strong> uns aufgetragen hat, dieses Land zu verlassen.<br />
Und so wurde Moses zum ersten Verkün<strong>der</strong> des Monotheismus!”<br />
„Als Historikerin muss ich Einspruch einlegen”, wi<strong>der</strong>sprach<br />
Gelinda.<br />
„Der vergilbte Papyrus des Xenophanes, den Du mir gegeben<br />
hast, enthält Hymnen eines Echnaton an seinen Gott Aton, den er
als einzigen Gott preist. Es muss sich, vom ganzen majestätischen<br />
Gehabe des Gebetes an seinen Gott, bei dem Echnaton um einen<br />
Pharao handeln. Aber in den ganzen Königslisten taucht nirgendwo<br />
ein Echnaton auf.<br />
Während seit etwa tausend Jahren in den ganzen uns bekannten<br />
Kulturen <strong>der</strong> Ruf nach einem letzten Absoluten in <strong>der</strong> Luft lag, wie<br />
uns auch Varahamihira mit seinen Bemerkungen über den Hinduismus<br />
bestätigt hat, muss dieser Pharao seinen Monotheismus verkündigt<br />
haben zu einer Zeit, da we<strong>der</strong> die Priester, noch das Volk<br />
bereit waren, ihm zu folgen.<br />
Ich vermute folgendes:<br />
Da die Pharaonen bei ihrer Thronbesteigung in das Geheimwissen<br />
<strong>der</strong> Priester eingeweiht wurden, hat dieser Pharao aus seinem<br />
gewonnenen Wissen einen neuen monotheistischen Glauben verkündet,<br />
vielleicht auch um die Macht <strong>der</strong> Priester zu brechen.<br />
<strong>Die</strong>se Priester haben dann nach seinem Tode alles getan, um die<br />
Erinnerung an diesen Pharao auszulöschen.<br />
Siehst Du, David, das ist <strong>der</strong> Grund, warum ich Dich gebeten<br />
habe, mich mit nach Babylon zu nehmen. Denn wenn in dortigen<br />
Archiven eine Korrespondenz mit einem Pharao auftaucht, dessen<br />
Name in den Königslisten fehlt, so könnte es dieser unbekannte<br />
Pharao sein.<br />
Meine These ist, es muss sich um einen Pharao handeln, <strong>der</strong><br />
nach Amenophis III. und vor Ramses II. regiert hat 37 . Das würde<br />
auch mit dem Pentateuch übereinstimmen, denn Dein Namenspatron,<br />
<strong>der</strong> große König David, hat ungefähr dreihun<strong>der</strong>t Jahre nach<br />
dem Auszug <strong>der</strong> Israelis aus Ägypten gelebt.<br />
Stimmt meine These, David, dann hat Moses die Vorstellungen<br />
Echnatons für sein Volk übernommen. Und nicht Moses, son<strong>der</strong>n<br />
Echnaton ist <strong>der</strong> erste Verkün<strong>der</strong> eines Monotheismus.<br />
David! Hörst Du mir überhaupt noch zu?”<br />
37 Gemeint ist ein Zeitraum von etwa 75 Jahren zwischen dem Tode Amenophis III.<br />
und dem Beginn <strong>der</strong> Regierungszeit Ramses II. etwa um 1291.
David errötete. In den letzten Minuten hatte er mehr die<br />
Schönheit Gelindas auf sich wirken lassen, die noch gesteigert<br />
wurde durch das Temperament, mit <strong>der</strong> sie ihre Argumente<br />
vortrug.<br />
In Wahrheit war er ihrer Bitte, sie mit nach Babylon zu nehmen,<br />
nur zu gerne gefolgt. Als er sie nach seiner Rückkehr aus Italien<br />
wie<strong>der</strong>sah, war er überrascht zu welcher Schönheit sich das<br />
unscheinbare Mädchen, das er kannte, entwickelt hatte.<br />
Um zu vertuschen, dass sie ihn ertappt hatte, sagte er:<br />
„Hoffentlich findest Du in Babylon jemanden, <strong>der</strong> die Keilschrift<br />
lesen und sie Dir übersetzen kann.”<br />
Gemächlich trieb <strong>der</strong> Nordwind das Frachtschiff in den folgenden<br />
Tagen nilaufwärts. An den einzelnen Faktoreien, die für das<br />
Handelshaus Baruch arbeiteten, legte das Schiff an und David<br />
prüfte und übernahm unter Hilfe seines indischen Freundes Partien<br />
ägyptischen Leinens, die es galt, nach Indien zu liefern. In Den<strong>der</strong>a<br />
würden die Leinenballen auf Kamele geladen und nach Myos<br />
zum Roten Meer transportiert.<br />
„Varahamihira, was zieht Dich so nach Den<strong>der</strong>a?”<br />
Sie saßen auf dem Sonnendeck und genossen die Abendstimmung.<br />
„Auch ich versuche wie Du, Gelinda, eine These bestätigt zu<br />
bekommen.<br />
Als ich Dich in <strong>der</strong> Bibliothek in Alexandria traf, hatte ich nach<br />
Hipparchos von Rhodos gefragt. <strong>Die</strong>ser Astronom hat vor siebenhun<strong>der</strong>t<br />
Jahren eine Sternenkarte erstellt, in die er über tausend<br />
Sterne in einem Gitter von Längen- und Breitengraden fixiert hat.<br />
Mir war in Indien aufgefallen, dass Sterne nicht mehr an <strong>der</strong><br />
Stelle waren, wo sie nach den Aufzeichnungen früherer Astronomen<br />
zur Zeit <strong>der</strong> Tag- und Nachtgleiche hätten sein müssen.<br />
Wenn das keine falschen Messungen waren, dann müssten die<br />
Standorte bestimmter Sterne, die Hipparchos vor siebenhun<strong>der</strong>t<br />
Jahren fixiert hatte, heute auch an einer an<strong>der</strong>en Stelle zu finden<br />
sein. Daher mein Interesse an den Tabellen des Hipparchos.
Übrigens dem Hipparchos war das auch schon aufgefallen. Als<br />
er den Standort des Sternes Spica mit den Aufzeichnungen eines<br />
Astronomen verglich, <strong>der</strong> den Stern hun<strong>der</strong>tfünfzig Jahre früher<br />
vermessen hatte, stellte er fest, dass, bezogen auf die Tag- und<br />
Nachtgleiche, Spica zwei Grad rechts von dem gemessenen Standort<br />
war.<br />
Ich habe festgestellt, dass Spica heute rund zehn Grad seit den<br />
Tagen des Hipparchos weiter nach rechts gewan<strong>der</strong>t ist. <strong>Die</strong> Bewegung<br />
betrifft aber nur die Längengrade und gilt für alle Sterne<br />
des Tierkreises.”<br />
„Was hat das aber mit Den<strong>der</strong>a zu tun?”<br />
„Nun in den Aufzeichnungen <strong>der</strong> Astronomen in <strong>der</strong> Bibliothek<br />
von Alexandria wird erwähnt, dass die Decke des Hathortempels<br />
in Den<strong>der</strong>a einen in Sandstein gemeißelten Tierkreis ziert 38 . Mich<br />
interessiert, durch welches Sternzeichen bei diesem Relief <strong>der</strong><br />
Schnittpunkt <strong>der</strong> Tag- und Nachtgleiche verläuft.”<br />
„Ich komme mit!”, erklärte Gelinda spontan.<br />
„Wir werden morgen kurz vor Mittag in Den<strong>der</strong>a sein. Ich<br />
muss die Entladung überwachen und dafür sorgen, dass die Ballen<br />
sicher in das Lager kommen. Das dauert drei Stunden. Wann wollt<br />
Ihr zum Hathortempel?”<br />
Varahamihira überlegte.<br />
„Am besten am späten Nachmittag. Dann fallen die<br />
Sonnenstrahlen waagerecht in den Tempel und das Deckenrelief<br />
wirft Schatten und wird plastischer.”<br />
„Gut, dann kann auch ich mitkommen”, entschied David.<br />
Deutlich hoben sich die einzelnen Figuren des Deckenreliefs<br />
durch die flach hereinfallenden Sonnenstrahlen voneinan<strong>der</strong> ab,<br />
wie Varahamihira vorausgesagt hatte.<br />
„Das kann doch nicht wahr sein!”<br />
38 Das Original des Tierkreises befindet sich heute im Louvre, während man in Den<strong>der</strong>a<br />
eine Gipskopie besichtigen kann.
Gelinda und David starrten fragend in das verblüffte Gesicht ihres<br />
Freundes.<br />
„Schaut, <strong>der</strong> Künstler hat den Frühlingspunkt in das Sternzeichen<br />
des Stieres gelegt. Dann müsste er das Relief vor, vor …”<br />
Varahamihira rechnete,<br />
„vor dreitausend Jahren gemeißelt haben. Aber so alt ist <strong>der</strong><br />
Hathortempel nicht. O<strong>der</strong>, er hat nach einer Vorlage gearbeitet,<br />
die so alt ist. Jedenfalls muss für den Erstverfasser <strong>der</strong> Vorlage <strong>der</strong><br />
Frühlingspunkt im Sternzeichen des Stieres gelegen haben.<br />
In <strong>der</strong> Zwischenzeit ist er durch den Wid<strong>der</strong> gewan<strong>der</strong>t und befindet<br />
sich seit fünfhun<strong>der</strong>t Jahren im Sternbild <strong>der</strong> Fische.”<br />
„Vor dreitausend Jahren sind den Göttern noch Menschenopfer<br />
dargebracht worden, nicht wahr David?”, wandte sich Gelinda an<br />
ihren alten Schulfreund.<br />
Sie sah, wie in Davids Gesicht wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Schalk aufstieg.<br />
„Woran denkst Du?”<br />
„Ich kann mir nicht helfen. Seit meinen Studien über Xenophanes<br />
betrachte ich die Erklärungen <strong>der</strong> Menschen über ihr Handeln<br />
mit einer gewissen Skepsis.<br />
Da gibt es im 1. Buch Mosis eine Stelle, wo Abraham aufgefor<strong>der</strong>t<br />
wird, seinen Sohn Isaak zu opfern. Isaak war <strong>der</strong> einzige Sohn<br />
seines rechtmäßigen Weibes Sarah. Den Grund <strong>der</strong> Opferung gibt<br />
diese Stelle nicht an. Vielleicht hatten Seuchen den Herdenbestand<br />
des Abraham so dezimiert, dass nur ein übergroßes Opfer<br />
den Gott versöhnen konnte.<br />
Bezeichnend ist, dass Abraham dieses Opfer nicht vor seinem<br />
Volke vollzieht, son<strong>der</strong>n mit seinem Sohn auf einen einsamen<br />
Berggipfel wan<strong>der</strong>t, dann aber nach einer Weile mit seinem nicht<br />
geopferten Sohne zu seinem Stamm zurückkehrt und erklärt:<br />
Gott habe ihn daran gehin<strong>der</strong>t, seinen Sohn zu schlachten, weil<br />
<strong>der</strong> <strong>der</strong> Stammvater eines großen Volkes werden solle, und ihn<br />
stattdessen aufgefor<strong>der</strong>t, einen Wid<strong>der</strong> zu opfern, <strong>der</strong> sich in <strong>der</strong><br />
Nähe im Gestrüpp verfangen hatte.<br />
Dass Abraham ein Mann mit Grundsätzen war, kann man nicht
ehaupten, eher ein Überlebenskünstler, wie einige Berichte aus<br />
<strong>der</strong> Zeit vor <strong>der</strong> Geburt seines Sohnes Isaak beweisen. <strong>Die</strong>se Sarah<br />
muss ein sehr schönes Weib gewesen sein. Immer wenn dieser<br />
Nomadenfürst mit seinen Herden in ein fremdes Land kam, gab er<br />
seine Frau als seine Schwester aus, um nicht wegen seines Weibes<br />
aus dem Weg geräumt und getötet zu werden.<br />
Wir wissen nicht, ob Abraham mit seinem Gott geha<strong>der</strong>t und<br />
ihn letztlich von einem Menschenopfer zu einem Tieropfer heruntergehandelt<br />
hat, o<strong>der</strong> ob er die Geschichte nur erfunden hat. Es<br />
gab ja keine Zeugen.<br />
Jedenfalls sind im Zeitalter des Wid<strong>der</strong>s die Menschenopfer seltener<br />
geworden und wurden im jüdischen Volke durch das<br />
Schlachten eines Lammes ersetzt.”<br />
„Wenn die Sternbil<strong>der</strong> maßgebend für die Art <strong>der</strong> Opfer sind,<br />
dann müssten die Christen heute im Sternbild <strong>der</strong> Fische, Fische<br />
opfern”, folgerte Gelinda.<br />
„Nein”, wi<strong>der</strong>sprach Varahamihira, „die alten Völker haben die<br />
Fruchtbarkeitszyklen ihrer Tiere an den Himmel als Sternbil<strong>der</strong><br />
projiziert. Erst warfen die Schafe ihre Jungen, dann kalbten die<br />
Kühe und zum Schluss gebaren die Ziegen. Entsprechend folgen<br />
die Sternbil<strong>der</strong> Wid<strong>der</strong>, Stier und Zwillinge aufeinan<strong>der</strong>, wobei<br />
man wissen muss, dass die Zwillinge ursprünglich zwei kleine<br />
Zicklein gewesen sind.”<br />
„Aber um auf die Opferriten <strong>der</strong> Christen zurückzukommen”,<br />
das Gesicht Davids war sehr ernst geworden, „wenn sie bei ihrer<br />
Abendmahlfeier verkünden, das genossene Brot sei Christi Fleisch<br />
und <strong>der</strong> getrunkene Wein sei Christi Blut, so läuft mir dabei immer<br />
ein kalter Schauer den Rücken herunter, denn das ist ritualisiertes<br />
Menschenopfer.”<br />
„Aber irgendwie haben die Christen doch etwas mit dem Sternbild<br />
<strong>der</strong> Fische zu tun”, beharrte Gelinda,<br />
„in einem ihrer Evangelien for<strong>der</strong>t Jesus die Fischer des Sees<br />
Genezareth auf, ihm zu folgen und zu Menschenfischern zu werden.<br />
Und ich weiß, aus alten Aufzeichnungen, dass die Christen
einan<strong>der</strong> erkannten an einem stilisierten Fisch, den sie an die<br />
Wand malten. Und ihr berühmter Stern von Bethlehem soll im<br />
Sternbild <strong>der</strong> Fische gestanden haben.”<br />
„Der stilisierte Fisch ist das Zeichen Alpha. Im Johannes-<br />
Evangelium heißt es ‚Am Anfang war das Wort …’ und Alpha ist<br />
das Zeichen für den Anfang. <strong>Die</strong> meisten Christen waren Analphabeten<br />
und konnten nicht lesen, daher deuteten sie das Zeichen Alpha<br />
als einen Fisch.”<br />
„Was den Stern von Bethlehem angeht”, ergänzte Varahamihira,<br />
„so hoffe ich bei den Aufzeichnungen <strong>der</strong> Babylonier etwas Genaueres<br />
zu erfahren.”<br />
„Wann werden wir in Babylon sein?”, fragte Gelinda.<br />
David überlegte:<br />
„Morgen brechen wir mit unseren Kamelen nach Myos auf, in<br />
drei Tagen sind wir dort. Dann segeln wir nach Elath. Dort werden<br />
wir in einer Woche sein. Dann geht es über den Karawanenweg<br />
nach Damaskus und Palmyra zum Euphrat. Den werden wir<br />
drei Wochen später erreichen. Wenn wir für die Flussfahrt auf dem<br />
Euphrat bis nach Babylon noch mal eine Woche brauchen, sind<br />
wir von heute an gerechnet in fünf Wochen in Babylon.<br />
„Also auf nach Babylon”, beendete Varahamihira das Gespräch.<br />
Ausschnitt aus dem Brief Davids an seinen Vater in Alexandria:<br />
„Auftragsgemäß habe ich hier in Ktesiphon einen Basar gemietet.<br />
Wir sind von Myos aus, wie besprochen, nicht um die arabische<br />
Halbinsel herumgesegelt, son<strong>der</strong>n nach Elath. Von dort sind<br />
wir über den Karawanenweg störungsfrei hier in Ktesiphon angekommen.<br />
Varahamihira hat ebenfalls einen Basar gemietet und in einem<br />
Schreiben seinen Vater aufgefor<strong>der</strong>t, Gewürze und Seide, einmal<br />
auf dem Seewege über Basra und zum an<strong>der</strong>en auf dem Landwege<br />
über Harmadan nach Ktesiphon zu schicken, um zu testen, welcher<br />
Transportweg gefahrloser und damit günstiger ist. Der Warenaustausch<br />
soll dann hier in Ktesiphon stattfinden.
Übrigens Seide kommt hier nach Ktesiphon nicht nur aus Indien,<br />
son<strong>der</strong>n direkt aus China über einen Weg, den die Händler<br />
Seidenstraße nennen. Dadurch können wir preismäßig zwischen<br />
mehreren Anbietern wählen.<br />
<strong>Die</strong> Zeit bis zum Eintreffen <strong>der</strong> Karawanen wird uns nicht lang<br />
werden. Gelinda und Varahamihira stöbern in den babylonischen<br />
Archiven und ich habe Kontakt zu den Philosophen <strong>der</strong> Athener<br />
Schule aufgenommen, die seit zwei Jahren hier in Gondishapur<br />
lehren.”<br />
Sie saßen auf <strong>der</strong> Terrasse des Königspalastes in Ktesiphon. Sie,<br />
das waren unsere drei Freunde und die aus Gondishapur gekommenen<br />
Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Akademie.<br />
Es war später Nachmittag. <strong>Die</strong> Strahlen <strong>der</strong> schräg stehenden<br />
Sonne spiegelten sich in den träge dahin gleitenden Wassern des<br />
Tigris.<br />
„Ich habe gehört”, wandte sich Simplikios an Gelinda, „Du<br />
suchst einen aus den ägyptischen Annalen verschwundenen Pharao.<br />
War Deine Suche in den babylonischen Archiven erfolgreich?”<br />
„Ich habe einen Keilschrifttext gefunden, in dem ein Hethiterkönig<br />
Mursilis III. erwähnt, dass eine ägyptische Prinzessin Anchesenpaaton<br />
seinen Vater Suppiluliumas gebeten habe, er möge ihr<br />
einen seiner Söhne als Gatten schicken, da ihre Ehe mit dem kürzlich<br />
verstorbenen Tutanchamun genauso ohne Söhne geblieben sei,<br />
wie die ihrer Mutter Nofretete mit ihrem Vater. Interessant daran<br />
ist <strong>der</strong> Name des ägyptischen Pharaos und <strong>der</strong> seiner Gattin.<br />
Wir wissen, dass Tutanchamun in <strong>der</strong> Königsliste <strong>der</strong> Nachfolger<br />
von Semenchkarê war und dass Semenchkarê ein Sohn von<br />
Amenophis III. war. Semenchkarê war mit Meritaton <strong>der</strong> älteren<br />
Schwester von Anchesenpaaton verheiratet. Bei<strong>der</strong> Mutter hat also<br />
nur weiblichen Nachwuchs gehabt. Nach dem Tode des Ehegatten<br />
von Nofretete musste also sein jüngerer Bru<strong>der</strong> Pharao werden.<br />
<strong>Die</strong>ser unbekannte Pharao fügt dem Namen seiner Töchter die<br />
Bezeichnung ‚.aton’ an. Es muss sich bei ihm um den älteren Bru<strong>der</strong>
Semenchkarês und unmittelbaren Nachfolger Amenophis III. handeln.<br />
Wahrscheinlich nannte er sich bei seiner Inthronisierung<br />
Amenophis IV. und wandelte seinen Namen erst später in Echnaton<br />
um.”<br />
„Doch”, und damit wandte sich Gelinda David zu, „ich muss<br />
mich korrigieren. Nach genauerem Studium <strong>der</strong> Papyrusrolle des<br />
Xenophanes komme ich zu <strong>der</strong> Erkenntnis, dass die von Echnaton<br />
praktizierte Anbetung Atons kein reiner Monotheismus war. Nur<br />
er trat mit Aton in Verbindung, alle an<strong>der</strong>en mussten weiterhin<br />
Echnaton als den göttlichen Pharao verehren. Vermutlich trug die<br />
fehlende Bindung des neuen Glaubens im Volke dazu bei, dass<br />
nach dem Tode Echnatons die Priester so erfolgreich die Erinnerung<br />
an diesen Glauben und an Echnaton auslöschen konnten.”<br />
„Dann könnte Moses ein Anhänger Echnatons gewesen sein”,<br />
folgerte David, „<strong>der</strong> die Rückkehr zu den alten Glaubensvorstellungen<br />
nicht mitgemacht hat. Er hat dann mit an<strong>der</strong>en, die gleich<br />
ihm an <strong>der</strong> neuen Religion festhielten, Ägypten verlassen.<br />
<strong>Die</strong> große Leistung des Moses besteht darin, dass er die Glaubensvorstellungen<br />
Echnatons zu einer klaren Gegenreligion entwickelt<br />
hat, wie es in den Gesetzestafeln nie<strong>der</strong>geschrieben ist:<br />
- «die Verwerfung <strong>der</strong> Magie»<br />
- «die Bildlosigkeit»<br />
- «Verzicht auf ein Jenseits und auf die Unsterblichkeit <strong>der</strong> Seele»<br />
- «Statt Vielheit von Göttern nur einen Gott»<br />
- «Betonung moralischer gegenüber kultischer Reinheit»<br />
Dabei vermeidet er den Fehler Echnatons. Für die mit ihm ziehenden<br />
Israelis ist er kein Gott, son<strong>der</strong>n nur das Sprachrohr Gottes,<br />
sein Prophet. Gott lebt also über den Tod seines Propheten<br />
hinaus weiter.”<br />
„Warum sitzen wir hier? Warum ist es uns nicht gelungen, die<br />
Ideen Platons, die Erkenntnisse Plotins so zu verbreiten, dass sie<br />
Glaubensgut <strong>der</strong> Menschen wurden und sie gefeit machten gegen<br />
die Irrlehren <strong>der</strong> Christen?”, fragte Perkos, einer <strong>der</strong> Akademielehrer.<br />
„Plotin hat seinerzeit versucht, Kontakte nach Indien zu knüpfen.
Wir wissen nicht, wieweit es ihm gelungen ist”, warf Simplikios<br />
ein, „aber soviel mir bekannt ist, sind die Vorstellungen Plotins<br />
nicht allzuweit von den Gottesvorstellungen des Hinduismus entfernt.”<br />
„Das EINE Plotins wird bei uns im Hinduismus Brahman genannt,<br />
es ist das alles durchdringende, selbstexistierende kosmische<br />
Absolute. Atma ist das im einzelnen Menschen wirkende Brahman”,<br />
erklärte Varahamihira.<br />
„<strong>Die</strong> Übereinstimmung ist zweifellos verblüffend. Aber um auf<br />
die Frage Perkos einzugehen: wir haben in Indien eine alles beherrschende<br />
Kaste, die Brahmanen. Sie haben diese geistigen Vorstellungen<br />
im Volke durchgesetzt. Nie<strong>der</strong>geschrieben sind diese Vorstellungen<br />
unter an<strong>der</strong>em in <strong>der</strong> Bhagavad-Gitâ, dem Offenbarungstext<br />
des Hinduismus. Ihre einzelnen Kapitel können als<br />
Stufenweg aufgefasst werden, <strong>der</strong> den Leser zur Gottheit hinführt.<br />
Im hellenistischen Raum fehlte es an <strong>der</strong> beherrschenden Priesterkaste,<br />
die die philosophischen Ideen in religiöse Praxis umsetzen<br />
konnte. In dieses religiöse Vakuum, so scheint mir, ist das<br />
Christentum vorgestoßen.”<br />
„Verzeiht, dass ich noch mal auf Moses zurückkomme”, unterbrach<br />
David die Diskussion.<br />
„Aber wenn das stimmt, was ich über die Leistungen Moses gesagt<br />
habe, dann werden bestimmte Teile des Pentateuch noch unlogischer,<br />
als sie es für mich vorher schon waren.<br />
Wie kann ein Prophet, <strong>der</strong> den unmittelbaren Kontakt des<br />
Menschen mit seinem einzigen Gott for<strong>der</strong>t, eine Priesterhierarchie<br />
wie<strong>der</strong> einrichten, obgleich er weiß, dass unter den Motiven<br />
Echnatons für seine neue Religion das Brechen <strong>der</strong> Priestermacht<br />
eine nicht geringe Rolle gespielt hat?<br />
Wie kann ein Prophet, <strong>der</strong> das Gebot <strong>der</strong> Nächstenliebe als<br />
Gottes Offenbarung verkündet, seinen Gott, den er vorher Elohim,<br />
<strong>der</strong> EINE genannt hat, plötzlich Jahwe nennen, so wie die Midianiter<br />
ihren Rachegott nennen?<br />
War das Volk Israel noch nicht reif genug, das Gesetz des ‚Auge
um Auge, Zahn um Zahn’ durch das Gebot ‚Liebe Deinen Nächsten<br />
wie Dich selbst’ zu überhöhen?<br />
Hat Moses aufgegeben? Hat man ihn als geistigen Führer abgesetzt?<br />
Ihn gar getötet und durch eine Priesterkaste ersetzt?<br />
<strong>Die</strong> achthun<strong>der</strong>t Jahre später den Pentateuch geschrieben haben,<br />
werden es selbst nicht gewusst haben. Mündliche Überlieferungen<br />
beschönigen und verdrängen die Erinnerung 39 .<br />
<strong>Die</strong> Folgen sind bekannt. Der Rachegott Jahwe wurde <strong>der</strong><br />
Staatsgott, sein Volk ein auserwähltes Volk. Dass das nicht gut<br />
gehen kann, weiß man seit <strong>der</strong> Geschichte von Josef und seinen<br />
Brü<strong>der</strong>n.”<br />
„Wer war Josef und was ist mit ihm passiert?”, fragte Varahamihira,<br />
dem als In<strong>der</strong> die Bücher Moses unbekannt waren.<br />
„Josef war <strong>der</strong> elfte Sohn des Erzvaters Jakob, von dem die<br />
Israelis ihre Herkunft ableiten. Er war aber auch <strong>der</strong> Auserwählte<br />
seines Vaters, weil er das erste Kind <strong>der</strong> Lieblingsfrau Rahel seines<br />
39 Der Pentateuch, die fünf Bücher Moses, stammt in seiner Urform von einem Verfasser,<br />
den die Alttestamentler den „Jahwisten” nennen, weil <strong>der</strong> Gott Jahwe bei ihm am<br />
häufigsten genannt wird. Zwischen 480 und 420 v. Chr. muss er diese Urform nie<strong>der</strong>geschrieben<br />
haben.<br />
Grundmuster seiner Darstellung ist <strong>der</strong> Gegensatz zwischen Gut und Böse, angefangen<br />
beim Sündenfall im Paradies und sich fortsetzend bis zur babylonischen Gefangenschaft,<br />
aus <strong>der</strong> Kyros, <strong>der</strong> Perserkönig das Volk Israel 538 v. Chr. befreite. In <strong>der</strong> antiken<br />
Religionsgeschichte ist es <strong>der</strong> Perser Zarathustra, <strong>der</strong> zu Beginn des 6. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
diesen Gegensatz im vor<strong>der</strong>asiatischen Raum erstmalig verkündete.<br />
Der Jahwist gestaltet die Figur des Propheten Moses nach dem Vorbild von Zarathustra,<br />
wenn er ihn die Gesetzestafeln Jahwes vom Berge Sinai bringen lässt, während Kyros<br />
Pate stand bei <strong>der</strong> Befreiung des Volkes Israel aus ägyptischer Knechtschaft durch<br />
Moses. Nur es gibt keine Aufzeichnungen, in denen Moses vor <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schrift durch<br />
den Jahwisten erwähnt wird.<br />
Später haben zentralistische Reformer diese Urform in eine national-religiöse Geschichte<br />
<strong>der</strong> Reiche Israel und Juda umgewandelt. So opferte <strong>der</strong> einzelne Israelist beim Jahwisten<br />
seinem Gott an jedem geeigneten Platz im Freien, während die Reformer den<br />
Opferkult nur im Tempel von Jerusalem zuließen. Auch fügten sie <strong>der</strong> Urform des<br />
Jahwisten Heldentaten des Volkes Israel bei <strong>der</strong> Zerstörung kanaanitischer Städte und<br />
<strong>der</strong> Ausrottung an<strong>der</strong>sgläubiger Volksstämme hinzu.<br />
Nur we<strong>der</strong> haben die Alttestamentler schriftliche Beweise von außerbiblischen Quellen<br />
hierüber, noch haben die Archäologen bei den angegebenen Orten Spuren von<br />
Zerstörungen aus jener Zeit gefunden.
Vaters war. <strong>Die</strong> Betonung <strong>der</strong> Auserwähltheit seinen Brü<strong>der</strong>n gegenüber,<br />
führte dazu, dass die ihn eines Tages gefangen nahmen,<br />
einer vorbeiziehenden Karawane als Sklaven verkauften und ihrem<br />
Vater gegenüber erklärten, er sei von einem Löwen gefressen worden.<br />
Jedenfalls die Betonung <strong>der</strong> Auserwähltheit hat bis heute bei<br />
den Nachbarvölkern die gleichen Reaktionen ausgelöst.<br />
Zu den Folgen: Als <strong>der</strong> Stolz <strong>der</strong> Juden das Joch <strong>der</strong> römischen<br />
Besatzungsmacht glaubte nicht länger ertragen zu können und sie<br />
vor vierhun<strong>der</strong>tfünfzig Jahren im Vierkaiserjahr 40 den Aufstand<br />
wagten, wurde Juda als Staatsgebilde von den Flaviern ausgelöscht.<br />
Und als sie sechzig Jahre später in einem Kleinkrieg Rache suchten,<br />
wurde die gesamte jüdische Bevölkerung aus Juda vertrieben.<br />
Entschuldigt die Langatmigkeit. Aber vielleicht sind außer Varahamihira<br />
auch noch an<strong>der</strong>en aus diesem Kreis diese für die römische<br />
Geschichte episodenhaften Vorkommnisse nicht geläufig.<br />
Meines Erachtens sind sie aber <strong>der</strong> Keim für die Entstehung des<br />
Christentums.”<br />
„Ich habe mich in Athen ausgiebig mit dem Gnostizismus 41 beschäftigt”,<br />
schaltete sich Protoklos in die Diskussion ein, „<strong>der</strong> in<br />
40 Als Vierkaiserjahr bezeichnet man die Zeitspanne (68 bis 69 n. Chr.) zwischen dem<br />
Ende <strong>der</strong> Julisch-Claudischen Dynastie und <strong>der</strong> Flavischen Dynastie.<br />
Nach dem Selbstmord Neros, als seine Schutztruppe, die Prätorianer, von ihm abfallen,<br />
wird zunächst Galba sein Nachfolger. Als er Anfang 69 n. Chr. von meuternden Prätorianern<br />
ermordet wird, folgt Otho für drei Monate. Doch auch er begeht Selbstmord,<br />
nachdem seine Truppen dem Feldherrn Vitellius unterlagen. Nach acht Monaten Regierungszeit<br />
wurde Vitellus von Vespasians Truppen beseitigt.<br />
Vespasian war 67 n. Chr. von Nero mit <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>werfung des jüdischen Aufstandes<br />
betraut worden. Nachdem seine Truppen den Flavier zum Kaiser ausgerufen hatten,<br />
übernahm es sein Sohn Titus, <strong>der</strong> nach dem Tode Vespasians, 10 Jahre später, ihm auf<br />
dem Thron folgen sollte, den jüdischen Aufstand im Jahre 70 mit <strong>der</strong> Zerstörung Jerusalems<br />
zu beenden.<br />
41 Der Gnostizismus verstand sich als Geheimwissenschaft über das Göttliche. Nach<br />
gnostischer Lehre fielen Funken o<strong>der</strong> Samen des Göttlichen Wesens aus <strong>der</strong> transzendenten<br />
geistigen Sphäre in die materielle (böse) Welt. Durch die Wie<strong>der</strong>erweckung des<br />
göttlichen Elementes mit Hilfe <strong>der</strong> Erkenntnis könnte <strong>der</strong> Mensch in seine Heimat, den<br />
spirituellen Bereich des Transzendenten, zurückkehren<br />
<strong>Die</strong> gnostische Mythologie entwickelte sich am Ende des 1. Jahrhun<strong>der</strong>ts n. Chr. aus<br />
spekulativen philosophischen Strömungen im Judentum.
den Zeiten <strong>der</strong> jüdischen Kriege vor allem in Alexandria als Geheimwissenschaft<br />
eine Rolle gespielt hat. Danach müsse es sich bei<br />
Jahwe um einen gefallenen Engel gehandelt haben, <strong>der</strong> sich als<br />
Gott das jüdische Volk untertan gemacht haben.<br />
Der eine, unsichtbare Gott werde aber einen Boten als Lichtträger<br />
seinem Volke schicken, <strong>der</strong> Juda aus <strong>der</strong> Dunkelheit, von<br />
dem Bösen, befreie.<br />
Hier tauchte also eine Art Dualität des Göttlichen, zwischen<br />
Licht und Dunkel, zwischen Gut und Böse auf.”<br />
„Auch im Hinduismus kennen wir die Korrektur durch das<br />
Göttliche, wenn die Menschen fehlgeleitet worden sind”, schaltete<br />
sich Varahamihira in das Gespräch ein.<br />
„Es gibt da in <strong>der</strong> von mir bereits erwähnten Bhagavad-Gitâ<br />
eine Stelle, die frei übersetzt lautet:<br />
Wenn das Gute verschwindet und das Böse zunimmt,<br />
schaffe ich mir einen Leib.<br />
In jedem Zeitalter kehre ich zurück und erlöse das Heilige,<br />
vernichte die Sünde <strong>der</strong> Sün<strong>der</strong> und setze das Recht wie<strong>der</strong> ein.<br />
Wenn Gott sich einen Leib schafft, dann bedeutet das, dass<br />
Gott einen Boten auf die Erde schickt.”<br />
„Zur Zeit <strong>der</strong> Gefangenschaft des jüdischen Volkes hier in<br />
Babylon hat Jesaja einen Messias, eine Lichtgestalt geweissagt, mit<br />
den Worten:<br />
Mache dich auf, werde licht! Denn dein Licht kommt, und<br />
die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir.<br />
Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker;<br />
Aber über dir geht auf <strong>der</strong> Herr, und seine Herrlichkeit<br />
erscheint über dir.”<br />
„Und David, dieser Jesus ist”, so forschte Varahamihira weiter,<br />
„<strong>der</strong> geweissagte Messias? Ihm ist also, um es hinduistisch zu formulieren,<br />
die Vereinigung seines persönlichen Atmas mit dem<br />
Brahman gelungen. Und dieser Yoga ist dann bei <strong>der</strong> Verkündigung<br />
seiner Erkenntnis an den ihn umgebenden bösen Mächten<br />
persönlich gescheitert?”
„So einfach ist das nicht”, schaltete Gelinda sich ein.<br />
„Genau so, wie wir nichts von authentischen Dritten über Moses<br />
wissen, so ist auch <strong>der</strong> historische Jesus für uns nicht greifbar.<br />
Moses ist eine Legende des jüdischen Volkes, Jesus eine des Christentums.<br />
Echnaton dagegen, so scheint mir, können wir historisch<br />
verifizieren.<br />
Mit <strong>der</strong> Eroberung <strong>der</strong> Randstaaten des östlichen Mittelmeeres<br />
haben sich die Römer nicht nur <strong>der</strong>en Reichtümer einverleibt,<br />
son<strong>der</strong>n sich auch für die orientalischen Mysterien geöffnet, die zusammen<br />
mit den eleusinischen Mysterien <strong>der</strong> Griechen einen emotionalen<br />
Nährboden bildeten, <strong>der</strong> nur darauf wartete, einen göttlichen<br />
Samen zu empfangen.”<br />
„Ich kann das, was Gelinda sagt, nur bestätigen”, schaltete<br />
Simplikios sich in das Gespräch ein.<br />
„Gemeinsam war diesen Mysterien ein als göttliche Offenbarung<br />
verkündeter Lógos, <strong>der</strong> die Menschwerdung, das Leiden und<br />
Sterben, die Auferstehung o<strong>der</strong> die göttliche Erhöhung des Kultgottes<br />
zum Inhalt hat.”<br />
„Und als dann mein verehrter Urahn Philon 42 eine Verbindung<br />
zwischen <strong>der</strong> Septuaginta und dem griechischen Lógos herstellte,<br />
war <strong>der</strong> Nährboden für diesen göttlichen Samen auch in <strong>der</strong> jüdischen<br />
Diaspora bereitet, zumal nach <strong>der</strong> Vertreibung des jüdischen<br />
Volkes aus Israel”, ergänzte David.<br />
„Wenn dieser Jesu eine christliche Legende und historisch nicht<br />
greifbar ist, wie Du behauptest”, wandte sich Varahamihira an Gelinda,<br />
„so müssen doch seine Anhänger, die Christen, irgendwann<br />
42 Philon von Alexandria, jüdischer Religionsphilosoph, geb. etwa 20 bis 15 v. Chr.,<br />
gest. um 50 n.Chr., war Leiter einer Gesandtschaft, die bei Kaiser Caligula im Jahre<br />
39/40 n. Chr. die Wie<strong>der</strong>herstellung jüdischer Bürgerrechte in Alexandria erreichen<br />
wollte. Ein Neffe von ihm unterhielt Handelsbeziehungen nach Arabien und Indien.<br />
Religiöses Hauptthema Philons ist <strong>der</strong> Aufstieg <strong>der</strong> von allem Sinnlichen gereinigten<br />
Seele zu Gott, dessen Transzendenz in <strong>der</strong> Schöpfung durch verselbständigte göttliche<br />
Kräfte, insbeson<strong>der</strong>e den Logos, vermittelt wird. Der Logos ist die Idee <strong>der</strong> Ideen, die<br />
Kraft <strong>der</strong> Kräfte, <strong>der</strong> oberste Engel, <strong>der</strong> Stellvertreter und Gesandte Gottes, <strong>der</strong> erstgeborene<br />
Sohn Gottes.
erstmals historisch in Erscheinung getreten sein, denn das Christentum<br />
ist ja heute Staatsreligion im römischen Reich.”<br />
„Ziehen wir die christlichen Quellen heran, so haben die Jünger<br />
Jesu, nachdem er ihnen nach seinem Tode erschienen ist, angefangen<br />
im jüdischen Volke die Lehren Jesu zu verbreiten.<br />
Gleichzeitig ist ein Diasporajude aus Tarsos, nachdem Christus<br />
sich ihm offenbart hat, von einem Gegner zu einem gläubigen Anhänger<br />
Christi geworden.<br />
<strong>Die</strong>ser Paulus ist deshalb so bedeutend, weil er aus diesen jüdischen<br />
Erkenntnissen Lehren für das ganze römische Weltreich gemacht<br />
hat und weil für ihn dieser jüdischen Messias Erlöser <strong>der</strong><br />
ganzen Menschheit ist. Durch seine Missionstätigkeit hat er den<br />
Monotheismus quasi aus seiner jüdischen Gefangenschaft befreit<br />
und Jahwe abgelöst durch das, was du Brahman nennst.<br />
Nur das Problem ist, auch dieser Paulus wird in außerchristlichen<br />
Quellen nicht erwähnt. Historisch fassbar ist ein Simon Magus,<br />
<strong>der</strong> bezeichnen<strong>der</strong>weise zur gleichen Zeit an den Orten auftaucht,<br />
an denen nach christlichen Quellen Paulus geweilt hat.<br />
Von ihm wird gesagt, dass er viele Wun<strong>der</strong> getan hat und viele Anhänger<br />
gefunden hat.”<br />
„Varahamihira, du musst Dir das so vorstellen, dieser Nährboden,<br />
von dem ich vorhin sprach”, erläuterte Simplikios, „war während<br />
<strong>der</strong> ersten hun<strong>der</strong>t Jahre damit beschäftigt, den in ihm versenkten<br />
Samen zum Keimen zu bringen. Man sieht die sich<br />
ausbreitenden <strong>Wurzel</strong>n nicht.”<br />
„Der erste, <strong>der</strong> versucht hat, die Spreu vom Weizen zu trennen,<br />
hier den neuen christlichen Glauben vom alten jüdischen”, ergänzte<br />
Protokos, „war meines Erachtens Markion von Sinope. Er wollte<br />
verhin<strong>der</strong>n, dass <strong>der</strong> christliche Glaube in seine alte jüdische<br />
Gefangenschaft zurückkehrte. Er bezog sich dabei auf die Briefe<br />
des Paulus an seine Gemeinden.<br />
Nur, bei unseren Studien zum Gnostizismus sind uns Zweifel<br />
gekommen, ob diese Briefe von Paulus, dem Zeltmacher, stammen.<br />
Wir glauben, dass diese Briefe von Markion und seinen
Anhängern geschrieben sind, hun<strong>der</strong>t Jahre nach dem Auftreten des<br />
historischen Paulus. Sie enthalten, genau wie das Johannis-<br />
Evangelium, sehr viele Vorstellungen <strong>der</strong> Gnosis.<br />
Anlass, so vermuten wir, war, dass er mit seinen Vorstellungen<br />
bei den christlich-jüdischen Gemeinden in Rom in ein Wespennest<br />
stieß, man ihn aus den Gemeinden ausschloss und er deshalb seine<br />
eigene Kirche gründete.”<br />
„Um auf mein Bild von den keimenden Samen im Nährboden<br />
zurückzukommen”, griff Simplikios den Faden wie<strong>der</strong> auf, „Was<br />
da als Früchte des Bodens sichtbar wurde, war eine Vielfalt von<br />
Glaubensvorstellungen. Damit das Christentum nicht in viele bedeutungslose<br />
und einan<strong>der</strong> bekämpfende Sekten zerfiel, musste<br />
man, wie Markion es vergeblich vorgemacht hatte, die Spreu vom<br />
Weizen trennen.<br />
Rom ist ja deshalb so groß geworden, weil es im Gegensatz zu<br />
allen an<strong>der</strong>en Völkern eine juristisch gut organisierte Verwaltungshierarchie<br />
besitzt, wie beson<strong>der</strong>s wir Griechen neidvoll anerkennen<br />
mussten. Und diese Vorstellung <strong>der</strong> hierarchischen Ordnung übernahmen<br />
die Christen gegen Ende <strong>der</strong> Adoptivkaiserzeit 43 und legten<br />
damit den Keim zu einer christlichen Kirche. Es war ja nur folgerichtig,<br />
dass die Bischöfe, als das Christentum staatlich<br />
anerkannt wurde, den Cäsaren, seit Konstantin, die Spitze <strong>der</strong><br />
Hierarchie antrugen und damit die Göttlichkeit <strong>der</strong> Cäsaren in<br />
den <strong>Die</strong>nst <strong>der</strong> Kirche stellten.”<br />
„Natürlich hat diese Vielfalt <strong>der</strong> Glaubensvorstellungen die<br />
Ausbreitung des Christentums geför<strong>der</strong>t. In den ersten drei Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />
ist um den Erhalt je<strong>der</strong> <strong>der</strong> heiligen Schriften erbittert<br />
43 Nach <strong>der</strong> Ermordung des letzten größenwahnsinnigen flavischen Kaisers Domitian<br />
im Jahre 96 n. Chr. setzte <strong>der</strong> römische Senat einen <strong>der</strong> Ihrigen, Nerva, als Kaiser ein.<br />
Er bestimmte seinen Adoptivsohn Trajan zum Nachfolger. Damit beginnt die Adoptivkaiserzeit,<br />
bei <strong>der</strong> <strong>der</strong> jeweilige Kaiser einen befähigten Nachfolger auswählt und adoptiert.<br />
Das 2. Jahrhun<strong>der</strong>t nach Christus gilt daher als das glanzvollste <strong>der</strong> römischen Geschichte.<br />
Es endet, als Kaiser Hadrian diese Regel durchbricht und seinen leiblichen Sohn<br />
Commodus zum Nachfolger bestimmt.
gekämpft worden. Erst die konstantinische Reichskirche konnte in<br />
ihren Reichssynoden ein einheitliches Neues Testament schaffen”,<br />
griff Protoklos die Vorstellungen von den unterschiedlichen Früchten<br />
des Nährbodens wie<strong>der</strong> auf.<br />
„Wie ich inzwischen gelernt habe, gehört das Matthäus-<br />
Evangelium dazu”, schaltete sich Vaharamihira in die Diskussion ein.<br />
„Wir hatten im Zusammenhang mit meinen Forschungen über<br />
die Präzession in Den<strong>der</strong>a über den Stern von Bethlehem gesprochen,<br />
<strong>der</strong> in diesem Evangelium erwähnt wird.”<br />
Dem überwiegenden Teil <strong>der</strong> Gesprächsrunde war die astronomische<br />
Problematik unbekannt, daher erläuterte Vaharamihira<br />
kurz seine gewonnenen Erkenntnisse.<br />
„Da dieser Stern von Bethlehem nicht einzuordnen war, vermutete<br />
ich, dass es sich um eine Konstellation <strong>der</strong> Wandelsterne handelt.<br />
<strong>Die</strong> Babylonier haben sich mit <strong>der</strong>en Bewegungen ausführlich<br />
beschäftigt. Ich glaube, ich habe in ihren Archiven eine Erklärung<br />
gefunden.<br />
Nach den Aufzeichnungen <strong>der</strong> Babylonier hat im Jahre 747<br />
nach Gründung Roms im Sternbild Fische eine Konjunktion des<br />
Planeten Marduk mit dem Planeten Ninurte stattgefunden, zu denen<br />
sich noch <strong>der</strong> Wandelstern Ischtar so hinzugesellte, dass diese<br />
3 Wandelsterne wie ein einziger Stern erschienen.<br />
<strong>Die</strong> Astrologen maßen <strong>der</strong> Konjunktion <strong>der</strong> langsamen Planeten<br />
Jupiter, wie Marduk bei den Griechen heißt, und Saturn, das ist<br />
<strong>der</strong> griechische Name für Ninurte, im Sternbild Fische eine beson<strong>der</strong>e<br />
Bedeutung für ein Volk zu. Da sich zu diesen Planeten Venus<br />
(Ischtar) hinzugesellte, muss es sich um eine Konstellation in <strong>der</strong><br />
Nähe <strong>der</strong> untergehenden Sonne, also für die Babylonier im Westen,<br />
gehandelt haben. Und das weist auf Palästina hin.”<br />
„Selbst wenn wir die Geschichte <strong>der</strong> Weisen aus dem Morgenland<br />
als nicht historisch ansehen, so hat doch <strong>der</strong> Erfin<strong>der</strong> dieser<br />
Legende astronomische Kenntnisse haben müssen”, stellte Gelinda<br />
bewun<strong>der</strong>nd fest. „Zumal die Venus in dieser Konstellation auf die<br />
kommende Bedeutung <strong>der</strong> Liebe, hier <strong>der</strong> Nächstenliebe, hinweist.”
