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Die Wurzel der Alraune - BookRix

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Maximilian Rifenkoek<br />

<strong>Die</strong> <strong>Wurzel</strong> <strong>der</strong> <strong>Alraune</strong><br />

Werden des Gottesbildes


Copyright: 2009 Maximilian Rifenkoek<br />

CIP-Kurztitelaufnahme <strong>der</strong> Deutschen Bibliothek:<br />

Maximilian Rifenkoek<br />

<strong>Die</strong> <strong>Wurzel</strong> <strong>der</strong> <strong>Alraune</strong><br />

Titelfoto: Konstanze Gruber - Fotolia.com<br />

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Nor<strong>der</strong>stedt<br />

ISBN 978-3-83-708305-7


Drang und Geist sind Attribute des Göttlichen.<br />

In <strong>der</strong> Klärung des Dranges zum Geist klärt sich das<br />

Göttliche selbst. Das Göttliche in Gott ‚west’.<br />

Der Mensch – ein kurzes Fest in den gewaltigen<br />

Zeitdauern universaler Lebensentwicklung – bedeutet<br />

also etwas für die Werdebestimmung <strong>der</strong> Gottheit selbst.<br />

Der Mensch ist hinein geflochten in das Werden <strong>der</strong><br />

Gottheit selbst.<br />

Max Scheler


Inhaltsübersicht<br />

I. Prolog....................................................................................... 9<br />

II. Im Zeitalter <strong>der</strong> Zwillinge ..................................................... 13<br />

1. <strong>Die</strong> Wildbeuter .......................................................................................14<br />

2. <strong>Die</strong> Tochter des Schamanen...................................................................20<br />

III. Im Zeitalter des Stieres ........................................................ 29<br />

Ahnen werden zu Göttern ..........................................................................30<br />

IV. Im Zeitalter des Wid<strong>der</strong>s ..................................................... 41<br />

1. Polytheismus: Nomadengötter und Bauerngötter ..................................42<br />

2. Hen kai Pan – Eines ist Alles .................................................................55<br />

V. Im Zeitalter <strong>der</strong> Fische .......................................................... 71<br />

1. Monotheismus: «Geistliche Anleihen» ..................................................72<br />

2. Monotheismus: «Sic et non» ................................................................101<br />

3. Pantheismus: «Deus sive natura».........................................................124<br />

4. Panheismus: «Humanitas» ...................................................................139<br />

a) Ichentfaltung ....................................................................................142<br />

b) Weltanschauungen ...........................................................................156<br />

c) Gottesvorstellungen..........................................................................181<br />

VI. Epilog ................................................................................ 209


I. Prolog<br />

Da war es, dieses handkantenlange, schwarz-gräulich glänzende<br />

<strong>Wurzel</strong>männchen. Ich erkannte es sofort wie<strong>der</strong>.<br />

In meiner Jugend, ich mochte sechs o<strong>der</strong> sieben Jahre alt gewesen<br />

sein, hatte mein Großvater es mir gezeigt und gesagt: „Es ist<br />

ein Zaubermännchen und schon uralt.”<br />

Voll Ehrfurcht hatte ich dieses Etwas betrachtet und wollte<br />

dann wissen:<br />

„Wie alt ist es denn, Opa?“<br />

„Genau weiß ich es auch nicht. Als ich so alt war wie Du, hab’<br />

ich meinem Großvater die gleiche Frage gestellt. Doch auch er hatte<br />

im Kindesalter schon zur Antwort bekommen, dass es uralt sei.”<br />

Ich war mit einer Aufgabe beschäftigt, die unangenehm ist, aber<br />

einem nicht erspart bleibt, wenn man die Angehörigen <strong>der</strong> Vorgeneration<br />

überlebt, <strong>der</strong> Wohnungsauflösung.<br />

Meine Tante war gestorben. Als Nachkömmling meiner Großeltern<br />

hatte sie bis zu <strong>der</strong>en Tod im Hause ihrer Eltern gelebt, nie<br />

geheiratet, sich danach mit ihrem Lebensgefährten ein Reihenhaus<br />

erarbeitet und auch ihn überlebt.<br />

Nun war ich, letzter Stamm <strong>der</strong> Familie, Erbe des Reihenhauses<br />

und des <strong>Wurzel</strong>männchens, mit besagter Wohnungsauflösung betraut.<br />

Sinnend wog ich das <strong>Wurzel</strong>männchen in meinen Händen.<br />

„Du hast die napoleonischen Kriege schon in unserer Familie<br />

überlebt. Du bleibst, Du wirst nicht verkauft!”<br />

Wochen später, bei einem Glas Wein erzählte ich meinem<br />

Freund von meiner Errungenschaft.