„Übrigens, das, was Markion wollte, hat die Kirche bei <strong>der</strong><br />
Entwicklung des Neuen Testamentes praktiziert. Sie hat Christus<br />
in die Sätze des Alten Testamentes so hinein interpretiert, dass das<br />
Alte Testament als Vorläufer des Neuen Testaments erscheint”,<br />
ergänzte Simplikios.<br />
„Vorlage für diese Interpretationen war das Alte Testament in<br />
seiner griechischen Version, <strong>der</strong> Septuaginta”, bemerkte David,<br />
„den hebräischen Urtext hat die Kirche nicht anerkannt, zumal er<br />
sich vielfach dieser Allegorisierung wi<strong>der</strong>setzt.<br />
Mit <strong>der</strong> Zerstörung des Tempels in Jerusalem verschwindet die<br />
Kaste <strong>der</strong> Hohenpriester, <strong>der</strong> Priester und <strong>der</strong> Sadduzäer. An ihre<br />
Stelle treten die Rabbiner, die Gesetzeslehrer. Rabbi konnte je<strong>der</strong><br />
werden, unabhängig von Herkunft o<strong>der</strong> Titel, <strong>der</strong> die geistigen Fähigkeiten<br />
dazu hatte.<br />
Sie schufen in <strong>der</strong> gleichen Zeit, in <strong>der</strong> das Neue Testament<br />
entsteht, die Mischna, die jüdische Gesetzessammlung, und als<br />
Krönung hier am Euphrat den Babylonischen Talmud, die Sammlung<br />
des ganzen Stoffes <strong>der</strong> mündlichen Lehre.<br />
<strong>Die</strong>se jüdischen Schriftgelehrten haben sich natürlich gegen die<br />
Manipulation <strong>der</strong> Aussagen ihrer Propheten und gegen die Deutung<br />
des Alten Testamentes als Vorläufer des Neuen Testamentes<br />
gewehrt, doch gegen das Christentum als Staatsreligion des römischen<br />
Reiches war nichts auszurichten.”<br />
„Perkos, Du hast vorhin die Frage gestellt, warum es uns nicht<br />
gelungen sei, die Ideen Platons, die Erkenntnisse Plotins so zu<br />
verbreiten, dass sie Glaubensgut <strong>der</strong> Menschen werden konnten<br />
und sie damit gegen die Irrlehren <strong>der</strong> Christen gefeit gemacht hätten?”,<br />
griff Simplikios dessen Gedanken wie<strong>der</strong> auf.<br />
„<strong>Die</strong> Antwort ist sehr einfach. <strong>Die</strong> Christen haben, wie sie den<br />
Juden das Alte Testament wegmanipuliert haben, so die Ideen Platons,<br />
die Erkenntnisse Plotins in ihrer Christologie verarbeitet.<br />
Das hat mit Origenes begonnen und lässt sich verfolgen bis zu Augustinus.”<br />
„Wer war Origenes?”, erkundigte sich Varahamihira.
„Origenes war wohl <strong>der</strong> philosophisch bedeutendste Kirchenlehrer,<br />
den das Christentum bisher hervorgebracht hat. Um einen<br />
genauen Text des Alten Testamentes herzuleiten – vielleicht um<br />
auch die Einwendungen <strong>der</strong> jüdischen Schriftgelehrten zu wi<strong>der</strong>legen<br />
– verglich er in sechs nebeneinan<strong>der</strong> aufgeführten Texten die<br />
Septuaginta mit dem hebräischen Text in hebräischer Sprache,<br />
dem hebräischen Text in griechischer Übersetzung und den Übersetzungen<br />
dreier Kommentatoren.<br />
Bei seiner Auslegung <strong>der</strong> Texte ging er von einem dreifachen<br />
Schriftsinn aus, dem wörtlichen, dem psychischen und dem geistlichen<br />
Sinne, wobei für ihn <strong>der</strong> geistliche den Vorrang genoss.<br />
Auf Grund dieser Verbalinspiration entwickelte er eine göttliche<br />
Trinität, wobei <strong>der</strong> Sohn dem Vater untergeordnet ist wie <strong>der</strong><br />
Geist dem Sohn. Da er aber gleichzeitig die Wesenseinheit dieser<br />
drei Einheiten betont, kann das nur heißen, – um es in den Begriffen<br />
des Hinduismus zu formulieren –, dass sich das Atma des Christus<br />
mit dem Brahman verschmolzen hat, dass Christus sich zu<br />
Gott wie das Abbild zum Urbild verhält und dass die danach erfolgten<br />
Worte Christi Verkündigungen Gottes sind.<br />
Varahamihira, Du merkst die Verwandtschaft zwischen dem<br />
Hinduismus, Plotin und Origenes. Da Origenes zwanzig Jahre älter<br />
als Plotin war, nachweislich nicht in Indien gewesen ist, Plotin<br />
sein philosophisches Konzept erst nach dem Tode Origenes zur<br />
Reife gebracht hat, kann diese geistige Verwandtschaft zwischen<br />
Neuplatonismus und Hinduismus auch nicht in <strong>der</strong> Teilnahme<br />
Plotins am persischen Feldzug ihre <strong>Wurzel</strong> haben.<br />
Sowohl Origenes als auch Plotin waren Schüler des alexandrinischen<br />
Philosophen Ammonios Sakkas. Ob sie sich bei Sakkas begegnet<br />
sind, wissen wir nicht. Zur Zeit als Plotin bei Sakkas war,<br />
lehrte Origenes in Cäsarea. Plotin hat zeit seines Lebens Sakkas<br />
verehrt.<br />
Da Sakkas wie Sokrates keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen<br />
hat, können wir auf seine Bedeutung nur durch die Werke sei-
ner Schüler schließen. Ich vermute, was Sokrates für Plato war<br />
Sakkas für Origenes und Plotin 44 .<br />
Jedenfalls hat die Christusvorstellung des Origenes bis heute für<br />
Zündstoff in <strong>der</strong> Kirche gesorgt.”<br />
„Wieso?”, wollte Varahamihira wissen, für den diese Vorstellung<br />
mit seinen Glaubensvorstellungen durchaus konform ging.<br />
„Stelle Dir doch bloß einmal die Beispielwirkung vor”, schaltete<br />
sich David in die Diskussion ein, „da hat ein Yoga sein Atma mit<br />
dem Brahman verschmolzen, ist zum Abbild des Urbildes geworden.<br />
Das hat doch dazu geführt, dass viele sagten, was Christos<br />
kann, das kann ich auch. In den nächsten Hun<strong>der</strong>ten von Jahren<br />
saßen ungekämmte, schmutzige Männer in Höhlen, auf Bäumen<br />
und auf Bergspitzen und versuchten autark sich mit Gott zu vereinen.<br />
<strong>Die</strong>se Selbstverwirklichung, diese Autarkie, ist tödlich für eine<br />
auf Hierarchie aufgebaute Kirche. Sie musste alles tun und hat<br />
auch alles getan, um diesen Anachoreten klarzumachen, dass diese<br />
Verschmelzung nur ein einmaliger Vorgang gewesen sei, weil dieser<br />
Yoga Gottes Sohn war. Wenn diese Anachoreten Gott möglichst<br />
nahe kommen wollen, sollen sie Gott als Mönch in einem Kloster<br />
dienen.<br />
Eines dieser Klöster ist bei meiner Abreise aus Italien von einem<br />
Benedikt von Nursa unter dem Leitspruch Bete und Arbeite<br />
gegründet worden. Dort wird man diesen Eiferern den autarken<br />
Weg zu Gott schon austreiben.”<br />
44 Nach <strong>der</strong> Lehre Plotins (ca. 205 bis 270 n. Chr.) ist Gott das EINE, <strong>der</strong> Ursprung,<br />
aus dem alles fließt. Das erste, was das EINE aus sich entlässt, ist <strong>der</strong> Geist, <strong>der</strong> Nous.<br />
Das vom Geist ausstrahlende Licht ist die Seele. Da, wo die Seele sich mit einem Leib<br />
umkleidet, teilt sie das Schicksal des Leibes und wird sündig.<br />
Um sich aus <strong>der</strong> Gefangenschaft des Leibes zu befreien, muss die Seele zum EINEN<br />
zurückstreben. Sie muss danach trachten, ganz Geist zu werden. Je mehr Geist, je mehr<br />
Freiheit. Nur dadurch wird <strong>der</strong> Mensch zur reifen, sittlichen Person. Person ist nicht,<br />
sie wird erst.<br />
Auch bei <strong>der</strong> Lehre Plotins ist die Verwandtschaft zum Hinduismus unverkennbar.<br />
Nach allem muss <strong>der</strong> in Alexandria 242 n. Chr. verstorbene Ammonios Sakkas ein In<strong>der</strong>,<br />
vielleicht sogar ein Brahmane gewesen sein.
„Der nächste Streit begann”, nahm Simplikios den Faden wie<strong>der</strong><br />
auf, „als <strong>der</strong> Diakon Arius vor zweihun<strong>der</strong>t Jahren in Alexandria<br />
mit aristotelischer Logik bewies, Christus käme die Wesensgleichheit<br />
mit Gott nicht zu, da er nicht ewig, son<strong>der</strong>n ein<br />
sterbliches Geschöpf gewesen sei.”<br />
„Also keine Biene aus <strong>der</strong> kretischen Laube”, murmelte David<br />
so leise, dass nur Varahamihira ihn verstand.<br />
„Für die Arianer”, erklärte Simplikios, „ist in den menschlichen<br />
Leib und die menschliche Seele Jesu <strong>der</strong> göttliche Logos hineingekommen.<br />
Folglich sei Maria die Mutter Jesu und nicht die Gottesmutter.<br />
Für die Gegenseite hat sich das göttliche Wort mit dem<br />
menschlichen Leib Jesu, <strong>der</strong> selbst keine menschliche Seele besitze,<br />
verbunden und ihn dadurch von <strong>der</strong> Endlichkeit und <strong>der</strong> Geschöpflichkeit<br />
befreit. Damit war vereinbar, dass Maria eine Gottesgebärerin<br />
war. Das kam den christlichen Massen entgegen, die<br />
im christlichen Glauben eine Göttin, vergleichbar <strong>der</strong> Isis, vermissten.<br />
So wurde durch Umbenennung aus <strong>der</strong> Gottesmutter Isis die<br />
Gottesmutter Maria 45 .”<br />
„<strong>Die</strong>se zuletzt von Simplikios geschil<strong>der</strong>te Version hat im oströmischen<br />
Reich den Sieg davon getragen”, ergänzte Gelinda.<br />
„Wenn es Justinian gelingt, das Mare nostrum, das alte römische<br />
Weltreich wie<strong>der</strong> herzustellen, das heißt die Vandalen aus <strong>der</strong> Cyreneika<br />
und Numidien, die Ostgoten aus Italien und die Westgoten<br />
aus Spanien zu vertreiben, dann vernichtet er gleichzeitig den<br />
in diesen germanischen Reichen herrschenden Arianismus und bestätigt<br />
so seine Stellung als oberster Schirmherr <strong>der</strong> Kirche.”<br />
<strong>Die</strong> Sonne war untergegangen und nach einer kurzen Dämmerung<br />
die Nacht hereingebrochen. Simplikios rief nach den Bedien-<br />
45 <strong>Die</strong> Göttin Isis stammt ursprünglich aus <strong>der</strong> ägyptischen Götterwelt. Sie war die<br />
Tochter des Gottes Keb (Erde) und <strong>der</strong> Göttin Nut (Himmel). Sie war Braut und Schwester<br />
von Osiris, dem Richter <strong>der</strong> Toten, und Mutter von Horus, dem Himmelsgott.<br />
Sie galt als die Göttin <strong>der</strong> Fruchtbarkeit und <strong>der</strong> Mutterschaft. Nach dem griechischen<br />
Geschichtsschreiber Herodot ist sie identisch mit Demeter, <strong>der</strong> griechischen Göttin des<br />
Ackerbaus.
steten und gab Befehl, Lichter auf die Terrasse zu bringen und<br />
neue Erfrischungen zu reichen.<br />
„Als Hindu erscheint mir das alles als ein durch die Hintertür<br />
wie<strong>der</strong> eingeführter Polytheismus”, nahm Varahamihira den Gesprächsfaden<br />
wie<strong>der</strong> auf.<br />
„Was ist, wenn, unterstellt Justinian erreicht seine Ziele, irgendein<br />
Yoga eine Erleuchtung bekommt und erklärt, ihm sei von<br />
Gott die endgültige und vollkommene Wahrheit verkündigt. Man<br />
dürfe nur Gott und keinen an<strong>der</strong>en anbeten. Er selbst und alle seine<br />
Vorgänger seien nur Propheten.”<br />
„Dann bekommt das Christentum ein Problem”, war die tiefe<br />
Überzeugung Davids.<br />
„Zumal dann, wenn dieser neue Prophet die Erbsünde bestreitet<br />
und die Erlösung <strong>der</strong> Menschen nur von ihren guten Taten hier<br />
auf Erden abhängig macht.<br />
Bei meinem Aufenthalt in <strong>der</strong> Eleatenschule in Velia las ich in<br />
den Werken des Kirchenlehrers Augustinus. <strong>Die</strong> Texte sind lateinisch,<br />
nicht griechisch, abgefasst. Es ist möglich, dass sie deshalb<br />
<strong>der</strong> Akademie nicht vorgelegen haben. Für die römischen Neuplatoniker<br />
sind diese Texte insofern interessant, weil Augustinus stärker<br />
noch als Origenes die Lehren <strong>der</strong> Stoa und die des Plotin für<br />
seine Diskussionen über christliche Glaubensfragen verwendet.<br />
In einem seiner Hauptwerke, den Confessiones, setzt sich Augustinus<br />
mit <strong>der</strong> Erbsünde auseinan<strong>der</strong>, die die Menschen, so seine<br />
christliche Überzeugung, seit dem Sündenfall Adams im Paradies<br />
von Generation zu Generation vererbt bekommen. Ob sie als<br />
Mensch erlöst werden, hänge nicht von ihren guten Werken hier<br />
auf Erden ab, son<strong>der</strong>n allein von <strong>der</strong> Gnade Gottes. Es mag bei<br />
dieser seiner Überzeugung die Schwäche seines eigenen Fleisches<br />
während seines irdischen Lebens eine Rolle gespielt haben, doch<br />
wurde diese Überzeugung zum Allgemeingut christlicher Lehre,<br />
obgleich sich <strong>der</strong> Kirchenlehrer Pelagius darüber empörte, dass unschuldige<br />
Kin<strong>der</strong> mit dieser Erbsünde behaftet sein sollen.”
Im Osten kündigte ein roter Schein den baldigen Aufgang des<br />
Vollmondes an.<br />
„Das Christentum wird unabhängig von <strong>der</strong> Hypothese Varahamihiras<br />
in Zukunft ein Problem bekommen”, behauptete Gelinda.<br />
„Auch in <strong>der</strong> Bibliothek von Alexandria gibt es die Schriften des<br />
Augustinus. Ich habe mich als Historikerin mit dem Gottesstaat,<br />
De civitate Dei, auseinan<strong>der</strong>gesetzt. Mir sind bei <strong>der</strong> Lektüre Vergleiche<br />
mit Ägypten zur Zeit Echnatons und mit Juda in <strong>der</strong> Spätphase<br />
durch den Kopf geschossen.<br />
Was wird, wenn <strong>der</strong> Gleichklang <strong>der</strong> Interessenlage zwischen<br />
weltlicher Ausdehnung des Reiches und Bekehrung <strong>der</strong> Heiden<br />
zum Christentum seinen Abschluss gefunden hat, aus <strong>der</strong> Macht<br />
im Reich? Werden die Cäsaren unbeschränkt ihre Macht behalten<br />
o<strong>der</strong> werden die Priester, unter dem Deckmantel des Gottesstaates<br />
ihre eigene Macht über die <strong>der</strong> Cäsaren stellen wollen?<br />
Zwar ist auch für Augustinus eine aus machtpolitischen Gründen<br />
von den Priestern angestrebte Vorherrschaft im Staat kein<br />
Gottesstaat. Aber wird die Priesterkaste das zugeben?”<br />
Schweigen breitete sich in <strong>der</strong> Runde aus. Der Mond stand als<br />
riesiger roter Ball dicht über dem Horizont. Sein roter Schein ließ<br />
die Wellen des Tigris wie kleine Feuerzungen erscheinen.<br />
„Und was wird aus den Philosophenschulen werden”, fragte<br />
Perkos bang.<br />
„Philosophenschulen wird es im römischen Reich nicht mehr<br />
geben”, war sich Simplikios klar.<br />
„Das Christentum kann eine von ihr unabhängige Weltanschauung<br />
nicht dulden.<br />
Aber <strong>der</strong> Geist Platons und seiner Nachfolger bis hin zu Plotin<br />
wird in den christlichen Kirchenlehrern und in den Klöstern weiterleben.<br />
Dafür spricht die Fülle unserer philosophischen Erkenntnisse,<br />
die sie als Lehren in ihren Glaubenskanon eingearbeitet haben.<br />
„Und was wird das Schicksal Deines jüdischen Volkes sein?”,<br />
wandte sich Simplikios David zu.
Davids Finger seiner rechten Hand hatten mit <strong>der</strong> <strong>Wurzel</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Alraune</strong> gespielt. Plötzlich hatte er das Gefühl, als würde die <strong>Wurzel</strong><br />
in seiner rechten Hand zu brennen anfangen.<br />
Wie unter einem Zwang formulierten seine Lippen:<br />
„<strong>Die</strong> Zerstreuung des jüdischen Volkes ist seine Chance. Um<br />
seinen Glauben zu bewahren, muss je<strong>der</strong> Jude lesen und schreiben<br />
können. Das jüdische Volk wird das einzige Volk ohne Analphabeten<br />
sein. Daher werden die Juden in ihrer nichtjüdischen Umgebung<br />
als weiser, klüger und erfahrener angesehen werden. Viele<br />
werden zu einflussreichen Beratern ihrer nichtjüdischen Fürsten<br />
aufsteigen.<br />
Das Beharren in ihrem Glauben als auserwähltes Volk, <strong>der</strong> Neid<br />
auf ihre Erfolge sowie die Hinweise christlicher Priester, dass sie<br />
Jesus ans Kreuz geliefert haben, werden aber immer wie<strong>der</strong> zu antijüdischen<br />
Pogromen führen.<br />
Ich sehe für das jüdische Volk keinen Ausweg aus dieser Ambivalenz<br />
des Schicksals.”<br />
Das Brennen <strong>der</strong> <strong>Wurzel</strong> in seiner rechten Hand hatte aufgehört.<br />
David löste sich aus seiner Starrheit. Gleichzeitig fühlte er,<br />
wie sich die Hand Gelindas tröstend auf seinen linken Arm legte.<br />
Der Vollmond stand jetzt hoch über dem Fluss. Sein Licht<br />
tauchte den Tigris in ein silbernes von Horizont zu Horizont reichendes<br />
Band.
2. Monotheismus: «Sic et non»<br />
„Wir haben genau die Situation, die mein verehrter Oheim,<br />
Papst Innozenz III. immer vermeiden wollte. Der Kirchenstaat ist<br />
eingezwängt durch kaiserliches Gebiet.<br />
Um das zu verhin<strong>der</strong>n hatte er nach seiner Wahl zum Papst<br />
1198 die Chance, die ihm die Vormundschaft über den zweijährigen<br />
Sohn Friedrich Roger aus <strong>der</strong> Ehe des Kaisers Heinrich VI. mit<br />
Konstanze, <strong>der</strong> Erbin von Sizilien, bot, genutzt und den Welfen<br />
Otto von Braunschweig als Nachfolger des Staufers Heinrich VI.<br />
favorisiert.<br />
Ein Welfe in Deutschland und ein von seinem Lehnsherrn, dem<br />
Papst, abhängiger Staufer in Sizilien wäre das Ende <strong>der</strong> Sorge um<br />
die Einkreisung des Kirchenstaates gewesen.Ich selbst habe als<br />
Mitglied <strong>der</strong> Kurie, zunächst als Kardinaldiakon und später als Kardinalbischof<br />
an <strong>der</strong> Vorbereitung dieser Kirchenpolitik mitgewirkt.”<br />
Der so zu seinem Vertrauten Sinibald Fieschi sprach, war <strong>der</strong><br />
vor drei Tagen nach dem Tode des Papstes Honorius III. zum<br />
Papst gewählte Ugolino, Graf von Segni.<br />
„<strong>Die</strong>se Politik ist doch auch aufgegangen. Nach <strong>der</strong> Ermordung<br />
Philipp von Schwabens sind doch auch die den Bru<strong>der</strong> Heinrichs<br />
favorisierenden deutschen Fürsten mit <strong>der</strong> Wahl Ottos einverstanden<br />
gewesen. Und Euer Oheim hat ihn doch 1209 als Otto IV.<br />
zum deutschen Kaiser gekrönt.”<br />
„Als Otto mit Heeresaufgebot im Sommer 1209 nach Italien<br />
kam, merkten wir schon vor <strong>der</strong> Krönung, dass die Legaten Ottos<br />
sich nicht an die geheimen Zugeständnisse Ottos bezüglich <strong>der</strong>
Neuerwerbungen des Kirchenstaates hielten 46 . Wir drängten daher<br />
auf Veröffentlichung <strong>der</strong> Geheimabkommen, denn uns war klar,<br />
dass die kaiserlichen Legaten juristisch korrekt handelten, solange<br />
sie nicht von den Vereinbarungen Kenntnis hatten.<br />
Otto vertröstete uns auf einen Zeitpunkt nach seiner Krönung.<br />
Doch er zog im November 1209 nach seiner Krönung mit seinem<br />
Heeresaufgebot nicht nach Norden, son<strong>der</strong>n nach Süden, angeblich<br />
um den geplanten Kreuzzug vorzubereiten.<br />
Als er dann im Januar 1210 zwei seiner Anhänger mit <strong>der</strong> Mark<br />
Ancona und dem Herzogtum Spoleto belehnte und mit Pisa einen<br />
Beistandspakt abschloss, <strong>der</strong> ihm zum Übersetzen nach Sizilien<br />
Galeeren zusagte, sahen wir unser Misstrauen bestätigt.<br />
Ein Welfe, <strong>der</strong> das Königreich Sizilien als kaiserliches Lehen<br />
einzog, <strong>der</strong> als Welfe im kaiserlichen Norditalien sowohl die Anhänger<br />
<strong>der</strong> Staufer als auch die <strong>der</strong> Welfen auf seiner Seite wusste,<br />
<strong>der</strong> zudem das volle Vertrauen <strong>der</strong> deutschen Fürsten genoss, wäre<br />
mächtiger als Heinrich VI. geworden. Unser Kirchenstaat wäre<br />
über kurz o<strong>der</strong> lang genau so eingezogen worden wie die Mark Ancona<br />
und das Herzogtum Spoleto.<br />
Wir haben daher sofort reagiert und in Schreiben an das deutsche<br />
Episkopat und an den König von Frankreich den Kirchenbann<br />
über Otto wegen Verletzung von Kirchengut angekündigt und<br />
bald darauf durch Innozenz auch aussprechen lassen.<br />
Unseren diplomatischen Bemühungen ist es dann gelungen, eine<br />
oppositionelle Fürstengruppe dazu zu bewegen, Friedrich Roger<br />
zum deutschen König zu wählen.<br />
<strong>Die</strong> weitere Entwicklung, Sinibald, ist Dir bekannt. Als Otto<br />
1218 starb, hat mein Vorgänger Honorius III. unter meiner Assistenz<br />
Friedrich zum Deutschen Kaiser gekrönt. Vorher hatte<br />
46 Im Jahre 1198 hatte Papst Innocenz III., die Gunst des Machtvakuums nach dem<br />
Tode Kaiser Heinrich VI. im Jahre 1197 ausnutzend, die Mark Ancona und das Herzogtum<br />
Spoleto dem Kirchenstaat einverleibt. Als Preis für die päpstliche Kaiserkrönung,<br />
sollte Otto, wie er geheim im sogenannten „Neußer Eid” zugesagt hatte, diese<br />
Okkupation legalisieren.
Friedrich, was Dir wahrscheinlich nicht bekannt ist, zugesagt, auf<br />
Sizilien zugunsten seines Sohnes zu verzichten und das Kreuz zu<br />
nehmen.<br />
Stattdessen hat er, unter dem Vorwand, die Nachfolge im Reich<br />
müsse geregelt sein, wenn er zum Kreuzzug aufbreche, nach seiner<br />
Krönung seinen Sohn zum deutschen König wählen lassen und sich<br />
selbst <strong>der</strong> Verwaltungsreform in Sizilien gewidmet.<br />
Sinibald, Du erinnerst Dich, wir beide haben im Vorjahr die<br />
Politik Friedrichs in <strong>der</strong> Kurie analysiert und festgestellt, dass er im<br />
Grunde die gleiche Politik wie Otto verfolgt, nur nicht vom Norden<br />
her, son<strong>der</strong>n vom Süden aus. Dafür braucht er im Reich Frieden,<br />
deshalb die Zugeständnisse, die er den geistlichen und weltlichen<br />
Fürsten gewährte. Er nimmt uns gleichzeitig damit die<br />
Möglichkeit, über die geistlichen Fürsten Druck auf ihn auszuüben.<br />
Ich kenne ihn. Er ist hochintelligent, zielstrebig, skrupellos und<br />
versucht, im Gegensatz zu Otto, sich keine Blöße zu geben.<br />
Deshalb haben wir ja nach <strong>der</strong> Analyse den lombardischen Städten<br />
klar zu machen versucht, dass Friedrich nach <strong>der</strong> erfolgreichen<br />
Reform im Königreich Sizilien, bei <strong>der</strong> er zur Zeit die Lehnsherrschaft<br />
abschafft und die Lehnsherren durch kaiserliche Verwaltungsministralen<br />
ersetzt, dieselben Reformen in <strong>der</strong> Lombardei<br />
durchführen wird. Der lombardische Bund, als Verteidigungsbund<br />
gegen die Ambitionen des Kaisers im Vorjahr geschlossen, hat uns<br />
an <strong>der</strong> Nordflanke vorläufig Entlastung verschafft.<br />
Den Namen Gregor IX., den ich für mein Pontifikat gewählt<br />
habe, wird Friedrich als Fehdehandschuh sehr wohl verstehen, die<br />
Priorität des Gottesstaates vor dem Weltstaat, so wie mein großer<br />
Vorgänger Gregor VII. es gegenüber Heinrich IV. praktiziert hat.“ 47<br />
47 Gregor VII., Papst von 1073 bis 1085, hatte die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Cluniacenser, Freiheit<br />
<strong>der</strong> Kirche vom Staat, erweitert um die For<strong>der</strong>ung, Herrschaft <strong>der</strong> Kirche über den<br />
Staat. Der Kaiser führe das weltliche, <strong>der</strong> Papst das geistliche Schwert. Beide Schwerter habe<br />
Gott dem heiligen Petrus verliehen. Das weltliche leihe <strong>der</strong> Papst, als Nachfolger Petri dem Kaiser.
„Eure Heiligkeit, Friedrich muss doch in diesem Jahr sein<br />
Kreuzzugsversprechen einlösen, will er nicht wegen Verletzung seines<br />
Eides den Bannspruch riskieren, den ihm Euer Vorgänger,<br />
Honorius III. im Vorjahr angedroht hat. Und, wenn er durch die<br />
Wie<strong>der</strong>eroberung des Königreiches Jerusalem möglichst lange gebunden<br />
ist, haben wir doch in Sizilien freie Hand.”<br />
„Schon, doch ich durchschaue noch nicht, welche dynastischen<br />
Pläne Friedrich durch seine Vermählung vor zwei Jahren mit Jolante,<br />
<strong>der</strong> Tochter Johanns von Brienne, des Titularkönigs von Jerusalem<br />
48 , verfolgt. Äußerlich dokumentiert Friedrich damit die Ernsthaftigkeit<br />
seiner Kreuzzugsabsicht. Aber was steckt dahinter?<br />
Unmittelbar nach <strong>der</strong> Vermählung mit <strong>der</strong> noch nicht volljährigen<br />
Jolante hat Friedrich doch von Johann von Brienne den Verzicht<br />
auf alle königlichen Rechte und die Herausgabe <strong>der</strong> finanziellen<br />
Hilfsgel<strong>der</strong> gefor<strong>der</strong>t, die <strong>der</strong> König von Frankreich zur<br />
Unterstützung des Heiligen Landes dem Titularkönig überlassen<br />
hat. Auch das lässt sich begründen, dienen diese Gel<strong>der</strong> doch zur<br />
Finanzierung des Kreuzzuges.<br />
Wir können zwar den zu uns in den Kirchenstaat geflüchteten<br />
Johann von Brienne schützen, doch wir können juristisch die<br />
Handlungsweise des Staufers nicht verurteilen.”<br />
„So, sie haben also Hugo, den Grafen Segni, zum Papst erkoren.<br />
Und den Namen Gregor hat er gewählt. Gut, wir werden sehen,<br />
wer in diesem Streit letztlich <strong>der</strong> Sieger sein wird!”<br />
Durch den Kirchenbann, den Gregor VII. über Heinrich IV. verhängt hatte, waren die<br />
deutschen Bischöfe, die gleichzeitig Lehnsherren des Kaisers waren, angewiesen, Heinrich<br />
die Gefolgschaft zu verweigern. Er konnte sich nur durch den „Gang nach Canossa”<br />
von diesem Kirchenbann befreien. Im jahrelangen Streit danach brachte Heinrich IV.<br />
die deutschen Reichsfürsten wie<strong>der</strong> auf seine Seite. 1084 erobert <strong>der</strong> Salier Rom und<br />
lässt sich durch den Gegenpapst Clemens III. zum Kaiser krönen. Gregor VII. flieht<br />
nach Süditalien, wo er ein Jahr später in Salerno im Gefühl <strong>der</strong> vollen Nie<strong>der</strong>lage stirbt.<br />
48 Seit Saladin, dem Lessing in „Nathan <strong>der</strong> Weise” literarisch ein Denkmal gesetzt hat,<br />
1187 Jerusalem erobert hatte, waren die Nachfolger Guidos von Lusignan, des letzten<br />
Königs von Jerusalem, nur noch dem Titel nach Könige von Jerusalem.
Friedrich hielt in <strong>der</strong> Hand das Schreiben, in dem ihm die vor<br />
zwei Tagen erfolgte Papstwahl gemeldet wurde.<br />
Er wandte sich um und rief nach einem Bediensteten.<br />
„Man hole mir Tariq!<br />
Ich unter dem Druck des Kirchenbanns, Kalif al-Malik al-Kamil<br />
im Kampf mit seinen beiden Brü<strong>der</strong>n 49 um den Nachlass des großen<br />
Saladins, <strong>der</strong> den Christen Jerusalem weggenommen hat; gibt<br />
es zwei idealere Partner für einen friedlichen Interessenausgleich<br />
über Jerusalem?”<br />
„Herr, Ihr habt mich rufen lassen?”<br />
Der herein tretende Vertraute des Kaisers riss Friedrich aus seinen<br />
Gedanken.<br />
„Tariq, Ihr seid zu mir gekommen, um mich um Urlaub zu bitten,<br />
weil Ihr als Mohammedaner eine Hadsch, eine Pilgerfahrt<br />
nach Mekka, machen wollt. Er sei Euch hiermit gewährt.”<br />
Tariq schaute verständnislos drein.<br />
„Aber ich will doch gar nicht nach Mekka!”<br />
„Tariq, Ihr sollt doch auch nicht nach Mekka, son<strong>der</strong>n nur<br />
nach Kairo reisen. Doch wenn man Euch fragt, wo Ihr hin wollt,<br />
gebt Ihr Mekka und als Grund Eure Pilgerfahrt an. Deshalb werdet<br />
Ihr auch nicht mit einer kaiserlichen Galeere reisen, son<strong>der</strong>n<br />
als Pilger mit irgendeinem Handelsschiff.<br />
In Kairo sucht Ihr den Kalifen auf, zeigt ihm diesen Ring. Er<br />
kennt ihn, das ist <strong>der</strong> Siegelring des Titularkönigs von Jerusalem.<br />
Versteckt den Ring sorgfältig. Er ist Eure einzige Legitimation. Ihr<br />
bekommt von mir kein Schreiben mit, damit Eure Mission nicht<br />
verraten werden kann.<br />
So Tariq, nun prägt Euch folgende Sätze ein, die Ihr dem Kalifen<br />
von mir sagen sollt!<br />
Sultan, ich komme von Kaiser Friedrich. Er bittet Euch, mir einen<br />
49 Sowohl Saladin, <strong>der</strong> mit dem Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> Fatamiden in Ägypten die kurdischstämmige<br />
Dynastie <strong>der</strong> Ayyubiden begründete, als auch sein Nachfolger al-Adil teilten<br />
das Reich vor ihrem Tode, so dass sich al-Adil selbst als auch al-Kamil in Machtkämpfen<br />
gegen ihre Miterben im Kampf um das Reich durchsetzen mussten.
Mann Euren Vertrauens mitzugeben, <strong>der</strong> mit ihm Modalitäten<br />
ausarbeitet, wie die Interessengegensätze des Königreiches Jerusalem<br />
und des Kalifats Ägypten friedlich beigelegt werden können.<br />
Tariq, ich erwarte Euch mit dem Abgesandten des Kalifen spätestens<br />
bis Ende August in Otranto. Nehmt für die Rückfahrt ein<br />
ägyptisches Schiff bis Kreta. In Kandia erwartet Euch eine kaiserliche<br />
Galeere. Ein ägyptisches Schiff würde in Otranto zuviel Aufsehen<br />
erregen.”<br />
An diesem frühen Morgen verließ Josef ben Jehuda ibn Aknin<br />
wie immer pünktlich sein Haus, um im Palast des Kalifen seinen<br />
ärztlichen Verpflichtungen nachzukommen. <strong>Die</strong> Straße war um diese<br />
Morgenstunde noch leer, bis auf einen Mann in unscheinbarer<br />
Kleidung, <strong>der</strong> nun auf ihn zukam.<br />
„Ihr seid Josef ben Jehuda, <strong>der</strong> Leibarzt des Kalifen?”<br />
„Ja, doch warum fragt Ihr?”<br />
„Ich versuche seit Tagen zum Kalifen zu gelangen. Ich habe eine<br />
wichtige Botschaft für ihn. Doch man lässt mich nicht in den Palast.”<br />
„Und Ihr meint, in meiner Gesellschaft würde man Euch einlassen?<br />
Da irrt Ihr Euch. Wer seid Ihr überhaupt?”<br />
Der Fremde schien die letzte Frage zu überhören. Stattdessen<br />
nestelte er aus seinem Turban einen kostbaren Ring.<br />
„Bitte, nehmt diesen Ring an Euch und zeigt ihn dem Kalifen.<br />
Er kennt diesen Ring. Sagt ihm <strong>der</strong> Überbringer dieses Ringes habe<br />
ihm von dem Träger dieses Ringes eine wichtige Botschaft zu<br />
übermitteln.”<br />
Josef schaute den Ring an. Es war ein sehr kostbarer Siegelring<br />
mit christlichen Motiven. Prüfend schaute er den Fremden an.<br />
„Ihr müsst Gründe haben, dass Ihr mir Euren Namen nicht sagen<br />
wollt. Ich werde Euch trotzdem helfen. Dass Ihr mir einen<br />
solch kostbaren Ring anvertraut, spricht für Euch. Wartet vor dem<br />
Palast auf mich.”<br />
Josef betrat den Palast. Der Kalif lag noch auf seinem Diwan.<br />
„Josef, ich habe zwar schlecht geträumt. Aber gesundheitlich
habe ich keine Beschwerden. Lasst Euch in den Harem führen,<br />
damit Ihr die Wehwehchen meiner Konkubinen und ihrer Kin<strong>der</strong><br />
pflegen könnt.”<br />
Al Malik al Kâmil merkte, dass Josef zögerte:<br />
„O<strong>der</strong> ist noch etwas?”<br />
Josef erzählte, was ihm diesen Morgen auf dem Weg zum Palast<br />
begegnet war und überreichte dann dem Kalifen den Ring.<br />
Al Malik al Kâmil wog den Ring prüfend in seiner Hand. Er war<br />
aufgestanden und zum Fenster gegangen, um den Ring genauer betrachten<br />
zu können. Dann drehte er sich zu Josef um.<br />
„Und er hat Euch we<strong>der</strong> seinen Namen genannt, noch etwas<br />
über die Botschaft verlauten lassen? Und was hat Euch bewogen,<br />
ihm zu glauben?”<br />
Josef schaute dem Kalifen fest in die Augen.<br />
„Weil das <strong>der</strong> Ring des Königs von Jerusalem sein muss. Und<br />
weil <strong>der</strong> Träger dieses Ringes <strong>der</strong> Stauferkaiser Friedrich ist. Und<br />
weil <strong>der</strong> Mann da unten”, Josef zeigte auf die Gestalt vor dem Palast,<br />
„wahrscheinlich ein sizilianischer Edler ist.”<br />
„Josef, ich weiß zwar um Euren messerscharfen Verstand, aber<br />
Ihr überrascht mich immer wie<strong>der</strong>. Könnt Ihr mir vielleicht auch<br />
etwas über die Botschaft sagen?”<br />
„Friedrich muss den Kreuzzug führen, will er nicht den Kirchenbann<br />
riskieren. Bei einem langen kriegerischen Kreuzzug<br />
droht Gefahr für Sizilien durch den Kirchenstaat. Vermutlich<br />
sucht er einen Interessenausgleich mit Euch.”<br />
Der Kalif ging gedankenverloren im Zimmer auf und ab. Dann<br />
wandte er sich wie<strong>der</strong> Josef zu.<br />
„Ich werde mir die Botschaft des Fremden anhören. Geht jetzt<br />
in den Harem. Aber kommt, wenn <strong>der</strong> Fremde gegangen ist, wie<strong>der</strong><br />
zu mir.”<br />
Im Anschluss an seine ärztliche Visite kehrte Josef wie<strong>der</strong> zurück.<br />
„Josef, Eure Analyse hat gestimmt. Kaiser Friedrich bittet mich,<br />
ihm einen Mann meines Vertrauens zu schicken, <strong>der</strong> mit ihm die<br />
Modalitäten des Interessensausgleich aushandelt.”
Al Malik al Kâmil machte eine Pause, dann fuhr er fort:<br />
„Ich habe dabei an Euch gedacht.Erstens steckt Ihr schon in <strong>der</strong><br />
Sache drin. Zweitens seid Ihr als Arzt eine Privatperson. Man vermutet<br />
in Euch keinen offiziellen Emissär. Drittens seid Ihr, von<br />
Eurem Lebenslauf her, <strong>der</strong> ideale Gesprächspartner für diesen<br />
hochintelligenten und wissbegierigen Herrscher.<br />
Mit Euch wird <strong>der</strong> Emir Fahr ed-Din als Euer medizinischer<br />
Gehilfe reisen.”<br />
So kam es, dass die Vertrauten des Sultans und Tariq Ende Juli<br />
1227 mit einem ägyptischen Handelsschiff nilabwärts nach Kreta<br />
segelten, wo sie von einer sizilianischen Galeere in Kandia schon<br />
erwartet wurden.<br />
Ende August bezogen die ägyptischen Gäste ihr Quartier im<br />
Jagdschloss des Kaisers in Otranto. Tariq war direkt nach Brindisi<br />
hinüber geritten, um dem dort mit <strong>der</strong> Vorbereitung des Kreuzzuges<br />
beschäftigten Kaiser ihre Ankunft zu melden.<br />
Josef hatte sich an diesem Morgen, man schrieb den 7. September<br />
1227, in Abelaerds Sic et Non vertieft, als Pferdegetrappel und<br />
Hundegebell ihn aufschauen ließ. Ein kaiserlicher Tross mit einer<br />
Sänfte näherte sich dem Schloss.<br />
Wenig später betrat ein hochgewachsener Herr die Gemächer<br />
<strong>der</strong> Ägypter.<br />
„Ich bin Berardo, Erzbischof von Palermo. Bei den Kreuzfahrern<br />
in Brindisi ist eine Seuche ausgebrochen. Der Kaiser hat angeordnet,<br />
dass seine Gemahlin sofort nach hier in Sicherheit gebracht<br />
werde. Er hat mir auch vor meinem Aufbruch gesagt, dass er sich<br />
hier mit Abgesandten des Sultans von Ägypten treffen wolle.”<br />
Der Erzbischof hatte sich zunächst an Josef gewandt. Doch <strong>der</strong><br />
Gehilfe ergriff das Wort.<br />
„Ich bin Emir Fahr ed-Din und das ist Josef ben Jehuda ibn<br />
Aknin, <strong>der</strong> Leibarzt des Kalifen. Er wird Euch gerne ärztlich zur<br />
Seite stehen. Beschreibt uns, was Ihr von dem Erscheinungsbild<br />
<strong>der</strong> Seuche mitbekommen habt.”
„<strong>Die</strong> Kranken hatten hohes Fieber und Durchfall. Es schien<br />
mir, als flöße alle Flüssigkeit aus ihnen heraus. <strong>Die</strong> Toten wirkten<br />
wie vertrocknet.”<br />
„Eminenz, seid Ihr sicher”, gab Josef zu bedenken, „dass keiner<br />
des Trosses von <strong>der</strong> Seuche angesteckt ist?”<br />
Der Erzbischof zuckte mit den Achseln.<br />
„Ich empfehle Euch dann”, fuhr Josef fort, „haltet die Ankömmlinge<br />
von <strong>der</strong> Schlossbesatzung getrennt, lasst sie zwei Tage lang<br />
fasten und nur Tee aus diesen Kamillenblüten trinken. Sind bis<br />
dahin keine Symptome aufgetreten, ist die Seuche nicht eingeschleppt<br />
worden.”<br />
Am Tage nach <strong>der</strong> Entlassung des kaiserlichen Trosses aus <strong>der</strong><br />
Quarantäne lief die Galeere des Kaisers in den Hafen ein. Eingedenk<br />
<strong>der</strong> Warnungen des ägyptischen Leibarztes ließ Berardo nur<br />
Friedrich und dessen Schwager, den Landgrafen von Thüringen,<br />
beide von <strong>der</strong> Seuche gezeichnet, in abgetrennte Kammern des<br />
Schlosses bringen. Tariq und die Schiffsbesatzung mussten sich auf<br />
<strong>der</strong> Galeere <strong>der</strong> Quarantäneprozedur unterwerfen.<br />
Der Landgraf starb am Tage nach <strong>der</strong> Ankunft 50 . Der Zustand<br />
des Kaisers hatte sich zusehends verschlechtert.<br />
„Josef, rettet mir das Leben meines Herrn!”<br />
Josef sah den Erzbischof an.<br />
„Das Leben des Menschen liegt in Gottes Hand. Aber ich will<br />
alles versuchen, Eurem Herrn zu helfen. Nur verlange ich, dass<br />
kein fränkischer Arzt meinen Anordnungen zuwi<strong>der</strong> handeln darf.”<br />
Der Kaiser lag frisch gewaschen auf seinem Lager. Fieber schüttelte<br />
und Leibschmerzen krümmten ihn.<br />
Im Vorzimmer entnahm <strong>der</strong> Leibarzt des Kalifen seinem Medikamentenbeutel<br />
ein Pulver und schüttete es in einem Becher mit<br />
Quellwasser. Berardo fuhr erschrocken zurück, als er sah, wie das<br />
50 <strong>Die</strong> Witwe des Landgrafen von Thüringen, die heilige Elisabeth, wurde <strong>der</strong> Engel<br />
<strong>der</strong> Armen genannt. Auch sie verstarb früh. Der Stammsitz des Landgrafen, die Wartburg,<br />
wurde literarisch berühmt durch den Sängerkrieg auf <strong>der</strong> Wartburg und durch<br />
Luther, <strong>der</strong> hier als Junker Jörg die Bibel übersetzte.
Wasser aufschäumte und sich blutrot färbte. Es erschien ihm wie<br />
Zauberei, zumal an dem Beutel ein Zaubermännchen baumelte.<br />
Josef nahm einen Schluck von dem roten Wasser, gurgelte und<br />
spuckte das Wasser wie<strong>der</strong> aus.<br />
„Berardo, ich möchte, dass je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> mit dem Kaiser in Berührung<br />
kommt, anschließend mit diesem roten Wasser gurgelt und<br />
sich dann gründlich die Hände wäscht. <strong>Die</strong>ses rote Wasser zieht<br />
den Speichel im Mund zusammen und tötet die Seuche.<br />
Was den Kaiser betrifft, so lasst ihm lauwarmes Leinen um den<br />
Leib und kalte Binden um die Fußfesseln wickeln, stündlich zu erneuern.<br />
Wichtig ist, dass er ständig löffelweise Kamillentee trinkt,<br />
leicht gesalzen, um seine Austrocknung zu verhin<strong>der</strong>n.”<br />
Zehn Tage später, die Krisis war überstanden und, dank <strong>der</strong><br />
Beachtung <strong>der</strong> strengen Hygieneanordnungen, keiner <strong>der</strong> Schiffsmannschaft<br />
angesteckt worden, brachte man den Genesenden nach<br />
Pozzuoli.<br />
„Josef, mein ärztlicher Diktator, ich habe einen Bärenhunger.<br />
Wann bekomme ich denn endlich wie<strong>der</strong> einen anständigen Braten<br />
zu essen?”<br />
Der geistig wie<strong>der</strong> hellwache, aber körperlich von seiner Krankheit<br />
noch gezeichnete Kaiser schaute den Leibarzt des Kalifen fragend<br />
an.<br />
„Noch etwa acht Tage müsst Ihr Euch mit Haferbrei, Hirsebrei,<br />
aber auch Pasta begnügen. Frisches Gemüse und frisches<br />
Obst würden Euch ebenfalls gut tun. Danach schätze ich sind Eure<br />
Eingeweide soweit in Ordnung, dass Ihr Euch an den ersten Braten<br />
herantrauen könnt. Aber bitte in Maßen!”<br />
„Josef, an Eurem Medikamentenbeutel baumelt ein Zaubermännchen.<br />
Hilft es Euch, wie Berardo allen Ernstes behauptet, bei<br />
<strong>der</strong> Zubereitung Eurer Heilmittel. Ist es Euer Heiliger Geist?”<br />
Josef spürte die Ironie in des Kaisers Worten, sah aber auch die<br />
zwischen Neugier und Furcht vor dem Übersinnlichen schwankende<br />
Miene des Genesenden. Gelassen erklärte er:
„<strong>Die</strong>ses Zaubermännchen ist die <strong>Wurzel</strong> einer <strong>Alraune</strong>. Es ist so<br />
alt, dass es wie versteinert ist. Seit wann es in unserer Familie sich<br />
befindet, kann ich nicht sagen. Ich habe es an den Medikamentenbeutel<br />
befestigt, weil für mich die <strong>Alraune</strong> das Symbol für die<br />
Heilkraft <strong>der</strong> Pflanzen bedeutet.<br />
Was den Erzbischof in diesem Zusammenhang so erschreckt<br />
hat, ist die Reaktion dieses Pulvers”,<br />
und damit holte Josef aus seinem Beutel ein dicht verschlossenes<br />
Fläschchen,<br />
„mit Wasser. Das Pulver löst sich wie Salz im Wasser auf, nur<br />
viel heftiger, und färbt dabei das Wasser rot. Woraus dieses Pulver<br />
sich zusammensetzt, weiß ich nicht 51 . Aber ich glaube, irgendein<br />
Salz muss als Bestandteil enthalten sein, denn ich muss es vor<br />
Feuchtigkeit schützen. Es findet sich in Ägypten nur an wenigen<br />
trockenen Stellen. Wegen seiner hohen hygienischen Wirkung trage<br />
ich einen Vorrat immer bei mir. Ohne dieses Hygienemittel wären<br />
wir wahrscheinlich nicht ansteckungsfrei im Jagdschloss geblieben.”<br />
Der Kaiser hatte mit wachsendem Interesse zugehört.<br />
„Eine letzte Frage noch, Josef. Der Erzbischof hat mir erzählt,<br />
dass Ihr darauf bestanden habt, dass kein fränkischer Arzt sich in<br />
Eure Therapie einmischen durfte. Warum?”<br />
Josef wurde verlegen.<br />
„Herr, ich muss gestehen, dass hier ein arabisches Vorurteil eine<br />
Rolle gespielt hat. Der arabische Schriftsteller Usamam ibn Munqidh<br />
hat meinem Vorgänger als Leibarzt des Kalifen folgende Geschichte<br />
erzählt:<br />
Sein Oheim sei als Arzt an einen fränkischen Hof gesandt worden,<br />
um einen Ritter und seine Frau zu behandeln.<br />
Das eitrige Ekzem am Bein des Adeligen behandelte er mit einer<br />
Packung, worauf <strong>der</strong> Eiter abfloss.<br />
51 Es spricht einiges dafür, dass es sich hierbei um Kaliumpermanganat gehandelt hat.<br />
Es löst sich in Wasser gut zu einer tief violetten Lösung auf. In <strong>der</strong> Medizin wird es als<br />
adstringierendes (zusammenziehendes) und desinfizierendes Mittel eingesetzt.
Ein ebenfalls konsultierter fränkischer Arzt gab sich damit nicht<br />
zufrieden und fragte den Ritter, ob er lieber mit einem Bein leben<br />
o<strong>der</strong> mit zwei Beinen sterben wolle. Da <strong>der</strong> Ritter lieber leben<br />
wollte, durchtrennte man mit einer Axt das kranke Bein. Erst <strong>der</strong><br />
zweite Hieb war erfolgreich. Das Knochenmark floss aus. Der Patient<br />
starb kurz darauf.<br />
Der Frau, die an Trockenheit litt, verordnete <strong>der</strong> arabische Arzt<br />
eine Diät aus frischem Gemüse.<br />
Der fränkische Arzt verwarf diese Therapie, weil er glaubte, die<br />
Frau sei von einem Dämon besessen. Er schnitt ihr die Haare ab<br />
und gab ihr Knoblauch und Senf zu essen. Da die Trockenheit zunahm,<br />
behauptete er, <strong>der</strong> Dämon sei in ihren Kopf eingedrungen.<br />
Er machte eine kreuzförmige Kerbe in den Schädel, zog die Haut<br />
beiseite und rieb den freigelegten Schädel mit Salz ein. <strong>Die</strong> Frau<br />
starb sofort.”<br />
<strong>Die</strong> Heiterkeit, die sich bei <strong>der</strong> Behandlung des Ritters noch<br />
auf den Zügen des Kaisers ausgebreitet hatte, wich zunehmendem<br />
Entsetzen und Unverständnis.<br />
„Eine letzte Frage noch, Josef. Wer war <strong>der</strong> Leibarzt des Kalifen,<br />
Euer Vorgänger, von dem Ihr diese Geschichte gehört habt?”<br />
„Morche ben Maimon. Ihr kennt ihn wahrscheinlich unter seinem<br />
latinisierten Namen, Maimonides 52 .”<br />
52 Mosche ben Maimon wird um 1135 als Sohn eines geachteten Rabbiners in Cordoba<br />
geboren.<br />
Um die Mitte des 12, Jahrhun<strong>der</strong>ts lösen in Spanien die Almohaden die Dynastie <strong>der</strong><br />
Almoraviden ab. <strong>Die</strong>se „Bekenner <strong>der</strong> Einheit” zwangen An<strong>der</strong>sgläubige zum Islam<br />
überzutreten o<strong>der</strong> auszuwan<strong>der</strong>n. Viele Juden bekannten sich offiziell zum Islam, praktizierten<br />
insgeheim aber weiter jüdische Riten.<br />
<strong>Die</strong> Familie des Maimonides wan<strong>der</strong>te aus und gelangte über Fes, Palästina 1165 nach<br />
Ägypten. Nach dem Tode seiner Eltern und seines Bru<strong>der</strong>s ließ sich Maimonides endgültig<br />
in Fostat (Alt-Kairo) nie<strong>der</strong>. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Leibarzt Saladins<br />
und seiner Nachfolger.<br />
Mit <strong>der</strong> Mischne Tora (1180 vollendet) schuf er eine systematische Zusammenfassung<br />
des jüdischen Religionsgesetzes mit seinen 613 Ge- und Verboten <strong>der</strong> hebräischen Bibel.<br />
Der „Führer <strong>der</strong> Unschlüssigen” (More Nebuchim), seinem Lieblingsschüler Josef<br />
ben Jehuda Ibn Aknin gewidmet, (1190 veröffentlicht) dient dem Ziel „mit <strong>der</strong> Fackel<br />
<strong>der</strong> Wissenschaft in das innere Heiligtum <strong>der</strong> Religion hineinzuleuchten”.
„Michael, dass ist <strong>der</strong> Mann, dem Ihr es verdankt, mir vom<br />
Papst Gregor den Kirchenbann mitteilen zu dürfen.”<br />
Friedrich zeigte auf den eintretenden Josef ben Jehuda.<br />
„Hätte er mir nicht das Leben gerettet, hätte er Euch um das<br />
Vergnügen gebracht, mir den Kirchenbann erläutern zu können,<br />
und dem Papst das Vergnügen bereitet, mich nicht mehr unter den<br />
Lebenden zu wissen.”<br />
Der Kaiser wandte sich Josef zu.<br />
„Josef, das ist Michael Scotus, ein ausgezeichneter Übersetzer<br />
des Aristoteles aus dem Arabischen und ein begeisterter Verehrer<br />
des Averroës. Übrigens, ich habe heute erstmals Braten in Maßen<br />
gegessen. Er ist mir gut bekommen. Doch wo bleibt Euer Gehilfe?”<br />
Josef stutzte. Er sah den Spott in des Kaisers Augen. Wusste<br />
Michael Scotus nicht, wer sie waren. Vorsicht war geboten.<br />
„Mein Gehilfe wird gleich kommen, er hat noch einige Besorgungen<br />
zu verrichten.”<br />
<strong>Die</strong> Frage des Verehrers des Averroës bestätigte seine Vermutung.<br />
„Woher kommt Ihr, Josef? Euer Arabisch hat einen leicht spanischen<br />
Akzent.”<br />
Gespannt wartete <strong>der</strong> Kaiser, wie Josef sich wohl aus <strong>der</strong><br />
Schlinge ziehen würde, ohne ihre Mission zu verraten.<br />
„Ihr habt Recht. Ich komme aus Lucena, wo ich geboren bin<br />
und jahrelang als Arzt praktiziert habe.”<br />
„Aus Lucena? Dorthin ist doch Averroës verbannt worden.<br />
Habt Ihr ihn noch gekannt?”<br />
„Ja, Mohammed Ibn Ahamad Ibn Rushd kam zu uns nach Lucena,<br />
und ich wurde sein medizinischer Gehilfe. Ihm habe ich sehr<br />
viel von meinem medizinischen Wissen zu verdanken und Ihr,<br />
mein Herr”, und damit wandte sich Josef an den Kaiser, „wahrscheinlich<br />
den Erfolg Eurer Heilung.”<br />
Der Spott aus Friedrichs Zügen war verschwunden.<br />
„Es ist ein unersetzbarer Verlust für die Menschheit, dass man<br />
Das Ehrenamt des Nagid (Oberhaupt <strong>der</strong> Juden Ägyptens), 1176 verliehen, hatte er<br />
bis zu seinem Tod 1204 inne.
vorher in Cordoba alle Schriften des Ibn Rushd verbrannt hat”, erregte<br />
sich <strong>der</strong> Stauferkaiser.<br />
„Nicht alle”, korrigierte Josef, „denn in <strong>der</strong> jüdischen Gemeinde<br />
von Cordoba gab es Abschriften. Von dort kamen sie auf geheimen<br />
Wegen zu uns in die jüdische Gemeinde von Lucena. Ich sehe<br />
noch die Rührung im Gesicht des Averroës, als er sah, dass sein<br />
Lebenswerk nicht endgültig vernichtet war.<br />
Vorsichtshalber haben wir Kopien angefertigt, die wir zu unserer<br />
jüdischen Gemeinde nach Toledo, ins christliche Ausland,<br />
schaffen ließen. Vermutlich sind es diese Abschriften, Michael, die<br />
Euch als Vorlage für Eure Übersetzung ins Lateinische dienten.”<br />
Sowohl <strong>der</strong> Kaiser als auch Michael Scotus konnten ihre Erregung<br />
nicht verbergen. Josef hatte die letzten Lebensjahre des berühmten<br />
„Kommentators”, miterlebt.<br />
„Averroës ist doch in seinem letzten Lebensjahr rehabilitiert<br />
worden.”<br />
„Ja, ich habe ihn dann nach Marrakesch begleitet und ihn, als er<br />
kurz darauf starb, nach Cordoba zurückgeleitet, wo er in heimatlicher<br />
Erde seine letzte Ruhe gefunden hat.“ 53<br />
In ehrfurchtsvollem Schweigen bewun<strong>der</strong>ten die beiden Jüngeren<br />
den greisen Arzt; Michael Scotus ob seiner gemeinsamen Jahre<br />
mit dem verehrten Ibn Rushd, <strong>der</strong> Kaiser zusätzlich, ob des diplomatischen<br />
Geschicks, wie Josef ohne zu lügen, ihre Mission verschwiegen<br />
hatte.<br />
Der Kaiser sah, wie dem Übersetzer des Aristoteles noch viele<br />
Fragen auf <strong>der</strong> Zunge brannten. Doch er bat ihn, sich zu entfernen,<br />
da <strong>der</strong> Arzt ihn nunmehr untersuchen müsse.<br />
53 Der Philosoph, Mediziner und Jurist Ibn Rushd (im Abendland Averroës genannt),<br />
1126 in Cordoba geboren, wurde wie sein Vater und Großvater Richter, zuerst in Sevilla,<br />
dann in Cordoba. Der Kalif Abu Jakub Jusuf beauftragte ihn, die Schriften des Aristoteles<br />
zu bearbeiten. Den christlichen Scholastikern galt Averroës als <strong>der</strong> Kommentator<br />
des Aristoteles schlechthin. Als man Averroës bei dem Nachfolger des Kalifen, Al-<br />
Mansur, 1195 verklagte, er, Averroës, gefährde durch seine Philosophie die islamische<br />
Religion, verbannte <strong>der</strong> Kalif ihn nach Lucena. Seine philosophischen Schriften wurden<br />
in Cordoba öffentlich verbrannt. 1198 ist Averroës in Marrakesch, nachdem man<br />
seine Verbannung aufgehoben hatte, gestorben.
Der Kaiser wurde entkleidet und stieg nach <strong>der</strong> ärztlichen<br />
Untersuchung in das Schwefelbad <strong>der</strong> heißen Quellen.<br />
„Ich habe Michael schon danach gefragt, wie es kommt, dass<br />
Meerwasser salzig, Quellwasser salzlos und dieses Wasser heiß und<br />
schwefelig ist. Aber seine Antwort hat mich nicht zufrieden gestellt.<br />
Wisst Ihr es, Josef?”<br />
„Ich glaube, <strong>der</strong> Emir kennt sich in den Naturwissenschaften<br />
besser aus als ich”, verwies Josef den Kaiser auf den hinzugekommenen<br />
Fahr ed-Din.<br />
„Monsignore, dieses Problem hat schon die griechischen Naturphilosophen,<br />
die dreihun<strong>der</strong>t Jahre vor Aristoteles lebten, beschäftigt.<br />
Sie haben erkannt, dass Wasser in <strong>der</strong> Sonne verdunstet<br />
und bei kühlerem Wetter aus den Wolken wie<strong>der</strong> als Regen auf<br />
die Erde kommt. Das nicht verdunstete Wasser versickert in den<br />
Boden, tritt als Quelle wie<strong>der</strong> hervor und fließt in Bächen und<br />
Flüssen in das Meer. Aber wie kommt das Salz in das Meer?”<br />
Der Emir schien vom Kaiser keine Antwort erwartet zu haben,<br />
denn er fuhr fort:<br />
„<strong>Die</strong>se Frage ist bis heute nicht exakt gelöst. Doch ich wage mal<br />
eine Erklärung. In Palästina, das Ihr das Heilige Land nennt, fließt<br />
<strong>der</strong> Jordan in ein abflussloses Meer, dessen Meeresspiegel trotz des<br />
Zuflusses nicht steigt, weil sein Wasser so schnell verdunstet, wie<br />
die Wasser des Jordans zufließen. <strong>Die</strong>ses Tote Meer ist so salzhaltig,<br />
dass selbst Nichtschwimmer vom Wasser getragen werden. Das<br />
Jordanwasser muss also, obgleich man es nicht schmecken kann, in<br />
geringen Mengen Mineralsalze enthalten, die bei <strong>der</strong> Verdunstung<br />
zurückbleiben.<br />
Und so ist es mit allen Flüssen, die ins Meer fließen. <strong>Die</strong> Sonne<br />
lässt das Meerwasser verdunsten, aber nicht die hinein geflossenen<br />
Mineralsalze. Aber wenden wir dieses Verfahren nicht selber an,<br />
wenn wir aus dem Meer Salz gewinnen?<br />
Was dieses heiße schwefelhaltige Wasser anbetrifft, so wissen<br />
wir, dass hier beim Vesuv und beim Ätna auf Sizilien das Höllenfeuer<br />
<strong>der</strong> Erde dicht unter <strong>der</strong> Oberfläche brennt. Wenn hier in
Spalten <strong>der</strong> Regen in die Tiefe dringt, bringt die Hitze dieses Wasser<br />
zum Kochen und lässt es als heiße Quellen wie<strong>der</strong> an die Oberfläche<br />
sprudeln. Dabei löst dieses heiße Wasser vorhandene Mineralsalze<br />
aus dem Gestein, wie hier Schwefel.”<br />
Das Gesicht des Kaisers erhellte sich.<br />
„Im Reich, in <strong>der</strong> Nähe von Aachen, gibt es auch heiße Quellen,<br />
Sie sind salzhaltig und man kann das Wasser trinken. Nach<br />
Eurer Erklärung, Emir, müsste <strong>der</strong> Teufel mit seinem Höllenfeuer<br />
dort auch dicht unter <strong>der</strong> Erde das Wasser aufheizen.”<br />
Inzwischen war Friedrich dem Bade entstiegen, Bedienstete<br />
trockneten ihn ab und hüllten ihn in eine weiche wollene Toga.<br />
Auf einer Liege entspannte er sich von dem heißen Bade.<br />
„Wie mir Michael erklärt hat”, nahm er nach einer Weile das<br />
Gespräch wie<strong>der</strong> auf, „ist für Averroës die Welt nicht geschaffen,<br />
son<strong>der</strong>n von Ewigkeit her vorhanden. <strong>Die</strong> Vielfalt <strong>der</strong> Arten, seien<br />
es Steine, Pflanzen o<strong>der</strong> Lebewesen sei als Form, als Seele, in <strong>der</strong><br />
Ursubstanz vorgegeben. So wird aus einem in den Acker gesätes<br />
Weizenkorn stets eine Weizenähre, aus einem ausgebrüteten Falkenei<br />
stets ein Falke.<br />
Wenn aber nur die Art eine Seele hat, nicht das einzelne Individuum,<br />
was wird dann aus <strong>der</strong> Verheißung des Paradieses? Stimmt<br />
es, dass Averroës Moses, Jesus und Mohammed die drei großen Betrüger<br />
genannt hat? Was hat denn Euer Vorgänger als Leibarzt des<br />
Sultans, <strong>der</strong> große Maimonides dazu gesagt. O<strong>der</strong>, Josef habt Ihr<br />
mit ihm nur über medizinische Probleme gesprochen?”<br />
„Ich bin ungefähr zehn Jahre vor Eurer Geburt als junger Schüler<br />
zu Mosche ben Maimon nach Fostat in Ägypten gekommen,<br />
nicht um bei ihm Medizin zu studieren, son<strong>der</strong>n um mich in <strong>der</strong><br />
jüdischen Religionslehre zu vervollkommnen. Im Zuge <strong>der</strong> Machtergreifung<br />
durch die Almohaden in Marokko mussten wir uns in<br />
Lucena zwangsweise zum Islam bekennen. Im Herzen war ich aber<br />
immer Jude geblieben<br />
Damals war Mosche schon Leibarzt des Sultans. Doch diese<br />
ärztliche Tätigkeit diente ihm nur zum Lebensunterhalt. Sein eigent-
liches Lebensziel war, Gott zu erfassen, soweit es einem Menschen<br />
möglich ist. Dabei unterschied Mosche zwei Gruppen von Menschen.<br />
Zur ersten Gruppe zählt er einfache fromme Gläubige, die nur<br />
den Wunsch haben, das jüdische Gesetz zu befolgen. Für sie<br />
schrieb er das Werk Mischne Tora, an dem er zehn Jahre gearbeitet<br />
und das er fünf Jahre vor meiner Ankunft in Ägypten vollendet<br />
hatte.<br />
Als ich eintraf, war Maimonides dabei, für die zweite Gruppe<br />
von Menschen den Führer <strong>der</strong> Unschlüssigen zu entwickeln. Gedacht<br />
war dieses Werk für Menschen, die die Erkenntnisse <strong>der</strong><br />
Philosophen in <strong>der</strong> Heiligen Schrift wie<strong>der</strong>zufinden versuchen. Ich<br />
habe drei Jahre an diesem Werk mitgearbeitet, ehe mich persönliche<br />
Umstände nach Lucena zurückriefen.<br />
Doch nun zu Eurer eigentlichen Frage, o Cäsar. Für Mosche<br />
sind Religion und Philosophie Zwillingsschwestern. <strong>Die</strong> Lebensaufgabe<br />
des Menschen besteht darin, zu einer immer höheren Stufe<br />
<strong>der</strong> geistigen Vollendung emporzusteigen. Dabei können wir, nach<br />
Mosche, mit menschlicher Erkenntnis nichts Näheres über die<br />
Vollkommenheit Gottes aussagen. Wir können nur sagen, dass<br />
Gott ist, nicht aber was er ist.<br />
Im Gegensatz zu Aristoteles verneint Maimonides die Lehre<br />
von <strong>der</strong> Ewigkeit <strong>der</strong> Welt. Selbst dass, wie Averroës sagt, nur die<br />
Art eine Seele habe, setze voraus, dass es einen Schöpfer gegeben<br />
haben muss, <strong>der</strong> diese Welt geschaffen habe.<br />
Da in <strong>der</strong> jüdischen Religion die Verheißung eines jenseitigen<br />
Lebens keine Rolle spielt, ist <strong>der</strong> Streit um die Seele des Individuums<br />
hier ohne Bedeutung.<br />
Für die Verurteilung des Averroës hat das aber die entscheidende<br />
Bedeutung gehabt, tangiert doch seine Behauptung, nur die Art<br />
habe eine Seele, unmittelbar die Verheißung des Paradieses. Den<br />
Satz von den drei großen Betrügern, den man ihm im Zusammenhang<br />
mit seiner Verurteilung in den Mund gelegt habe, sei eine<br />
Verleumdung, erklärte mir Ibn Rushd, als ich ihn danach fragte.<br />
<strong>Die</strong>se Äußerung sei in <strong>der</strong> arabischen Literatur seit hun<strong>der</strong>t Jahren
im Umlauf und, soviel ihm bekannt sei, erstmalig von Nizam al<br />
Molk, dem Angehörigen einer arabischen Sekte, geäußert worden.<br />
Für das Christentum wird diese Weiterentwicklung aristotelischer<br />
Gedanken durch Averroës aus dem gleichen Grunde Zündstoff<br />
bergen. Denkt nur an die Lehren des Amalrich von Bène, dass<br />
Gott im Menschen sei, dass das wahre Paradies das gottgleiche<br />
Wissen des Erleuchteten und die wahre Hölle die Angst <strong>der</strong> Unwissenden<br />
sei. 54 Es wird vieler Auslegungen kirchlicher Philosophen<br />
und kirchlicher Verbote bedürfen, um diese Vorstellungen<br />
des großen Kommentators zu entschärfen.”<br />
„Und Du Josef, was ist Deine Ansicht über Gott?”<br />
Der Kaiser hatte nachdenklich den Aussagen des Leibarztes<br />
zugehört.<br />
„Ich glaube wie Maimonides, dass es eine höhere Macht gibt,<br />
die diese Entelechie, diese Formgebung <strong>der</strong> Materie gesteuert hat<br />
und noch steuert. Dass dieser Prozess in sechs Tagen vollendet<br />
wurde, wie es in <strong>der</strong> Heiligen Schrift steht, ist symbolisch zu verstehen.<br />
Ich glaube auch nicht, dass diese Formgebung je abgeschlossen<br />
wird.”<br />
„Imperator, Ihr habt mich rufen lassen.” Mit dieser in lateinischer<br />
Sprache formulierten Floskel betrat <strong>der</strong> Emir Fahr ed-Dihn<br />
das kaiserliche Gemach.<br />
„Emir, ich muss wegen meines kaiserlichen Eides trotz des Kirchenbannes<br />
im nächsten Frühjahr meinen Kreuzzug durchführen”,<br />
eröffnete <strong>der</strong> Kaiser auf Arabisch das Gespräch.<br />
„Und ich werde das, was Ihr Eurem Sultan vortragen sollt, jetzt<br />
auch in Arabisch formulieren, damit Übersetzungsfehler zwischen<br />
Latein und Arabisch ausgeschlossen bleiben.<br />
<strong>Die</strong> Ziele meines Kreuzzuges sind «Befreiung Jerusalems» sowie<br />
«Gewähr des freien Zugangs für Pilger nach Bethlehem und Nazareth».<br />
54 <strong>Die</strong>ser Ausspruch Amalrich de Bene (Philosoph in Paris, gestorben 1206) geht meines<br />
Erachtens über seine pantheistischen Vorstellungen hinaus in Richtung auf die<br />
Immanenzvorstellungen Spinozas.
Meine Krönung zum König von Jerusalem in Jerusalem wird<br />
den Papst zwingen, den Kirchenbann aufzuheben.<br />
Ich habe kein Interesse daran, in langwierigen Kämpfen gegen<br />
Euren Herrn diese Ziele zu erreichen. Sie würden mich hohe finanzielle<br />
Zugeständnisse an meine Herren Kreuzritter kosten, und<br />
sie würden dem Papst Gelegenheit geben, während meiner Abwesenheit<br />
Apulien und Sizilien als kirchliche Lehen wie<strong>der</strong> einzuziehen.<br />
Auch <strong>der</strong> Kalif von Ägypten kann kein Interesse daran haben,<br />
seine militärischen Kräfte zu Lasten <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit<br />
seinen Brü<strong>der</strong>n in einem Kampf gegen mich zu schwächen.<br />
Ich strebe daher für die Erreichung meiner Kreuzzugsziele eine<br />
vertragliche Lösung an.<br />
Als kirchlich Gebannter habe ich keinen päpstlichen Legaten an<br />
meiner Seite, <strong>der</strong> wie vor zehn Jahren Pelagius vertragliche Vereinbarungen<br />
blockieren kann”, schloss Friedrich spöttisch seine Ausführungen.<br />
55<br />
Der Emir schwieg lange, dann jedes Wort wägend antwortete er<br />
in <strong>der</strong> blumenreichen Sprache des Orients:<br />
„Erhabener Sultan des Westens, ich werde Eure Vorstellungen<br />
meinem Herrn übermitteln. Doch bedenket, auch für die Anhänger<br />
Mohammeds ist <strong>der</strong> Tempelberg in Jerusalem ein heiliger Ort.<br />
Es wird viel Überzeugungsarbeit kosten, den Vertrag zu realisieren.<br />
Beson<strong>der</strong>s hier sind Modalitäten zu finden, die beiden Seiten gerecht<br />
werden.”<br />
55 Friedrich spielt hier auf das Fiasko des 5. Kreuzzuges an.<br />
Von Papst Innozenz III. 1213 geplant, begann er erst 1217 unter seinem Nachfolger<br />
Honorius III. Ziel war Ägypten. <strong>Die</strong> Kreuzfahrer nahmen 1219 Damiette im Nildelta<br />
ein. Der Sultan al-Kamil bot die Rückgabe des gesamten Königreichs Jerusalem gegen<br />
Verschonung Ägyptens an. Der König von Jerusalem stimmte diesem Handel zu, <strong>der</strong><br />
Kardinal Pelagius als Legat des Papstes lehnte ab. Bis die Entscheidung zugunsten des<br />
Legaten fiel, vergingen zwei Jahre, eine Zeit die al-Kamil ausnutzte um seine Truppen<br />
zu verstärken.<br />
Als dann die Kreuzfahrer 1221 nilaufwärts auf Mansurah zumarschierten, tappten die<br />
christlichen Truppen in eine tödliche Falle. <strong>Die</strong> Ägypter hatten hinter ihnen das Delta<br />
geflutet, den Kreuzfahrern den Rückzug abgeschnitten und sie damit zur Kapitulation<br />
gezwungen. Ohne Gebietsgewinn mussten sie Ägypten verlassen.
„Ich weiß, Fahr ed-Dihn. Auch auf christlicher Seite wird es viele<br />
geben, beson<strong>der</strong>s die Priester, die sich querlegen werden. Aber<br />
als gekrönter König von Jerusalem werde ich die Autorität haben,<br />
um den Vertrag abzuschließen und seine Regeln einzuhalten.<br />
<strong>Die</strong> hohe Intelligenz und die tiefe Weisheit, die ich in Ihnen,<br />
den Abgesandten des Sultans, in den letzten Wochen erleben durfte,<br />
haben mir deutlich gemacht, dass nur ein für diese Dinge aufgeschlossener<br />
Geist sich solche Boten leistet. Sagt al-Malik al Kâmil,<br />
ich freue mich darauf, seine Bekanntschaft zu machen.”<br />
Es war Mitte Oktober. Der gleichmäßige Nordwind blähte die<br />
Segel <strong>der</strong> Galeere und ließ die Küste Apuliens hinter dem Horizont<br />
versinken. <strong>Die</strong> beiden Gesandten des Kalifen starrten schweigend<br />
in die vorauseilenden Wellen, die von dem sie einholenden<br />
Bug des Schiffes ständig geteilt wurden.<br />
„Glaubt Ihr, dass es zu einem Vertrag zwischen unserem Herrn<br />
und dem Caesar romanorum kommen wird?”, brach Josef endlich<br />
das Schweigen.<br />
„Ja. Ich werde alles tun, um unseren Herrn davon zu überzeugen,<br />
dass <strong>der</strong> Vertrag im bei<strong>der</strong>seitigen Interesse liegt. Ich kenne<br />
keinen christlichen Herrscher, <strong>der</strong> so klug, wissbegierig und klar<br />
logisch denkend ist wie dieser Stauferkaiser. Sein Angebot ist<br />
ernsthaft und ehrlich gemeint.”<br />
Verblüfft starrte Josef den Emir an. Eine so leidenschaftliche<br />
Verehrung für Friedrich hatte er von dem sonst so kühlen Fahr ed-<br />
Dihn nicht erwartet. <strong>Die</strong> Verlegenheit des Jüngeren überspielend<br />
bestätigte er:<br />
„Von allen Herrschern auf dem Kaiserthron ist Friedrich als<br />
Mensch und Herrscher <strong>der</strong> faszinierendste, das einzige Genie auf<br />
dem Kaiserthron. Ich bin überzeugt, dass al-Malik al Kâmil, wenn<br />
er den Staufer kennenlernt, er in ihm Geist von seinem Geist achten<br />
wird.”<br />
<strong>Die</strong>smal war es <strong>der</strong> Emir, <strong>der</strong> nach einem längeren Schweigen<br />
das Gespräch wie<strong>der</strong> aufnahm.
„Was meint Ihr, Josef, wird Friedrich gegen den Papst die<br />
Oberhand gewinnen?”<br />
Der Leibarzt des Sultans zögerte mit seiner Antwort. Schließlich<br />
breitete er dem Fragenden das Ergebnis seines langen Nachdenkens<br />
aus.<br />
„Emir, Ihr kennt, so nehme ich an, von Augustinus De civitate<br />
Dei. Augustinus hat bei dieser Vorstellung vom Gottesstaat an die<br />
Realisierung des Waltens Gottes auf Erden gedacht. Ihm schwebte<br />
we<strong>der</strong> die Weltstaatversion eines Stauferkaisers noch die Gottesstaatversion<br />
<strong>der</strong> Päpste vor.<br />
Wir beobachten nun, dass seit fast zweihun<strong>der</strong>t Jahren ein erbitterter<br />
Kampf um die Vorherrschaft <strong>der</strong> jeweils eigenen Version<br />
geführt wird. Das Faszinierende o<strong>der</strong> das Tragische je nach Standpunkt<br />
ist dabei, dass die Gegner blind für die Keime <strong>der</strong> Zerstörung<br />
<strong>der</strong> eigenen Machtbasis sind.<br />
Friedrich will in Apulien und danach in Sizilien einen mo<strong>der</strong>nen<br />
Staat aufbauen, bei dem an Stelle <strong>der</strong> Lehnsherrn auf ihn ausgerichtete<br />
Verwaltungsbeamte treten. Dafür braucht er Frieden in<br />
Germanien. Den hat er sich mit Zugeständnissen an seine geistigen<br />
und weltlichen Lehnsherren erkauft, die er schwerlich jemals wird<br />
zurücknehmen können. Vielmehr wird das Reich als Machtbasis<br />
durch die Egoismen <strong>der</strong> Landesfürsten auseinan<strong>der</strong>brechen. Er<br />
selbst wird das Reich noch zusammenhalten können. Aber was geschieht,<br />
wenn nach ihm weniger geniale Nachfolger kommen?<br />
An <strong>der</strong> wirtschaftlichen Macht und dem Freiheitsstreben <strong>der</strong><br />
lombardischen Städte sind bisher alle Staufer gescheitert. Auch<br />
Friedrich sieht nicht, dass den städtischen Gemeinschaften die Zukunft<br />
gehört. Norditalien soll wie <strong>der</strong> Süden in seine Version eines<br />
mo<strong>der</strong>nen Staates eingeglie<strong>der</strong>t werden.<br />
Es ist möglich, dass es <strong>der</strong> katholischen Kirche gelingt, <strong>der</strong> staufischen<br />
Hydra nach dem Tode Friedrichs das Haupt abzuschlagen.<br />
Aber durch die Zugeständnisse Friedrichs sind wie in <strong>der</strong> griechischen<br />
Mythologie mit England, Frankreich und Germanien <strong>der</strong>
Hydra viele Häupter nachgewachsen. An diesen vielen Gegnern<br />
wird auch die Macht <strong>der</strong> Päpste zerbrechen.<br />
Dem Ende <strong>der</strong> Weltstaatversion wird das Ende <strong>der</strong> Gottesstaatversion<br />
folgen.”<br />
„Und wo liegen für Euch, Josef, die Keime <strong>der</strong> inneren Zerstörung<br />
des Gottesstaates?”<br />
„In Otranto hatte ich Gelegenheit von Peter Abaelard Sic et<br />
Non zu studieren. Er kannte von Aristoteles nur die Logik, wie sie<br />
von Boëthius ins Lateinische übersetzt worden ist.<br />
Außerdem war für ihn, wie auch heute noch für das Christentum<br />
die Heilige Schrift das Reale und nicht die Natur, nicht das<br />
einzelne Ding. Auf diese Heilige Schrift hat er nun die Regeln <strong>der</strong><br />
Logik angewandt. <strong>Die</strong>se von ihm entwickelte Methodenlehre, insbeson<strong>der</strong>e<br />
seine Dialektik, das Sic et Non, kann von den heutigen<br />
Philosophen nun auf die durch Averroës bekannt gewordenen inhaltlichen<br />
Erkenntnisse des Aristoteles angewandt werden. Und<br />
das dürfte die Vorstellungen des Realen vom Kopf auf die Füße<br />
stellen. 56<br />
Was sich aus dieser brodelnden Vielfalt des Weltlichen und<br />
Geistigen an Schöpferischem entwickeln wird, vermag ich nicht zu<br />
sagen. Der Prozess kann sehr lange dauern. In jedem Falle wird er<br />
sehr schmerzhaft sein.”<br />
„Da haben wir im Islam es besser. Wir haben nur Gottesstaaten,<br />
denn unsere Herrscher sind Nachfahren des Propheten. Und<br />
56 Im 11. Jahrhun<strong>der</strong>t hatte <strong>der</strong> Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst in <strong>der</strong> europäischen<br />
Christenheit zu tiefer Verunsicherung geführt. Kirchliche und politische<br />
Kreise beriefen sich auf divergierende Bibelstellen und kirchliche Autoritäten.<br />
Peter Abaelard (1079 bis 1142) versuchte auf die zahlreichen offenen Fragen eine<br />
Antwort zu finden. Und er tat das mit einer zukunftweisenden geradezu revolutionären<br />
Methode, vernunftorientiert, mit den Gesetzen <strong>der</strong> Logik. Unter Einbeziehung aller zugänglichen<br />
Textstellen <strong>der</strong> Bibel, <strong>der</strong> Kirchenlehrer, aber auch <strong>der</strong> nichtchristlichen<br />
antiken Philosophen, unterzieht er die christliche Lehre einer kritischen Revision, mit<br />
Hilfe <strong>der</strong> Dialektik und des methodischen Zweifels.<br />
Peter Abaelard hatte nie die Absicht, die christliche Lehre durch das Primat <strong>der</strong> Vernunft<br />
aus den Angeln zu heben. Und doch wird er mit seiner Methodenlehre zum Vater<br />
<strong>der</strong> Scholastik und später inhaltlich zum Wegbereiter europäischer Wissenschaft.
wir haben nicht den Polytheismus des Christentums mit ihren drei<br />
Göttern, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. Wir haben<br />
den wahren Monotheismus, denn wir haben nur einen Gott<br />
und das ist Allah.”<br />
„Fahr ed Din, ich bin mir da nicht sicher, ob <strong>der</strong> Islam auch in<br />
Zukunft <strong>der</strong> Hort <strong>der</strong> größeren geistigen Blüte bleiben wird. Mir<br />
ist noch zutiefst die Begründung <strong>der</strong> Verdammnis des Ibn Rushd<br />
durch die islamischen Theologen in Erinnerung, mit <strong>der</strong> sie seine<br />
Gedankenspiele verboten.<br />
Sie nannten ihre dogmatische Auslegung des Islams „die Schließung<br />
<strong>der</strong> Pforte”.<br />
Wenn das bleibt, dann wird sich die geistige Entwicklung vom<br />
Orient in den Okzident verlagern.”
3. Pantheismus: «Deus sive natura»<br />
Prüfend hob Baruch de Spinoza die Linse, an <strong>der</strong> er gearbeitet<br />
hatte, vor sein Auge und betrachtete durch sie hindurch ein handspannengroßes<br />
Gebilde, das wie ein Männlein aussah, die <strong>Wurzel</strong><br />
einer <strong>Alraune</strong>. Sie befand sich seit Urzeiten im Besitz seiner Familie.<br />
Der Fama nach stamme sie von einem griechischen Philosophen<br />
namens Xenophanes.<br />
Durch die Linse hindurch wurde das Männlein nur verschwommen<br />
sichtbar. Vor seinem inneren Auge verwandelte sich<br />
die <strong>Wurzel</strong> in einen nackten Mann, <strong>der</strong> an eine Säule gefesselt war.<br />
Er sah, wie dieser Mensch unter den Peitschenhieben, die seinen<br />
Rücken trafen, zusammenzuckte, wie dieser Mensch sich anschließend<br />
nackt auf eine Türschwelle legen musste und alle an<strong>der</strong>en<br />
über ihn hinweg schritten.<br />
Der Linsenschleifer lehnte sich zurück. Was da als Bildfolge vor<br />
sein Gedächtnis trat, war das eindrucksvollste Erlebnis seiner Jugend.<br />
Als siebenjähriger Talmudschüler hatte er, Baruch de Spinoza,<br />
zugesehen, wie Uriel da Costa durch dieses Ritual vom Cherem,<br />
dem Bann <strong>der</strong> jüdischen Gemeinde von Amsterdam, befreit<br />
und wie<strong>der</strong> in die Gemeinde aufgenommen wurde.<br />
Was ihn damals verstört hatte, war <strong>der</strong> Umgang <strong>der</strong> Gemeinde<br />
mit einem Menschen, <strong>der</strong> zutiefst an Gott glaubte und nicht verstehen<br />
konnte, dass die Naturgesetze, die doch Gott geschaffen<br />
hatte, geringer zu achten seien als die Vorschriften <strong>der</strong> Gemeinde.<br />
Später war Uriel da Costa an diesem Wi<strong>der</strong>spruch zwischen den<br />
Naturgesetzen und den Regeln des jüdischen Glaubens zerbrochen<br />
und hatte Selbstmord begangen, nachdem er in dem Dokument
Exemplar humanae vitae seine Überzeugungen und ihre Behandlung<br />
durch die jüdische Mitwelt dokumentiert hatte.<br />
Für ihn, den jungen Talmudschüler, war die Handlungsweise<br />
<strong>der</strong> jüdischen Gemeinde zu Amsterdam vergleichbar dem, was um<br />
ihn herum in den letzten hun<strong>der</strong>t Jahren in <strong>der</strong> Welt geschehen<br />
war und noch geschah, ob es die Verfolgung <strong>der</strong> Marranen 57 in<br />
Spanien und Portugal war, o<strong>der</strong> die Verfolgung <strong>der</strong> Hugenotten in<br />
Frankreich, o<strong>der</strong> die Geschehnisse <strong>der</strong> letzten zwanzig Jahre in den<br />
deutschen Landen.<br />
Immer scharten sich um die Fahne <strong>der</strong> Intoleranz Menschen<br />
mit dem Ziel, dem wahren Glauben zum Sieg zu verhelfen.<br />
Wer hat denn den wahren Glauben? Sind es die Juden? <strong>Die</strong> Mohammedaner?<br />
Und wer von den Christen? <strong>Die</strong> Katholiken? O<strong>der</strong><br />
etwa die Protestanten?<br />
Ein Hustenanfall brachte den Linsenschleifer in die Gegenwart<br />
zurück. Das Tuch, das er vor den Mund führte, enthielt Blut. Baruch<br />
wusste, dass er an Schwindsucht litt und er nicht mehr lange<br />
leben würde.<br />
Stunden vergingen, in denen Spinoza die Unschärfe <strong>der</strong> Linse<br />
wegpolierte. Er nahm eine zweite Linse zur Hand. Prüfend blickte er<br />
durch beide Linsen hindurch auf sein <strong>Wurzel</strong>männchen. Es schien<br />
weit weg zu sein. Vor seinem inneren Auge verwandelte es sich in eine<br />
kleine schwarz gekleidete Gestalt, die vor einer großen Menge sprach.<br />
Spinoza ließ die Linsen sinken und lehnte sich zurück. Es musste<br />
Ende <strong>der</strong> 40er Jahre gewesen sein, als Descartes 58 in Amsterdam<br />
57 <strong>Die</strong> Marranen waren spanische und portugiesische Juden, die sich unter dem Zwang<br />
<strong>der</strong> Inquisition hatten taufen lassen, dennoch insgeheim ihren jüdischen Riten treu<br />
geblieben waren. Rund 200.000 Marranen sind aus Spanien und Portugal vertrieben<br />
worden. Sie gründeten Gemeinden in Amsterdam, London, Hamburg u. a. Der wirtschaftliche<br />
und kulturelle Nie<strong>der</strong>gang dieser beiden Län<strong>der</strong> seit dem 17. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
ist nicht zuletzt auf diesen geistigen A<strong>der</strong>lass zurückzuführen.<br />
58 René Descartes wurde 1596 als Sohn einer adeligen Familie geboren. Nach dem<br />
Studium in Paris tritt er in holländische, 1619 in bayerische Kriegsdienste. Seit 1629 in<br />
den Nie<strong>der</strong>landen lebend, entstehen hier seine philosophischen Werke, beson<strong>der</strong>s<br />
1637 sein Hauptwerk <strong>der</strong> „Discours de la méthode”. 1649 folgt er einem Ruf <strong>der</strong> Königin<br />
Christine von Schweden nach Stockholm, wo er ein halbes Jahr später 1650 gestorben<br />
ist.
war. Er selbst war inzwischen im Geschäft seines Vaters tätig. Cogito,<br />
ergo sum so lautete <strong>der</strong> Leitspruch des französischen Philosophen.<br />
Ob das, was man denke, wahr sei, erkenne man daran, ob es<br />
klar und deutlich erkennbar sei, ob es auf einfache und absolute<br />
Elemente zurückzuführen sei, ob über das Erkannte kein Zweifel<br />
übrig bleibe, so wie kein Zweifel darüber bestehe, dass ein Dreieck<br />
durch drei Seiten begrenzt ist und dass eine Kugel nur eine Oberfläche<br />
hat.<br />
Descartes wurde <strong>der</strong> Auslöser für sein Studium <strong>der</strong> lateinischen<br />
Sprache und <strong>der</strong> zeitgenössischen Wissenschaft, <strong>der</strong> Werke von<br />
Campanella 59 , Bacon und Hobbes 60 .<br />
Das Problem des Wi<strong>der</strong>spruches zwischen den Naturgesetzen<br />
und den jüdischen heiligen Schriften hatte ihn nicht mehr losgelassen.<br />
59 Thomas Campanella (1568 bis 1639) sucht wie Thomas Morus (1480 bis 1535)<br />
und Huig de Groot (1583 bis 1645) nach einem Korrektiv <strong>der</strong> Machtideologie <strong>der</strong> Renaissance.<br />
Während Morus in seinem Werk „Utopia” die ungerechte Verteilung <strong>der</strong><br />
Reichtümer anprangert und allgemeine Gleichheit durch Gütergemeinschaft for<strong>der</strong>t,<br />
for<strong>der</strong>t Campanella in seinem „Sonnenstaat” (Civitas solis) ein Gemeinwesen, in dem<br />
jede Individualität ausgeschlossen ist. Alles hat sich wi<strong>der</strong>spruchslos nach <strong>der</strong> einzigen<br />
und ewigen idealen Ordnung zu richten.<br />
Grotius sucht in seinem Werk „De iure belli ac pacis” nach Regeln für die Streitigkeiten<br />
zwischen Individuen, zwischen Individuen und Staat sowie für Kriege zwischen Staaten.<br />
Rechtsquellen für diese Regeln sind ihm einmal die Richtlinien <strong>der</strong> Natur (Naturrecht)<br />
und zum an<strong>der</strong>en <strong>der</strong> Wille Gottes.<br />
60 <strong>Die</strong>sen Idealisten stehen die Realisten Nicoló Macchiavelli (1469 bis 1527), Francis<br />
Bacon (1561 bis 1626) und Thomas Hobbes (1588 bis 1679) gegenüber.<br />
<strong>Die</strong> radikalsten Regeln stellt Macchiavelli in seinem Werk „Der Fürst” (Il principe) auf.<br />
Ausgehend davon, dass die Menschen schlecht seien, muss auch <strong>der</strong> Fürst in seinem<br />
Handeln von <strong>der</strong> Schlechtigkeit Gebrauch machen und sich dabei vor halben Maßnahmen<br />
hüten.<br />
Bei Bacon ist es <strong>der</strong> Vorsprung des Wissens („Wissen ist Macht„), <strong>der</strong> für den Erhalt<br />
von Besitz und Macht sorgt. Wissen und Weisheit ist nicht mehr wie seit Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />
um ihrer selbst willen da, son<strong>der</strong>n steht ausschließlich im <strong>Die</strong>nste ihrer technischen<br />
Nützlichkeit.<br />
<strong>Die</strong>se utilitaristische Auffassung teilt auch Hobbes. Um die unmöglichen Verhältnisse<br />
des Naturzustandes, des Krieges aller gegen alle (bellum omnium contra omnes) zu beenden,<br />
schließen die Menschen einen Staatsvertrag. Der so gebildete Staat ist nichts<br />
an<strong>der</strong>es als die Machtballung des kollektiven Egoismus. Für die Staaten herrscht immer<br />
noch <strong>der</strong> Naturzustand. Nur heißt er jetzt Souveränität.
Hatte nicht Maimonides in seinem Hauptwerk Führer <strong>der</strong> Unschlüssigen<br />
gesagt:<br />
„Wir können nur sagen, dass Gott ist, nicht aber was er ist“?<br />
Wie kann man von den fünf Büchern Moses und <strong>der</strong> Thora behaupten,<br />
dass das in ihnen Geschriebene Wahrheiten im Sinne <strong>der</strong><br />
Klarheit und Eindeutigkeit von Descartes sind? Kann es nicht sein,<br />
dass diese heiligen Schriften keine Aussagen für alle Ewigkeit enthalten,<br />
son<strong>der</strong>n nur zeitbezogene Vorstellungen wie<strong>der</strong>geben?<br />
In dem Arzt Juan de Prado fand er eine verwandte Seele, die<br />
dazu beitrug, seine häretischen Ideen zu för<strong>der</strong>n und zu artikulieren.<br />
Prado hatte in Spanien als Marrane Theologie studiert und dort<br />
unter seinen Freunden manche zum jüdischen Glauben zurück gewonnen.<br />
Verraten, war er nach Holland geflohen, fand aber hier<br />
ein Judentum mit einem Geflecht von bis ins einzelne festgelegten<br />
Glaubensinhalten und Riten vor, die seine im spanischen Untergrund<br />
entwickelten ketzerischen Ideen einschnürten.<br />
<strong>Die</strong> strenge Beachtung dieser Riten und beson<strong>der</strong>s das Verbot,<br />
am Sabbat Speisen zuzubereiten, hatte in Spanien den Christen<br />
verraten, welche Marranen insgeheim noch dem jüdischen Glauben<br />
angehörten, und sie damit <strong>der</strong> Inquisition ausgeliefert.<br />
Wie soll man zum Beispiel die Sabbatverbote, dass man am<br />
Sabbat keinen Weg von mehr als 2 000 Ellen zurücklegen darf, mit<br />
dem Sabbatverbot, dass man seine Notdurft nicht näher als 2 000 Ellen<br />
von seiner Wohnung verrichten darf, gleichzeitig erfüllen können?<br />
O<strong>der</strong>: Warum muss man getrenntes Geschirr für Milchiges und<br />
Fleischliches verwenden, wenn doch beide Speisen in demselben<br />
Magen landen?<br />
Warum muss man die Sehnen des Fleisches vor dem Braten entfernen?<br />
Auch den Ritus des Händewaschens vor dem Hauptgericht<br />
sucht man vergebens in den fünf Büchern Mosis o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Thora.<br />
<strong>Die</strong>ser Ritus muss <strong>der</strong> mündlichen Überlieferung entstammen.<br />
Sind so viele und unmögliche Gebote erlassen worden, um<br />
Jahwe Gelegenheit zu geben, seinem Volk wegen Nichteinhaltung<br />
seiner Gebote durchweg zu zürnen?
Er erinnerte sich an die heißen Diskussionen mit Isaak La Peyrére,<br />
<strong>der</strong> in seinem Buch über die Präadamiten die Ansicht vertrat,<br />
schon vor Adam und Eva habe es Menschen auf Erden gegeben, die<br />
ohne göttliches Gesetz in einer Art Naturzustand gelebt hätten.<br />
<strong>Die</strong> Bibel sei daher keine Geschichte <strong>der</strong> ganzen Menschheit, son<strong>der</strong>n<br />
nur <strong>der</strong> Juden. Adam sei nicht <strong>der</strong> erste Mensch <strong>der</strong> gesamten<br />
Menschheit, son<strong>der</strong>n nur <strong>der</strong> erste Jude. Was ihn an La Peyrére<br />
faszinierte, war die Methode seiner Bibelkritik.<br />
Aus diesen fruchtbaren Diskussionen mit La Peyrére und Prado<br />
entwickelte er die Fragen für seine Bibeluntersuchungen:<br />
Zu welcher Zeit, bei welcher Gelegenheit, für wen und in welcher<br />
Sprache sind die einzelnen prophetischen Bücher entstanden?<br />
Wie viele Lesarten gibt es davon?<br />
Wer waren die Verfasser?<br />
Was wissen wir über das Leben des o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Verfasser?<br />
Welche Aussprüche sind zweideutig o<strong>der</strong> dunkel?<br />
Wo wi<strong>der</strong>sprechen sich die Aussagen?<br />
Seine Studien zu den jüdischen Gesetzesvorschriften hatten ihm<br />
offenbart, wie zeitbezogen viele Vorschriften waren, wie in den<br />
Büchern Moses die dort verwandten Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Zeit entstammten,<br />
in <strong>der</strong> diese Bil<strong>der</strong> lebendige Wirklichkeit waren, und wie spätere<br />
Generationen versuchten, unter Wahrung dieser Bil<strong>der</strong>, diesen<br />
eine ihrer Zeit gemäße Deutung zu geben.<br />
<strong>Die</strong> Veröffentlichung seiner Ergebnisse und seine Kritik an <strong>der</strong><br />
jüdischen Gottesvorstellung und an <strong>der</strong> Gültigkeit <strong>der</strong> jüdischen<br />
Gesetze brachte auch über ihn den Bannfluch <strong>der</strong> jüdischen<br />
Gemeinde:<br />
Nach dem Urteile <strong>der</strong> Engel und dem Beschlusse <strong>der</strong> Heiligen bannen,<br />
verstoßen, verwünschen und verfluchen wir den Baruch<br />
de Spinoza mit <strong>der</strong> Zustimmung Gottes und dieser heiligen<br />
Gemeinde im Angesicht <strong>der</strong> heiligen Bücher <strong>der</strong> Thora und<br />
<strong>der</strong> 613 Vorschriften, die darin geschrieben sind; mit dem Banne,<br />
womit Josua Jericho bebannt, mit dem Fluche, womit Elisa<br />
die Knaben verflucht hat, mit allen Verwünschungen, die im<br />
Gesetz geschrieben stehen.
Er sei verflucht bei Tag und sei verflucht bei Nacht! Er sei<br />
verflucht, wenn er schläft, und sei verflucht, wenn er aufsteht!<br />
Er sei verflucht bei seinem Ausgang und sei verflucht bei<br />
seinem Eingang!<br />
Der Herr wolle ihm nie verzeihen.<br />
Im Gegensatz zu Juan de Prado hatte er gegen seinen Ausschluss<br />
aus <strong>der</strong> jüdischen Gemeinde von Amsterdam keinen Einspruch<br />
erhoben, obgleich man ihm vorher eine Rente in Aussicht<br />
gestellt hatte, wenn er seine Kritik zurücknähme.<br />
Zum einen erkannte er eine religiöse Gerichtsbarkeit neben <strong>der</strong><br />
bürgerlichen nicht an. Zum an<strong>der</strong>en hätte es gegen sein Prinzip<br />
verstoßen, Überzeugungen abzuschwören, die vor <strong>der</strong> Vernunft<br />
gerechtfertigt waren.<br />
Wirtschaftlich bedeutete <strong>der</strong> Bannfluch für ihn die Aufgabe des<br />
väterlichen Geschäftes. Seitdem musste er sich seinen Lebensunterhalt<br />
mit dem Schleifen von Gläsern für Teleskope und<br />
Mikroskope verdienen, soweit ihn nicht Renten wohlhaben<strong>der</strong><br />
Freunde unterstützten.<br />
Seine kaufmännische Tätigkeit hatte ihn in Kontakt zu einem<br />
Kreis mennonitischer Kaufleute gebracht, in <strong>der</strong>en religiösen Kollegien<br />
man freimütig diskutierte. Dort und in <strong>der</strong> nahegelegenen<br />
Universität Leiden wurde er mit <strong>der</strong> durch Pierre Gassendi 61 wie<strong>der</strong><br />
aufgegriffenen Lebensphilosophie Epikurs 62 vertraut, dessen<br />
materialistische Weltanschauung zwei Jahrtausende lang, von den<br />
61 Pierre Gassendi (1592 bis 1655) lernt über Epikur Demokrits Atomismus kennen<br />
und damit seine drei Prinzipien <strong>der</strong> Natur: die Atome, den leeren Raum und die den<br />
Atomen innewohnende ewige Bewegung. Er wird damit einer <strong>der</strong> Wegbereiter des mechanistischen<br />
Denkens, welches gekennzeichnet ist durch die neue Methode <strong>der</strong> Induktion,<br />
durch die Ablösung <strong>der</strong> Wesenswissenschaft durch die Geschehniswissenschaft<br />
und den dynamisch-kausalen Seinsbegriff, <strong>der</strong> keinen Schöpfer mehr zulässt.<br />
<strong>Die</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> neuzeitlichen Physik, Kepler, Galilei, Gassendi und Newton ziehen<br />
diesen Schluss jedoch nicht; sie sind und bleiben gläubige Christen.<br />
62 Begründet wurde <strong>der</strong> Epikureismus durch Epikur aus Samos (341 bis 270 v. Chr.).<br />
<strong>Die</strong> Epikureer sind Individualisten. Sie suchen die innere Zufriedenheit, das Ruhen in sich<br />
selbst. Sie bejahen das Leben in seiner Fülle und auch in seinen Schattenseiten. Der<br />
stille Glanz und <strong>der</strong> heitere Friede des Herzens macht sie unabhängig von transzendenten<br />
Gottheiten.
Stoikern 63 an über die Kirchenväter, die Scholastiker bis in seine<br />
Zeit, als Irrlehre verdammt worden war. Beson<strong>der</strong>s Epikurs Gottesanalyse<br />
hatte ihn beeindruckt:<br />
Entwe<strong>der</strong> will Gott das Übel beseitigen und kann es nicht,<br />
dann ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft;<br />
o<strong>der</strong> er kann es und will es nicht, dann ist er missgünstig,<br />
was ebenfalls Gott fremd ist;<br />
o<strong>der</strong> er kann es nicht und will es nicht dann ist er sowohl<br />
missgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott;<br />
o<strong>der</strong> er kann es und will es.<br />
Wenn er aber will und kann, woher kommen dann die Übel,<br />
und warum nimmt er sie nicht weg?<br />
<strong>Die</strong> Diskussion über die antiteleologische Naturphilosophie<br />
eines Giordano Bruno 64 und des Galileo Galilei 65 schufen den<br />
Durchbruch. Wenn die Erde nicht Mittelpunkt <strong>der</strong> Schöpfung<br />
Gottes war, son<strong>der</strong>n nach ehernen Naturgesetzen zusammen mit<br />
den an<strong>der</strong>en Planeten um die Sonne kreist, warum sollte in allen<br />
an<strong>der</strong>en Fällen die Zweckfreiheit <strong>der</strong> Natur nicht gelten?<br />
63 Der zur gleichen Zeit lebende Zenon aus Zypern entwickelte die Lehre <strong>der</strong> Stoa.<br />
Auch sie hat den Materialismus als <strong>Wurzel</strong> und vertritt bei <strong>der</strong> Frage nach den letzten<br />
Grund des Seins einen Pantheismus. Im Gegensatz zu den Epikureern sind die Stoiker<br />
Tatmenschen. Als solche nehmen sie am öffentlichen Leben teil, um <strong>der</strong> Vernunft zum<br />
Siege zu verhelfen. Der stoischen Ethik verdanken wir den Naturrechtsbegriff und das<br />
damit zusammenhängende Humanitätsideal. Als Willensmenschen bekämpfen sie ihre<br />
Affekte und führen ein asketisches Leben nach <strong>der</strong> Vernunft, denn nur sie macht den<br />
Menschen unabhängig und frei.<br />
64 Für Giordano Bruno (1548 bis 1600) ist Wissen nicht Macht, son<strong>der</strong>n eine Weltanschauung.<br />
Schon Cusanus hatte 100 Jahre vorher von einer grenzenlosen Welt gesprochen.<br />
Aber bei ihm ist die Unendlichkeit nur eine unerfüllbare Annäherung des Abbildes<br />
an das im eigentlichen Sinne unendliche Urbild, Gott. Bruno sieht hinter <strong>der</strong><br />
kopernikanischen Erkenntnis, die die Sonne an die Stelle <strong>der</strong> Erde in den Mittelpunkt<br />
rückte, das unendliche Universum aufleuchten. War für Cusanus die Grenzenlosigkeit<br />
<strong>der</strong> Welt ein Lobpreis Gottes, so ist sie für Bruno <strong>der</strong> neue Gott, <strong>der</strong> Gott <strong>der</strong> Weltgläubigkeit<br />
und Weltfrömmigkeit. Mit dieser Vorstellung <strong>der</strong> Weltimmanenz wird Bruno<br />
<strong>der</strong> Prophet <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Naturwissenschaft.<br />
65 Was Galileo Galilei (1564 bis 1642) für die katholische Kirche so gefährlich machte,<br />
war nicht so seine Bestätigung des kopernikanischen Weltbildes, als vielmehr <strong>der</strong> Bruch<br />
mit dem qualitativ-eidetischen Denken und dessen Ersetzen durch das Gegenteil, <strong>der</strong><br />
quantitativ-mechanistischen Naturbetrachtung.
Menschen handeln um des Nutzens willen, den sie begehren.<br />
Alles das, was sie nicht selbst hergestellt haben, ihr eigenes Leben<br />
und die Güter, die die Natur ihnen schenkt, muss daher eine fremde<br />
Macht zum Zwecke ihres Nutzens ihnen zur Verfügung gestellt<br />
haben.<br />
<strong>Die</strong>se fremde Macht gilt es zu verehren, damit die Quelle ihres<br />
Lebenszweckes weiter sprudelt, und es gilt ihr zu opfern, damit <strong>der</strong><br />
Zorn dieser fremden Macht besänftigt wird.<br />
<strong>Die</strong>se Zweckhaftigkeit menschlichen Denkens ist die Ursache<br />
für die Vorstellung einer fremden Macht, die den Menschen gegenübersteht,<br />
ob diese Transzendenz sich in viele Götter aufglie<strong>der</strong>t<br />
o<strong>der</strong> sich in einem Gott konzentriert.<br />
Blitzartig, intuitiv wurde ihm klar:<br />
Nein, Gott ist zweckfrei. Er steht <strong>der</strong> Schöpfung nicht gegenüber.<br />
Er ist immanent in allen Erscheinungen <strong>der</strong> Natur.<br />
Wenn Gott sich in den Erscheinungsweisen <strong>der</strong> Natur manifestiert,<br />
dann ist er kein Individuum. Dann sind Maßstäbe wie Gut<br />
und Böse keine Maßstäbe Gottes.<br />
Individuen sind die mit Geist beseelten Körper. Sie schaffen<br />
sich die Maßstäbe Gut und Böse. Sie haben die Möglichkeit, das<br />
Unvollkommene vom Vollkommenen zu unterscheiden und nach<br />
dem Vollkommenen zu streben.<br />
Seine Intuition <strong>der</strong> Einheit von Gott und <strong>der</strong> Welt hatte er in<br />
seiner ersten Schrift Korte Verhandeling van God, de Mensch en deszelvs<br />
Welstand nie<strong>der</strong>gelegt.<br />
Über Baruchs Züge glitt ein Lächeln.<br />
Wie unendlich weit hatte er sich geistig von <strong>der</strong> leeren hohlen<br />
Formel des Bannfluches <strong>der</strong> jüdischen Gemeinde von Amsterdam<br />
entfernt.<br />
Anfang 1660, fast vier Jahre nach seinem Bann, unterzog man<br />
ihn im Rathaus <strong>der</strong> Stadt einem Verhör. Ob konservative calvinistische<br />
Kreise ihm nur die Kritik am Alten Testament verübelten<br />
o<strong>der</strong> ob sie schon vor <strong>der</strong> Veröffentlichung seiner Schrift Kenntnis
von seiner Vorstellung eines immanenten Gottes hatten, bleibt offen.<br />
Jedenfalls verdächtigten sie ihn des Atheismus und wiesen ihn<br />
aus Amsterdam aus.<br />
Er war damals nach Rijnsburg bei Leiden gezogen in ein gerade<br />
erbautes Haus eines Kollegiaten.<br />
Unter dem Vorwurf des Atheismus hatte er sich gefragt, woran<br />
es liegt, dass die Menschen so unterschiedliche Vorstellungen von<br />
Gott haben. Müssten sie nicht alle, wenn sie tief genug nach<br />
Erkenntnis bohrten, zu einem gemeinsamen Ziel hin gelangen?<br />
Weil aber die Menschen, selbst bei einer Verbesserung ihres<br />
Verstandes, nie induktiv zu einer gemeinsamen Vorstellung von<br />
Gott, dem Unbedingten hingeführt werden können, erschien es<br />
ihm notwendig, diese Intuition von <strong>der</strong> Einheit Gottes und <strong>der</strong><br />
Natur, von Gott, dem Unbedingten, deduktiv herzuleiten.<br />
In Rijnsburg begann er die Erkenntnisse aus <strong>der</strong> Korten Verhandelung<br />
van God, de Mensch en deszelvs Welstand philosophisch<br />
zu vertiefen. Es entstand <strong>der</strong> Entwurf zu seiner „Ethica”.<br />
Baruch lehnte sich zurück. Er erinnerte sich, wie er gegrübelt<br />
hatte, wie die Welt <strong>der</strong> Erscheinungen und Wirkungen zurückzuführen<br />
ist auf die eine Substanz, auf Gott.<br />
Wirkungen und Erscheinungen sind Fähigkeiten o<strong>der</strong> Vermögen<br />
<strong>der</strong> Körper. Da Denken ein Produkt des Gehirns ist, sei auch<br />
das eine körperliche Wirkung bzw. Erscheinung.<br />
Hat Hobbes Recht mit diesem, seinem monistischem Materialismus?<br />
O<strong>der</strong> ist Descartes zuzustimmen, <strong>der</strong> bei seiner endlichen Substanz<br />
zwei große Klassen annimmt, den Geist (cogito) und den<br />
Körper (ergo sum).<br />
Dem Geist billigt er als Attribut Bewusstsein, Seele, Ich zu und<br />
als Akzidentien die Liebe, den Hass, das Wollen und das Urteilen.<br />
Körper haben als Attribut die räumliche Ausdehnung und als<br />
Modi ihre Lage, ihre Gestalt und ihre Bewegung.<br />
Aber wofür braucht Descartes neben <strong>der</strong> endlichen Substanz<br />
eine unendliche Substanz?
Wenn er argumentiert, um das Unvollkommene zu denken,<br />
müsse man das Vollkommene voraussetzen, damit wird Gott aber<br />
doch nicht vergleichbar einem Dreieck o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Oberfläche einer<br />
Kugel. Selbst wenn man akzeptiert, dass das Dasein so notwendig<br />
zur Wesenheit Gottes gehöre, wie zur Idee des Berges die Idee des<br />
Tales, so gehören doch beide Ideen <strong>der</strong> gleichen Klasse, dem Geist, an.<br />
Ziel muss sein, die „Natur <strong>der</strong> Dinge”, wie Descartes sagt, zu<br />
erkennen.<br />
Beim Linsenschleifen wurde ihm klar, erst wenn sich alle Strahlen<br />
in einem Brennpunkt treffen, ist die Linse vollkommen. Dreht<br />
man die Linse um, laufen die Strahlen vom Brennpunkt aus in alle<br />
Richtungen.<br />
Von Gott als Brennpunkt laufen die Strahlen zu den Attributen<br />
Körper und Geist und von dort brechen sie sich an <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong><br />
Erscheinungsweisen und Wirkungen in <strong>der</strong> Welt.<br />
Durch Leone Ebreos Dialoghi d’amore war ihm die platonische<br />
Ideenlehre und <strong>der</strong>en neuplatonischen Variationen von Ideen im<br />
Geiste Gottes vertraut.<br />
Plotin hat Recht. Es gibt nur das EINE. Es ist das höchste<br />
Prinzip o<strong>der</strong> <strong>der</strong> letzte Grund für alles an<strong>der</strong>e. Aus ihm strömt sowohl<br />
Geist als auch Körper.<br />
Folglich muss eine Philosophie <strong>der</strong> Immanenz mit Gott beginnen,<br />
an die sich eine Betrachtung <strong>der</strong> Attribute Geist und Natur<br />
anschließen muss. <strong>Die</strong> Welt des Geistes ist die Welt <strong>der</strong> Ideen.<br />
Das führt zu <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Entstehung und dem Unterschied<br />
zwischen wahren und falschen Ideen.<br />
Schon Averroës hatte von <strong>der</strong> doppelten Wahrheit gesprochen.<br />
<strong>Die</strong> eine wird den Philosophen direkt geschenkt, die an<strong>der</strong>e dem<br />
Volk durch die Religion in Bil<strong>der</strong>n und Gleichnissen vermittelt.<br />
Für ihn war Religion nichts an<strong>der</strong>es als „Philosophie in Metaphern”.<br />
Aber wie adäquat sind die Bil<strong>der</strong> den wahren Ideen?<br />
Weil die Menschen alles für wahr halten, was ihre Sinne ihnen<br />
erzählen, wobei diese Sinne in den Menschen unterschiedliche Bil<strong>der</strong><br />
erzeugen, liegt hier <strong>der</strong> Ursprung <strong>der</strong> falschen Ideen.
<strong>Die</strong>se unterschiedlichen Anschauungen von <strong>der</strong> Welt sind <strong>der</strong><br />
Keim für Streit, Uneinigkeit, Gewalt und Krieg, Fanatismus und<br />
die verschiedenen Formen <strong>der</strong> Intoleranz.<br />
Zwei Jahre später, als er nach Voorburg bei Den Haag umgezogen<br />
war, beteiligte er sich intensiv an den politischen Diskussionen<br />
<strong>der</strong> Zeit. Der Westfälische Frieden hatte die Souveränität des<br />
Staates juristisch festgeschrieben und den Grundsatz <strong>der</strong> Nichteinmischung<br />
in die inneren Angelegenheiten des Staates aufgestellt.<br />
<strong>Die</strong>se Souveränität entsteht nach Hobbes durch einen Staatsvertrag<br />
seiner Bürger. Man schafft durch freie Konvention <strong>der</strong> Individuen<br />
Ordnung, Recht, Sitte und Sittlichkeit an die Stelle des<br />
persönlichen Naturrechts, bei dem galt „Homo homini lupus”.<br />
Aber wer ist <strong>der</strong> Souverän des Staates? Wer übt die Machtballung<br />
des kollektiven Egoismus aus?<br />
Solange nicht alle Dinge <strong>der</strong> Natur restlos erkannt sind, verbleibt<br />
<strong>der</strong> Rest, wie Hobbes sagt, dem Glauben. Und dafür ist nicht die<br />
Philosophie zuständig, son<strong>der</strong>n die Religion. Philosophie sei zuständig<br />
für die rationelle Erkenntnis von Wirkungen und Erscheinungen.<br />
Baruchs Beitrag zu den Diskussionen <strong>der</strong> Zeit bestand darin,<br />
die Trennung zwischen Religion (Domäne des Gehorsams gegenüber<br />
Gott) und Philosophie (vorurteilsfreie Suche nach <strong>der</strong> Wahrheit<br />
entsprechend den Prinzipien <strong>der</strong> Vernunft) zu for<strong>der</strong>n und<br />
damit zwischen Religion und Staat.<br />
Ihm war klar, dass man nicht alle Staatsbürger auf die Ebene<br />
<strong>der</strong> Vernunft heben kann. <strong>Die</strong> Menschen leben in <strong>der</strong> Welt ihrer<br />
unterschiedlichen Vorstellungen. Um die daraus resultierende<br />
Quelle des Fanatismus und <strong>der</strong> Intoleranz und <strong>der</strong>en Folge von<br />
Uneinigkeit, Streit und Krieg auszutrocknen, galt es daher die<br />
Wirkungen ihrer Vorstellungswelt in rationale Muster abzuän<strong>der</strong>n<br />
und diese Wirkungen zu institutionalisieren.<br />
In seinem theologisch-politischen Traktat analysierte er, wie<br />
diese zerstörerischen Elemente neutralisiert werden können, um<br />
ein gesellschaftlich nützliches Verhalten aufkommen zu lassen.
<strong>Die</strong> heftigen Angriffe auf sein anonym veröffentlichter Traktatus<br />
theologico-politicus und die Ermordung Jan de Witts 66 bewiesen,<br />
dass die feudalistischen Kräfte nicht daran dachten, ihre Macht in<br />
die Hand <strong>der</strong> Philosophen zu legen und das Instrument <strong>der</strong> Religion<br />
als staatsför<strong>der</strong>nde Kontrollinstanz aufzugeben, um das Volk<br />
zum Gehorsam zu bewegen.<br />
Er zog sich zurück und verzichtete auf jede weitere Veröffentlichung<br />
seiner Lehren.<br />
Auch die Berufung an die Universität von Heidelberg lehnte er<br />
ab, um seine Überzeugungen nicht dem Zeitgeist opfern zu müssen.<br />
Wie<strong>der</strong> nahm Baruch die Vergrößerungslinse zur Hand. Je<br />
nachdem, in welchem Abstand er die Linse zu dem Männlein hielt,<br />
wurden die Strukturen schärfer und deutlicher o<strong>der</strong> gestaltloser<br />
und verschwommener.<br />
Gelingt es dem Menschen im Chaos seiner Leidenschaften die<br />
Struktur zu erkennen, diese seine Leidenschaften <strong>der</strong> Struktur gemäß<br />
zu ordnen, dann kann <strong>der</strong> Mensch seine Selbstbestimmung<br />
erlangen, kann seinen Geist nach dem unendlichen Geist Gottes<br />
ausrichten.<br />
Ein letztes Mal überprüfte er seine Linsen. Ihr Schliff war jetzt<br />
vollkommen. Sein Auftraggeber konnte sie abholen. Erschöpft sank<br />
er auf sein Lager nie<strong>der</strong>.<br />
66 Jan de Witt, Ratspräsident <strong>der</strong> Generalstaaten, hatte während <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>jährigkeit<br />
des militärischen Statthalters, Wilhelms von Oranien, die militärischen Ausgaben zugunsten<br />
des Ausbaus <strong>der</strong> Handelsflotte stark vernachlässigt. Als Ludwig XIV., König<br />
von Frankreich, Erbansprüche auf die spanischen Nie<strong>der</strong>lande geltend machte und<br />
Holland angriff, wurde durch den inzwischen volljährigen Oranier de Witt gestürzt<br />
und ermordet.<br />
Als Generalkapitän <strong>der</strong> Vereinigten Generalstaaten lässt Wilhelm von Oranien das<br />
Land weitgehend überfluten, beendet den Seekrieg mit England und wirbt in Europa<br />
für eine antifranzösische Koalition.
<strong>Die</strong> letzten Worte seiner „ethica”, die er bisher nicht veröffentlicht<br />
hatte, weil er die Zeit noch nicht reif dafür fand, gingen ihm<br />
durch den Kopf.<br />
„Der Weise wird in <strong>der</strong> Seele kaum beunruhigt, son<strong>der</strong>n,<br />
seiner selbst, Gottes und <strong>der</strong> Dinge mit einer gewissen ewigen<br />
Notwendigkeit bewusst, hört er niemals auf zu sein und<br />
ist immer im Besitze <strong>der</strong> wahren Befriedigung <strong>der</strong> Seele.”<br />
Der Mann im Bettkasten fuhr so jäh hoch aus seinen Kissen,<br />
dass er sich an einem Bettpfosten den Kopf stieß.<br />
Gott sei dank, die Kanonenkugeln, die neben ihm die Schiffswand<br />
eingeschlagen hatten, waren nur Traumgespinste. Das<br />
kommt davon, wenn man in <strong>der</strong> Roten Laterne zu lange zecht. Ein<br />
Zechkumpan hatte ihm die Seeschlacht des Admirals Ruyters 67<br />
gegen die Englän<strong>der</strong> in solch glühenden Farben geschil<strong>der</strong>t, dass er<br />
auf dem Heimweg beschloss, diese Seeschlacht in einem Gemälde<br />
zu verewigen.<br />
Der Krach, <strong>der</strong> in seinen Träumen das Bild einschlagen<strong>der</strong> Kanonenkugeln<br />
erzeugt hatte, setzte wie<strong>der</strong> ein und entpuppte sich<br />
als <strong>der</strong> des Türklopfers, mit dem jemand draußen Einlass begehrte.<br />
„Jongheer Rifenkoek, was führt Euch denn zu so früher Stunde<br />
hierher?”<br />
„Entschuldigt die Störung, Mynheer van <strong>der</strong> Spyck. Aber ich<br />
wollte zu Mynheer Spinoza. Er hat mit meinem Baas, Mynheer<br />
van Leeuwenhoek vereinbart, dass die Linsen am 21. Februar, also<br />
heute, abgeholt werden können. Aber er scheint nicht da zu sein.<br />
Und da wollte ich fragen, ob er sie vielleicht bei Euch deponiert<br />
hat.”<br />
67 Michiel de Ruyter war einer <strong>der</strong> berühmtesten Flottenführer in den Seekriegen gegen<br />
England zwischen 1652 und 1674. <strong>Die</strong>se Seekriege wurden ausgelöst durch die<br />
vom englischen Parlament beschlossene Navigationsakte, die bei <strong>der</strong> Einfuhr von Waren<br />
nach England fremde Schiffe ausschloss. Damit sollte die Vorherrschaft des holländischen<br />
Frachtschifffahrtsmonopols gebrochen werden.
„Seltsam, er geht nie aus, ohne mir eine Botschaft zu hinterlassen.<br />
Wartet, ich habe einen Schlüssel zu seiner Wohnung. Vielleicht<br />
hat er ja die Linsen mit einem Vermerk für Euch auf seinem<br />
Arbeitstisch liegen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er Euch drei<br />
Stunden von Leiden nach hier kommen lässt, wenn er seinen Auftrag<br />
nicht fertig hat.”<br />
Baruch de Spinoza lag bewusstlos auf seinem Lager. Er schien<br />
einen Blutsturz erlitten zu haben, wie das blutbeschmierte Bettlaken<br />
vermuten ließ.<br />
Der Maler veranlasste seine Magd, den bewusstlosen Philosophen<br />
zu waschen und in frische Linnen zu betten.<br />
„Jongheer Rifenkoek, bitte bleibt bei Mynheer de Spinoza, bis<br />
ich den Doktor Lodewijk Meyer geholt habe.”<br />
Rifenkoek war schon oft hier gewesen. Er kannte diese Wohnung,<br />
<strong>der</strong>en Kargheit im Gegensatz zu <strong>der</strong> gehaltvollen Bibliothek<br />
stand, die sie barg. Er nahm ein Buch aus dem Regal. Es war von<br />
Christian Huygens. In einer Abbildung war <strong>der</strong> Strahlengang durch<br />
die Linsen des Fernrohrs dargestellt, mit dem Huygens den Orionnebel<br />
entdeckt hatte.<br />
„Piet, die Linsen, die Ihr abholen sollt, sind fertig. Sie liegen<br />
dort drüben zusammen mit dem <strong>Wurzel</strong>männchen in dem Kästchen.<br />
Ich schenke Euch das <strong>Wurzel</strong>männchen, denn ich werde<br />
keine Linsen mehr schleifen. Und Ihr habt es immer so bewun<strong>der</strong>t.”<br />
Baruch de Spinoza war aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht und<br />
sprach mit <strong>der</strong> Klarheit, wie sie Sterbenden kurz vor ihrem Tode<br />
zu eigen ist.<br />
Der Maler betrat mit dem Arzt das Zimmer.<br />
„Lodewijk, meine Zeit ist abgelaufen. Bitte Jan Rieuwertsz die<br />
Herausgabe <strong>der</strong> Ethika zu übernehmen.”<br />
Erschöpft ließ sich <strong>der</strong> Kranke zurück in die Kissen sinken.<br />
Der sich über ihn beugende Arzt sah, wie sich das Gesicht des<br />
Sterbenden verklärte. Und nur er hörte den letzten gehauchten<br />
Satz Baruch de Spinozas:
„Lebwohl, Ewiger Geist, und suche Dir einen Körper, sub<br />
specie aeternitatis, in dem Du die Welt <strong>der</strong> Vernunft weiter erleuchten<br />
kannst.”<br />
We<strong>der</strong> <strong>der</strong> sterbende Spinoza noch <strong>der</strong> nun die Augen des Toten<br />
schließende Arzt wussten, dass vor über zweitausend Jahren<br />
sich an einer Korkeiche ein Philosoph mit ähnlichem Wunsch aus<br />
dieser Welt verabschiedet hatte.
4. Panheismus: «Humanitas»<br />
„Frau Dr. Rifenkoek, ich habe Sie kommen lassen, um Sie zu<br />
fragen, ob Sie bereit sind, im kommenden Schuljahr, im Rahmen<br />
des einzuführenden Kurssystems, einen Philosophiekurs zu übernehmen.<br />
Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass die geplante Reform <strong>der</strong><br />
gymnasialen Oberstufe mit dem ab dem Schuljahr 1974 einzuführenden<br />
Kurssystem für uns als einziges Gymnasium am Ort mehr<br />
Schwierigkeiten bereitet, als sie für Oberschulen in Großstädten<br />
bestehen, die eine größere Palette von Kursen durch Verbundsystem<br />
anbieten können.<br />
Ich habe daher die kommenden Schüler <strong>der</strong> Oberstufe nach ihren<br />
Interessenlagen befragen lassen. Vierzehn von ihnen bekundeten<br />
ihren Wunsch nach einem Philosophiekurs. Da dreizehn Teilnehmer<br />
die Mindestzahl ist, könnte ein solcher Kurs eingerichtet<br />
werden.”<br />
Der Schulleiter lehnte sich in seinem Sessel zurück und schaute<br />
die ihm gegenüber sitzende Kollegin erwartungsvoll an.<br />
„Welche Vorgaben über den Inhalt legt die Kultusbehörde fest?”<br />
„Im Grunde genommen keine. Es gibt nur das allgemeine<br />
Richtziel, ethische Werte zu vermitteln und ein wertorientiertes<br />
Handeln zu erreichen.”<br />
„Gut, wenn ich freie Hand im Rahmen des von Ihnen genannten<br />
Richtzieles habe und nicht ein philosophiegeschichtliches<br />
Kompendium vermitteln muss, dann übernehme ich den Kurs.”<br />
„Wir haben uns nun zu Beginn unseres Philosophiekurses gegenseitig<br />
vorgestellt, aber wir verwenden den Ausdruck Vorstellung
nicht nur im Zusammenhang mit Personen, son<strong>der</strong>n auch bei<br />
Sachverhalten.<br />
Ich möchte jetzt einmal von Ihnen wissen, was Sie sich laienhaft<br />
unter Philosophie vorstellen”, kam Frau Dr. Rifenkoek zum Thema.<br />
„Peter, fangen Sie mal an!”<br />
Der hoch aufgeschossene blonde Siebzehnjährige, den die Philosophielehrerin<br />
aus dem Deutschunterricht in <strong>der</strong> Mittelstufe als<br />
beredt kannte, räusperte sich und meinte: „Philosophie hat was<br />
mit Lebenskunde, mit Ethik zu tun.”<br />
„Peter meint, Philosophie habe mit <strong>der</strong> Frage zu tun, wie sollten<br />
wir leben?”<br />
„Philosophie hat aber auch mit unseren Lebenswurzeln zu tun”,<br />
meldete sich Erika zu Wort.<br />
Karl ergänzte: „Wie wurde die Welt erschaffen? Liegt hinter<br />
dem, was geschehen ist und noch geschieht, ein Sinn?”<br />
Maria erwartet von <strong>der</strong> Philosophie die Antwort: „Gibt es ein<br />
Leben nach dem Tode?”<br />
„Philosophie hat es also mit Grundfragen des Seins zu tun, mit<br />
den Fragen nach einem Gottesbild, einem Menschenbild und einem<br />
Weltbild”, fasste die Kursleiterin zusammen.<br />
„Wichtig ist, die Fähigkeit sich zu wun<strong>der</strong>n, die Dinge zu hinterfragen.<br />
Das ist <strong>der</strong> Anfang jedes Philosophierens.<br />
Fragen wir also, woher stammen unsere Vorstellungen? Werden<br />
sie uns als Anlagen bei <strong>der</strong> Geburt mitgegeben?”<br />
„Nein”, meinte Christine, „Vorstellungen sind die Erinnerungen<br />
früherer Erlebnisse.”<br />
„Mir ist gestern im Konzert”, erinnerte sich Sarah, „bei einem<br />
bestimmten Satz das Bild eines plätschernden Baches vor Augen<br />
gestanden.”<br />
„Plätschern<strong>der</strong> Bach?” Frau Dr. Rifenkoek musterte die Bücherregale<br />
<strong>der</strong> Bibliothek, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Philosophiekurs stattfand.<br />
Dann zog sie aus einem <strong>der</strong> Regale ein Buch heraus.<br />
„Das Buch heißt <strong>Die</strong> Lebensformen. Der Verfasser ist Eduard<br />
Spranger.
Ich möchte das, was Spranger mit Lebensformen meint, an<br />
folgendem Beispiel erläutern:<br />
Es stehen 3 Jungen vor einem Wasserfall.<br />
Sagt <strong>der</strong> erste:<br />
‚Welch ein Anblick! <strong>Die</strong>se Wucht! <strong>Die</strong>ses Schäumen! <strong>Die</strong>ses<br />
Farbenspiel in <strong>der</strong> Sonne!’<br />
Erklärt <strong>der</strong> Zweite:<br />
‚<strong>Die</strong> Schwerkraft ist es, die das Wasser sprühend unter Luftaufnahme<br />
in die Tiefe stürzen lässt. Daher das Schäumen.<br />
Dabei wirkt das Wasser wie ein Prisma und zerlegt das<br />
Sonnenlicht in seine Elementarfarben.’<br />
Bedauert <strong>der</strong> Dritte:<br />
‚Donnerwetter, gehen da PS verloren.’<br />
Reagiert <strong>der</strong> erste als Ästhet, <strong>der</strong> einen Eindruck formuliert, so<br />
erklärt <strong>der</strong> zweite das Naturphänomen als Erkenntnisobjekt mit<br />
dem Rüstzeug seines Wissens, während <strong>der</strong> dritte als ökonomischer<br />
Mensch den entgangenen Nutzen bedauert.<br />
Eduard Spranger, <strong>der</strong> große Pädagoge <strong>der</strong> ersten Hälfte dieses<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts, nennt diese Reaktionen auf die Umwelt Lebensformen.<br />
In ihnen aktualisiert sich eine mögliche Betrachtungsweise <strong>der</strong><br />
Umwelt. Spranger nennt daher seine Lebensformen auch aktualisierte<br />
Gegenstandsschichten 68 .<br />
Der Gegenstand, hier <strong>der</strong> Wasserfall, weckt eine bestimmte<br />
Schicht im Menschen.<br />
Eine bestimmte gleichartige Wahrnehmung löst in den Betrachtern<br />
ungleichartige Vorstellungen aus.<br />
Mit dieser Erkenntnis möchte ich die heutige Stunde beenden,<br />
nicht ohne Ihnen eine Lektüre als Hausaufgabe für die nächste<br />
Stunde aufzugeben.<br />
Lesen Sie von Antoine de Saint-Exupéry Der kleine Prinz und<br />
bringen Sie bitte diese Lektüre zur nächsten Stunde mit.”<br />
68 Eduard Spranger, Lebensformen, S. 96ff. Tübingen 1950
a) Ichentfaltung<br />
„Der kleine Prinz verlässt seinen Planeten, um an<strong>der</strong>e Planeten<br />
kennen zu lernen. Ist <strong>der</strong> kleine Prinz ein Astronaut? O<strong>der</strong> was<br />
meint <strong>der</strong> Dichter mit diesem Bild?”<br />
„Je<strong>der</strong> Mensch lebt in seiner eigenen Welt. <strong>Die</strong> Welt des kleinen<br />
Prinzen ist bisher klein. Ich glaube”, so meint Klara, „<strong>der</strong> kleine<br />
Prinz will wissen, wie an<strong>der</strong>e Menschen die Welt anschauen.”<br />
„Klaus, versuchen Sie bitte die Welt des Säufers zu deuten!”<br />
Klaus rezitierte:<br />
„‚Was machst du da?’, fragte er den Säufer.<br />
‚Ich trinke’, antwortete <strong>der</strong> Säufer.<br />
‚Warum trinkst du?’, fragte ihn <strong>der</strong> kleine Prinz<br />
‚Um zu vergessen’, antwortete <strong>der</strong> Säufer<br />
‚Um was zu vergessen?’, erkundigte sich <strong>der</strong> kleine Prinz<br />
‚Um zu vergessen, dass ich mich schäme.’<br />
‚Weshalb schämst du dich?’<br />
‚Weil ich saufe!’, endete <strong>der</strong> Säufer 69<br />
Bei diesem Menschen sehe ich das Bild des die Welt mit seinen<br />
<strong>Wurzel</strong>n umklammernden Affenbrotbaumes vor mir.<br />
Auf dem Planeten des kleinen Prinzen gab es fürchterliche<br />
Samen. Und das waren die Samen <strong>der</strong> Affenbrotbäume. Der Boden<br />
des Planeten war voll davon. Aber einen Affenbrotbaum kann man,<br />
wenn man sich seiner zu spät annimmt, nie mehr loswerden. Er<br />
bemächtigt sich des ganzen Planeten. Er durchdringt ihn mit seinen<br />
<strong>Wurzel</strong>n. Und wenn <strong>der</strong> Planet zu klein ist und die Affenbrotbäume<br />
zu zahlreich werden, sprengen sie ihn 70 .<br />
69 Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz, S. 42ff., Düsseldorf 1998<br />
70 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 21ff.
<strong>Die</strong>ser Mensch ist <strong>der</strong> Alkoholsucht verfallen und kommt davon<br />
nicht los. Ich glaube, das gilt auch für Rauschgiftsüchtige, die mit<br />
ihrer Lebenssituation nicht fertig geworden sind und Zuflucht im<br />
Rausch des Vergessens suchen.”<br />
„Einverstanden?” Frau Dr. Rifenkoek blickte in die Runde.<br />
Nach dem beifälligen Nicken wandte sie sich an Silvia:<br />
„Bitte, lesen Sie uns auszugsweise den Besuch beim König vor<br />
und versuchen Sie dann seine Welt zu erklären.<br />
‚Ah! Sieh da, ein Untertan’ rief <strong>der</strong> König, als er den kleinen<br />
Prinzen sah. Und <strong>der</strong> kleine Prinz fragte sich:<br />
Wie kann er mich kennen, da er mich noch nie gesehen hat?<br />
Er wusste nicht, dass für die Könige die Welt etwas<br />
höchst Einfaches ist. Alle Menschen sind Untertanen.<br />
‚Herr …, worüber herrscht Ihr?’<br />
‚Über alles’, antwortete <strong>der</strong> König mit großer Einfachheit 71 .<br />
Für den König besteht die Welt aus Untertanen. Überträgt man<br />
das auf die Welt, in <strong>der</strong> wir leben, so ist damit, so vermute ich, <strong>der</strong><br />
Herrschsüchtige gemeint, <strong>der</strong> alle kommandieren muss und keine<br />
an<strong>der</strong>e Meinung gelten lassen will.”<br />
„Frank, was ist mit dem Eitlen?”<br />
‚Ah, ah, schau, schau, ein Bewun<strong>der</strong>er kommt zu Besuch!’, rief <strong>der</strong><br />
Eitle von weitem, sobald er des kleinen Prinzen ansichtig wurde.<br />
Denn für die Eitlen sind die an<strong>der</strong>en Leute Bewun<strong>der</strong>er.<br />
‚Sie haben einen spaßigen Hut auf.’<br />
‚Er ist zum Grüßen, wenn man mir zujauchzt. Schlag deine<br />
Hände zusammen’, empfahl ihm <strong>der</strong> Eitle.<br />
Der kleine Prinz schlug seine Hände gegeneinan<strong>der</strong>.<br />
Der Eitle grüßte bescheiden, indem er seinen Hut lüftete.<br />
‚Und was muss man tun, damit <strong>der</strong> Hut herunter fällt?’<br />
Aber <strong>der</strong> Eitle hörte ihn nicht. <strong>Die</strong> Eitlen hören immer nur<br />
die Lobreden 72<br />
71 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 34ff.<br />
72 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 40ff.
Sein Lebensziel ist, bewun<strong>der</strong>t zu werden. Solche Menschen<br />
plustern sich in <strong>der</strong> Gesellschaft auf wie ein Pfau, nur um den<br />
Beifall des Publikums willen. Ich glaube, solche Menschen sehen<br />
Kritik an ihrer Meinung o<strong>der</strong> an ihrem Handeln als Denkmalschändung<br />
an.”<br />
„Konrad, besuchen Sie den Geschäftsmann und sagen Sie uns<br />
dazu Ihre Meinung!”<br />
‚Und was machst du mit diesen Sternen?’<br />
‚Was ich damit mache?’<br />
‚Ja!’<br />
‚Nichts. Ich besitze sie.’<br />
‚Du besitzt die Sterne?’<br />
‚Ja!’<br />
‚Aber ich habe schon einen König gesehen, <strong>der</strong> …’<br />
‚Könige besitzen nicht, sie regieren über, das ist etwas<br />
ganz an<strong>der</strong>es.’<br />
‚Und was hast du davon, die Sterne zu besitzen?’<br />
‚Das macht mich reich.’<br />
‚Und was hast du vom Reichsein?’<br />
‚Weitere Sterne kaufen, wenn jemand welche findet.’ 73<br />
Ich glaube, das ist <strong>der</strong> Junge vom Wasserfall, <strong>der</strong> die verlorengehenden<br />
PS bedauert und zeit seines Lebens von dieser Anschauung<br />
nicht mehr losgekommen ist. Verstärkt sich diese Einstellung,<br />
so wird sie zur Habsucht. <strong>Die</strong>se Typen sind neidisch, karrieregeil<br />
und gebrauchen rücksichtslos um finanzieller Vorteile willen ihre<br />
Ellenbogen.”<br />
„In all diesen Fällen handelt es sich hier um eine Versteinerung<br />
<strong>der</strong> Spranger’schen Lebensformen”, fasste Frau Dr. Rifenkoek zusammen.<br />
„Wir wollen uns in <strong>der</strong> nächsten Stunde mit diesen Vorgängen<br />
genauer beschäftigen. Sigmund Freud, <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Psychoanalyse,<br />
weiß uns mehr davon zu berichten.<br />
73 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 43ff.
Ich suche einen Freiwilligen, <strong>der</strong> uns zur Einführung in die<br />
nächste Stunde ein Kurzreferat über das ES, ICH und ÜBER-ICH<br />
hält. Literatur findet er hier in <strong>der</strong> Bibliothek. Detlef, <strong>der</strong> sich bisher<br />
an den Diskussionen noch nicht beteiligt hatte, meldete sich.<br />
Detlef begann sein Referat in <strong>der</strong> nächsten Stunde mit dem Begriff<br />
des ES.<br />
„Der Ausdruck ES wurde eingeführt von dem Psychoanalytiker<br />
Georg Groddeck, 1866 geboren und 1934 gestorben:<br />
Das ES ist das Insgesamt <strong>der</strong> Triebe und Leidenschaften, die als<br />
naturhafte Kräfte vom Leibe her die menschliche Lebensführung<br />
bestimmen.<br />
Es hat mich übermannt<br />
Es hat mich dazu gedrängt<br />
Es gab für mich keinen an<strong>der</strong>en Ausweg<br />
Das ES ist unbewusst und strebt nach einer unmittelbaren und<br />
vollständigen Abfuhr <strong>der</strong> Triebenergie. Es wird als Drang erlebt,<br />
meist in Verbindung mit einer Zielvorstellung. <strong>Die</strong> Befriedigung des<br />
Triebes verschafft Lust, bleibt <strong>der</strong> Trieb unbefriedigt, entsteht Unlust.<br />
Schon Heinrich Gossen hatte in <strong>der</strong> Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
erkannt, dass die Wertvorstellung eines Gutes mit zunehmen<strong>der</strong><br />
Befriedigung abnimmt und nahm damit die subjektive Wertvorstellung<br />
in <strong>der</strong> Volkswirtschaftslehre vorweg.<br />
Bei Schopenhauer finden wir das ES als die Summe aller unbewussten<br />
Lebenskräfte in Gestalt des Willens. Nach seiner Ansicht<br />
denkt <strong>der</strong> Intellekt immer nur das, was <strong>der</strong> Wille will.<br />
Wir meinen unser Leben zu planen und zu lenken, aber wir<br />
werden von Drängen und Trieben gelebt. Genauere Lebenskenntnis<br />
lehrt, dass man zwar ICH sagt, aber dass es das ES ist, welches<br />
handelt.”<br />
Hier unterbrach Frau Dr. Rifenkoek das Referat:<br />
„Detlef, bevor Sie zum ICH kommen, erscheint es mir wichtig,<br />
einige Verständnisfragen zu stellen.
Was wissen Sie vom 1. Gossen`schen Gesetz? Ja, Michael?”<br />
„Der Nutzwert eines Gutes nimmt mit zunehmendem Verzehr<br />
dieses Gutes ab.<br />
Für einen Verdurstenden hat Wasser einen unschätzbar hohen<br />
Nutzwert. Ist sein Durst gestillt, sinkt <strong>der</strong> Nutzwert des Wassers<br />
als Durststillmittel gegen Null.”<br />
„Was Gossen vorweg erkannt hat”, fasste Frau Dr. Rifenkoek<br />
zusammen, „ist <strong>der</strong> Tatbestand, dass nicht befriedigte Triebe eine<br />
hohe Reizschwelle haben, die mit <strong>der</strong> Befriedigung abgebaut wird.<br />
Wenn aber die Triebbefriedigung die Reizschwellen sinken lassen,<br />
wie kommt es dann, dass die Reizschwellen beim König, beim<br />
Eitlen und beim Geschäftsmann nicht sinken, son<strong>der</strong>n, wie Spranger<br />
es nennt, versteinerte Lebensformen sind.?”<br />
„Es handelt sich meines Erachtens nach um Suchtphänomene”,<br />
meinte Karin.<br />
„Gut, über die Ursachen werden wir uns später unterhalten.<br />
Lassen wir nun aber Detlef über das ICH referieren.”<br />
„Das ICH ist die allgemeine Bezeichnung für den Kern o<strong>der</strong> die<br />
Struktur <strong>der</strong> Persönlichkeit.<br />
Das ICH steuert bewusst o<strong>der</strong> unbewusst die Erlebnisse und<br />
Handlungen einer Person.<br />
<strong>Die</strong> bewussten Ich-Funktionen sind die Wahrnehmung, die Erinnerung,<br />
das Denken, Planen und Lernen. <strong>Die</strong> unbewussten Ich-<br />
Funktionen sind die Abwehr gegenüber dem ES, die Abwehr gegenüber<br />
dem ÜBER-ICH und die Bewältigung <strong>der</strong> Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
in <strong>der</strong> Außenwelt.<br />
<strong>Die</strong> Ich-Funktionen sind teilweise angeboren, teilweise bilden sie<br />
sich erst im Laufe <strong>der</strong> Entwicklung heraus.”<br />
„<strong>Die</strong> unbewussten Ich-Funktionen sind die Abwehr gegenüber<br />
dem ES …”, zitierte Frau Dr. Rifenkoek aus dem Referat.<br />
„Klaus, Sie haben in <strong>der</strong> letzten Stunde zitiert, welche Gefahren<br />
die Affenbrotbäume, das Suchtphänomen, für den Menschen dar-
stellen. Suchen Sie doch bitte diese Stelle in <strong>der</strong> Lektüre auf und<br />
lesen Sie uns den darauf folgenden Absatz vor.”<br />
„‚Es ist eine Frage <strong>der</strong> Disziplin’, sagte mir später <strong>der</strong> kleine Prinz.<br />
‚Wenn man seine Morgentoilette beendet hat,<br />
muss man sich ebenso sorgfältig an die Toilette des Planeten<br />
machen.<br />
Man muss sich regelmäßig dazu zwingen,<br />
die Sprösslinge <strong>der</strong> Affenbrotbäume auszureißen,<br />
sobald man sie von den Rosensträuchern unterscheiden kann,<br />
denen sie in <strong>der</strong> Jugend sehr ähnlich sehen.<br />
Das ist eine zwar langweilige, aber leichte Arbeit.’” 74<br />
„Noch ist das eine bewusste Ich-Funktion”, deutete Frau Dr.<br />
Rifenkoek den letzten Satz des Zitates.<br />
„Wann werden Bewegungsabläufe unbewusst?”<br />
„Wenn wir sie oft wie<strong>der</strong>holen, wenn sie uns zur Gewohnheit<br />
werden”, meinte Sarah.<br />
Frau Dr. Rifenkoek nahm die Lektüre zur Hand und rezitierte:<br />
‚Zeichne mir ein Schaf!’ …<br />
Also habe ich gezeichnet …<br />
‚Nein, das ist schon sehr krank. Mach ein an<strong>der</strong>es!’<br />
Ich zeichnete.<br />
‚Du siehst wohl, das ist kein Schaf, das ist ein Wid<strong>der</strong>. Es hat<br />
Hörner.’<br />
Mir ging die Geduld aus.<br />
‚Das ist die Kiste. Das Schaf, das du willst, steckt da drin.’<br />
‚Das ist ganz so, wie ich es mir gewünscht habe.<br />
Meinst du, dass dieses Schaf viel Gras braucht?’” 75<br />
„Sarah, was meinen Sie, verkörpert das Schaf?”<br />
„Unsere Gewohnheiten.”<br />
„Und solche, wie das virtuelle Schaf zeigt, keine von außen anerzogene<br />
Gewohnheiten, son<strong>der</strong>n solche, die wir selbst entwickelt<br />
haben”, ergänzte Frau Dr. Rifenkoek.<br />
74 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 22ff.<br />
75 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 9ff.
Sie nahm die Lektüre wie<strong>der</strong> zur Hand und las:<br />
„‚Wenn ein Schaf Sträucher frisst, so frisst es doch auch die<br />
Blumen?’<br />
‚Ein Schaf frisst alles, was ihm vors Maul kommt.’<br />
‚Auch die Blumen, die Dornen haben?’<br />
‚Ja. Auch die Blumen, die Dornen haben.’<br />
‚Wozu haben sie dann die Dornen?’<br />
‚Wie du siehst, beschäftige ich mich mit wichtigeren Dingen.’<br />
‚Mit wichtigeren Dingen! …<br />
Du verwechselst alles, du bringst alles durcheinan<strong>der</strong>. …<br />
Wenn einer eine Blume liebt, die es nur ein einziges Mal gibt auf<br />
allen Millionen und Millionen Sternen, dann genügt es ihm völlig,<br />
dass er zu ihnen hinaufschaut, um glücklich zu sein.<br />
Er sagt sich: Meine Blume ist da oben, irgendwo. …<br />
Wenn aber das Schaf die Blume frisst, so ist es für ihn,<br />
als wären plötzlich alle Sterne ausgelöscht!<br />
Und das soll nicht wichtig sein?’ 76 ”<br />
„Wenn ich das richtig verstanden habe”, meldete sich Karla<br />
zu Wort, „besteht also die Gefahr, dass unsere unbewussten<br />
Ich-Funktionen, die Gewohnheiten, keimhafte bewusste Ich-<br />
Funktionen unterbinden können.”<br />
„Richtig Karla. Lesen Sie uns unter diesem Aspekt mal die<br />
Dialoge des kleinen Prinzen mit dem Laternenanzün<strong>der</strong> vor.”<br />
„‚Guten Tag. Warum hast du deine Laterne eben ausgelöscht?’<br />
‚Ich habe die Weisung’, antwortete <strong>der</strong> Laternenanzün<strong>der</strong>.<br />
‚Guten Tag.’<br />
‚Was ist das, die Weisung?’<br />
‚<strong>Die</strong> Weisung, meine Laterne auszulöschen. Guten Abend.’<br />
Und er zündete sie wie<strong>der</strong> an.<br />
‚Aber warum hast du sie soeben wie<strong>der</strong> angezündet?’<br />
‚Das ist die Weisung’, antwortete <strong>der</strong> Anzün<strong>der</strong>.<br />
76 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 25ff.
‚Ich verstehe nicht’, sagte <strong>der</strong> kleine Prinz.<br />
‚Da ist nichts zu verstehen’, sagte <strong>der</strong> Anzün<strong>der</strong>.<br />
‚<strong>Die</strong> Weisung ist eben die Weisung, Guten Tag.’<br />
Und er löschte seine Laterne wie<strong>der</strong> aus …<br />
‚Weißt du, ich kenne ein Mittel, wie du dich ausruhen könntest,<br />
wenn du wolltest …’<br />
‚Ich will immer’, sagte <strong>der</strong> Anzün<strong>der</strong>.<br />
Denn man kann treu und faul zugleich sein. 77 ”<br />
Maria versuchte sich an einer Deutung.<br />
„Es wird gesagt, seine Welt ist die kleinste. Er befolgt einen Befehl,<br />
ohne zu fragen, wie sinnvoll dieser Befehl noch ist.<br />
Das erinnert mich an eine Anekdote, die ich einmal gelesen habe.<br />
Danach trifft zu Anfang dieses Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>der</strong> Zar Nikolaus<br />
an einer entfernten Stelle seines Schlossparks einen dort Wache<br />
stehenden Soldaten. We<strong>der</strong> <strong>der</strong> Soldat selbst noch ein Vorgesetzter<br />
konnte ihm sagen, warum dort Wache geschoben wurde.<br />
Nachforschungen ergaben, dass 150 Jahre vorher Katharina die<br />
Große dort zu Beginn des Frühlings die ersten Schneeglöckchen<br />
gesehen hat und einen Wachsoldaten dorthin beor<strong>der</strong>t hat, damit<br />
keiner diese Blümchen abpflückt.<br />
Der Laternenanzün<strong>der</strong> tut seine Arbeit nicht aus Überzeugung.<br />
Er übt stur seine einmal angeeignete Tätigkeit aus.<br />
Übertragen auf heutige Verhältnisse sind das Menschen, die genormte;<br />
übernommene Vorstellungen haben und in einer Welt leben,<br />
die klein wie ein Schrebergarten ist. Bei gesellschaftlichen<br />
Verän<strong>der</strong>ungen werden sie die Verlierer sein, weil sie sich nicht<br />
anpassen können.”<br />
„Gut, noch Bemerkungen? Nicht?” Frau Dr. Rifenkoek schaute<br />
auf die Uhr.<br />
„Mit den bewussten Ich-Funktionen werden wir uns in <strong>der</strong><br />
nächsten Stunde beschäftigen.<br />
77 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 48ff.
„Detlef, zitieren Sie uns bitte den letzten Satz aus Ihrem Referat<br />
über das ICH”, for<strong>der</strong>te die Kursleiterin zu Beginn <strong>der</strong> nächsten<br />
Philosophiestunde ihren Referenten auf.<br />
„<strong>Die</strong> Ich-Funktionen sind teilweise angeboren, teilweise bilden<br />
sie sich erst im Laufe <strong>der</strong> Entwicklung heraus.”<br />
„Wie entwickelt sich eigentlich ein Kleinkind? Für die eigene<br />
Entwicklung fehlt einem in diesem frühen Stadium das Bewusstsein.<br />
Aber hat einer von Ihnen eine jüngere Schwester o<strong>der</strong> einen<br />
Bru<strong>der</strong>?”<br />
Nach einem Augenblick des Schweigens in <strong>der</strong> Gruppe meldete<br />
sich Karin:<br />
„Als ich acht Jahre alt war, kam meine Schwester Sofie zur<br />
Welt. Ich weiß noch, dass ich furchtbar eifersüchtig war, denn alle<br />
Liebe und Fürsorge, die bisher mir, dem einzigen Kind, gegolten<br />
hatte, wandten sich nun dem Neuankömmling zu.<br />
Als meine Eltern mein verän<strong>der</strong>tes Verhalten bemerkten, haben<br />
sie mir keine moralische Standpauke gehalten, was, aus meiner<br />
heutigen Sicht, meine innere Ablehnung noch verstärkt hätte, son<strong>der</strong>n<br />
sie haben mich behutsam in die Fürsorge meiner Schwester<br />
eingebunden.<br />
Ich war stolz, dass ich die nassen Windeln wechseln durfte, dass<br />
ich die Kleine füttern und sie im Kin<strong>der</strong>wagen spazieren führen<br />
durfte. Und ich lernte, dass dieses schreiende, nässende Etwas<br />
nicht nur Nahrung und saubere Windeln, son<strong>der</strong>n auch viel Geduld<br />
und Liebe brauchte.<br />
Beson<strong>der</strong>s Geduld. Ich weiß noch, als sie laufen konnte, habe<br />
ich sie stets an <strong>der</strong> Hand festgehalten, auch wenn sie sich losreißen<br />
wollte, aus Angst sie könnte fallen. Bis mich mein Vater darauf<br />
aufmerksam machte, man müsse auch loslassen können. Das Kind<br />
müsse schließlich die Erfahrung machen, dass man auch fallen<br />
kann. Was ich mache, sei Dressur und führe nur zur Unsicherheit<br />
bei meiner Schwester.<br />
Es gab eine Zeit, da war sie vier o<strong>der</strong> fünf Jahre alt, da wollte sie<br />
nichts mehr von mir wissen, da hatte sie sich auch innerlich von
mir losgerissen. Als ich mich darüber bei meiner Mutter beklagte,<br />
sagte sie mir, auch ich habe in dem Alter allein sein wollen. Das sei<br />
die Märchenphase, in <strong>der</strong> die Kin<strong>der</strong> in einer Traumwelt lebten.<br />
<strong>Die</strong> müsse man sie ausleben lassen, das sei für ihre spätere Kreativität<br />
und Spontaneität sehr wichtig.<br />
Heute ist meine Schwester eine selbstbewusste Zehnjährige, die<br />
weiß, was sie will. Rückblickend muss ich sagen, dass auch ich in<br />
dieser Zeit viel für mich selbst dazu gelernt habe.”<br />
„Ich danke Ihnen, Karin. Besser konnte man die Entwicklung<br />
gelungener Ich-Funktionen nicht schil<strong>der</strong>n.<br />
Aber was ist, wenn dieser Prozess nicht so reibungslos verläuft?”<br />
Frau Dr. Rifenkoek wandte sich Detlef zu.<br />
„Ich glaube, Detlef, jetzt ist es an <strong>der</strong> Zeit, Ihr Referat mit dem<br />
Bericht über das ÜBER-ICH abzuschließen.”<br />
„Das ÜBER-ICH vertritt die moralischen Maßstäbe, Werte<br />
und Einstellungen in <strong>der</strong> Persönlichkeit, die aus <strong>der</strong> Familie und<br />
Gesellschaft übernommen werden.<br />
Gegenüber dem ICH hat das ÜBER-ICH die Rolle des Richters,<br />
gegenüber dem ES wehrt es wie ein Zensor alle Triebregungen<br />
ab. Aus Konflikten zwischen dem ÜBER-ICH, ICH und ES<br />
entstehen Verdrängungen, Depressionen, Phobien, Neurosen usw.<br />
„Das ÜBER-ICH vertritt die moralischen Maßstäbe <strong>der</strong> Familie”,<br />
rezitierte die Kursleiterin.<br />
„Erinnern Sie sich, was Karins Vater sagte, als sie ihre kleine<br />
Schwester bei <strong>der</strong>en Laufversuchen nicht loslassen wollte?<br />
Irgendein ein Philosoph hat einmal gesagt:<br />
Gewalt maskiert sich als Liebe und schleicht sich in die Erziehung<br />
ein, so dass Kin<strong>der</strong> liebevoll ihrer eigenen Welterfahrung beraubt<br />
werden an <strong>der</strong>en Stelle wird die Erfahrung von erlebnisunfähigen<br />
Eltern eingesetzt.<br />
Sartre hat daraus geschlossen:<br />
Kin<strong>der</strong> werden frühzeitig zu ihren eigenen Großvätern gemacht.
Alexan<strong>der</strong> Mitscherlich, <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitige Direktor des Sigmund-<br />
Freud-Instituts in Frankfurt, erklärt es so:<br />
Werden Kin<strong>der</strong> in kurzen, gewaltsamen Lernprozessen gezwungen,<br />
sich bestimmten For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Erwachsenenwelt anzupassen,<br />
so endet an dieser Stelle Bildung, als eine Suchbewegung nach<br />
Wissen und nach den Methoden, Erfahrung zu prüfen.<br />
An ihre Stelle tritt sozialer Gehorsam.<br />
<strong>Die</strong> Intensität des Erkenntniswunsches wird durch das Suchverbot<br />
des Vorurteils ins Unbewusste verdrängt und bejaht dort<br />
als terroristisches Gewissen das übernommene Vorurteil als<br />
etwas Eigenes.<br />
<strong>Die</strong> verdrängten Triebwünsche überspringen jedoch manchmal<br />
das terroristische Gewissen. Und dann tritt das ein, was Nietzsche<br />
so umschreibt:<br />
‚Das hab ich getan’, sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht<br />
getan haben,’ sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich<br />
gibt das Gedächtnis nach.<br />
Neben den Lernprozessen gibt es aber noch etwas, was die Psychologen<br />
Prägung nennen.<br />
Christine hat in <strong>der</strong> ersten Stunde die These aufgestellt, Vorstellungen<br />
seien Erinnerungen früherer Erlebnisse. Folgen wir dieser<br />
These, dann stellt sich die Frage, wie intensiv waren diese Erlebnisse<br />
und wie waren die Begleitumstände dieser Erlebnisse.<br />
Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat gerade aus dem Ei<br />
geschlüpfte Graugänse aufgezogen, mit <strong>der</strong> Wirkung, dass diese<br />
jungen Graugänse ihn als ihre Mutter ansahen und ihm überallhin<br />
nachfolgten. <strong>Die</strong>se Vorstellung, dass <strong>der</strong> Verhaltensforscher ihre<br />
Mutter sei, hat sich bei den Jungen gebildet, weil er die erste Bezugsperson<br />
ihres Lebens war.<br />
<strong>Die</strong> Entwicklungspsychologen nennen diesen Vorgang Prägung.<br />
So wie in eine Münze durch einen Stempel Zahl o<strong>der</strong> Krone eingeprägt<br />
werden, so entsteht auch hier schlagartig das Gesamtbild<br />
<strong>der</strong> Mutter. <strong>Die</strong> entstehende Beziehung des Babys zu seiner Mutter<br />
ist auch ein Prägungsvorgang.
Wir halten also fest, Prägung ist eine schlagartige intensive Erinnerung<br />
von Erlebnissen. Glauben Sie, dass auch in späteren Lebensaltern<br />
noch solche Prägungsvorgänge stattfinden können? Und<br />
können Sie mir Beispiele nennen?”<br />
„Wenn man einmal in Todesgefahr geschwebt hat, dann bleibt<br />
das Erlebnis auch später noch bildhaft haften”, meinte Maria.<br />
„Ich glaube, auch die erste große Liebe ist ein solcher Prägungsvorgang”,<br />
war Klaus überzeugt. „Seit <strong>der</strong> ersten Begegnung hat<br />
man ständig das Erscheinungsbild <strong>der</strong> geliebten Person vor Augen.”<br />
„Frau Doktor, sind eigentlich auch die studentischen Maoisten<br />
und radikalen Fanatiker unserer Tage durch ihre Heilslehre geprägt?<br />
Soweit ich das erlebe, sind sie keiner Argumentation zugänglich”,<br />
fragte Peter.<br />
„Ja Peter, auch das ist ein Prägungsvorgang. So wie bei <strong>der</strong> ersten<br />
großen Liebe jede Kritik an <strong>der</strong> geliebten Person bei dem Liebenden<br />
abprallt, so sind Fanatiker einer Heilslehre immun gegen<br />
rationale Einwände.<br />
Wichtig ist festzuhalten, Prägungen sind Vorurteile, denn sie<br />
treffen den Menschen, ohne dass <strong>der</strong> Verstand vorher eingeschaltet<br />
wird. Sie treffen beson<strong>der</strong>s Menschen, <strong>der</strong>en persönlicher Reifegrad<br />
nicht ihrem Alter entspricht, bei denen die Entwicklung <strong>der</strong><br />
Ich-Funktionen irgendwie gestört wurde.<br />
Nur wenn Kin<strong>der</strong> nicht gezwungen werden, in kurzen gewaltsamen<br />
Lernprozessen sich bestimmten For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Erwachsenenwelt<br />
zu beugen, kann es dem ICH gelingen, die Warum-Frage<br />
zu stellen, ohne dass die Antwort schon vorher feststeht.<br />
Damit kann das Gewissen, als Teil des ICHs, und nicht des<br />
ÜBER-ICHs, sich zunehmend seiner eigenen Geschichte und <strong>der</strong><br />
Fragwürdigkeit eigenen Verhaltens erinnern.<br />
Nur dadurch gewinnt <strong>der</strong> Mensch die Sicherheit, sich selbst<br />
verzeihend zu begegnen und an<strong>der</strong>en verzeihen zu können.<br />
‚Jet jeck sin mer all, maar jede Jeck is an<strong>der</strong>s!’<br />
formuliert es Professor Lützeler in seiner Psychologie des Kölner<br />
Humors.
„Welche Rolle spielt eigentlich die Schlange in <strong>der</strong> Lektüre<br />
vom kleinen Prinzen?”<br />
Mit dieser Frage eröffnete Frau Dr. Rifenkoek die nächste Philosophiestunde.<br />
„Direkt im ersten Kapitel tritt die Schlange als etwas auf, das in<br />
sich etwas Verborgenes enthält, so dass oberflächliche Betrachter<br />
die Zeichnung als einen Hut deuten”, analysiert Frank.<br />
„Im siebzehnten Kapitel trifft <strong>der</strong> kleine Prinz eine Schlange in<br />
<strong>der</strong> Wüste, die zu ihm sagt:<br />
Ich kann dich weiter wegbringen als ein Schiff …<br />
Und<br />
Ich kann dir eines Tages helfen,<br />
wenn du dich zu sehr nach deinem Planeten sehnst, 78<br />
was sie gegen Ende des sechsundzwanzigsten Kapitels denn<br />
auch tut.<br />
Das erinnert mich an die Schöpfungsgeschichte in <strong>der</strong> Bibel, wo<br />
Adam und Eva, nachdem sie, von <strong>der</strong> Schlange verführt, die Frucht<br />
vom Baum <strong>der</strong> Erkenntnis essen, aus dem Paradies vertrieben werden.<br />
Wenn du dich zu sehr nach deinem Planeten sehnst, meint<br />
wohl, wenn du zu dir selbst kommen willst, muss das Kindhafte in<br />
dir sterben.”<br />
Maria meldete sich:<br />
„Den Klostergarten des Klosters Marienthal bei Wesel verschließt<br />
ein Tor, dessen Griff einen Drachen darstellt und dessen<br />
schmiedeeisernes Gitter den Spruch bildet:<br />
MORS PORTA VITAE<br />
Der Tod ist das Tor zum Leben<br />
Ich habe das bisher so gedeutet, dass <strong>der</strong> irdische Tod uns zum<br />
ewigen Leben führt. Aber, nachdem was Frank sagt, kann das ja<br />
auch das Sterben früherer Vorstellungen sein, um zu reiferen Erkenntnissen<br />
zu gelangen.”<br />
78 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 58
Frau Dr. Rifenkoek nickte zustimmend.<br />
„Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Ausspruch des englischen<br />
Kardinals Newman aus dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t zitieren:<br />
Hier auf Erden leben<br />
heißt sich wandeln,<br />
… und vollkommen sein,<br />
heißt, sich oft gewandelt haben.<br />
Sie stehen mittendrin in solchen Wandlungsprozessen. Ob sie<br />
zu vollkommenerem Dasein führen, wird die Zukunft zeigen. O<strong>der</strong><br />
um es mit den Worten Saint-Exupérys zu sagen:<br />
Ich habe vergessen,<br />
an den Maulkorb, den ich für den kleinen Prinzen gezeichnet habe,<br />
einen Le<strong>der</strong>riemen zu machen!<br />
Es wird ihm nie gelungen sein, ihn dem Schaf anzulegen.<br />
So frage ich mich:<br />
Was hat sich auf dem Planeten wohl ereignet?<br />
Vielleicht hat das Schaf doch die Blume gefressen …<br />
Das eine Mal sage ich mir: Bestimmt nicht!<br />
Der kleine Prinz deckt seine Blume jede Nacht mit seinem<br />
Glassturz zu und er gibt auf sein Schaf gut Acht.<br />
Dann bin ich glücklich. Und alle Sterne lachen leise.<br />
Dann wie<strong>der</strong> sage ich mir:<br />
Man ist das eine o<strong>der</strong> das an<strong>der</strong>e Mal zerstreut, und das genügt!<br />
Er hat eines Abends die Glasglocke vergessen o<strong>der</strong><br />
das Schaf ist eines Nachts lautlos entwichen.<br />
Dann verwandeln sich die Schellen alle in Tränen! 79 .<br />
Damit sind wir zum Ende <strong>der</strong> philosophischen Frage ‚Wer sind<br />
wir?’ gekommen, bei <strong>der</strong> uns Antoine de Saint-Exupéry mit seinem<br />
kleinen Prinzen begleitet hat.<br />
In <strong>der</strong> nächsten Stunde wollen wir uns <strong>der</strong> philosophischen<br />
Frage ‚Woher kommen wir?’ zuwenden.<br />
79 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 89ff.
) Weltanschauungen<br />
„Nach Karl Jaspers, dem vor kurzem verstorbenen Baseler Philosophen,<br />
ist die Menschheit viermal von neuen Grundlagen ausgegangen:<br />
1. in <strong>der</strong> Vorgeschichte, dem uns kaum mehr zugänglichen<br />
prometheischen Zeitalter, mit <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong> Sprache, <strong>der</strong><br />
Entwicklung <strong>der</strong> Werkzeuge und dem Gebrauch des Feuers;<br />
2. mit <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> Hochkulturen seit ca. 5 000 vor Christi<br />
in Mesopotamien, Indien, Ägypten und China;<br />
3. in <strong>der</strong> sogenannten Achsenzeit, ca. 800 bis 200 vor Christi, in<br />
<strong>der</strong> <strong>der</strong> Menschengeist erst voll zu sich selbst kam.<br />
4. Vom Abendland aus erfolgte dann <strong>der</strong> wissenschaftlichtechnische<br />
Impuls, <strong>der</strong> nicht weniger umwälzend war und nun ausstrahlt<br />
über die ganze Welt. In diesem Geist schließt sich jetzt die<br />
Erde zusammen, und nun erst gibt es wirkliche Weltgeschichte.<br />
<strong>Die</strong> Punkte 1 und 2 interessieren uns hier als geschichtliche<br />
Sachverhalte nicht, <strong>der</strong> erste ist Gegenstand vornehmlich <strong>der</strong><br />
Archäologie, den zweiten haben Sie im Fachunterricht kennen<br />
gelernt.<br />
<strong>Die</strong> Achsenzeit wird uns später bei <strong>der</strong> Frage nach den Gottesvorstellungen<br />
interessieren. Beginnen wir daher mit dem wissenschaftlich-technischen<br />
Impuls.”<br />
Mit diesen Worten legte Frau Dr. Rifenkoek die Schwerpunkte<br />
<strong>der</strong> nächsten Philosophiestunden fest.<br />
„Warum”, so provozierte Frau Dr. Rifenkoek ihre Schüler,<br />
„fand die Neuzeit nur im Abendland statt?”
Bis ins späte Mittelalter hinein wiesen sowohl <strong>der</strong> Orient als<br />
auch China kulturell und technisch den gleichen Standard wenn<br />
nicht verfeinerte Zivilisationsausprägungen auf. Denken Sie an die<br />
Erfindung des Schießpulvers und des Buchdrucks in China o<strong>der</strong><br />
den Gebrauch von Gewürzen im Orient.”<br />
„Ich glaube”, so meinte Detlef, „es hängt mit <strong>der</strong> Befreiung des<br />
abendländischen Menschen aus seiner geistigen Unmündigkeit und<br />
seinen ständischen Fesseln zusammen.”<br />
„Können Sie mir das verdeutlichen?”<br />
„Ich weiß aus einer Exkursion nach Köln, dass die alten Römer<br />
Trinkwasserleitungen von <strong>der</strong> Eifel bis nach Köln verlegt haben”,<br />
sprang Michael seinem Mitschüler bei, „und davon streng getrennt<br />
Abwasserleitungen zum Rhein angelegt haben. <strong>Die</strong> Kölner des<br />
Mittelalters hielten diese Leitungen für Weinleitungen des Bischofs<br />
von Trier an den Erzbischof von Köln 80 . Ihr Trinkwasser<br />
bezogen sie aus Brunnen, die dicht neben den Fäkaliengruben lagen.<br />
<strong>Die</strong> dadurch verursachten Seuchen hielten sie für eine Strafe<br />
Gottes.”<br />
Frank ergänzte:<br />
„Noch in <strong>der</strong> Mitte des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts musste Galilei vor<br />
dem Inquisitionsgericht zurücknehmen, dass sich die Erde um die<br />
Sonne drehe, weil das <strong>der</strong> kirchlichen Anschauung von <strong>der</strong> Erde als<br />
dem Mittelpunkt <strong>der</strong> Welt wi<strong>der</strong>sprach.”<br />
„Wir haben im Religionsunterricht über Descartes gesprochen”,<br />
erinnerte sich Maria, „und darüber diskutiert, welche Folgen es<br />
gehabt hat, dass Descartes neben <strong>der</strong> unendlichen Substanz, nämlich<br />
Gott, eine endliche Substanz mit den zwei Klassen, Geist und<br />
Körper unterschied. Das Ergebnis war, dass es seitdem neben <strong>der</strong><br />
Geisteswissenschaft eine unabhängige Naturwissenschaft gibt.”<br />
„Wir dürfen nicht vergessen”, gab Karl zu bedenken, „dass<br />
80 Waldemar Haberey, <strong>Die</strong> römischen Wasserleitungen nach Köln, S.106ff, Bonn 1971
durch die Reformation die wirtschaftliche Selbständigkeit des Einzelnen<br />
geför<strong>der</strong>t wurde. Beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Calvinismus sah im wirtschaftlichen<br />
Erfolg ein Zeichen <strong>der</strong> Gottwohlgefälligkeit.”<br />
„Damit wären die philosophischen <strong>Wurzel</strong>n für die Befreiung<br />
aus <strong>der</strong> geistigen Unmündigkeit, von <strong>der</strong> Detlef sprach, hinreichend<br />
verdeutlicht”,<br />
fasste die Kursleiterin die Diskussionsbeiträge zusammen.<br />
Sie hielt inne. Der Gedanke, <strong>der</strong> durch ihren Kopf schoss, erzeugte<br />
ein verschmitztes Lächeln.<br />
„Man stelle sich einmal vor, die von Thales, Demokrit, Archimedes<br />
und an<strong>der</strong>en Naturphilosophen so erfolgreich begonnenen<br />
Forschungen seien nicht durch die Vorstellungen vom Gottesstaat<br />
fast eineinhalb Jahrtausende unterbrochen worden.<br />
Karl <strong>der</strong> Große hätte Heizung und elektrisches Licht gehabt,<br />
die deutschen Kaiser hätten sich telephonisch mit dem Papst über<br />
den Krönungstermin in Rom abgestimmt, ehe sie mit dem Zug<br />
o<strong>der</strong> dem Flugzeug nach Rom gekommen wären.<br />
Ernsthaft, wenn man sich das vorstellt, kann man den Ausspruch<br />
von Nietzsche verstehen, dass dieser säkulare Prozess <strong>der</strong><br />
Menschheit unsäglichen Schaden zugefügt hat.<br />
Nietzsche warf dem Christentum vor, dass es ein ‚Sklavenaufstand’<br />
gegen die Werte des Lebens sei. Im Sinne einer Ressentimentreaktion<br />
entwerteten die Armen und Unterdrückten <strong>der</strong> Antike<br />
alle echte Daseinsexpansion. Sie proklamierten die<br />
Gegenwerte <strong>der</strong> Armut, <strong>der</strong> Keuschheit, des Gehorsams, <strong>der</strong> Lebensabwendung,<br />
<strong>der</strong> Lebensverneinung. Daraus wurden die christliche<br />
Ethik und Moral konstruiert.<br />
Europa war im Mittelalter ein loser Verbund unter <strong>der</strong> Oberherrschaft<br />
<strong>der</strong> katholischen Kirche; in <strong>der</strong> sich Könige, Prinzen<br />
und Lords um die Macht stritten.<br />
<strong>Die</strong> Gesellschaft galt als Abbild <strong>der</strong> göttlichen Schöpfung. <strong>Die</strong><br />
Stufen des Seins reichten vom Himmel mit Gott an <strong>der</strong> Spitze, un-
ter ihm seine Stellvertreter auf Erden, <strong>der</strong> Papst, die Kardinäle und<br />
an<strong>der</strong>e Vertreter des Priesterstandes, über Könige, Fürsten und<br />
Ritter bis hinunter zum Bauer, Pächter und Leibeigenen und noch<br />
tiefer hinab zu allem, was da über die Erde kreucht und fleucht.<br />
Jede Sprosse auf <strong>der</strong> Himmelsleiter gehörte, wie Thomas von<br />
Aquin lehrte, einem Geschöpf Gottes, alle Stufen waren besetzt.<br />
Für Neuerungen, Entwicklungen o<strong>der</strong> Überraschungen war kein<br />
Platz in Gottes vollendetem Plan.<br />
<strong>Die</strong> Welt <strong>der</strong> Kirche war eine straff organisierte Rangfolge. Ihre<br />
Lehren regelten den Umgang untereinan<strong>der</strong> bis ins Kleinste.<br />
‚Befreiung aus den ständischen Fesseln’ hat Detlef als zweites<br />
Argument seiner These genannt. Was können Sie mir dazu sagen?”<br />
„Dazu fällt mir spontan die Französische Revolution ein”, meinte<br />
Peter, „mit ihren Parolen Freiheit, Gleichheit, Brü<strong>der</strong>lichkeit.”<br />
„Aber <strong>der</strong> geistige Boden für diese Revolution muss doch vorher<br />
irgendwie bereitet worden sein. Wo liegen die <strong>Wurzel</strong>n <strong>der</strong> Unzufriedenheit<br />
mit den gesellschaftlichen Verhältnissen?”, bohrte die<br />
Philosophielehrerin weiter.<br />
„Ich habe im Geschichtsunterricht ein Referat über die französische<br />
Aufklärung gehalten”, begründete Erika ihre Kenntnisse,<br />
„und daher weiß ich, dass Montesquieu und Rousseau die geistigen<br />
Väter <strong>der</strong> Revolution gewesen sind, wobei beide zum Zeitpunkt<br />
<strong>der</strong> Revolution schon tot waren.<br />
Montesquieu entwickelt in seinem in <strong>der</strong> Mitte des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
erschienenen Werk Esprit des lois die These <strong>der</strong> Gewaltenteilung<br />
in eine gesetzgebende, vollziehende und richterliche<br />
Gewalt.<br />
Rousseau for<strong>der</strong>t in seinem „Contrat social ou principes du droit<br />
politique”, die Menschheit solle zur Einfachheit <strong>der</strong> Natur zurückkehren,<br />
zur schlichten Bürgertugend, zur Versenkung in das Glück<br />
des Hauses und <strong>der</strong> Familie. Hier sind alle Menschen gleich und<br />
frei und sind nur Menschen, sind darum gute Menschen und sind<br />
Brü<strong>der</strong>.”
„Erika, wenn man Ihren letzten Satz ‚Hier sind alle Menschen<br />
gleich und frei …und sind Brü<strong>der</strong>’ überdenkt, dann scheint Rousseau<br />
<strong>der</strong> geistige Vater <strong>der</strong> Parole Freiheit, Gleichheit, Brü<strong>der</strong>lichkeit<br />
gewesen zu sein.<br />
Aber Erika, Sie scheinen mir durch Ihr Referat mit <strong>der</strong> Materie<br />
vertraut zu sein, deshalb direkt die Frage an Sie. Waren die beiden<br />
französischen Aufklärer geistig autark o<strong>der</strong> haben auch sie Vorgefundenes<br />
geistig weiter verarbeitet?”<br />
„Sowohl Montesquieu als auch Rousseau waren in England und<br />
von den Vorstellungen John Lockes beeindruckt.<br />
Locke for<strong>der</strong>t die staatliche Gewalt in eine gesetzgebende und<br />
eine ausführende Gewalt zu teilen, Montesquieu ergänzt diese<br />
For<strong>der</strong>ung um die richterliche Gewalt.<br />
Rousseau verarbeitet die Vorstellung von John Locke über die<br />
Erziehung in seinem Roman Émile ou de l’éducation (1762).”<br />
„Das Verdienst <strong>der</strong> beiden französischen Aufklärer liegt darin,<br />
die Ideen von Locke mit durchschlagendem Erfolg auf dem europäischen<br />
Festland verbreitet zu haben”, ergänzte die Kursleiterin.<br />
„Locke ging nicht wie vor ihm seit Platon alle Philosophen von<br />
<strong>der</strong> Vernunft aus, son<strong>der</strong>n von den Sinneserfahrungen. Er sagte:<br />
Lasst uns annehmen, das Bewusstsein sei sozusagen ein weißes<br />
Blatt Papier, frei von irgendwelchen Schriftzügen, ohne alle<br />
Vorstellungen; wie wird es damit versehen?<br />
Ausschließlich durch die Erfahrung.<br />
<strong>Die</strong>se Erfahrung ist eine doppelte, die des äußeren und die<br />
des inneren Sinnes.<br />
<strong>Die</strong> äußere geht über die Sinnesorgane des Körpers und<br />
heißt ‚sensation’ (Sinnesempfindung); die innere ist<br />
Selbstwahrnehmung und heißt ‚reflection’.<br />
<strong>Die</strong> reflection setzt die sensation voraus, wodurch nochmals<br />
gesagt wird, dass, was immer im Geist ist, zuerst ihm durch<br />
die Sinne zukommen müssen.
Für den Empirismus, so nennt man diese philosophische Richtung,<br />
ist die Sinneserfahrung alles, ist die Vollendung und das Ganze.<br />
Ein ganz fortschrittlicher Geist weht in <strong>der</strong> Erziehungslehre<br />
Lockes.<br />
Man soll dem Zögling kein Schema aufpressen, son<strong>der</strong>n ihm<br />
helfen, sich selbst zu entfalten; soll ihn nicht schulmeistern, son<strong>der</strong>n<br />
anleiten zum eigenen Schauen und Denken; soll ihn nicht<br />
vergewaltigen, son<strong>der</strong>n ihm beistehen, die eigene Initiative zu entwickeln,<br />
um zur freien, mündigen Individualität zu kommen. Das<br />
Ideal wäre, dass <strong>der</strong> Zögling spielend lernt.<br />
Wenn man das liest, kann man verstehen, dass Rousseau überwältigt<br />
war, werden doch diese Ansichten auch heute noch sehr<br />
selten beherzigt.<br />
Doch schon eine Generation früher hatte ein an<strong>der</strong>er Englän<strong>der</strong>,<br />
Thomas Hobbes, erklärt:<br />
Das Denken des Geistes geschieht durch das Addieren und<br />
Subtrahieren von Vorstellungen<br />
und<br />
Das Handeln des Menschen ist ein Spiel von Kräften <strong>der</strong> Sinnesreize<br />
und Sinnesreaktionen<br />
<strong>Die</strong>ser erste Vertreter des Empirismus hat sich auch über den<br />
Staat geäußert. Den Staatsvertrag schließen die Menschen bei ihm,<br />
um die unmöglichen Verhältnisse des Naturzustandes zu beenden,<br />
in dem die Menschen zueinan<strong>der</strong> waren wie Tiere. Man gibt persönliche<br />
Naturrechte preis und schafft durch freie Konvention <strong>der</strong><br />
Individuen Ordnung, Recht, Sitte und Sittlichkeit.<br />
Der Staat ist bei ihm nichts an<strong>der</strong>es als die Machtballung des<br />
kollektiven Egoismus. Für die Staaten herrscht immer noch <strong>der</strong><br />
Naturzustand; nur heißt er jetzt Souveränität. Für diese souveränen<br />
Staaten geht <strong>der</strong> Krieg aller gegen alle weiter, denn für das<br />
Verhältnis <strong>der</strong> Staaten untereinan<strong>der</strong> gelte immer das Wort: Homo<br />
homini lupus.<br />
Vergleichen Sie bitte die Vorstellungen Hobbes über die Menschen,<br />
die den Staatsvertrag schließen, mit den Vorstellungen über
die Menschen bei Rousseau. Welch ein Unterschied zwischen dem<br />
Empiriker und dem Aufklärer.<br />
Selbst die Interessenten, die bei Aristoteles den Staat gründen,<br />
zeigen menschlichere Züge auf 81 .<br />
Zweifellos kannte Hobbes die Staatslehre des Aristoteles.<br />
Nachdem das Wissen über Aristoteles durch den islamischen<br />
Philosophen Averroës um 1200 dem christlichen Europa wie<strong>der</strong><br />
bekannt wurde, vertieften die geistigen Eliten des oströmischen<br />
Kaiserreiches, die mit <strong>der</strong> Eroberung von Konstantinopel 1453<br />
nach Italien flüchteten, das Wissen um die Antike. <strong>Die</strong> Erfindung<br />
des Buchdruckes sorgte für seine Verbreitung.<br />
<strong>Die</strong>se Erste Aufklärung durch die Renaissance <strong>der</strong> Antike ließ<br />
den Wunsch nach weltlichen, aber auch nach kirchlichen Reformen<br />
wach werden.<br />
<strong>Die</strong> Ergebnisse sind Ihnen aus dem Geschichtsunterricht bekannt.<br />
Erst <strong>der</strong> Westfälische Frieden kodifizierte diese Reformen:<br />
Begriff des Staates, seine Souveränität und damit Nichteinmischung<br />
in seine inneren Angelegenheiten (cuius regio, eius religio)<br />
sowie das Gleichgewicht <strong>der</strong> Kräfte.<br />
Jetzt können Sie auch die Vorstellungen Hobbes über den Staat<br />
verstehen, <strong>der</strong> ja in dieser Zeit lebte.”<br />
„Mir ist klar geworden, dass die Befreiung <strong>der</strong> Fürsten aus <strong>der</strong><br />
Oberhoheit <strong>der</strong> Kirche mit dem Westfälischen Frieden gesetzlich<br />
verankert worden ist”, meldete sich Frank zu Wort.<br />
„Aber warum ist es den an<strong>der</strong>en Ständen in dieser Zeit nicht gelungen,<br />
ihre ständischen Fesseln abzustreifen? Dass sie vergeblich<br />
den Versuch unternommen haben, beweisen die Bauernaufstände<br />
im ersten Viertel des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts.”<br />
81 Aristoteles betonte, dass für Gleiche gleiches Recht gelten müsse und dass nur <strong>der</strong><br />
befehlen kann, <strong>der</strong> vorher gelernt habe zu gehorchen. Staat ist für ihn eine Gemeinschaft,<br />
von Bürgern, und Bürger sind die Freien, die an Gericht und Regierung beteiligt<br />
sind. Da die Individuen, die Familien, die Sippen, die Dorfgemeinschaften nicht<br />
stark genug sind, sich gegen ihre Feinde zur Wehr zu setzen, schließen sie sich zu einer<br />
Interessengemeinschaft zusammen, zum Staat.
„Ich glaube, die Zeit war noch nicht reif”, meinte Konrad<br />
Detlef ergänzte: „Wir haben gehört, dass Jaspers vom wissenschaftlich-technischen<br />
Impuls sprach. Meines Erachtens meint er<br />
damit die Fortschritte in den Naturwissenschaften und ihre technische<br />
Umsetzung. Und beides beginnt erst mit dem 18. Jahrhun<strong>der</strong>t.”<br />
„Wir haben bis jetzt Ursachenforschung für die Befreiung des<br />
Menschen aus seinen ständischen Fesseln betrieben”, fasste Frau<br />
Dr. Rifenkoek die Diskussion zusammen.<br />
Ab <strong>der</strong> nächsten Stunde werden wir uns damit beschäftigen, was<br />
<strong>der</strong> Mensch mit <strong>der</strong> gewonnenen Freiheit angefangen hat. <strong>Die</strong> Fakten<br />
müssten Ihnen aus dem Geschichtsunterricht sowie <strong>der</strong> Wirtschafts-<br />
und Sozialkunde bekannt sein.<br />
Um das Wissen darüber wie<strong>der</strong> aufzufrischen, suche ich Referenten,<br />
die uns in Exkursen die technischen Entwicklungslinien,<br />
die demographischen Verän<strong>der</strong>ungen sowie die gesellschaftlichen<br />
Strömungen aufzeigen.”<br />
„Klaus, ich hatte Sie gebeten, uns zunächst einmal Brennpunkte<br />
<strong>der</strong> technischen Entwicklung aufzuzeigen.”<br />
„<strong>Die</strong> technische Entwicklung während <strong>der</strong> letzten 200 Jahre<br />
war und ist so vielfältig”, begann Klaus sein Referat, „dass es<br />
schwer ist, darin einen roten Faden zu finden. Ich habe als Leitfaden<br />
die Energieumwandlung und –anwendung gewählt.<br />
Angefangen hat es mit <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Dampfmaschine<br />
durch James Watt in <strong>der</strong> Mitte des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Hier wird<br />
erstmals Wärmeenergie in Bewegungsenergie umgewandelt. Bis zu<br />
dem Zeitpunkt musste man durch menschliche o<strong>der</strong> tierische<br />
Muskelkraft die Energie erzeugen, o<strong>der</strong> man nutzte die durch<br />
Wind und Wasser zur Verfügung gestellte kinetische Energie.<br />
Der durch Kohle erzeugte Dampf trieb über Kolben Schwungrä<strong>der</strong><br />
an, die diese Bewegungsenergie durch Transmissionsriemen<br />
auf Arbeitsmaschinen übertrugen. Deshalb musste die Energieerzeugung<br />
unmittelbar neben <strong>der</strong> Energieverwendung platziert sein.
1. Lösung des Problems:<br />
Man setzt die Dampfmaschine auf Rä<strong>der</strong> bzw. baut sie in Schiffe<br />
ein und nutzt die Bewegungsenergie zu Transportzwecken.<br />
Ende 1835 wird zwischen Nürnberg und Fürth die erste Eisenbahnlinie<br />
in Betrieb genommen. Gegen Ende des Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
kann man per Bahn fast jeden größeren Ort in Europa erreichen.<br />
<strong>Die</strong> Dampfschifffahrt hatte es schwerer mit den schnellen Seglern<br />
zu konkurrieren. Doch zu Beginn dieses Jahrhun<strong>der</strong>ts erfolgte<br />
<strong>der</strong> Durchbruch. Bezeichnend ist <strong>der</strong> Bau immer größerer Schiffe<br />
und <strong>der</strong> Kampf <strong>der</strong> Ree<strong>der</strong>eien um die schnellste Überquerung des<br />
Atlantiks, <strong>der</strong> bekanntlich 1912 die Titanic zum Opfer fiel, weil<br />
sie eine kürzere nördlichere Route wählte und deshalb mit einem<br />
Eisberg kollidierte.<br />
2. Lösung des Problems:<br />
Man nutzt die von <strong>der</strong> Dampfmaschine erzeugte Bewegungsenergie,<br />
um sie mit Hilfe eines Generators in elektrische Energie umzuwandeln.<br />
In dieser Form kann Energie durch Stromleitungen mit Lichtgeschwindigkeit<br />
transportiert werden. Energieerzeugung und Energieverbrauch<br />
sind räumlich voneinan<strong>der</strong> unabhängig.<br />
Werner von Siemens erfand 1866 die Dynamomaschine und<br />
legte damit die Grundlage für die Elektrizitätswirtschaft. Sie erlaubt<br />
uns heute mit Hilfe des Stroms aus <strong>der</strong> Steckdose je<strong>der</strong>zeit<br />
elektrische Energie in Bewegungsenergie (z.B. Elektrorasierer, Küchenmaschinen)<br />
o<strong>der</strong> Wärmeenergie (z. B. Küchenherd, Lampen)<br />
umzuwandeln.<br />
<strong>Die</strong> zweite bahnbrechende Erfindung scheint mir die Entwicklung<br />
des Verbrennungsmotors zu sein. Auch hier wird Kohlenstoff<br />
als Energieträger benutzt, allerdings in flüssiger Form. Heute ist<br />
<strong>der</strong> eigene PKW das Symbol von persönlicher mobiler Freiheit.<br />
Durch immer leistungsfähigere Motoren wurde <strong>der</strong> Traum vom<br />
Fliegen realisiert. Heute kann man mit Verkehrsflugzeugen in weniger<br />
als 24 Stunden die entferntesten Orte <strong>der</strong> Erde erreichen.
Das Zeitalter <strong>der</strong> Raddampfer auf dem Rhein ist ebenso zu Ende<br />
wie das <strong>der</strong> Dampflokomotiven bei <strong>der</strong> Eisenbahn. Motorschiffe<br />
bzw. <strong>Die</strong>selloks und Elektroloks sind an ihre Stelle getreten.<br />
<strong>Die</strong> Entdeckung, dass Elektroenergie Wellencharakter hat und<br />
sich diese Wellen auch drahtlos durch den Raum bewegen, hat<br />
ähnlich einschneidend auf die Menschheit gewirkt, wie die Erfindung<br />
des Buchdrucks.<br />
Dadurch, dass man diesen Wellen Informationen zuwies, wurde<br />
das Informationszeitalter eingeläutet.<br />
Dem Funkverkehr folgt <strong>der</strong> Rundfunkverkehr mit dem Radio<br />
und diesem vor 25 Jahren das Fernsehen. Unser Planet schrumpft<br />
zum globalen Dorf. Ereignisse auf an<strong>der</strong>en Kontinenten können via<br />
Fernsehen zeitgleich miterlebt werden.”<br />
„Ich finde, Klaus hat die technische Entwicklung <strong>der</strong> letzten<br />
200 Jahre anschaulich geschil<strong>der</strong>t.<br />
Ich danke Ihnen, Klaus.<br />
Christine, Sie wollen in Ihrem Referat über die demographische<br />
Entwicklung während dieser Zeit berichten.<br />
Bitte, Sie haben das Wort.”<br />
„Der englische Landpfarrer Thomas Robert Malthus schrieb<br />
1798 ein Buch, das er An Essay on the Principle of Population as it<br />
Affects the Future improvement of Society nannte und worin er die<br />
Auswirkungen <strong>der</strong> damaligen Bevölkerungsexplosion auf die Entwicklung<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft beschrieb.<br />
Londons Bevölkerungszahl hatte sich zwischen 1750 und 1800<br />
von 575 000 auf 900 000 fast verdoppelt. <strong>Die</strong> Straßen waren<br />
durch Spitzbuben, Straßenjungen und Taschendiebe unsicher geworden.<br />
Am Vorabend <strong>der</strong> französischen Revolution lebten in Paris<br />
600 000 bis 700 000 Einwohner, darunter 100 000 Obdachlose.<br />
Malthus unterstellte nun, dass sich in Großbritannien, wie auch<br />
in Frankreich, die Bevölkerungszahl alle 25 Jahre verdoppele, dass
sich aber die Nahrungsmittelproduktion nicht mit <strong>der</strong>selben Zuwachsrate<br />
erhöhen ließe.<br />
<strong>Die</strong> Folgen wären Hunger, Verelendung, Massensterben durch<br />
Unterernährung und das Zerreißen aller Gesellschaftsstrukturen.<br />
<strong>Die</strong> Entwicklungen im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t entschärften den Bevölkerungsdruck<br />
und die von Malthus befürchteten Auswirkungen.<br />
20 Millionen Briten wan<strong>der</strong>ten zwischen 1815 und 1914 nach<br />
Amerika, nach Australien, Neuseeland und Südafrika aus. Entscheidende<br />
Verbesserungen in <strong>der</strong> Landwirtschaft revolutionierten<br />
die Nahrungsmittelproduktion.<br />
Das Wirtschaftswachstum war um den Faktor 10 höher als das<br />
Bevölkerungswachstum und führte gegen Ende des Jahrhun<strong>der</strong>ts zu<br />
einem Absinken <strong>der</strong> Geburtenrate.<br />
Ursache <strong>der</strong> Bevölkerungsexplosion war einmal die Industrialisierung,<br />
die zur Landflucht, Auflösung <strong>der</strong> Großfamilien und zu<br />
mehr Eheschließungen führte. Zum an<strong>der</strong>en sorgten die besseren<br />
medizinischen Erkenntnisse für einen Rückgang des Kindbettfiebers<br />
und damit <strong>der</strong> Mütter- und Säuglingssterblichkeit sowie für<br />
eine erfolgreichere Seuchenbekämpfung. Beides führte dazu, dass<br />
die Sterblichkeitsrate unter die Geburtenrate sank.<br />
Jahrtausende lang hielten sich beide auf einem hohen Stand die<br />
Waage. Um die Erdbevölkerung von 300 Millionen auf 600 Millionen,<br />
dem Stand um 1700 n. Chr., anwachsen zu lassen, bedurfte<br />
es 800 Jahre. 150 Jahre später hatte sich die Erdbevölkerung auf<br />
1200 Millionen verdoppelt.<br />
In Deutschland hat sich die Bevölkerung von 16 Millionen zu<br />
Beginn des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts auf 48 Millionen gegen Ende des<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts verdreifacht.<br />
Altersversorgung war Sache <strong>der</strong> Großfamilie. Nur bei einer großen<br />
Kin<strong>der</strong>zahl war die Chance gegeben, dass <strong>der</strong> überlebende Teil<br />
<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> diese Aufgabe übernehmen konnte.<br />
Durch die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung wurde <strong>der</strong> Generationenvertrag<br />
<strong>der</strong> Altersversorgung von <strong>der</strong> Familie auf die Gesellschaft<br />
übertragen.
Daher geht seit dem Beginn dieses Jahrhun<strong>der</strong>ts die Geburtenrate<br />
zurück. Sie liegt in den westlichen Industrielän<strong>der</strong>n zur Zeit<br />
unter <strong>der</strong> Sterblichkeitsrate. Das heißt die Bevölkerung schrumpft.<br />
Das gilt jedoch nicht für die Erdbevölkerung insgesamt. 95 Prozent<br />
<strong>der</strong> Zuwächse finden heute in den Entwicklungslän<strong>der</strong>n statt.<br />
Wir erleben in globalem Ausmaße das, was Europa im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
durchgemacht hat. Nur es gibt keine freien Räume mehr.<br />
<strong>Die</strong> Erde ist aufgeteilt in Nationalstaaten mit festen Staatsgrenzen.<br />
Jede Einwan<strong>der</strong>ung bedarf <strong>der</strong> Zustimmung dieser Staaten.<br />
<strong>Die</strong> Zahl, bei <strong>der</strong> sich die Erdbevölkerung von jetzt im Jahre<br />
1974 mit 3,6 Mrd. Menschen stabilisiert haben wird, wird von<br />
Experten gegen Ende des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts mit 10 bis 12 Mrd.<br />
angenommen.”<br />
„Hat jemand noch Fragen zu den Sachverhalten, Problemen<br />
o<strong>der</strong> Zahlen, die Christine in ihrem Referat angesprochen hat?”<br />
„Christine“, meldete sich Silvia zu Wort, „kannst Du mir mal<br />
erläutern, welche medizinischen Erkenntnisse es waren, die im<br />
19. Jahrhun<strong>der</strong>t die Sterberate gesenkt haben?”<br />
„Der in Budapest als Geburtshelfer lebende Ignaz Semmelweis<br />
erkannte die Kontaktinfektion als Ursache des Wochenbettfiebers<br />
und setzte sich dafür ein, dass sich Geburtshelfer die Hände in einer<br />
Desinfektionslösung waschen, bevor sie eine Gebärende untersuchten.<br />
Er bekam dafür den Ehrentitel Retter <strong>der</strong> Mütter.<br />
<strong>Die</strong> Seuchen, die medizinisch erfolgreich bekämpft wurden, waren<br />
vor allem die Cholera, als Trinkwasserverseuchung in den<br />
Großstädten an Flussmündungen auftretend, die Diphtherie, die in<br />
den 90er Jahren des vorigen Jahrhun<strong>der</strong>ts für die hohe Kin<strong>der</strong>sterblichkeit<br />
verantwortlich war, und die Schwindsucht, die Lungentuberkulose.<br />
Der Ausbreitung <strong>der</strong> Tuberkelbazillen versucht<br />
man, wie wir alle schon mitgemacht haben, durch Röntgenreihenuntersuchungen<br />
an den Schulen und Isolierung <strong>der</strong> Angesteckten<br />
Herr zu werden.”<br />
„Christine, nach Deinem Referat sind die Auswirkungen, die
Malthus befürchtete, deshalb nicht eingetreten, weil die Entwicklungen<br />
im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t den Bevölkerungsdruck und die von<br />
Malthus befürchteten Auswirkungen entschärften. Gleichzeitig hat<br />
sich nach Deinen Aussagen in Deutschland die Bevölkerung von 16<br />
Millionen zu Beginn des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts auf 48 Millionen gegen<br />
Ende des Jahrhun<strong>der</strong>ts verdreifacht,<br />
Liegt da nicht ein Wi<strong>der</strong>spruch drin?”, wollte Frank wissen.<br />
„Zum einen sind im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t auch zahlreiche Deutsche<br />
nach Amerika ausgewan<strong>der</strong>t. Bekannt ist, dass damals in den USA<br />
nur eine geringe Mehrzahl für Englisch statt Deutsch als Nationalsprache<br />
votiert hat.<br />
Zum an<strong>der</strong>en – und das bezieht sich auf die Aussagen von<br />
Malthus, dass die Nahrungsmittelproduktion mit dem Bevölkerungswachstum<br />
nicht Schritt halten könne, – führten die Untersuchungen<br />
über den Pflanzenstoffwechsel, vor allem durch den deutschen<br />
Chemiker Justus von Liebig, zur Einführung <strong>der</strong><br />
Mineraldüngung und damit zu einer wesentlichen Ertragssteigerung<br />
<strong>der</strong> landwirtschaftlichen Produktion.”<br />
Frau Dr. Rifenkoek blickte in die Runde. „Noch Fragen an<br />
Christine?.<br />
Gut, dann Konrad berichten Sie uns über die gesellschaftlichen<br />
Probleme, die die technischen und demographischen Entwicklungen<br />
ausgelöst haben.”<br />
„Kapitalismus und Sozialismus sind die zwei Schlagwörter, die<br />
die Menschen weltanschaulich in den letzten hun<strong>der</strong>t Jahren gespalten<br />
haben.<br />
Kapitalismus ist zunächst mal die Auswirkung des Liberalismus.<br />
Im Mittelpunkt <strong>der</strong> liberalen Geisteshaltung steht, wie bei<br />
Locke, das Individuum, <strong>der</strong> homo oeconomicus. Der Liberalismus<br />
ist universal ausgerichtet. Er will, dass seine Regeln und Ergebnisse<br />
in <strong>der</strong> ganzen Welt gelten bzw. wirksam werden und nicht relativ<br />
für ein Volk.
Da jedoch <strong>der</strong> Kapitalismus nicht in allen Län<strong>der</strong> gleich weit<br />
entwickelt war, for<strong>der</strong>te Friedrich List (1789 bis1846) Schutzzölle<br />
für die unterentwickelten Staaten solange, bis diese Staaten die<br />
gleichen Chancen im Wettbewerb haben.<br />
List will, dass jede Volkswirtschaft selber dafür sorgt, zu<br />
Wohlstand zu gelangen.<br />
Mit <strong>der</strong> Wohlstandsför<strong>der</strong>ung im List’schen Sinne verbindet<br />
sich <strong>der</strong> wirtschaftliche Egoismus des Einzelnen mit dem Raubtieregoismus<br />
á la Hobbes des Staates.<br />
Das Ergebnis ist ein übersteigertes Nationalgefühl <strong>der</strong> Bürger<br />
und ein staatlicher Imperialismus, <strong>der</strong> das Gleichgewicht <strong>der</strong> Kräfte<br />
durch wirtschaftliche Überlegenheit auszuhebeln versucht.<br />
Das Ergebnis, <strong>der</strong> 1. Weltkrieg, war die Folge.<br />
Der Sozialismus, die an<strong>der</strong>e Weltanschauung, hat die Menschen<br />
im Blick, die im Kapitalismus zu den Verlierern zählen.<br />
Karl Marx (1818 bis 1883) hatte das Elend <strong>der</strong> Menschen in<br />
den Industriestädten Frankreichs und Englands kennen gelernt.<br />
Für ihn sind die Kapitalisten eine Besitzerklasse, die in <strong>der</strong> Lage<br />
ist, mit dem ihr gehörenden Produktivkapital die Arbeiterklasse<br />
auszubeuten.<br />
<strong>Die</strong> Kapitalisten zahlen dem Arbeiter nur soviel Lohn, wie zur<br />
Erhaltung seiner Arbeitskraft notwendig ist (Tauschwert). Der auf<br />
dem freien Markt erzielte Nutzwert des Arbeitsproduktes ist aber<br />
größer. <strong>Die</strong>sen Mehrwert steckt <strong>der</strong> Kapitalist ein. Er erhöht damit<br />
das Produktivkapital in seiner Unternehmung. Dadurch sinkt<br />
die Menge <strong>der</strong> benötigten Arbeit.<br />
Es entsteht eine industrielle Reservearmee, die dafür sorgt, dass<br />
<strong>der</strong> Preis <strong>der</strong> Arbeit sich nicht allzu weit von den Reproduktionskosten<br />
<strong>der</strong> Arbeit entfernt.<br />
Marx unterstellt, dass steigende Löhne ein Wachstum <strong>der</strong> Arbeitskräfte<br />
(Bevölkerungswachstum) zur Folge hat.<br />
Marx erkennt sehr wohl, dass <strong>der</strong> Lohn nicht nur Kosten für<br />
den Unternehmer, son<strong>der</strong>n auch Einkommen für die Arbeiter darstellt.<br />
Er folgert daher aus dem ungleichen Wachstum von Gütern
und Einkommen und damit dem zunehmenden Fehlen <strong>der</strong> Nachfrage<br />
den Zusammenbruch des kapitalistischen Systems.<br />
Am Ende, wenn <strong>der</strong> Kapitalismus und sein Gegensatz, das Proletariat,<br />
verschwunden sind, steht <strong>der</strong> neue Mensch. Was uns eigentlich<br />
interessieren würde, <strong>der</strong> konkrete Inhalt des neuen Menschenbildes,<br />
bleibt ungesagt.<br />
Immerhin das hören wir von Marx, dass im Kommunismus, <strong>der</strong><br />
Gesellschaftsform des neuen Menschen, Gemeinschaft und Individualität<br />
zusammenfallen. In <strong>der</strong> Gemeinschaft erst sei man frei,<br />
und nur hier könne man zu sich selbst finden.<br />
Wie das praktisch vor sich geht, dafür haben wir im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
Anschauungsunterricht genug erhalten.<br />
Da <strong>der</strong> Kapitalismus in den europäischen Industriestaaten<br />
nicht, wie Marx prophezeit hatte, zusammenbrach, musste das imperiale,<br />
aber industriell unterentwickelte Russland als Experimentierfeld<br />
für einen Arbeiter- und Bauernstaat herhalten.<br />
Lenin und in seiner Nachfolge Stalin errichteten keinen kommunistischen,<br />
son<strong>der</strong>n einen sozialistischen Staat, da die Zeit für<br />
den Neuen Menschen noch nicht gekommen sei. Sie forcierten die<br />
Industrialisierung und fassten die Landwirtschaft zu Kolchosen<br />
und Sowchosen zusammen, um durch Mechanisierung auch die<br />
landwirtschaftlichen Erträge zu steigern.<br />
Sie scheinen mir, im Gegensatz zu Marx, erkannt zu haben,<br />
dass nicht nur <strong>der</strong> Produktionsfaktor Arbeit, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong><br />
Produktionsfaktor Kapital an <strong>der</strong> Ertragsentstehung beteiligt ist.<br />
Statt zwischen kapitalistischen und sozialistischen Län<strong>der</strong>n zu unterscheiden,<br />
sollte man besser von privatkapitalistischen und<br />
staatskapitalistischen Län<strong>der</strong>n sprechen.<br />
In Italien und Deutschland verband sich <strong>der</strong> nationale Imperialismus<br />
mit sozialen Ideen.<br />
Der italienische Imperialismus tobte sich in Albanien, Libyen<br />
und Abessinien aus; <strong>der</strong> deutsche Revanchismus führte in den 2.<br />
Weltkrieg. <strong>Die</strong> nord- und westeuropäischen Staaten versuchten<br />
nach dem 1. Weltkrieg und vermehrt nach dem 2. Weltkrieg einen
Kapitalismus mit menschlichem Antlitz, genannt Wohlfahrtsstaat,<br />
zu etablieren. <strong>Die</strong> Bundesrepublik Deutschland führte nach 1948<br />
erfolgreich die soziale Marktwirtschaft ein.<br />
<strong>Die</strong> nach dem 2. Weltkrieg unter russischem Einfluss geratenen<br />
osteuropäischen Staaten mussten das Konzept des russischen<br />
Staatskapitalismus übernehmen.<br />
Entscheidend für die Zukunft scheint mir zu sein, ob <strong>der</strong> Staat<br />
als alleiniger Kapitalist o<strong>der</strong> die vielen privaten Kapitalisten erfolgreicher<br />
wirtschaften werden.”<br />
„Zwischen den 1914 begeistert in den Krieg ziehenden Freiwilligen<br />
und den nur unter Druck kämpfenden Söldnern <strong>der</strong> Heere<br />
des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts klaffen Welten.”<br />
Mit dieser Behauptung eröffnete Frau Dr. Rifenkoek die nächste<br />
Unterrichtsstunde.<br />
„Wo sehen Sie die Ursache für diesen Wandel <strong>der</strong> inneren Einstellung?”<br />
„In <strong>der</strong> Ausformung <strong>der</strong> Idee eines Nationalbewusstseins”,<br />
vermutete Detlef.<br />
„Sie entsinnen sich, nach den Vorstellungen des englischen Empirismus<br />
entwickelt sich das Bewusstsein nur durch Erfahrung:<br />
<strong>Die</strong> reflection setzt die sensation voraus, wodurch nochmals gesagt<br />
wird, dass, was immer im Geist ist, zuerst ihm durch die Sinne<br />
zukommen müssen.<br />
Ist die Idee etwas, was dem Geist durch die Sinne zukommt?<br />
Wenn nicht, was ist die Idee dann?<br />
Mit diesem Problem hat sich auch Immanuel Kant auseinan<strong>der</strong>gesetzt,<br />
für den, im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t lebend, <strong>der</strong> Empirismus <strong>der</strong><br />
neueste Stand <strong>der</strong> Philosophie war.<br />
‚<strong>Die</strong> Hauptfrage bleibt, was und wie viel kann Verstand und Vernunft<br />
frei von aller Erfahrung erkennen?’<br />
Verstand ist für Kant das Vermögen des Erkennens; erkennen<br />
heißt, Vorstellungen im Hinblick auf ein Objekt bilden. Vorstel-
lungen sinnvoll bilden aber setzt voraus, dass es eine höchste Einheit<br />
des Bewusstseins gibt, das „Ich denke”, das cogito des Descartes.<br />
Es ist die Vernunft und das ihr eigentümliche Tun, nämlich das<br />
Schließen, was nach Kant die Ideen mit sich bringt. Vernunft steht<br />
über dem denkenden Verstand, <strong>der</strong>, siehe Locke, durch Anschauung<br />
und Denken zur Erkenntnis kommt.<br />
Für die Vernunfttätigkeit gibt es nichts mehr zum Anschauen.<br />
<strong>Die</strong> Vernunft hat nur eine formale o<strong>der</strong> methodische Aufgabe. Sie<br />
regelt die Verstandestätigkeit, besitzt aber keine materiellen Gegenstände<br />
mehr.<br />
Ideen sind darum nur Auffor<strong>der</strong>ungen zum Suchen, „heuristische<br />
Regeln”, sind nicht konstitutive, d.h. Anschauungen zu Begriffen<br />
aufbauende Prinzipien, son<strong>der</strong>n nur regulative, d.h. den<br />
Verstandesgebrauch auf ein problematisches Ziel hin ausrichtende<br />
Prinzipien.<br />
Wie aber kommt das Nationale in die Blickrichtung <strong>der</strong> Ideen?”<br />
„Das erscheint mir einleuchtend”, meinte Peter. „Durch die<br />
napoleonischen Kriege wurde den Deutschen bewusst, dass sie in<br />
viele Kleinstaaten zersplittert waren, <strong>der</strong>en Bürger alle Deutsch<br />
sprachen, während Englän<strong>der</strong>, Franzosen und Russen jeweils einer<br />
Nation angehörten.”<br />
„Es findet ja dann in <strong>der</strong> Romantik mit <strong>der</strong> Mystifizierung des<br />
Germanischen und des Deutschen Mittelalters eine wahre Hochkonjunktur<br />
des Nationalen statt”, ergänzte Klaus.<br />
„Ich erinnere an Hebbel, <strong>Die</strong> Nibelungen und an Richard Wagner<br />
mit Tristan und Isolde und Der Ring <strong>der</strong> Nibelungen.<br />
„Kein Wun<strong>der</strong>”, fügte Frank hinzu, „dass mit <strong>der</strong> Proklamierung<br />
des Deutschen Kaiserreiches in Versailles das Vaterländische überall<br />
in Deutschland hohe Wellen schlug und Denkmäler schuf wie<br />
das Hermanndenkmal im Teutoburger Wald, das Nie<strong>der</strong>walddenkmal<br />
bei Rüdesheim o<strong>der</strong> das Deutsche Eck an <strong>der</strong> Moselmündung.”
„Frank, den von Ihnen gebrauchten Ausdruck Vaterland möchte<br />
ich gerne zur Diskussion stellen”, hakte Frau Dr. Rifenkoek ein.<br />
„War das Reich, das Bismarck 1871 aus <strong>der</strong> Taufe hob, ein<br />
Staat im Sinne von Locke und Rousseau o<strong>der</strong> von Hegel?<br />
Hegel, <strong>der</strong> letzte große Philosoph des deutschen Idealismus, hat<br />
in seinen Grundlinien <strong>der</strong> Philosophie des Rechts von 1821 von <strong>der</strong><br />
Dialektik <strong>der</strong> Sittlichkeit gesprochen und behauptet, die Sittlichkeit<br />
hebt die Position des abstrakten Rechtes und ihre Negation<br />
<strong>der</strong> Moralität, also Römisches Recht und Kantsche Philosophie in<br />
sich zu höherer Einheit auf.<br />
Übersetzt man diese dunklen Worte Hegels in Klartext, dann<br />
meint er:<br />
<strong>Die</strong> Sittlichkeit erscheint zunächst in <strong>der</strong> Familie. <strong>Die</strong> Familie<br />
ist eine Welt <strong>der</strong> Gemeinschaft, nicht <strong>der</strong> Gesellschaft, eine Welt<br />
<strong>der</strong> Liebe, nicht des Rechts.<br />
Der zweite Schritt im Prozess <strong>der</strong> Sittlichkeit ist die bürgerliche<br />
Gesellschaft. Sie ist ein System <strong>der</strong> Bedürfnisbefriedigung, mit einer<br />
als formale Spielregeln entwickelten Rechtspflege und einer<br />
schiedsrichterlich neutralen Verwaltung.<br />
Der dritte Schritt, die Synthese, ist die Wirklichkeit <strong>der</strong> sittlichen<br />
Idee: <strong>der</strong> Staat. Im Staat wird die bürgerliche Gesellschaft<br />
mit ihrem Recht <strong>der</strong> Einzelinteressen, ihren Klassen und Parteien<br />
aufgehoben. Aufbewahrt wird, wie bei <strong>der</strong> Familie, dass <strong>der</strong> Einzelne<br />
in ihm in erster Linie Mitglied ist und nicht als Individuum fungiert.<br />
Hinterfragt man die Aussage:<br />
Wer o<strong>der</strong> was ist die Wirklichkeit <strong>der</strong> sittlichen Idee?<br />
Von wem wird hier eigentlich etwas ausgesagt?<br />
Und was wird ausgesagt?<br />
Wer also ist <strong>der</strong> Staat?<br />
dann merkt man, dass Hegelsche Metapher, durch Übersetzung zu<br />
präzisieren, im Sinne des Kantschen Grundgesetzes Unsinn ergibt 82 .<br />
82 gemeint ist hier das Kant’sche Prinzip, dass <strong>der</strong> Mensch niemals als Mittel benutzt,<br />
d.h. irgendeinem fremden Zweck untergeordnet werden darf.
Das hat Heinrich von Treitschke, den preußisch-nationalen Historiker,<br />
nicht daran gehin<strong>der</strong>t, den Staat auf seine Weise zu präzisieren.<br />
Recht und Friede und Ordnung kann bei <strong>der</strong> Vielfalt sozialer<br />
Interessen in ihrem ewigen Kampf nicht von innen herauskommen,<br />
son<strong>der</strong>n nur von <strong>der</strong>jenigen Macht, die über <strong>der</strong> Gesellschaft steht,<br />
ausgerüstet mit einer Gewalt, welche die wilde soziale Leidenschaft<br />
zu bändigen vermag.<br />
Der Staat ist eine unabhängige Macht, die über den sozialen<br />
Gegensätzen steht, gerecht und unparteilich ist, einen Charakter hat,<br />
eine Persönlichkeit ist. Er fragt grundsätzlich nicht nach<br />
<strong>der</strong> Gesinnung, er verlangt Gehorsam.<br />
Fazit: <strong>Die</strong> Verfassung des Kaiserreiches ist angewandter Hegel.<br />
Der Reichstag, die Schwatzbude, symbolisiert die bürgerliche Gesellschaft<br />
<strong>der</strong> Interessen und Kämpfe, die soziale Realität unter<br />
ihm ist eine Welt <strong>der</strong> Unmündigkeit <strong>der</strong> Familien und über ihm<br />
erst beginnt <strong>der</strong> Staat in seiner Majestät.<br />
Der Staat hat vor allem Rechte gegenüber dem Individuum;<br />
sein Mitglied hat Pflichten, darunter vornehmlich die, wortlos zu<br />
gehorchen.<br />
Um dieses Vaterland zu schützen zogen die Freiwilligen 1914<br />
begeistert in den Krieg.<br />
Vater Staat! Das Freud’sche Über-Ich wird sichtbar.”<br />
„Frau Dr. Rifenkoek”, meldete sich Konrad zu Wort, „bei <strong>der</strong><br />
Ausarbeitung des von mir gehaltenen Referates habe ich gelesen,<br />
dass Marx Hegel vom Kopf wie<strong>der</strong> auf die Füße gestellt habe, also<br />
nicht von <strong>der</strong> Idee, son<strong>der</strong>n von den Nöten <strong>der</strong> Menschen her ausgegangen<br />
sei. <strong>Die</strong> Realität bei Lenin und Stalin ist aber auch <strong>der</strong><br />
allmächtige Staat und das unmündige Individuum?”<br />
„<strong>Die</strong> Hegelsche Dialektik bleibt unangetastet. Nur ist nicht <strong>der</strong><br />
Staat die Wirklichkeit <strong>der</strong> sittlichen Idee, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> neue<br />
Mensch die Wirklichkeit <strong>der</strong> Realität. Aber auf dem Weg zum<br />
neuen Menschen bedarf es eines mächtigen Staates, das haben Lenin<br />
und Stalin klar erkannt.”
Frau Dr. Rifenkoek fuhr erbarmungslos fort:<br />
„<strong>Die</strong> Hitlerjugend hatte wie die heutigen Jugendorganisationen<br />
<strong>der</strong> sozialistischen Staaten den Zweck, unmündige Individuen auf<br />
die jeweilige Staatsform zu prägen.<br />
<strong>Die</strong>se Manipulierung bewusst zu machen, hat sich nach dem<br />
2. Weltkrieg die Frankfurter Schule, ein Kreis von Sozial- und<br />
Kulturwissenschaftlern, die eine von Karl Marx und Sigmund<br />
Freud bestimmte kritische Gesellschaftsanalyse betreiben, zum<br />
Ziel gesetzt.<br />
Ihre so genannte kritische Theorie zielt auf die Aufdeckung und<br />
Überwindung emanzipationsfeindlicher Tendenzen in den kapitalistischen<br />
und sozialistischen Industriegesellschaften.<br />
Ihre Kritik richtet sich gegen die Leistungs- und Konsumzwänge<br />
des Spätkapitalismus sowie die erkenntnisleitenden Interessen<br />
<strong>der</strong> Wissenschaft. Ihre Aufklärungsabsicht ist subtiler als das<br />
Sichtbarmachen indoktrinärer Jugendprägung für eine<br />
Weltanschauung.<br />
Wenn die Gesellschaft im Bereiche <strong>der</strong> Freizeit, des Konsums<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Sexualität den Einzelnen in seiner Entfaltung offen o<strong>der</strong><br />
verschleiert behin<strong>der</strong>t, so sei das repressive Toleranz, Unterdrückung<br />
menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten, so Herbert Marcuse.<br />
Und wenn Wissenschaft sich von Erkenntnissen leiten lasse,<br />
die, scheinbar objektiv, realiter aber humanitätsfremden Zwecken<br />
diene, so Jürgen Habermas, dann verstoße auch das gegen den<br />
Kant’schen Grundsatz, dass <strong>der</strong> Mensch niemals als Mittel benutzt,<br />
d. h. irgendeinem fremden Zweck untergeordnet werden darf.<br />
Beson<strong>der</strong>s Herbert Marcuses Aufruf zur großen Weigerung hat<br />
den Protest unter <strong>der</strong> akademischen Jugend Ende <strong>der</strong> 60er Jahre<br />
ausgelöst.<br />
<strong>Die</strong> Ergebnisse kennen Sie: Studentische Sit-ins, Go-ins,<br />
Teach-ins, Kommunen u.a.”<br />
„Ist auch <strong>der</strong> Feminismus Ergebnis dieser studentischen<br />
Revolution?”, fragte Erika interessiert.
Frau Dr. Rifenkoek lächelte.<br />
„In <strong>der</strong> Tat. Aber eine Wirkung, die so von den männlichen<br />
Studenten nicht beabsichtigt war. Wenn jede menschliche Unterdrückung<br />
inhuman ist, dann ist es auch die fehlende Gleichberechtigung<br />
zwischen den Geschlechtern, so argumentierten ihre weiblichen<br />
Partnerinnen.<br />
Seitdem ist das Jahrtausende alte Patriarchat in Frage gestellt.<br />
Wie es zum Patriarchat gekommen ist, wird uns später noch beschäftigen.<br />
Damit sind wir in <strong>der</strong> Gegenwart angekommen.<br />
Ich finde, meine Damen und Herren, wir leben in einem<br />
spannenden Zeitalter.<br />
Aber noch steht die Frage im Raum:<br />
Warum haben <strong>der</strong> Orient und China an dieser Entwicklung<br />
nicht teilgenommen?<br />
„Was wissen Sie aus Ihrem Geschichtsunterricht vom Islam”,<br />
wollte die Dozentin zu Beginn <strong>der</strong> nächsten Unterrichtsstunde<br />
wissen.<br />
„Als die Kreuzritter im 12. Jahrhun<strong>der</strong>t Palästina eroberten, sahen<br />
sie sich in ihrem Weltverständnis erschüttert”, begann Peter.<br />
„Wie konnte Gott es zulassen, dass sie, die Gläubigen, den Ungläubigen<br />
geistig unterlegen waren?”<br />
„Nicht nur die mathematischen Kenntnisse <strong>der</strong> Moslems, – sie<br />
bedienten sich des Dezimalsystems – son<strong>der</strong>n auch ihre naturwissenschaftlichen<br />
und medizinischen Kenntnisse waren denen <strong>der</strong> europäischen<br />
Eroberer weit überlegen”, ergänzte Silvia.<br />
„Auch ihre Lebensgenüsse waren verfeinerter als die <strong>der</strong> europäischen<br />
Barbaren. Ich denke dabei beson<strong>der</strong>s an die Verwendung<br />
indischer Gewürze, die ja später <strong>der</strong> Antrieb war bei <strong>der</strong> Suche des<br />
Seeweges nach Indien”, fügte Michael hinzu.<br />
„Wir haben im Sommerurlaub Cordoba besucht. <strong>Die</strong>se spanische<br />
Stadt hat heute etwa 300 000 Einwohner. Dort sollen im Mittelalter<br />
zur Zeit <strong>der</strong> Mauren etwa 800 000 Menschen gelebt
haben. In 80 öffentlichen Schulen, <strong>der</strong>en Besuch kostenlos war,<br />
konnte man Lesen und Schreiben lernen”, meldete sich Karin zu<br />
Wort.<br />
„Wie kam es zu dieser kulturellen Blüte des Islams im Mittelalter?”<br />
Frau Dr. Rifenkoek blickte fragend in die Runde.<br />
„Ihnen ist bekannt, dass dieses halbzivilisierte Nomadenvolk<br />
sich in weniger als hun<strong>der</strong>t Jahren ein Weltreich von Persien bis<br />
Spanien erobert hat. Hätte <strong>der</strong> Franke Karl Martell nicht 732 n.<br />
Chr. die Araber in einer Schlacht in Südfrankreich besiegt, vielleicht<br />
wären wir heute auch Mohammedaner.<br />
Weil <strong>der</strong> frühe Islam es seinen Gläubigen gestattete, sich mit<br />
fremden Kulturen zu beschäftigen, sofern diese Völker nur an den<br />
einen Gott glaubten, saugten die islamischen Eroberer alles bedeutsame<br />
Wissen <strong>der</strong> militärisch besiegten Völker wie ein<br />
Schwamm auf. Dabei half ihnen die Elite <strong>der</strong> eroberten Völker, <strong>der</strong><br />
sie, getreu dem Toleranzgebots ihres Propheten, gestattete, ihrer<br />
ursprünglichen Religion treu zu bleiben. Das galt für Christen und<br />
Juden wie auch für Perser.<br />
Innerhalb eines Jahrhun<strong>der</strong>ts machten sich islamische Gelehrte<br />
mit dem griechischen und römischen Wissen vertraut. Mit den<br />
Schätzen altpersischer, babylonischer und indischer Kenntnisse,<br />
die ihnen die persischen Gelehrten vermittelten, erlangten sie eine<br />
Vielfalt an Bildung, die sie allen an<strong>der</strong>en Völkern <strong>der</strong> Welt überlegen<br />
machten.<br />
Sechs Jahrhun<strong>der</strong>te lang galt das Arabische vom Industal bis<br />
nach Spanien als die maßgebende Sprache für Philosophen und<br />
Naturwissenschaftler.<br />
Es blieb nicht aus, dass arabische Philosophen sich mit den Wi<strong>der</strong>sprüchen<br />
im Koran beschäftigten.<br />
Karin, haben Sie in Cordoba das Denkmal des Muhammed Ibn<br />
Ahamad Ibn Rushd, den die Christen Averroës nannten und <strong>der</strong><br />
von 1126 bis 1198 lebte, gesehen?”
„Ja, weil Averroës für die Bürger von Cordoba einer <strong>der</strong> bedeutendsten<br />
Söhne ihrer Stadt war, er galt als <strong>der</strong> Kommentator des<br />
Aristoteles, haben sie ihm ein Denkmal errichtet. Soviel ich weiß<br />
haben islamische Fanatiker seine Schriften verbrannt und den Kalifen<br />
gezwungen, ihn zu verdammen.”<br />
„Averroës hatte behauptet, die Vielfalt <strong>der</strong> Arten sei als Form,<br />
als Seele, vorgegeben. Das einzelne Individuum sei sterblich. Wenn<br />
aber nur die Art eine Seele hat, nicht das einzelne Individuum, was<br />
wird dann aus <strong>der</strong> Verheißung des Paradieses?<br />
Überdies enthalte die Philosophie die reinere und höhere<br />
Wahrheit. In <strong>der</strong> Religion erscheinen diese Wahrheiten in bildlicher<br />
Einkleidung, dem schwachen Verständnis <strong>der</strong> Menge angepasst.<br />
Das führte zum offenen Ausbruch des Jahrhun<strong>der</strong>te langen<br />
Streites zwischen den konservativen Korananhängern und den mo<strong>der</strong>nen<br />
Reformern.<br />
Das Ergebnis war, Wahrheit sei allein, was Gott im Koran den<br />
Menschen offenbart habe. In diesem Sinne sei auch Wissenschaft<br />
nur wünschenswert, soweit sie nicht dieser göttlichen Offenbarung<br />
wi<strong>der</strong>spreche.<br />
<strong>Die</strong> Sieger nannten diese dogmatische Auslegung des Islams die<br />
Schließung <strong>der</strong> Pforte.<br />
Ich finde, treffen<strong>der</strong> kann man dieses Abspalten von <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />
nicht nennen.”<br />
„Wenden wir uns nun China zu. Chinas Oberschicht hatte,<br />
entsprechend den Lehren von Konfuzius, über den wir später noch<br />
sprechen werden, vorwiegend Interesse an Wissen gezeigt, das sich<br />
praktisch anwenden ließ.<br />
Das Reich <strong>der</strong> Mitte entwickelte sich zum bestorganisierten<br />
Verwaltungsstaat und brachte in seiner Glanzzeit eine Fülle wegweisen<strong>der</strong><br />
Erfindungen hervor.<br />
Wissen Sie darüber etwa?”<br />
„Buchdruck, Schießpulver, Papiergeld, Kompass”, zählte Konrad<br />
auf.
„Sie haben schon tausend Jahre, bevor man in Deutschland<br />
Porzellan herstellen konnte, ihrem Porzellan jene Feinheit gegeben,<br />
die bis heute bewun<strong>der</strong>t wird”, wusste Silvia zu berichten.<br />
„Und sie haben schon vor fast 2 000 Jahren das Papier erfunden”,<br />
ergänzte Klaus.<br />
„Warum verlor aber China seine Schöpferkraft und wann ist das<br />
geschehen?”<br />
„Vielleicht sind die Beamten schuld”, unkte Michael.<br />
„Michael, Sie haben mit Ihrer vermutlich scherzhaften Bemerkung<br />
tatsächlich den Kern getroffen.<br />
<strong>Die</strong> künftigen Mandarine mussten in kürzester Zeit sich viel<br />
theoretisches Wissen aneignen, konnten es aber nach den Prüfungen<br />
wie<strong>der</strong> vergessen, weil sie es für ihre künftigen Amtspflichten<br />
nicht brauchten. <strong>Die</strong> in <strong>der</strong> Prüfung nachgewiesenen Verstandesqualitäten<br />
und Konformität zum Staat wurden mit <strong>der</strong> Ernennung<br />
zum Beamten belohnt.<br />
Ob seine Tätigkeit danach sinnvoll o<strong>der</strong> nutzlos und unproduktiv<br />
war, wurde nicht nachgeprüft.”<br />
„Ich weiß von einer Unternehmung, die ihre Produktion von<br />
Dampflokomotiven auf <strong>Die</strong>selloks umgestellt hat, dass es dort<br />
noch eine Abteilung gab, die damit beschäftigt war, Material zu<br />
verwalten, das nur für den Bau von Dampflokomotiven benötigt<br />
wurde”, meldete sich Peter zu Worte.<br />
„Das ist das Problem von großen Verwaltungen in aller Welt.<br />
Von einem bestimmten Zeitpunkt an verlieren ihre hochdifferenzierten<br />
Abläufe jeglichen Kontakt zur Realität und erhalten sich<br />
nur noch zum Zwecke <strong>der</strong> eigenen Macht.<br />
In China, diesem durch und durch bürokratisierten Riesenreich<br />
überlebte dieses System in seiner zunehmenden Versteinerung<br />
noch bis zu Anfang dieses Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />
Dabei war den Machtinhabern die Schwäche ihres Systems<br />
durchaus bewusst. Warum sonst drohte noch Anfang des 19. Jahr-
hun<strong>der</strong>ts Einheimischen die Todesstrafe, falls sie es wagten, Auslän<strong>der</strong>n<br />
die Landessprache beizubringen?<br />
In Japan waren die Herrschenden noch rigoroser. Japaner, die<br />
das Land verlassen hatten und später wie<strong>der</strong>kehrten, wurden hingerichtet,<br />
bevor sie über ihre Eindrücke im Ausland berichten<br />
konnten.”
c) Gottesvorstellungen<br />
„Wir haben bisher die Fragen zu klären versucht, wer wir sind<br />
und woher wir kommen. Es bleibt die Frage: Wohin gehen wir?<br />
O<strong>der</strong> um es an<strong>der</strong>s zu formulieren, welche Aussagen macht die<br />
Philosophie zum Leben nach dem Tode.”<br />
Dr. Rifenkoek zog aus ihrer Tasche ein etwa handspannengroßes<br />
steinernes Gebilde, zeigte es in die Runde und fragte:<br />
„Für was halten Sie das?”<br />
Das Gebilde wan<strong>der</strong>te von Hand zu Hand, wurde begutachtet<br />
und dann zurückgegeben.<br />
„Es hat etwas Figürliches. Darf ich fragen, woher Sie es haben?”,<br />
wandte sich Detlef an die Kursleiterin.<br />
„Ich muss Sie enttäuschen. Ich habe meinen Großvater danach<br />
gefragt. Doch <strong>der</strong> hat mir gesagt, auch sein Großvater habe ihm<br />
diese Frage nicht beantworten können. Wir nennen es das Zaubermännchen.<br />
Keiner weiß, woher es kommt und wann es in den<br />
Besitz eines meiner Vorfahren gelangt ist. Es ist gewissermaßen <strong>der</strong><br />
Talisman <strong>der</strong> Familie.<br />
Was ein Talisman ist, wissen Sie. Das Wort kommt aus dem<br />
Arabischen und bedeutet dort Magisches Bild, zauberkräftiger<br />
Schutz, den man am Körper trägt.<br />
Ich möchte wetten, dass auch mancher von Ihnen einen solchen<br />
Talisman als Glücksbringer besitzt und ihn bei Klassenarbeiten<br />
z.B. bei sich trägt.<br />
Wie alt schätzen Sie die Vorstellung eines solchen Zauberschutzes<br />
in <strong>der</strong> Menschheit?”<br />
„Ich glaube, dieser Wunsch nach einem Zauberschutz ist schon<br />
sehr alt”, meinte Christine.
„Schon die Höhlenmalereien <strong>der</strong> altsteinzeitlichen Jäger sollen<br />
meines Erachtens die fehlenden Jagdtiere herbeizaubern. Wenn es<br />
aber einen Jagdzauber gegeben hat, dann gab es auch einen Zauberschutz.”<br />
„Sie haben richtig vermutet, Christine. Nach dem, was wir über<br />
die Sitten und Bräuche <strong>der</strong> Aborigines in Australien und <strong>der</strong><br />
Buschmännern in Afrika in Erfahrung gebracht haben, muss die<br />
Umwelt <strong>der</strong> Altsteinzeitmenschen als beseelt empfunden worden<br />
sein. Irgendein Tier o<strong>der</strong> eine Pflanze, von <strong>der</strong> sie glaubten, in einer<br />
Notsituation beschützt worden zu sein, wurde seitdem als<br />
Zauberschutz <strong>der</strong> Sippe betrachtet. Es durfte fortan nicht mehr gejagt<br />
bzw. verzehrt werden.”<br />
„Ist das Totem <strong>der</strong> Indianer nicht auch so ein Zauberschutz?”,<br />
wollte Karl wissen.<br />
„Richtig. Von den Indianern haben wir den Ausdruck Totem<br />
für diesen Zauberschutz übernommen.<br />
Bemerkenswert ist, dass bei den Aborigines Australiens Mitglie<strong>der</strong><br />
desselben Totems nicht in geschlechtliche Beziehung zueinan<strong>der</strong><br />
treten dürfen. Heiratet z. B. ein Mann des Clans mit dem Totem<br />
Känguru eine Frau aus dem Clan mit dem Totem Emu, so sind<br />
die Kin<strong>der</strong> alle Emu. Einem Sohn dieser Ehe wird also durch die<br />
Totemregel <strong>der</strong> inzestuöse Verkehr mit seiner Mutter und seinen<br />
Schwestern, die Emu sind wie er, unmöglich gemacht. Dem Vater,<br />
<strong>der</strong> Känguru ist, bleibt aber nach dieser Regel <strong>der</strong> Inzest mit seinen<br />
Töchtern, die Emu sind, erlaubt.<br />
Bei väterlicher Vererbung des Totems wären die Kin<strong>der</strong> Känguru<br />
wie <strong>der</strong> Vater. Den Söhnen wäre <strong>der</strong> Geschlechtsverkehr mit ihrer<br />
Mutter, die Emu ist, erlaubt.<br />
<strong>Die</strong> Familienoberhäupter dürften daher dafür gesorgt haben,<br />
dass die mütterliche Vererbung die Regel wurde.”<br />
„Frau Dr. Rifenkoek, Sie haben gesagt, unsere altsteinzeitlichen<br />
Vorfahren haben ihre Umwelt als beseelt empfunden”, meldete
sich Maria zu Wort, „dann müssen sie sich selbst doch auch als beseelt<br />
empfunden haben. Was geschieht mit den Seelen ihrer Verstorbenen?”<br />
„Maria, Sie sprechen da einen wichtigen Gesichtspunkt an. <strong>Die</strong><br />
Seelen verlassen nach <strong>der</strong> Vorstellung unserer Vorfahren die<br />
Leiber, können als Geist frei schweben, aber auch in die Leiber<br />
an<strong>der</strong>er Menschen wie<strong>der</strong> ihren Wohnsitz nehmen.<br />
Mit dem Animismus, so nennt man die Vorstellung von <strong>der</strong> allgemeinen<br />
Beseelung <strong>der</strong> Natur, ist eng verbunden, dass die Seelen<br />
von Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen als Geister allgegenwärtig<br />
sind. Der Totem ist ein persönlicher Schutz vor dämonischen<br />
Geistern.<br />
Darüber hinaus hat man versucht, gegen die Zauberkraft <strong>der</strong><br />
dämonischen Geister einen Gegenzauber zu entwickeln. Er soll die<br />
Geister beschwichtigen, versöhnen, sie evtl. ihrer Macht berauben<br />
und sie dem Willen des Gegenzaubers unterwerfen.<br />
Eine <strong>der</strong> verbreitetsten Prozeduren dieser Magie besteht darin,<br />
sich von dem verhassten Dämon ein Ebenbild aus irgendeinem beliebigen<br />
Material zu machen. Was man dann dem Ebenbild antut,<br />
das stößt dann auch dem gehassten Urbild zu.”<br />
„Zu dem, was hier über die Vorstellungswelt unserer altsteinzeitlichen<br />
Vorfahren gesagt wird, fallen mir immer Parallelen im<br />
Verhalten meiner kleinen Schwester in den ersten Lebensjahren<br />
ein”, platzte es aus Karin heraus. „Gibt es da wirklich Parallelen?”<br />
„Sicher Karin. Sie haben im Biologieunterricht gelernt, dass <strong>der</strong><br />
menschliche Embryo im Mutterleib die Phasen <strong>der</strong> Evolution wie<strong>der</strong>holt.<br />
Warum sollte es bei <strong>der</strong> seelischen Entwicklung, <strong>der</strong> Ontogenese,<br />
wie die Fachleute sagen, an<strong>der</strong>s sein. Auch sie wie<strong>der</strong>holt<br />
die seelische Stammesentwicklung, die Phylogenese <strong>der</strong> Menschheit.<br />
Den tiefgreifenden Unterschied zwischen belebter und unbelebter<br />
Materie erfährt das Kleinkind erst nach und nach. Tieren, aber<br />
auch toten Gegenständen traut es ohne weiteres ähnliche Gefühle<br />
<strong>der</strong> Freude, des Schmerzes zu, wie es sie selbst empfindet.
Beginnt ein Kind sich im Dunkeln zu fürchten, sind ihm <strong>der</strong> finstere<br />
Keller o<strong>der</strong> ein dunkler Wald unheimlich und üben Skelette<br />
o<strong>der</strong> Totenköpfe eine beson<strong>der</strong>e Faszination aus, so hat es entwicklungsgeschichtlich<br />
gesehen die altsteinzeitliche Phase <strong>der</strong><br />
Animation überwunden und tritt in die manische Phase des Geisterglaubens<br />
ein, wie sie etwa die frühe Jungsteinzeit beherrschte.<br />
Auf dieser geistigen Entwicklungsstufe glaubt ein Kind ohne<br />
weiteres an die Existenz von Geistern und kann sich maßlos davor<br />
fürchten. An<strong>der</strong>erseits fühlt es sich von Gespenstergeschichten magisch<br />
angezogen, obwohl es genau weiß, dass seine Angst hierdurch<br />
noch gesteigert wird. Es ist die Zeit, in welcher Märchen und<br />
Sagen gerne gehört werden. Da Manismus und Magie vielfach eng<br />
miteinan<strong>der</strong> verbunden sind, könnte man diese manische Phase<br />
auch die eigentlich magische Zeit <strong>der</strong> Individualentwicklung nennen.<br />
Doch kehren wir zu den frei schwebenden Seelen <strong>der</strong> Verstorbenen<br />
zurück. Damit sie als böse Dämonen den Lebenden keinen<br />
Schaden zufügen konnten, begrub man sie fernab von den Lebenden.<br />
Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Leben bedeuten<strong>der</strong><br />
Verstorbener schwindet die Furcht vor <strong>der</strong>en dämonischem Geist<br />
und man erinnert sich ihrer Leistungen im Leben. Sie will man nun<br />
durch magische Beschwörungen für die Lebenden nutzbar machen.<br />
Es beginnt <strong>der</strong> Ahnenkult. Je länger <strong>der</strong> zeitliche Abstand und je<br />
ungebrochener <strong>der</strong> Kult um diesen bedeutenden Ahnen, umso gewisser<br />
die Erhebung des Ahnen in den Götterhimmel.<br />
Doch sind die Übergänge nicht abrupt, son<strong>der</strong>n fließend. Vom<br />
Animismus, <strong>der</strong> allgemeinen Beseelung <strong>der</strong> Natur, über den Totemismus<br />
und Manismus bis hin zum Götterglauben bleiben stets<br />
Formen <strong>der</strong> vorangegangenen Vorstellungswelt auch weiterhin lebendig.<br />
So bleiben die Totemtiere gleichsam animistisch beseelt,<br />
werden die Ahnen noch lange Zeit in totemistischer Tiergestalt<br />
verehrt, erhalten die Götter noch vielfach bis heute Ahnengestalt,<br />
wenn sie auf ihrem Himmelsthron wie Königsmumien auf Totenstühlen<br />
wie<strong>der</strong>gegeben werden.
Das gnaden- o<strong>der</strong> schadenreiche Wirken mächtiger Toter aus<br />
dem Grab heraus in das Leben <strong>der</strong> Menschen hinein ist ein Glaube<br />
<strong>der</strong> Steinzeit, <strong>der</strong> stark geblieben ist bis in unsere Tage.<br />
Und jetzt Erika, kommen wir zu <strong>der</strong> Frage: Warum beten wir<br />
das Vaterunser und nicht das Mutterunser. Sie waren es doch, die<br />
mit <strong>der</strong> Frage nach dem Feminismus das Patriarchat zur Diskussion<br />
stellte.<br />
Was wissen Sie”, und damit wandte die Lehrerin sich an die gesamte<br />
Gruppe, „vom Neolithikum?”<br />
„Wir finden zu Beginn <strong>der</strong> Jungsteinzeit erstmals Siedlungen an<br />
den Mündungen <strong>der</strong> großen Flüsse. <strong>Die</strong> Archäologen haben am Indus,<br />
am Euphrat und im Nildelta Siedlungsspuren ausgegraben”,<br />
wusste Klaus.<br />
„Ich habe gelesen, dass die Rastplätze dort den Nomaden<br />
reichhaltigere Früchte boten, weil die verlorenen Samen <strong>der</strong> letzten<br />
Rast durch zwischenzeitliche Überschwemmung und Verschlammung<br />
gekeimt sind”, trug Michael zur Erklärung bei.<br />
„Wenn die Großwildtiere durch die immer perfektere Jagdtechnik<br />
abnahmen und die Jäger weniger Beute zum Lager brachten,<br />
dann wurde das, was die Frauen zum Lebensunterhalt beisteuerten,<br />
immer wichtiger”, vermutete Christine.<br />
„Sie haben Recht, Christine. <strong>Die</strong> geernteten Früchte, seien es<br />
Feldfrüchte, seien es Jungtiere <strong>der</strong> inzwischen gezähmten Ziegen,<br />
Schafe und Rin<strong>der</strong>, seien es Kin<strong>der</strong> als willkommene Arbeitskräfte,<br />
werden entscheidend im Daseinskampf.<br />
Es ist die Große Mutter, <strong>der</strong> sie, so glauben die sesshaft gewordenen<br />
Nomaden, das alles zu verdanken haben.<br />
Der Ahnenkult gilt also den großen Müttern, die in diesen Bauernkulturen<br />
zur zentralen Gottheit aufsteigen.<br />
Für die matriarchalische Gesellschaftsordnung ist beson<strong>der</strong>s<br />
charakteristisch, dass die männlichen Totemtiere – neben dem<br />
Wildstier, <strong>der</strong> wilde Eber und Wid<strong>der</strong> – von <strong>der</strong> Großen Mutter<br />
geboren werden; das männliche Geschlecht wird also schon in
seinen totemistischen Ahnen dem weiblichen untergeordnet. Das<br />
hin<strong>der</strong>t nicht, Stiere als Sinnbild <strong>der</strong> männlichen Zeugungskraft in<br />
beträchtlicher Größe abzubilden, frühe Vorformen für den einige<br />
tausend Jahre jüngeren altkretischen Stierkult.<br />
Doch wie konnten die männlichen Götter ihren Platz im Götterhimmel<br />
zurückerobern und, denken Sie in <strong>der</strong> griechischen Mythologie<br />
an Zeus, die Majorität erlangen?”<br />
„Als ich mit meinen Eltern in den Ferien in Ägypten war”, meldete<br />
sich Frank zu Wort, „machte uns unser Reiseleiter im ägyptischen<br />
Museum in Kairo darauf aufmerksam, dass die Hauptgöttin<br />
Unterägyptens Hathor mit einem Stierhaupt, während <strong>der</strong> Hauptgott<br />
Oberägyptens Osiris mit einem Falkenkopf dargestellt war.<br />
Das sei, so erklärte er uns, ein Hinweis darauf, dass es in Unterägypten<br />
eine bäuerliche Kultur mit einem Matriarchat und in<br />
Oberägypten ursprünglich eine nomadische Hirtenkultur mit einem<br />
Patriarchat gegeben habe.<br />
<strong>Die</strong> zunehmende Austrocknung <strong>der</strong> ursprünglichen Steppenlandschaft<br />
Sahara habe, so erzählte er uns weiter, diese Menschen<br />
an den Nil getrieben wo sie durch die jährlichen Nilüberschwemmungen<br />
und den an sich schmalen Fruchtbarkeitsstreifen entlang<br />
des Nils zu einer Bewässerungstechnik gezwungen wurden, die<br />
Gemeinschaftsbildung verlangte.<br />
Es muss dann etwa um 3 000 vor Christi zum Krieg gekommen<br />
sein. Der erste Versuch, Unterägypten zu erobern, scheint aber gescheitert<br />
zu sein, denn Osiris wurde getötet und galt seitdem bei<br />
den Ägyptern als Gott des Totenreiches. Erst seinem Sohn Horus<br />
gelang es, die beiden Län<strong>der</strong> zu vereinen.<br />
Seitdem, so schloss unser Reiseleiter seine Erklärung, seien seine<br />
Nachfolger als Pharaonen Verkörperung des Sonnengottes Re<br />
geworden. <strong>Die</strong> zahlreichen Götter bei<strong>der</strong> Kulturen wurden von<br />
den Menschen des vereinigten Ägyptens angefleht, wenn sie <strong>der</strong>en<br />
Funktion bedurften.”
„Das müsste im ägäischen Raum ähnlich abgelaufen sein”, folgerte<br />
Klaus.<br />
„Wir wissen, dass die mykenische, patriarchalisch ausgerichtete<br />
Kultur die minoische, die matriarchalisch orientiert war, verdrängt<br />
hat. Bei Homer, das muss etwa 600 bis700 Jahre später sein, gibt<br />
es den voll ausgeprägten polytheistischen Götterhimmel mit Zeus<br />
an <strong>der</strong> Spitze.”<br />
„Etwas ist bemerkenswert am Polytheismus”, ergänzte Frau Dr.<br />
Rifenkoek.<br />
„<strong>Die</strong> Götter hatten zwar in jedem Land an<strong>der</strong>e Namen. Aber<br />
mo<strong>der</strong>n ausgesprochen, die Funktionen waren international identisch.<br />
Wenn etwa in den römischen Legionen ein germanischer<br />
Söldner seine Aussage bei Thor beschwor, dann wusste sein italienischer<br />
Kollege, dass damit Mars gemeint war.”<br />
Frank, hat Ihnen Ihr ägyptischer Reiseleiter auch etwas über<br />
den Totenkult <strong>der</strong> Ägypter erzählt?” Mit dieser Frage eröffnete<br />
Frau Dr. Rifenkoek die nächste Unterrichtsstunde.<br />
„Ja. Für die Ägypter war die Erde eine Scheibe. An ihrem östlichen<br />
Lichtpunkt ging morgens die Sonne auf und abends am westlichen<br />
Lichtpunkt, so nannten sie den Horizont, wie<strong>der</strong> unter. Des<br />
Nachts wan<strong>der</strong>te sie durch die Unterwelt wie<strong>der</strong> zum östlichen<br />
Lichtpunkt.<br />
War es tagsüber <strong>der</strong> Sonnengott Rê, verkörpert in dem lebendem<br />
Pharao, <strong>der</strong> Gericht hielt über die Lebenden, so war es nachts<br />
Osiris, <strong>der</strong> über die Gestorbenen Gericht hielt.<br />
Das Sterben war nach altägyptischer Vorstellung, so unser Reiseleiter,<br />
ein Übergang zu einem Zwischendasein, in welchem <strong>der</strong><br />
Mensch als unsterbliche Seele weiterlebte und auf das Gericht<br />
wartete, vor dem er über alle seine früheren Gedanken und Taten<br />
Rechenschaft ablegen musste. Ob diese Verstorbenen zu Höllenstrafen<br />
verurteilt wurden, ob sie durch ein läuterndes Fegefeuer gehen<br />
mussten o<strong>der</strong> ob sie die ewige Seligkeit erlangten, darüber entschied<br />
ihr Verhalten auf Erden.”
„Wie <strong>der</strong> Gedanke <strong>der</strong> unsterblichen Seele nach Indien gelangte,<br />
ob über Handelsbeziehungen mit <strong>der</strong> uns unbekannten Induskultur<br />
o<strong>der</strong> ob originär aus <strong>der</strong> animistischen Vergangenheit <strong>der</strong><br />
Indoarier entwickelt”, sinnierte die Kursleiterin, „darüber wissen<br />
wir nichts.<br />
Jedenfalls entwickelten die Brahmanen, die indische Priesterkaste,<br />
eine Lehre, nach <strong>der</strong> zwischen <strong>der</strong> Seele und dem Körper ein<br />
loses, leicht und schmerzlos aufzulösendes Verhältnis besteht. Der<br />
Körper vergeht, die unsterbliche Seele schlüpft in einen an<strong>der</strong>en<br />
Körper.<br />
Ob sie in ein höheres o<strong>der</strong> nie<strong>der</strong>es Lebewesen schlüpft, hängt<br />
von dem Verhalten ihres früheren Gastwirtes ab. <strong>Die</strong>se Seelenwan<strong>der</strong>ung<br />
zu beenden und <strong>der</strong> Seele die ewige Ruhe zu geben, ist<br />
daher das vordringliche Streben <strong>der</strong> Gläubigen.”<br />
„Das erklärt auch, dass es in dieser Weltregion keine naturwissenschaftlichen<br />
Entdeckungen wie in China gegeben hat”, meinte<br />
Konrad.<br />
„Richtig gesehen, Konrad. Aber auch im ägäischen Raum, zur<br />
Zeit <strong>der</strong> Naturphilosophen, hat die Seelenwan<strong>der</strong>ung ihre Anhänger.<br />
Nach Pythagoras, sie kennen ihn aus <strong>der</strong> Geometrie, entstammt<br />
die Seele einer an<strong>der</strong>en Welt. Da sie sündig geworden ist, wurde<br />
sie an einen Leib gekettet und muss von Leib zu Leib ein Buß- und<br />
Wan<strong>der</strong>leben führen, bis es ihr gelingt vom Leib und seiner Sinnlichkeit<br />
frei zu kommen und wie<strong>der</strong> ganz Geist zu werden.<br />
In Unteritalien gründete er eine Bru<strong>der</strong>schaft, <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong><br />
sich jeglichen Fleischgenusses enthielten, aus Angst, sie könnten<br />
Lebewesen verzehren, in denen die Seelen ihrer Angehörigen eingezogen<br />
sind.<br />
Von Xenophanes, Zeitgenosse des Pythagoras und erster Vertreter<br />
eines Pantheismus, für den Gott in Allem ist, stammt folgen<strong>der</strong><br />
Spottvers:<br />
Als er vorbeigehend sah, wie ein Hündchen wurde misshandelt,<br />
sprach er, von Mitleid erfasst, so ein begütigend Wort:
‚Lass und schlag ihn nicht mehr; denn eines befreundeten Mannes<br />
Seele erkannt’ ich am Klang, als ich die Stimme vernahm.’’<br />
Auch Platon war noch Anhänger dieser magischen Gottesvorstellung.<br />
Für ihn ist <strong>der</strong> Leib eine Art Fahrzeug <strong>der</strong> Seele. Wird die<br />
Seele im Totengericht nicht freigesprochen, erfolgt ihre Wie<strong>der</strong>geburt<br />
erst nach 1 000 Jahren. Dabei kann sie sich den neuen Leib<br />
wählen, wobei die Erfahrungen <strong>der</strong> vorigen Lebenszeit eine Rolle<br />
spielen. Das führt bei späteren Inkarnationen zu höheren o<strong>der</strong> nie<strong>der</strong>en<br />
Stufen, je nach den ewigen Ideen und Wahrheiten, die die<br />
Seele in ihrer vergleichsweise kurzen Lebensphase erschaut hat.<br />
„War das wie in Indien auch bei Platon ein ewiger Kreislauf?”,<br />
wollte Maria wissen.<br />
„Nein, die Seelenwan<strong>der</strong>ung dauert maximal 10 000 Jahre.<br />
Dann kehrt die Seele zum Demiurgen, so nennt Platon den Schöpfer,<br />
<strong>der</strong> sie auf die Werkzeuge <strong>der</strong> Zeit verpflanzt hat, zurück.<br />
Bei Aristoteles wird aus <strong>der</strong> Seele die Entelechie, wie er den<br />
Bauplan des Lebens nennt. Weil diese Entelechie bei je<strong>der</strong> Art<br />
gleich ist, hat Averroës, wie wir schon besprochen haben, daraus<br />
die theologischen Konsequenzen gezogen.”<br />
„In <strong>der</strong> Achsenzeit (800 bis 200 vor Christi), so haben wir von<br />
Karl Jaspers gehört, beginnt die Menschheit sich vom Aberglauben<br />
zu lösen. Für die Erklärung <strong>der</strong> Phänomene <strong>der</strong> Natur stehen dafür<br />
Thales, Anaximan<strong>der</strong> und Anaximenes, die Naturphilosophen des<br />
6. vorchristlichen Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />
Welche Namen fallen Ihnen ein, wenn es um religiöse Erklärungsversuche<br />
jenseits des Götterglaubens geht?”<br />
„Ich glaube <strong>der</strong> schon erwähnte Konfuzius spielt hierbei eine<br />
Rolle”, meinte Peter.<br />
„Auch Buddha und Zarathustra gehören hierher”, ist Frank<br />
überzeugt.<br />
„Aber müssen wir nicht Moses an erster Stelle nennen, <strong>der</strong> doch<br />
schon 700 Jahre vor <strong>der</strong> Achsenzeit einen Monotheismus predigte”,<br />
wollte Maria wissen.
„Mit Moses und dem jüdischen Monotheismus, Maria, werden<br />
wir uns geson<strong>der</strong>t beschäftigen. Versuchen wir zunächst einmal die<br />
drei an<strong>der</strong>en chronologisch zu ordnen.”<br />
„Ich glaube, Zarathustra ist <strong>der</strong> früheste Religionsphilosoph”,<br />
wusste Frank.<br />
„Richtig. Zarathustra wird etwa um 600 vor Christi in Baktrien<br />
geboren. Nach ihm findet ein ewiger Kampf zwischen Gut und Böse<br />
statt, sowohl in <strong>der</strong> Welt als auch in <strong>der</strong> Seele des Menschen.<br />
Der Mensch muss sich zwischen Gut und Böse entscheiden, denn<br />
davon hängt es ab, ob er nach seinem Tode in den Himmel o<strong>der</strong> in<br />
die Hölle kommt, die keine lokalen Orte, son<strong>der</strong>n geistige Zustände<br />
sind.<br />
<strong>Die</strong> alten Götter trifft Zarathustras Fluch:<br />
Doch ihr Götter: alle seid ihr schlechten Geistes Schoß<br />
Auch wer euch geehret: Lüge und des Hochmuts Spross;<br />
Eure Taten mehr noch, rühm sie gleich <strong>der</strong> Erdenkreis.<br />
Weil Dareios, Perserkönig ab 520 vor Christi, die semitischaramäische<br />
Sprache und Buchstabenschrift für das gesamte Weltreich<br />
von Indien bis Äthiopien zur amtlichen Einheitssprache und<br />
Einheitsschrift erkor, waren die nach dem Tode Zarathustras um<br />
die gleiche Zeit schriftlich festgehaltenen Lehren bald überall zugänglich.”<br />
„Wann hat eigentlich Buddha gelebt. Sein Geburtsort in Nordindien<br />
dürfte doch nicht so weit von <strong>der</strong> Wirkungsstätte des Zarathustra<br />
im Ostiran entfernt sein”, wollte Christine wissen.<br />
„Buddha ist vierzig Jahre jünger als Zarathustra. Sein religiöses<br />
Wirken beginnt etwa zur Zeit <strong>der</strong> Veröffentlichung <strong>der</strong> Lehren des<br />
Zarathustras. Wir wissen nicht, ob er sie gekannt hat. Aber zweifellos<br />
gab es Handelsbeziehungen zwischen Baktrien und Nordindien,<br />
<strong>der</strong>en Verträge in aramäischer Schrift festgehalten wurden.<br />
Der Leib ist nicht von Bestand, Reichtümer währen nicht ewig,<br />
<strong>der</strong> Tod ist beständig in <strong>der</strong> Nähe, warum also sammle ich<br />
Verdienst an?”
Buddha hat, so weiß es die Überlieferung, seine Jünger davor<br />
gewarnt, sich auf Fragen nach einer göttlichen Welt und dem Jenseits<br />
einzulassen. Ein Buddha, ein Erleuchteter, wird we<strong>der</strong> als ein<br />
Gott noch als irdische Erscheinung eines Gottes verstanden. Ein<br />
Buddha versteht sich nur als sittlich vollkommener Mensch. Sein<br />
Streben ist rein spirituell. Er will den ewigen Kreislauf <strong>der</strong> Seelenwan<strong>der</strong>ung<br />
durchbrechen und seiner Seele die Ruhe des Nirwanas<br />
gewähren.”<br />
„Konfuzius war doch ein Zeitgenosse Buddhas. Können Zarathustras<br />
Lehren über die Seidenstraße auch bis nach China vorgedrungen<br />
sein?”, erkundigte sich Detlef.<br />
„Auch das wissen wir nicht. Aber Zarathustra hat immer von<br />
Ahura Mazda, dem Weisen Herrn gesprochen, nie von Gott. Das<br />
lässt sowohl die ethische Lösung Buddhas als auch die weltliche<br />
Lösung des Konfuzius zu.<br />
Ihr wisst noch nicht genug über die Lebenden – wie könnt ihr<br />
über die Toten etwas wissen? Ihr seid nicht imstande, Menschen<br />
zu dienen – wie wollt ihr Geistern dienen?<br />
Und<br />
Zu sagen, dass man eine Sache nicht kennt, wenn man sie<br />
tatsächlich nicht kennt, das ist Kenntnis.<br />
Das Maß des Menschen ist <strong>der</strong> Mensch.<br />
Das sind Sätze von Konfuzius.<br />
Durch Menschlichkeit und Sittlichkeit soll eine vollkommene,<br />
rechtschaffene und moralische Gesellschaft geformt werden.<br />
Dass man in China unter dem Einfluss des Konfutse anfing, die<br />
Götter ihres übermenschlichen Zaubers zu entkleiden und sie zu<br />
Menschen mit beson<strong>der</strong>en Fähigkeiten herabzustufen, darüber haben<br />
wir bereits gesprochen. Zunehmend verlagerten so die Chinesen<br />
das Schwergewicht von metaphysischen Deutungsversuchen<br />
auf diesseitsbezogene humanistische Welterklärungen.<br />
Und nun Maria, zum jüdischen Monotheismus.
Das Gelobte Land, in das die Israeliten, Kleinviehnomaden aus<br />
dem Sinaigebiet, ab dem 13. Jahrhun<strong>der</strong>t vor Christi allmählich<br />
einsickerten, ist ein schmaler Küstenstreifen zwischen <strong>der</strong> Ostküste<br />
des Mittelmeeres und <strong>der</strong> syrisch-arabischen Wüste.<br />
<strong>Die</strong> strategische Bedeutung dieses Küstenstreifens als Durchzugsland<br />
sowohl für Ägypten als auch für die Großreiche des<br />
fruchtbaren Halbmondes im Nordosten machte die dort siedelnden<br />
Menschen zu tributpflichtigen Vasallen <strong>der</strong> jeweiligen Vormacht.<br />
<strong>Die</strong> zerklüftete Landschaft, hervorgerufen durch das bis auf 400 m<br />
unter den Meeresspiegel absinkende Jordantal, führte dazu, dass<br />
die we<strong>der</strong> <strong>der</strong> Sprache noch <strong>der</strong> Herkunft nach einheitlichen<br />
Volksgruppen hier nur Zwergstaaten ins Leben riefen.<br />
<strong>Die</strong> aus <strong>der</strong> unfruchtbaren Wüste kommenden Stämme Israels<br />
empfanden den Fruchtbarkeitskult <strong>der</strong> Kanaaniter, <strong>der</strong> auch ins<br />
alltägliche Verhalten ausstrahlte, als unheimlich, schamlos und<br />
pervers. Jahwe, <strong>der</strong> Gott Israels, war ein Gott des Rechts. Wer<br />
ihm dienen wollte, musste seine Gebote und Gesetze gehorsam<br />
aufnehmen und in allen Bereichen des Lebens wirken lassen.<br />
Je<strong>der</strong> Erfolg, so erklärten Propheten und Priester seitdem, sei<br />
ihrem Gott zu verdanken, je<strong>der</strong> Misserfolg Folge <strong>der</strong> Missachtung<br />
seiner Gebote. <strong>Die</strong>se monotheistische Exklusivität inmitten polytheistischer<br />
Nachbarn führte zu ständigen blutigen Auseinan<strong>der</strong>setzungen,<br />
zumal Jahwe ihnen versprochen hatte:<br />
‚Nicht hat euch <strong>der</strong> Herr angenommen und euch erwählt, darum<br />
dass euer mehr wäre als alle Völker – denn du bist das kleinste<br />
unter allen Völkern -; son<strong>der</strong>n darum, dass er euch geliebt hat.’<br />
‚So hüte dich nun, dass du des Herrn, deines Gottes, nicht<br />
vergessest, damit dass du seine Gebote und seine Gesetze und<br />
Rechte, die ich dir heute gebiete, nicht hältst.’<br />
‚Wirst du aber des Herrn, deines Gottes, vergessen und an<strong>der</strong>en<br />
Göttern nachfolgen und ihnen dienen und sie anbeten,<br />
so bezeuge ich heute über euch, dass ihr umkommen werdet.’”
Fragend blickte Frau Dr. Rifenkoek in die Runde.<br />
„Soviel ich aus dem Alten Testament weiß”, meldete sich Maria,<br />
„ist diese letzte Prophezeiung Realität geworden. <strong>Die</strong> Assyrer<br />
haben das Nordreich Israel zerstört, die Babylonier das Reich Judäa.<br />
In beiden Fällen führte man die geistige Führungsschicht nach<br />
Mesopotamien in die Gefangenschaft.“<br />
„Ihre letzte Bemerkung über die Deportation <strong>der</strong> geistigen Führungsschicht,<br />
Maria, ist wichtig, wie wir noch sehen werden”,<br />
kommentierte die Kursleiterin.<br />
„Viele Juden, die nach dem letzten gescheiterten Aufstand gegen<br />
die Babylonier die Rache Nebukadnezars fürchteten, flüchteten<br />
in das verbündete Ägypten.<br />
Bei Ausgrabungen auf <strong>der</strong> Nilinsel Elephantine unterhalb des 1.<br />
Kataraktes fanden Archäologen Papyri einer jüdischen Söldnerkolonie<br />
aus dem 5. vorchristlichen Jahrhun<strong>der</strong>t. <strong>Die</strong>se Söldner standen<br />
in <strong>Die</strong>nsten Ägyptens und später Persiens und bewachten die<br />
Südgrenze des Reiches. <strong>Die</strong>se Papyri enthalten über 120 jüdische<br />
Namen. Unter diesen Namen findet sich kein Abraham, Jakob,<br />
Isaak Moses o<strong>der</strong> David, Namen die in späteren Zeiten bei den<br />
Juden sehr häufig vorkommen. Für die Juden in Elephantine<br />
scheint es die Knechtschaft in Ägypten, den Exodus und die fünf<br />
Bücher Moses nie gegeben zu haben.<br />
Nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen <strong>der</strong> Alttestamentler<br />
ist die erste Fassung des Pentateuchs, <strong>der</strong> fünf Bücher Moses, in<br />
<strong>der</strong> babylonischen Diaspora nach <strong>der</strong> Befreiung durch Kyros entstanden.<br />
Der Jahwist, so nennen sie den unbekannten Verfasser,<br />
weil er am häufigsten von Jahwe spricht, scheint in seine Zentralgestalt<br />
Moses zwei Vorbil<strong>der</strong> verschmolzen zu haben. Für Moses,<br />
den Führer beim Auszug aus Ägypten, scheint <strong>der</strong> Perserkönig Kyros<br />
Pate gestanden zu haben, und <strong>der</strong> Gesetzeslehrer Moses vom<br />
Berge Sinai erinnert an Zarathustra.<br />
Judäa blieb, auch nach <strong>der</strong> Rückkehrmöglichkeit durch die persische<br />
Befreiung ein politischer und sozialer Unruheherd, politisch,
weil <strong>der</strong> persische Gouverneur von Samaria die verwaltungsmäßige<br />
Selbständigkeit Judäas behin<strong>der</strong>te und sozial, weil die Deportation<br />
die Eigentumsverhältnisse durcheinan<strong>der</strong> gebracht hatte und die<br />
For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> aus dem Exil Heimkehrenden nicht befriedigt<br />
wurden.<br />
Das persische Interesse an politischer Ruhe in dieser heißen<br />
Nahtstelle zu Ägypten traf sich mit dem Verantwortungsgefühl <strong>der</strong><br />
babylonischen Diaspora für ihr Mutterland. Nehemia, ein einflussreicher<br />
Exiljude, schuf im Auftrag und mit Vollmacht des persischen<br />
Großkönigs durch seine Reformen politische und soziale<br />
Ordnung in Judäa.<br />
Esra ergänzte diese organisatorischen durch religiöse Reformen.<br />
<strong>Die</strong> Alttestamentler vermuten, dass dabei die zweite Fassung des<br />
Pentateuchs, die so genannten Priesterschriften, dem Alten Testament<br />
hinzugefügt wurden.<br />
Das Verbot <strong>der</strong> Mischehen, die Wie<strong>der</strong>einführung <strong>der</strong> Beschneidung,<br />
die strikte Einhaltung des Sabbats und <strong>der</strong> hohen Feste<br />
des jüdischen Glaubens gehen auf sein Wirken zurück. <strong>Die</strong>se<br />
Reformen dienten <strong>der</strong> Abwehr <strong>der</strong> für die Heiligkeit <strong>der</strong> Gemeinde<br />
gefährlichen religiösen Fremdeinflüsse.“<br />
„Liegt in diesen Reformen nicht auch <strong>der</strong> Keim für die Vorstellung<br />
vom Auserwählten Volk und damit verbunden für spätere antijüdische<br />
Reaktionen?”<br />
„Mit dem Wort ‚Keim’ kann ich mich einverstanden erklären,<br />
Peter, aber zur Ausprägung müssen noch an<strong>der</strong>e Faktoren, wie<br />
christliche Verleumdungen, Sozialneid u.ä. hinzukommen.<br />
In <strong>der</strong> dritten Fassung werden die Bücher <strong>der</strong> Chronik dem Alten<br />
Testament hinzugefügt. Das scheint in hellenistischer Zeit geschehen<br />
zu sein, um Jerusalem als zentrale Opferstätte gegenüber<br />
Samaria hervorzuheben.“<br />
„Hat <strong>der</strong> Tempel in Jerusalem für die Juden <strong>der</strong> Zeitenwende<br />
die Bedeutung gehabt wie heute die Kaaba in Mekka für die Mohammedaner?”
„Ja, Christine, <strong>der</strong> Vergleich ist treffend.<br />
<strong>Die</strong> dritte Fassung, die Hinzufügung des heroischen Zeitalters,<br />
ergänzte die religiöse Verbundenheit des jüdischen Volkes um ein<br />
Nationalbewusstsein.<br />
Erinnern Sie sich bitte an unsere Analyse <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />
Deutschtümelei im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />
Du wirst alle Völker verzehren, die <strong>der</strong> Herr, dein Gott, dir geben<br />
wird.”<br />
„Entschuldigen Sie Frau Dr. Rifenkoek”, unterbrach Maria,<br />
„aber das muss doch, wie wir in den Diskussionen zur Ich-Bildung<br />
erörtert haben, zu Prägungsvorgängen im Sinne eines religiösen<br />
Über-Ichs geführt haben.”<br />
„…und zur endgültigen staatspolitischen Katastrophe zur Römerzeit”,<br />
ergänzte Detlef. „<strong>Die</strong> religiösen Fanatiker haben doch<br />
um 70 n. Chr. und 60 Jahre später versucht, das Joch <strong>der</strong> Römer<br />
abzuwerfen. Das Ergebnis war, dass die Juden in alle Welt zerstreut<br />
wurden und sie erst vor 30 Jahren in Palästina einen Staat<br />
haben bilden können.”<br />
„Aber das historisch Einmalige bleibt, dass die Juden in <strong>der</strong> Diaspora<br />
in all <strong>der</strong> Zeit ihrem Glauben treu geblieben sind”, stellte<br />
Sylvia abschließend fest.<br />
„Halten wir fest”, fasste Frau Dr. Rifenkoek die Erkenntnisse<br />
<strong>der</strong> Stunde zusammen, „ausgehend von Zarathustra lassen sich drei<br />
große ethische Strömungen feststellen:<br />
- für den indischen Buddhismus ist <strong>der</strong> Mystiker die Leitfigur,<br />
- für den chinesischen Konfuzianismus ist es <strong>der</strong> Weise und<br />
- für den nahöstlichen Monotheismus ist es <strong>der</strong> Prophet.<br />
Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen.<br />
Wir aber hielten ihn für den, <strong>der</strong> geplagt und von<br />
Gott geschlagen und gemartert wäre.<br />
Es ist ein Bibelzitat. Wo, glauben Sie, steht dieses Zitat?” Fragend<br />
wandte sich die Kursleiterin an ihre Gruppe.
„Es steht sicher in eines <strong>der</strong> Evangelien.”<br />
„Es könnte aber auch in <strong>der</strong> Offenbarung des Johannes stehen.”<br />
„Sicher stammt es aus einer <strong>der</strong> Briefe des Paulus.”<br />
Zu allen Vermutungen schüttelte die Philosophielehrerin verneinend<br />
den Kopf.<br />
„Es steht bei Jesaja im 53. Kapitel, Vers 4. Aber das Zitat<br />
stammt nicht von dem Propheten Jesaja, <strong>der</strong> im 8. vorchristlichen<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t lebte, zurzeit als die Assyrer das Nordreich Israel auslöschten.<br />
<strong>Die</strong>ser Deuterojesaja genannte Prophet, dessen Namen wir<br />
nicht kennen, lebte zur Zeit Kyros im babylonischen Exil und hat<br />
seine Botschaften als Verse 40-55 an die des älteren Jesaja angehängt.”<br />
„Ist das <strong>der</strong> Jesaja aus dem Weihnachtslied Es ist ein Ros entsprungen?”<br />
„Ich glaube nicht, dass <strong>der</strong> Verfasser dieses schönen alten Weihnachtsliedes<br />
gewusst hat, Erika, dass es sich hierbei um zwei<br />
Propheten handelt, aber sicher hat er sich auf die Verse des Deuterojesaja<br />
bezogen.“<br />
„<strong>Die</strong> Zerstreuung <strong>der</strong> Juden in alle Welt, veranlasst durch Kaiser<br />
Hadrian nach dem zweiten vergeblichen Aufstand in Palästina,<br />
muss doch den Glauben <strong>der</strong> Juden an einen politischen Messias<br />
schwer erschüttert haben und eine Flüchtlingswelle in die Diaspora<br />
ausgelöst haben”, meinte Peter. „Ich stelle mir das in <strong>der</strong> Wirkung<br />
so vor, wie die Vertreibung unserer ostdeutschen Landsleute vor<br />
25 Jahren.”<br />
„Sicher, Peter, kamen unter dem Schock des Tempelverlustes<br />
von Jerusalem bei den gläubigen Juden Zweifel auf, ob sie die Botschaft<br />
vom Herannahen des Messias richtig verstanden hatten.<br />
<strong>Die</strong> treu am Glauben <strong>der</strong> Väter festhaltenden Juden gründeten<br />
unter <strong>der</strong> geistlichen Führung von Rabbinern – die zentrale Priesterhierarchie<br />
seit dem Tempelverlust in Jerusalem bestand nicht<br />
mehr – in <strong>der</strong> Diaspora neue Gemeinden und harrten weiterhin auf<br />
das Herannahen des Messias.
An<strong>der</strong>e fragten sich, ob Jesaja nicht Recht habe und <strong>der</strong> Messias,<br />
arm und politisch ohnmächtig, bereits unter ihnen geweilt habe,<br />
wie es später <strong>der</strong> Evangelist Johannes in Kapitel 18, Vers 36 Jesus<br />
in den Mund gelegt hat:<br />
Mein Reich ist nicht von dieser Welt.<br />
Sie fürchteten, Gott nicht verstanden zu haben, obwohl er ihnen<br />
schon längst ein Zeichen gegeben habe. Jedenfalls entwickelte<br />
sich bei den hellenisierten Juden <strong>der</strong> Diaspora <strong>der</strong> Glaube und die<br />
Hoffnung, Jesus von Nazareth sei <strong>der</strong> versprochene Messias gewesen.<br />
Historisch gesehen haben wir von Jesus, aber auch von Moses,<br />
keine Kenntnisse, die von außerhalb <strong>der</strong> Bibel stammen. Alle<br />
Evangelien stammen aus dem 2. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />
Der Erfolg des Christentums als Religion beruht einmal auf seine<br />
Verbreitung durch Paulus, <strong>der</strong> den christlichen Glauben aus<br />
den Klammern des auserwählten Volkes befreite und für die Heiden<br />
öffnete. Zum an<strong>der</strong>en wurde <strong>der</strong> christliche Glaube bis zur<br />
Einsetzung als Staatsreligion durch Konstantin, wie Nietzsche bemerkte,<br />
zu einer Hoffnung für alle Armen und Unterdrückten, dass<br />
es ihnen im Jenseits besser gehen würde.”<br />
„Wir haben gehört, dass <strong>der</strong> Islam innerhalb von knapp 100<br />
Jahren ganz Nordafrika und Spanien überrollt hat”, meldete sich<br />
Maria zu Wort.<br />
„Sie haben uns auch erklärt, dass die geistige Elite den Arabern<br />
geholfen hat, weil <strong>der</strong>en religiöse Toleranz ihnen gestattete, ihren<br />
alten Glauben beizubehalten. Aber warum ist die breite Masse mit<br />
fliegenden Fahnen zum Islam übergetreten?<br />
Vorher waren ganz Nordafrika und Spanien christlich. Augustinus<br />
war Bischof im heutigen Tunesien. Wenn aber nicht <strong>der</strong> größere<br />
Teil zum Islam konvertiert wäre, hätten die Araber Spanien<br />
nicht über 600 Jahre besetzt halten können und wären heute nicht<br />
alle Staaten Nordafrikas muslimisch.”<br />
„Ich habe in <strong>der</strong> Literatur bisher keine Erklärung für das gefun-
den, was Sie mit fliegenden Fahnen zum Islam übergetreten gekennzeichnet<br />
haben, Maria.<br />
Für mich sind aber zwei kirchliche Auseinan<strong>der</strong>setzungen zur<br />
Zeit des Augustinus mit ursächlich für dieses Phänomen. Das eine<br />
ist <strong>der</strong> Streit um die Frage, wer darf die Sakramente spenden und<br />
das an<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Streit um die Erbsünde.<br />
Der Bischof Donatus von Nordafrika vertrat die Ansicht, nur<br />
<strong>der</strong> dürfe die Sakramente spenden, <strong>der</strong> frei von schweren Sünden<br />
sei und nur die heilige Kirche habe die Spen<strong>der</strong> auszuwählen.<br />
Nachdem das Christentum Staatskirche geworden war, hatte<br />
natürlich auch <strong>der</strong> Staat ein Interesse daran, wer Bischof wurde.<br />
Und um die ging es vornehmlich. Bei <strong>der</strong>en Auswahl spielten Intrigen,<br />
Bestechungen und an<strong>der</strong>e dunkle Machenschaften eine solche<br />
Rolle, dass man an die Reinheit <strong>der</strong> Sakramente Spen<strong>der</strong> berechtigte<br />
Zweifel hegen konnte.<br />
<strong>Die</strong> Anhänger <strong>der</strong> Staatskirche argumentierten, die Sündhaftigkeit<br />
<strong>der</strong> Spen<strong>der</strong> berühre nicht die Heiligkeit <strong>der</strong> Sakramentspende,<br />
da diese losgelöst vom Spen<strong>der</strong> zu betrachten sei.<br />
Ist <strong>der</strong> <strong>Die</strong>ner am evangelischen Wort gut, so Augustinus,<br />
so wird er ein Genosse des Evangeliums; ist er aber böse, so hört<br />
er darum nicht auf, ein Haushalter des Evangeliums zu sein.<br />
<strong>Die</strong> Anhänger des Donatus waren zumeist die besitzlosen Erntearbeiter<br />
Nordafrikas, die als Wan<strong>der</strong>arbeiter die Ernte auf den<br />
riesigen Staatsdomänen und den Fel<strong>der</strong>n <strong>der</strong> reichen Großgrundbesitzer<br />
einbrachten.<br />
Der religiös an sich unerhebliche Streit wurde dadurch sozial<br />
erheblich. Er weitete sich aus, bekam gewaltsame Züge wie <strong>der</strong><br />
über tausend Jahre spätere Bauernaufstand in Deutschland nach<br />
dem Beginn <strong>der</strong> Reformation. Und wie dieser wurde er von <strong>der</strong><br />
Obrigkeit nie<strong>der</strong>geschlagen.<br />
Im zweiten Streit, <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung um die Erbsünde,<br />
hängt nach Augustinus das Heil des Menschen allein von Gottes<br />
Gnade ab, denn wir sind seit Adam verdorben, sein Sündenfall<br />
wird von Generation zu Generation übertragen. <strong>Die</strong> Kindestaufe
zur Vergebung <strong>der</strong> Sünden setzt deshalb die Sündhaftigkeit bereits<br />
des Säuglings voraus.<br />
Dagegen wendet sich Pelagius, ein britischer Laienchrist. Für<br />
ihn gab es keine Erbsünde. Adams Sündenfall war dessen Sache,<br />
aber nicht vererblich. In keinem Fall sei ein unschuldiger Säugling<br />
schon sündig.<br />
Je<strong>der</strong> Mensch besitzt nach Pelagius die Gabe <strong>der</strong> Unterscheidung<br />
von Gut und Böse. Entsprechend seiner Willensfreiheit kann<br />
sich <strong>der</strong> Christ für das Gute entscheiden und in Nachahmung<br />
des jesuanischen Beispiels durch sein irdisches Leben das ewige<br />
verdienen.“<br />
„Nach Zarathustra, so haben wir kennen gelernt, findet ein<br />
ewiger Kampf zwischen Gut und Böse, sowohl zwischen den Menschen<br />
als auch im Menschen selbst, statt, hat das den Jahwisten zu<br />
seinem Bericht vom Sündenfall im Paradies inspiriert?”<br />
„Oh, Karin, das ist eine Kernfrage.”<br />
„Und wie wir aus den Diskussionen im Religionsunterricht<br />
wissen, ist die Erbsünde auch heute noch katholisches Lehrgut”,<br />
ergänzte Maria.<br />
„Übrigens auch nach protestantischer Glaubensauffassung gibt<br />
es die Erbsünde”, bestätigte Erika, „ihre Folge sei die allgemeine<br />
Ver<strong>der</strong>btheit <strong>der</strong> menschlichen Natur.”<br />
„Wenn das Heil des Menschen allein von <strong>der</strong> Gnade Gottes<br />
abhängt, ist <strong>der</strong> Wille des Menschen ohne jede ethische Bedeutung,<br />
wird <strong>der</strong> Mensch zu einer Marionette, die an den Fäden des<br />
Höchsten zappelt. Gott leitet den Menschen, wie er will und wohin<br />
er will, ins Paradies o<strong>der</strong> in die ewige Verdammnis”, folgerte<br />
Detlef.<br />
„Der Calvinismus sah im wirtschaftlichen Erfolg ein Zeichen<br />
<strong>der</strong> Gottwohlgefälligkeit, dass Gott ihn für das Paradies ausersehen<br />
habe”, erinnerte Karl.<br />
„Zurück zu meiner These”, nahm die Philosophielehrerin den<br />
Faden wie<strong>der</strong> auf.
„Im Islam jener Zeit gab es keine kirchliche Hierarchie, die<br />
vermittelnd zwischen Gott und den Gläubigen stand, son<strong>der</strong>n je<strong>der</strong><br />
Muslim konnte unmittelbar zu seinem Gott sprechen.<br />
Und <strong>der</strong> Islam kennt keine Erbsünde. Je<strong>der</strong> ist nur für sein eigenes<br />
Tun und Lassen verantwortlich.<br />
In diesen Unterschieden sehe ich die Ursache für ‚den Übertritt<br />
mit fliegenden Fahnen’ <strong>der</strong> enttäuschten breiten Masse <strong>der</strong> Christen.”<br />
„Was haben Judentum, Christentum und Islam gemeinsam?”<br />
Mit dieser Frage begann Frau Dr. Rifenkoek die nächste Philosophiestunde.<br />
„Es sind monotheistische Religionen, da alle an einen Gott<br />
glauben”, meinte Maria.<br />
„Es sind Offenbarungsreligionen, denn ihre Glaubenssätze wurden<br />
von Gott bei den Juden dem Moses, bei den Christen Jesus<br />
und beim Islam Mohammed offenbart”, stellte Klaus heraus.<br />
„Es sind alle drei patriarchalische Religionen, denn ihr Gott ist<br />
eindeutig ein Vatergott”, analysierte Erika. „Nach dem bisher Gesagten<br />
hängt das mit <strong>der</strong> nomadischen Herkunft <strong>der</strong> Völker zusammen,<br />
in denen diese Religionen entstanden sind. Das Christentum<br />
macht deshalb keine Ausnahme, weil es sich aus dem<br />
Judentum abgespaltet hat.”<br />
„Warum ist das Judentum nicht völlig im Christentum aufgegangen?”,<br />
wollte die Philosophielehrerin wissen.<br />
„Für die Juden war Jesus nicht <strong>der</strong> erwartete Messias. Ja, nicht<br />
einmal ein Prophet”, wusste Detlef.<br />
„Und für die Opferriten <strong>der</strong> Christen, so habe ich gelesen”,<br />
wusste Peter, „empfanden die Rabbiner nur Abscheu. Für sie war<br />
die Abendmahlfeier <strong>der</strong> Christen, wenn <strong>der</strong>en Priester verkündeten,<br />
das genossene Brot sei Christi Fleisch und <strong>der</strong> getrunkene<br />
Wein sei Christi Blut, ritualisiertes Menschenopfer. Und Menschenopfer<br />
zur Versöhnung <strong>der</strong> Götter hat es im Polytheismus ja<br />
tatsächlich gegeben.”
„Und warum hat Mohammed eine eigene Religion begründet,<br />
wenn er als Prophet zu seinen eigenen Vorläufern Abraham, Moses<br />
und auch Jesus zählt, sein Gott also <strong>der</strong> gleiche Gott wie <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Juden und <strong>der</strong> Christen ist?”, bohrte die Dozentin weiter.<br />
„Ich habe einen türkischen Bekannten. Er erklärte mir, die<br />
Moslems hielten das Christentum für eine polytheistische Religion,<br />
weil die Christen neben Gott auch noch Jesus, als Gottes Sohn<br />
und den Heiligen Geist anbeteten.”<br />
Karin fuhr fort: „Im Islam gäbe es nur einen Gott, und das sei<br />
Allah. Mohammed habe im Koran, dem Grundgesetz des Islams,<br />
ausdrücklich betont, er sei nur ein Prophet, zwar <strong>der</strong> letzte in <strong>der</strong><br />
Reihe <strong>der</strong> Propheten, aber nur Allah sei Gott.”<br />
„Erika, Sie haben vorhin festgestellt, alle drei Religionen seien<br />
patriarchalisch. Gott steht im Jenseits als Vater den Gläubigen im<br />
<strong>Die</strong>sseits gegenüber. Philosophisch ist diese Lehre von <strong>der</strong> Jenseitigkeit<br />
(Transzendenz) Gottes von Plotin im 3. Jahrhun<strong>der</strong>t n.Chr.<br />
entwickelt worden.<br />
Wie Sie wissen, gehen die katholischen Jungen und Mädchen<br />
im Alter von zehn Jahren zur Heiligen Kommunion, die protestantischen<br />
Jugendlichen mit 14 Jahren zur Konfirmation. <strong>Die</strong>ses Alter<br />
ist von den christlichen Kirchen bewusst gewählt.<br />
Wir haben bei <strong>der</strong> Ich-Entwicklung von <strong>der</strong> Geisterfurcht und<br />
Lebensangst <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> gesprochen.<br />
In <strong>der</strong> Folgezeit überwinden Kin<strong>der</strong> nicht selten dieses Stadium<br />
<strong>der</strong> Geisterfurcht und Lebensangst durch gesteigerte religiöse Bereitschaft.<br />
Der junge Mensch beginnt sich zu fragen, was vor seiner<br />
Geburt war und was nach seinem Tod mit ihm sein wird. Er ist in<br />
dieser Phase beson<strong>der</strong>s empfänglich für Jenseits-Heilslehren, die<br />
ihm auf diese bange Frage eine gesicherte Antwort versprechen.<br />
Seelische Geborgenheit im religiösen Sinne belohnt er durch<br />
Glaubenseifer, die sich manchmal sogar zu ausgesprochener religiöser<br />
Schwärmerei steigern kann.
Es besteht dann die Gefahr, dass die Aneignung von Jenseits-<br />
Heilslehren eine Über-Ich-Form erhält und nicht im Rahmen <strong>der</strong><br />
Entfaltung des Ichs erfolgt.<br />
<strong>Die</strong>se Entwicklung hat im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t ein junger Jude in<br />
Rotterdam durchgemacht. <strong>Die</strong> Eltern dieses Baruch de Spinoza<br />
waren vor <strong>der</strong> Inquisition aus Portugal in die damals toleranten<br />
Nie<strong>der</strong>lande geflüchtet.<br />
In <strong>der</strong> jüdischen Gemeinde zu Rotterdam wurden, vielleicht als<br />
Reaktion auf die Verfolgung in ihren früheren Heimatlän<strong>der</strong>n, das<br />
jüdische Gesetz und die im Talmud festgesetzten Riten beson<strong>der</strong>s<br />
streng befolgt. Als ein Gemeindemitglied Zweifel an einigen Riten<br />
äußerte, weil sie den Naturgesetzen wi<strong>der</strong>sprachen, stieß man ihn<br />
unter Aussprechung des Banns aus <strong>der</strong> Gemeinde aus.<br />
Als Talmudschüler wurde Baruch de Spinoza Zeuge des erniedrigenden<br />
Rituals, mit dem dieses Gemeindemitglied unter Wi<strong>der</strong>rufung<br />
<strong>der</strong> Naturgesetze von dem Bannfluch <strong>der</strong> Gemeinde gelöst<br />
wurde. Erschüttert hat ihn, dass dieser Mensch an dem Zwiespalt<br />
zwischen religiöser Geborgenheit in <strong>der</strong> Gemeinde und seinem<br />
Wissen um die naturgesetzlichen Wahrheiten zerbrach und<br />
Selbstmord beging.<br />
Später, unter dem Einfluss von Descartes, man müsse die Natur<br />
<strong>der</strong> Dinge erkennen, begann er die Zeitbezogenheit <strong>der</strong> Schriften<br />
des Alten Testamentes zu untersuchen und die Zweckhaftigkeit<br />
religiöser Vorstellungen zu erkennen.<br />
Menschen handeln um des Nutzens willen, den sie begehren.<br />
Alles das, was sie nicht selbst hergestellt haben, ihr eigenes Leben<br />
und die Güter, die die Natur ihnen schenkt, muss daher eine fremde<br />
Macht zum Zwecke ihres Nutzen ihnen zur Verfügung gestellt<br />
haben.<br />
<strong>Die</strong>se fremde Macht gilt es zu verehren, damit die Quelle ihres<br />
Lebenszweckes weiter sprudelt, und es gilt ihr zu opfern, damit <strong>der</strong><br />
Zorn dieser fremden Macht besänftigt wird.<br />
<strong>Die</strong>se Zweckhaftigkeit menschlichen Denkens ist die Ursache
für die Vorstellung einer fremden Macht, die den Menschen<br />
gegenübersteht, ob diese Transzendenz sich in viele Götter aufglie<strong>der</strong>t<br />
o<strong>der</strong> sich in einem Gott konzentriert. Dabei wurde ihm,<br />
zunächst intuitiv, klar:<br />
Nein, Gott ist zweckfrei. Er steht <strong>der</strong> Schöpfung nicht gegenüber.<br />
Er ist immanent in allen Erscheinungen <strong>der</strong> Natur.<br />
Wenn Gott sich in den Erscheinungsweisen <strong>der</strong> Natur manifestiert,<br />
dann ist er kein Individuum. Dann sind Maßstäbe wie Gut<br />
und Böse keine Maßstäbe Gottes.<br />
Individuen sind die mit Geist beseelten Körper. Sie schaffen<br />
sich die Maßstäbe Gut und Böse. Sie haben die Möglichkeit, das<br />
Unvollkommene vom Vollkommenen zu unterscheiden und nach<br />
dem Vollkommenen zu streben.<br />
Seine Intuition <strong>der</strong> Einheit von Gott und <strong>der</strong> Welt hatte er in<br />
seiner ersten Schrift Korte Verhandeling van God, de Mensch en deszelvs<br />
Welstand nie<strong>der</strong>gelegt.<br />
Der auch über ihn ausgesprochene Bannfluch hat ihn nicht berührt,<br />
denn inzwischen hatte er sich geistig von <strong>der</strong> leeren hohlen<br />
Formel des Bannfluches <strong>der</strong> jüdischen Gemeinde unendlich weit<br />
entfernt.<br />
<strong>Die</strong> letzten Jahre seines kurzen Lebens, er wurde nur 44 Jahre<br />
alt, hat er an seiner Ethica gearbeitet, in <strong>der</strong> er, ganz im Sinne des<br />
mechanistischen Weltbildes seiner Zeit, deduktiv seine Vorstellungen<br />
von <strong>der</strong> Immanenz Gottes zu beweisen versuchte.<br />
Welche Auswirkungen Spinoza mit seinem Paradigmenwechsel<br />
von <strong>der</strong> Transzendenz Gottes zur Immanenz Gottes auf die Philosophie<br />
gehabt hat, dazu mehr in <strong>der</strong> nächsten Stunde.”<br />
Ich werde jetzt ein Gedicht rezitieren, ohne Titel und Verfasser<br />
zu nennen.”<br />
Mit diesen Worten eröffnete Frau Dr. Rifenkoek ihre nächste<br />
Philosophiestunde.<br />
„Wer glaubt zu wissen, wie das Gedicht heißt und wer <strong>der</strong> Verfasser<br />
ist, möge sich melden.
Bedecke deinen Himmel, Zeus,<br />
mit Wolkendunst,<br />
und übe, dem Knaben gleich,<br />
<strong>der</strong> Disteln köpft,<br />
an Eichen dich und Bergeshöhn!<br />
Musst mir meine Erde<br />
Doch lassen stehn<br />
Und meine Hütte, die du nicht gebaut,<br />
und meinen Herd,<br />
um dessen Glut<br />
Du mich beneidest!<br />
Ich kenne nichts ärmeres<br />
Unter <strong>der</strong> Sonn’, als euch, Götter!<br />
Ihr nähret kümmerlich<br />
Von Opfersteuern<br />
Und Gebetshauch<br />
Eure Majestät,<br />
und darbet, wären<br />
nicht Kin<strong>der</strong> und Bettler<br />
hoffnungsvolle Thoren.”<br />
<strong>Die</strong> Lehrerin unterbrach ihre Rezitation.<br />
„Ja, Michael?”<br />
„Es heißt Prometheus und ist von Goethe.”<br />
„Wer war Prometheus?”<br />
Nach kurzem Zögern glaubte Klaus zu wissen, dass Prometheus<br />
ein Vetter von Zeus gewesen sei. Er habe den Menschen das Feuer<br />
verschafft, das die Götter den Menschen vorenthalten wollten.<br />
Überhaupt habe er den Menschen zu mehr Unabhängigkeit verholfen.<br />
Hier unterbrach er sein Wissen über Prometheus, wandte sich<br />
an seine Dozentin und fragte:
„War Goethe ein Anhänger von Spinoza? Das Gedicht klingt<br />
wie ein Protest gegen ein fremdbestimmendes Über-Ich.”<br />
„Deshalb habe ich es zitiert”, bestätigte die Philosophielehrerin.<br />
„Von Goethe und Lessing, denken Sie an die Ringparabel aus<br />
Nathan <strong>der</strong> Weise, wissen wir, dass sie den Immanenzvorstellungen<br />
Spinozas aufgeschlossen gegenüberstanden.<br />
Religionen sind, nach Lesing, nie etwas Endgültiges, son<strong>der</strong>n<br />
Stadien auf dem Lebensweg <strong>der</strong> Menschheit. In den großen religiösen<br />
Gestalten erziehe Gott die Menschheit. Richtiger sei, die<br />
Menschheit erzieht sich selbst, denn einzig ihr Geist ist es ja, <strong>der</strong><br />
diesen langen Weg geht, auf dem alles Gewordene sich immer wie<strong>der</strong><br />
überholt.<br />
<strong>Die</strong> großen Philosophen des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts mögen nicht alle<br />
mit dem Deismus 83 in Spinozas Werken übereinstimmen, aber sein<br />
Paradigmenwechsel von <strong>der</strong> Transzendenz zur Immanenz hat doch<br />
viele religiöse Vorstellungen über den Haufen geworfen.<br />
Wir haben bei <strong>der</strong> Diskussion über die Entstehung des Nationalbewusstseins<br />
das Kant’sche Grundgesetz erwähnt, ohne es zu<br />
zitieren. Welche For<strong>der</strong>ung stellt Kant in seiner Kritik <strong>der</strong> praktischen<br />
Vernunft auf?”<br />
Detlef zitierte:<br />
„Handle so, dass die Maxime deines Willens je<strong>der</strong>zeit zugleich<br />
als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.”<br />
„<strong>Die</strong> logische Folgerung für Kant ist daher”, so griff die Lehrerin<br />
das Zitat auf,<br />
„es ist nicht deswegen etwas gut, weil es Gottes Wille ist, son<strong>der</strong>n<br />
weil es gut ist, ist es Gottes Wille.<br />
Und <strong>der</strong> Mensch soll niemals als Mittel benutzt, d. h. irgendeinem<br />
fremden Zweck untergeordnet werde<br />
Ist das nicht die These <strong>der</strong> Kritischen Theorie unserer Tage?”<br />
83 Deismus ist die Anschauung, dass Gott nach <strong>der</strong> Schöpfung keinen Einfluss auf die<br />
Welt mehr nehme und zu ihr auch nicht in Offenbarungen spreche. Gott habe die<br />
Weltmaschine geschaffen, aber seit dem laufe sie von selbst, wie ein Uhrwerk.
Klaus fragte: „Stammt nicht auch folgen<strong>der</strong> Ausspruch von<br />
Kant?<br />
Zwei Dinge erfüllen mein Gemüt mit Bewun<strong>der</strong>ung und<br />
Ehrfurcht,<br />
Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.”<br />
„Richtig, Klaus. Wenn Sie diese drei Zitate im Zusammenhang<br />
lesen”, wandte sich die Lehrerin an die Klasse,<br />
„werden Sie verstehen, dass Kant für kirchliche Institutionen<br />
nicht viel übrig hatte. Zu oft haben sie ihre eigenen unmoralischen<br />
Vorstellungen als Gottes unerklärbaren Willen gedeutet und die<br />
Gläubigen als Mittel für ihre egoistischen Zwecke missbraucht.<br />
Deshalb kann nach <strong>der</strong> Ansicht von Kant auch die Stiftung<br />
Christi, die Kirche, nur in uns sein. Das Reich Gottes auf Erden<br />
befindet sich im Inneren des Menschen. Je<strong>der</strong> Mensch kann Gottes<br />
Sohn werden und sollte es werden.<br />
Christus ist, nach Kant, als Sohn Gottes keine historische Gestalt.<br />
Er ist nur die personifizierte Idee des sittlichen Prinzips.<br />
Max Scheler (1874 bis 1928) greift das Bild vom gestirnten<br />
Himmel über uns auf. Nach ihm werden Werte nicht gefunden<br />
o<strong>der</strong> durch Umwertungen neu geprägt; sie werden entdeckt, und<br />
gleich wie die Sterne am Himmel treten sie nach und nach mit<br />
dem Fortschritt <strong>der</strong> Kultur in den Gesichtskreis des Menschen.<br />
Drang und Geist sind bei ihm Attribute des Göttlichen. In <strong>der</strong><br />
Klärung des Dranges zum Geist klärt sich das Göttliche selbst. Das<br />
Göttliche in Gott west.<br />
Sie merken, als Zeitgenosse von Freud scheinen ihm dessen<br />
Vorstellungen nicht unbekannt zu sein.<br />
Der Mensch – ein kurzes Fest in den gewaltigen Zeitdauern<br />
universaler Lebensentwicklung – bedeutet also etwas für die Werdebestimmung<br />
<strong>der</strong> Gottheit selbst.<br />
Der Mensch ist hineingeflochten in das Werden <strong>der</strong> Gottheit<br />
selbst.<br />
Solange das Weltgöttliche noch unterwegs ist, stehen Licht und<br />
Dunkel in einem tragischen Kampf.”
„Sind diese Philosophen, von Spinoza angefangen, über Lessing,<br />
Kant und Scheler, im Grunde nicht alle Atheisten?”, platzte es aus<br />
Maria heraus.<br />
„Das sehe ich nicht so”, meinte Klaus. „Sie suchen nach dem<br />
Verlust des transzendenten Vatergottes den Gott in sich selbst. Ist<br />
das nicht auch das Ziel <strong>der</strong> Ichwerdung im Freud’schen Sinne. Für<br />
mich sind sie im tiefsten Sinne gläubig.”<br />
„<strong>Die</strong>sen philosophischen Glauben spricht auch Karl Jaspers, <strong>der</strong><br />
Vertreter <strong>der</strong> Existenzphilosophie unserer Tage, an, wenn er sagt:<br />
Glaube ist das Erfüllende und Bewegende im Grunde des<br />
Menschen, in dem <strong>der</strong> Mensch über sich selbst hinaus mit<br />
dem Ursprung des Seins verbunden ist.<br />
Aber nicht <strong>der</strong> o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Glaube, son<strong>der</strong>n das Glauben<br />
ist das Wesentliche.”<br />
„Lassen Sie mich Ihnen in dieser unserer letzten Philosophiestunde<br />
in diesem Schuljahr drei Ratschläge für Ihr weiteres Leben<br />
mit auf den Weg geben.<br />
Den Ratschlag für unser Menschenbild, <strong>der</strong> Ichentfaltung, wie<br />
wir es genannt haben, hat Alexan<strong>der</strong> Mitcherlich so formuliert:<br />
Wir müssen dabei ganz bei uns selbst anfangen, bei <strong>der</strong> Art, unsere<br />
Kin<strong>der</strong> – wenn wir selbst Eltern sind – so zu lieben und auch<br />
zu ertragen, dass diese Kin<strong>der</strong> uns auf glücklichere Weise lieben,<br />
auf weniger verbitterte und achtlose Weise ertragen können, als<br />
vielleicht unsere Eltern uns dies bisher möglich machten.<br />
Das ist ein nicht unbedeuten<strong>der</strong> Spielraum, in welchem wir das<br />
Schicksal korrigieren können.<br />
Zum zweiten, dem Weltbild, stärken Sie Ihr kritisches Bewusstsein<br />
und werden Sie sensibel gegenüber Manipulationen<br />
Dritter, die Sie als Mittel für ihre egoistischen Zwecke ausnutzen<br />
wollen.<br />
Und zum Gottesbild.<br />
Tolerieren Sie den Glauben an<strong>der</strong>er, wie die In<strong>der</strong> es schon als<br />
Kin<strong>der</strong> in dem Vers lernen:
Wie verschiedene Ströme,<br />
die ihre Quellen an verschiedenen Orten haben,<br />
allesamt ihr Wasser in das Meer gießen,<br />
so, o Herr,<br />
führen die verschiedenen Pfade,<br />
welche die Menschen mit ihren verschiedenen Tendenzen<br />
einschlagen,<br />
so unterschiedlich sie auch sind,<br />
gekrümmt o<strong>der</strong> gerade,<br />
allesamt zu dir.<br />
Werden Sie mündige Gläubige.<br />
Und erhalten Sie sich den Glauben an den Sieg <strong>der</strong> Vernunft.“
VI. Epilog<br />
„Sag’ mal, wie lange ist es eigentlich her, dass ich Dein <strong>Wurzel</strong>männchen<br />
habe untersuchen lassen?”<br />
Mit diesen Worten brachte mir mein Freund das Manuskript,<br />
das ich ihm überlassen hatte, zurück.<br />
„Sechs Jahre!”<br />
„Und so lange hast Du an diesem Manuskript gearbeitet?”<br />
„Mit Unterbrechungen ja.”<br />
„Ich wusste gar nicht, dass Deine Tante eine so gute Pädagogin<br />
war? O<strong>der</strong> hast Du Dir das Kapitel mit ihr nur aus den Fingern gesogen,<br />
um ihr einen Heiligenschein zu verpassen?”<br />
„Zum ersten Teil Deiner Frage, ich auch nicht. Ich wusste, dass<br />
sie eine sehr gebildete Frau war; denn zu jedem Thema, über das<br />
wir sprachen, hatte sie fundierte Ansichten. Über Pädagogik sprechen<br />
Lehrer im privaten Raum selten miteinan<strong>der</strong>.”<br />
„Warum eigentlich?”<br />
„Weil je<strong>der</strong> Lehrer seine Methode für die beste hält und daher<br />
Diskussionen darüber mit Kollegen vermeidet.”<br />
Inzwischen hatten wir es uns bequem gemacht und mein<br />
Freund schnüffelte mit Kennermiene an dem Rotspon, den ich ihm<br />
kredenzte.<br />
„Um zum zweiten Teil Deiner Frage zu kommen. Nach dem<br />
Kapitel über Spinoza suchte ich eine Rahmenhandlung, in <strong>der</strong> ich<br />
die Auswirkungen von Descartes’ Cogito, ergo sum und Spinozas<br />
Deus sive natura für die Mo<strong>der</strong>ne unter einen Hut bringen konnte.<br />
Unter den Beileidsbekundungen anlässlich des Todes meiner
Tante war eine von einer früheren Schülerin, in <strong>der</strong> sie hervorhob,<br />
wie viel <strong>der</strong> Philosophieunterricht meiner Tante ihr für ihr späteres<br />
Leben gegeben habe.”<br />
„Der alte lateinische Spruch: Für die Schule und nicht für das<br />
Leben lernen wir war also hier umgekehrt! Darauf lass uns anstoßen!”<br />
Nach entsprechen<strong>der</strong> Würdigung dieses so seltenen Tatbestandes<br />
fuhr ich fort:<br />
„Ich kramte also dieses Beileidsschreiben heraus. Zum Glück<br />
hatte ich es noch nicht weggeworfen, weil ich mich bei einigen, die<br />
meiner Tante früher sehr nahe gestanden haben, beson<strong>der</strong>s bedanken<br />
wollte, es dann aber unterlassen habe.<br />
Ich weiß nicht, wie es Dir geht. Ich tue mich schwer, mir Unbekannten<br />
Dank zu sagen und Worte zu finden, die über Floskeln<br />
hinausgehen.<br />
„Ich setzte mich also mit dieser Schülerin telephonisch in Verbindung.<br />
In dem Café, in dem wir uns trafen, saß dann vor mir eine<br />
sympathische Vierzigjährige, <strong>der</strong>en zwei Kin<strong>der</strong> auf dieselbe Schule<br />
gingen, an <strong>der</strong> auch meine Tante unterrichtet hatte. Von <strong>der</strong>en<br />
Philosophiekurs geriet sie in ihrer Erinnerung sofort wie<strong>der</strong> ins<br />
Schwärmen. <strong>Die</strong> Aufzeichnungen, die sie drüber gemacht habe,<br />
nehme sie immer wie<strong>der</strong> zur Hand.<br />
Das war mein Stichwort. Ich erzählte ihr, dass ich meiner Tante<br />
in meinem Manuskript einen Ehrenplatz einräumen wolle, und bat<br />
sie um die leihweise Überlassung ihrer Aufzeichnungen.<br />
Das Ergebnis hast Du in meinem Manuskript gelesen.”<br />
„Du lässt in diesem Kapitel ein Referat über die demografische<br />
Entwicklung halten. <strong>Die</strong> 1974 mit 3,6 Mrd. angegebene Bevölkerungszahl<br />
hat sich bis heute fast verdoppelt.<br />
Also mir wird angst und bange, wenn ich an das Potential von<br />
Aggressionen denke, das mit dem immer dichter zusammenlebenden<br />
Menschen auf einer gleich bleibenden Globusoberfläche<br />
zwangsläufig steigen muss. Ich habe da immer das Stichlingsbeispiel<br />
aus dem Aquariumstest vor Augen.”
Als ich ihn verständnislos anschaute, erklärte er mir:<br />
„Stichlinge brüten in Wasserpflanzen. Zoologen haben nun in<br />
einem Aquarium zwei Stichlingspärchen in getrennten Pflanzenkulturen<br />
brüten lassen und nach und nach die Kulturen immer enger<br />
zusammengerückt. Ab einer unsichtbaren Grenze hörten die<br />
Stichlingsmännchen mit dem Brutgeschäft auf und gingen aggressiv<br />
aufeinan<strong>der</strong> los.”<br />
„Wenn Offenbarungsreligionsgemeinschaften o<strong>der</strong> politische<br />
Religionen, <strong>der</strong>en Hoffnungen auf Erlösung nicht im Jenseits liegen,<br />
son<strong>der</strong>n die ihre exakte Vorstellung vom Gang <strong>der</strong> Geschichte<br />
politisch durchsetzen wollen, sich wie Deine Stichlinge verhalten,<br />
dann droht uns allerdings Unordnung und Gewalt.”<br />
„Das Schlimme ist, wie Deine Tante bei <strong>der</strong> Behandlung des<br />
ÜBERICHs richtig festgestellt hat, dass sie glauben im Besitz <strong>der</strong><br />
einzig gültigen Wahrheit zu sein. Zwangsläufig weisen daher ihre<br />
zentralen Sicherheitsapparate zur Verteidigung dieser Wahrheit,<br />
ob weltlich o<strong>der</strong> religiös, die gleichen Organisationsstrukturen auf.<br />
Denke nur an den berüchtigten Galilei-Prozess <strong>der</strong> katholischen<br />
Kirche im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> an die Stalin’schen Säuberungsprozesse<br />
Ende <strong>der</strong> 30er Jahren des vorigen Jahrhun<strong>der</strong>ts.”<br />
„Nun ist durch das Fernsehen und durch die Entwicklung des<br />
Internets in den letzten 15 Jahren die Welt zu einem globalen<br />
Dorf geworden. <strong>Die</strong> globale Verbreitung von optischen Informationen<br />
durch die Satellitentechnik hat meine Tante mit <strong>der</strong> Erfindung<br />
des Buchdruckes verglichen. Ihrer Meinung nach würde sie<br />
gesellschaftlich noch revolutionärer wirken als seinerzeit die Vervielfältigung<br />
<strong>der</strong> Bücher durch die Drucktechnik.<br />
Dass durch das Internet <strong>der</strong> Einzelne nicht mehr nur passiv als<br />
Empfänger von Informationen, son<strong>der</strong>n plötzlich auch aktiv als<br />
Sen<strong>der</strong> und Verbreiter von Informationen global auftreten kann,<br />
davon konnte sie nichts ahnen, zumal die Anwendung erst in den<br />
letzten Jahren in den privaten Bereich vorgedrungen ist.”<br />
„Aber glaubst Du, dass nunmehr alles auf <strong>der</strong> Welt in Vernunft<br />
übersetzt werden kann, dass die Humanität als Quelle demokrati-
scher Prinzipien zu Menschenrechten für alle, sogar für Frauen,<br />
und zu Rechten für die Natur führen wird?”<br />
Ich öffnete eine zweite Flasche Rotspon, füllte unsere Gläser<br />
und ließ den Wein prüfend über Zunge und Gaumen gleiten.<br />
„Im Gegensatz zu diesem Wein halte ich das für eine Selbsttäuschung.<br />
Prüfen wir die Realisierung von Menschenrechten und Naturrechten<br />
in unserer eigenen westlichen Welt.<br />
<strong>Die</strong> Menschenrechte sind zwar zunehmend in Konkurrenz zu<br />
den Staatsrechten getreten. Ausgehend von den Nürnberger<br />
Kriegsverbrecherprozessen 1945 über die Verkündung <strong>der</strong> Allgemeinen<br />
Menschenrechte <strong>der</strong> UNO zur Europäischen Konvention<br />
zum Schutz <strong>der</strong> Menschenrechte und Grundfreiheiten mit Errichtung<br />
einer Europäischen Kommission sowie eines Europäischen<br />
Gerichtshofes für Menschenrechte lässt sich eine Entwicklungslinie<br />
aufzeigen, die diese Behauptung bestätigt.<br />
Aber warum lehnen die USA die Anwendung des konstituierten<br />
Weltstrafgerichtshofes auf Straftaten ihrer Bürger ab? Und warum<br />
ratifizieren sie nicht die Abkommen über den Schutz <strong>der</strong> Natur?<br />
Sind das nicht Identitätsprobleme einer Weltmacht, die ihre<br />
Staatsrechte über Menschenrechte und Naturrechte stellt?<br />
Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite kennt <strong>der</strong> Islam keine Gleichberechtigung<br />
zwischen Mann und Frau. Mal abgesehen von dem wirtschaftlichen<br />
Schaden, <strong>der</strong> dadurch entsteht, dass man auf die Kreativität<br />
<strong>der</strong> einen Hälfte <strong>der</strong> Bevölkerung verzichtet, wie schnell lassen sich<br />
Jahrhun<strong>der</strong>te alte kulturelle Vorurteile abbauen? Werden die<br />
Männer friedlich auf ihr Patriarchat verzichten?<br />
Wenn die Amerikaner, auch sie sind Fundamentalisten, nach<br />
dem Attentat auf das World Trade Center als Weltpolizist die von<br />
ihnen deklarierten Schurkenstaaten gewaltsam in Demokratien<br />
verwandeln wollen, treiben sie dann nicht den Teufel mit dem<br />
Beelzebub aus?<br />
Fragen über Fragen! Aber ich fürchte zwischen heute und dem<br />
Zeitpunkt des weltweiten Sieges <strong>der</strong> Vernunft werden genauso
lutige Zuckungen liegen wie in dem Zeitraum zwischen <strong>der</strong> Gutenbergrevolution<br />
und <strong>der</strong> Aufklärung.”<br />
„Du hast Recht. Aber es kommt meines Erachtens noch ein<br />
zweiter Gesichtspunkt hinzu. <strong>Die</strong> Kreativität <strong>der</strong> Anwen<strong>der</strong> entfaltet<br />
sich nicht nur im moralischen Bereich. Verbrechenssyndikate<br />
wenden das Netzwerk ebenso an wie es z.B. als Marktplatz für<br />
Kin<strong>der</strong>pornographie dient.<br />
<strong>Die</strong> Informationen des Internets mit Hilfe staatlicher Server<br />
zensieren, kommt nicht in Frage, dafür ist <strong>der</strong> freie Informationsmarkt<br />
zu wichtig. Man müsste im Sinne von Marx einen neuen<br />
Menschen erfinden.”<br />
„Trinken wir auf den neuen Menschen!”<br />
Nachdem wir ihn gebührend begossen hatten, fuhr ich fort:<br />
„Aber im Ernst, was hältst Du als Chemiker von <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
Biotechnologie und ihren Möglichkeiten, den Bauplan des Menschen<br />
zu verän<strong>der</strong>n?”<br />
„Evolutorisch nicht viel. Herauskommen wird eine Reduzierung<br />
von Krankheiten, ein Klonen von Ersatzteilen und eine Lebensverlängerung.”<br />
Sag’ mal, ist Dir Pierre Teilhard de Chardin ein Begriff?”<br />
„Ich weiß nur von ihm, dass er ein Jesuit war und als Paläontologe<br />
in China an <strong>der</strong> Ausgrabung von Vorzeitmenschen beteiligt<br />
war. Er ist doch Mitte <strong>der</strong> fünfziger Jahre gestorben?”<br />
„Er hat sich für die Zukunft des Menschen interessiert, eines<br />
seiner Bücher heißt übrigens so, und dabei die christliche Lehre<br />
mo<strong>der</strong>n umgedeutet. Das ist ihm schlecht bekommen. <strong>Die</strong> Inquisitionsbehörde<br />
<strong>der</strong> katholischen Kirche, die Suprema Congregatio<br />
Sancti Officii, wie sie sich nannte, schlug zu. Sie entzog ihm seinen<br />
Lehrstuhl am Institut Catholique, sie verbot den Druck seiner<br />
theologischen Werke und verbannte ihn schließlich irgendwo aufs<br />
Land im Staate New York, wo er 1955 starb. Soviel zu seiner Vita.<br />
In seinen Werken sieht er die Evolution als einen Verdichtungsprozess.<br />
So verdichten sich im Sonnenplasma Wasserstoff-
atome zu neuen größeren Atomstrukturen. Unter bestimmten<br />
Voraussetzungen formen sich aus Makromolekülen die ersten Einzeller.<br />
<strong>Die</strong> Vielzeller entstehen bei ihm erst, als die Eroberung <strong>der</strong><br />
Erdoberfläche durch die Einzeller abgeschlossen ist. Da die Oberfläche<br />
stets kleiner ist als <strong>der</strong> Inhalt, wird mit <strong>der</strong> Bildung von<br />
Zellstaaten eine Funktionsteilung <strong>der</strong> Zellen erfor<strong>der</strong>lich, um auch<br />
die innen liegenden Zellen zu versorgen. <strong>Die</strong>se Arbeitsteilung führt<br />
zu Zellgeweben, die für den Stoffwechsel, für die Statik, für die<br />
Fortpflanzung, für die Bewegung und für die Leitung von Außenreizen<br />
zu und <strong>der</strong>en Verarbeitung in einem zentralen Steuerungsgewebe<br />
zuständig sind.<br />
Schließlich entsteht ab einer bestimmten Verdichtung dieses<br />
Zentralnervensystems <strong>der</strong> homo sapiens sapiens, <strong>der</strong> sich seiner<br />
selbst bewusst wird.”<br />
„Hör’ mal, was Du mir da erzählst, ist auch ohne Teilhard de<br />
Chardin Stand <strong>der</strong> Evolutionslehre.”<br />
„Richtig. Nur ist das Teilhard’sche Verdichtungskriterium<br />
wichtig für seine Zukunftsvision.<br />
Wie seinerzeit die Einzeller sich als Schicht <strong>der</strong> Biosphäre über<br />
die Erdoberfläche gelegt haben und dann gezwungen wurden, sich<br />
zu Vielzellern zu verdichten, so sieht Teilhard die von den Menschen<br />
geschaffenen Kulturgüter sich als Schicht <strong>der</strong> Noosphäre, so<br />
nennt er die Bewusstseinssphäre, über die Erde ausbreiten. Auch<br />
sie müssen als Auswirkung ihrer zunehmenden Quantität sich rational<br />
verdichten.<br />
Wenn Du diesen Gedanken zu Ende denkst, erfolgt irgendwann<br />
ein Quantensprung zu einem höheren Selbstbewusstsein, diesmal<br />
nicht des einzelnen menschlichen Individuums, son<strong>der</strong>n von Gäa,<br />
<strong>der</strong> Mutter Erde. Für Teilhard de Chardin, als Christ, ist das <strong>der</strong><br />
Tag des jüngsten Gerichts.”<br />
„Ich kann mir vorstellen, dass diese mo<strong>der</strong>nen Anschauungen<br />
des Christentums in <strong>der</strong> Inquisitionsbehörde des Heiligen Offiziums
höchste Alarmstufe auslösten, bedeuteten sie doch in letzter Konsequenz<br />
einen Angriff auf die Machtstrukturen des Vatikans.”<br />
Ich hob mein Glas.<br />
„Trinken wir darauf, dass durch einen mo<strong>der</strong>nen Papst in einem<br />
dritten vatikanischen Konzil demokratische Strukturen in die katholische<br />
Kirche Einzug halten.”<br />
Wir tranken. Dann überzog ein diabolisches Grinsen das Gesicht<br />
meines Freundes. Ich schaute ihn fragend an.<br />
„Es besteht sonst die Gefahr, dass die Amerikaner den Vatikan<br />
in die Reihe <strong>der</strong> diktatorischen Schurkenstaaten aufnehmen, die es<br />
wegen fehlen<strong>der</strong> demokratischer Strukturen zu vernichten gilt”,<br />
prustete es aus ihm heraus.<br />
„Doch im Ernst, ich glaube, wir sind heute im Informationszeitalter<br />
Zeuge <strong>der</strong> Realisierung <strong>der</strong> Teilhard'schen Prophezeiungen.<br />
Wenn ich daran denke, wie weltweit die Menschen über das<br />
Internet kommunizieren, wie sich spontan NGOs bilden, um politischen<br />
Fehlentwicklungen entgegen zu wirken, dann scheinen mir<br />
die Informationen als selbständig wirkende Kraft die Denk- und<br />
Handlungsweise <strong>der</strong> Menschen zunehmend zu beeinflussen. Das<br />
lässt mich hoffen, dass <strong>der</strong> endgültige Sieg <strong>der</strong> Vernunft doch näher<br />
ist als wir meinen.<br />
Wann, sagst Du, hat Teilhard diese Gedanken geäußert?”<br />
„Das muss Anfang <strong>der</strong> zwanziger Jahre des vorigen Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
gewesen sein, denn 1924 hat <strong>der</strong> Vatikan ihn aus dem Verkehr gezogen.<br />
Seine Bücher darüber sind erst nach seinem Tode erschienen.”<br />
„Also zu einer Zeit, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Rundfunk noch in <strong>der</strong> Probierphase<br />
war, von Fernsehen, geschweige von Satellitentechnik und<br />
Internet noch keine Rede sein konnte.”<br />
Nachdenklich schlürfte er an seinem Rotspon.<br />
Dann fragte er mich unvermittelt: „Wie siehst Du denn die weitere<br />
Entwicklung des Informationszeitalters?”<br />
„Fest steht, dass die Halbwertzeiten des Wissens, das heißt die<br />
zeitlichen Abstände, in <strong>der</strong> sich das Wissen verdoppelt, immer kür-
kürzer werden. Der letzte Mensch, <strong>der</strong> noch das gesamte Wissen<br />
<strong>der</strong> Menschheit sich hat aneignen können, lebte im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />
Heute ertrinken die Spezialisten in <strong>der</strong> Datenflut ihrer Fachgebiete.<br />
Zwar können die Datenspeicher die heranbrandende Datenflut<br />
bändigen, doch die Verarbeitungskapazität unserer Prozessoren<br />
hält mit <strong>der</strong> Datenflut nicht Schritt.<br />
Du kannst es mit <strong>der</strong> geistigen Entwicklung eines Menschen<br />
vergleichen. Auch das Kleinkind hat eine Flut von Sinneseindrücken,<br />
doch erst nach und nach ist das Hirn in <strong>der</strong> Lage, immer<br />
mehr dieser Sinneseindrücke zu verarbeiten und zu ordnen.<br />
Unsere Experten sagen, zurzeit haben die Prozessoren die Fähigkeit<br />
eines Fliegenhirns. Da sich diese Fähigkeiten alle eineinhalb<br />
bis zwei Jahre verdoppeln, werden die einzelnen Prozessoren etwa<br />
um 2030 die Fähigkeit eines menschlichen Gehirns erreichen.<br />
Um früher zu höheren Prozessorleistungen zu gelangen, sind<br />
Überlegungen im Schwange, die Einzelprozessoren <strong>der</strong> Menschheit<br />
parallel zu schalten.<br />
Du siehst, die Organisation des Verdichtungsprozesses <strong>der</strong> Informationen<br />
ist wie beim Übergang von <strong>der</strong> Einzelzelle zu den<br />
Vielzellern im vollen Gange.<br />
Teilhard de Chardin lässt grüßen!”<br />
Ich hob mein Glas, und wir tranken auf die prophetische Weitsicht<br />
dieses französischen Jesuiten.<br />
Der Wein tat seine Wirkung. Unsere Fragen an die Zukunft<br />
wurden immer kühner.<br />
Wann wird die Nanotechnik soweit sein, die Software eines<br />
menschlichen Gehirns zu kopieren und diese in einen Computer<br />
einzufügen? Wird die auf Siliziumebene geklonte Software dieselbe<br />
kreative Freiheit des Bewusstseins haben wie die auf Kohlenstoffbasis<br />
entwickelte Software des Originals?<br />
O<strong>der</strong> wird sie wie die Nervenzellen bewusstloses Glied zum<br />
Lob eines höheren Superhirns?
Wie vor sechs Jahren wurde es eine lange Nacht.<br />
Auch diesmal wuchs die Tiefgründigkeit <strong>der</strong> Gespräche mit <strong>der</strong><br />
Zahl <strong>der</strong> geleerten Flaschen.<br />
Später im Bett nahm ich mein <strong>Wurzel</strong>männchen zur Hand und<br />
fragte es:<br />
„Und wer steuert diese evolutorische Entwicklung? Das kann<br />
doch nicht alles nur Zufall und Notwendigkeit sein?<br />
Gehören unsere anthropomorphen Vorstellungen von einem<br />
transzendenten bzw. immanenten Gott genauso in die Mottenkiste<br />
<strong>der</strong> Geistesgeschichte wie die von <strong>der</strong> Erde als Mittelpunkt <strong>der</strong><br />
Welt o<strong>der</strong> die vom Menschen als Krone <strong>der</strong> Schöpfung?<br />
Doch Du bis ja schon Stein und kannst mir darauf keine Antwort<br />
geben!”<br />
Behutsam legte ich mein Zaubermännchen zur Seite und schlief<br />
ein.<br />
<strong>Die</strong>smal traumlos!
ISBN 978-3-83-708305-7