„Zeig mir mal Dein Erbstück!” Prüfend betrachtete er es von<br />

allen Seiten.<br />

„Wenn Du es mir für kurze Zeit überlässt, lasse ich das Alter<br />

feststellen. Ich bin als Chemiker zwar selbst nicht dazu in <strong>der</strong> Lage,<br />

aber wir haben in unserem Institut Botaniker und Archäologen.<br />

<strong>Die</strong> werden das rauskriegen.”<br />

„Du, das ist mein Hausgeist, den will ich wie<strong>der</strong>haben!”<br />

„Keine Sorge, ich passe schon auf ihn auf.”<br />

Wie<strong>der</strong> vergingen Wochen. Mein Freund rief an:<br />

„Du, halt’ Dich fest. Das Ding ist 9 000 Jahre alt. Es ist eine<br />

Mandragora, aus <strong>der</strong> Familie <strong>der</strong> Salanaceae, zu Deutsch eine<br />

Zauberwurzel, die <strong>Wurzel</strong> einer <strong>Alraune</strong>. Das Institut will diese<br />

<strong>Wurzel</strong> Dir abkaufen.”<br />

„Auf keinen Fall. Bring’ mir ja meinen Klabautermann wie<strong>der</strong>.”<br />

Entsprechend ihrem Alter wurde die Heimkehr <strong>der</strong> Zauberwurzel<br />

nicht nur mit einer Flasche Wein gefeiert.<br />

„Das mit Deinem Klabautermann war ja wohl ein Witz. Klabautermänner<br />

sind doch Kobolde, die Seeleuten das Leben schwer<br />

machen.”<br />

„OK. Aber stell’ Dir mal vor, unsere Mittel- o<strong>der</strong> Jungsteinzeitvorfahren<br />

wären zur See gefahren, was sie nach unseren bisherigen<br />

Kenntnissen nicht konnten, sie lebten ja noch im Zeitalter <strong>der</strong><br />

Zwillinge.”<br />

Je mehr Akademiker trinken, umso hochtraben<strong>der</strong> werden ihre<br />

Gespräche. Und wenn sie zudem Pädagogen sind, wächst die Neigung,<br />

an<strong>der</strong>e zu belehren. Sein fragen<strong>der</strong> Blick ließ mich meine<br />

Neigung voll auskosten.<br />

„Du weißt, die Erde läuft auf ihrer Bahn um die Sonne in einer<br />

gewissen Schräglage, Ekliptik genannt. Dadurch steht die Sonne<br />

scheinbar in jedem Monat in einem an<strong>der</strong>en <strong>der</strong> zwölf Sternbil<strong>der</strong>,<br />

und wir haben Sommer und Winter. Der Schnittpunkt <strong>der</strong> Sonnenbahnebene<br />

mit <strong>der</strong> Äquatorebene <strong>der</strong> Erde, die Tag- und


Nachtgleiche, ist zurzeit beim Frühlingspunkt im Sternbild <strong>der</strong><br />

Fische. Wir leben also im Zeitalter <strong>der</strong> Fische.<br />

Nun versucht die Sonne mit ihrer Anziehungskraft – <strong>der</strong> Mond<br />

und die Planeten spielen dabei auch eine Rolle, aber das lassen wir<br />

weg, das wird zu kompliziert – die Erdachse aufzurichten. Wie alle<br />

Kreisel – die Erde kreist ja in 24 Stunden einmal um sich selbst –<br />

reagiert die Erde mit einer Gegenkraft, die in einem Winkel von<br />

90° auf die Sonnenanziehung wirkt.<br />

Zur Erklärung: Du weißt doch, ich habe im 2. Weltkrieg bei<br />

<strong>der</strong> Luftwaffe das Fliegen gelernt. Und wenn Du so eine einmotorige<br />

Propellermaschine in die Luft bringen willst, musst Du, bevor<br />

Du abhebst, die Maschine in die Waagerechte bringen – wir Flieger<br />

sagten, den Schwanz heben. Bugrä<strong>der</strong> hatten die Maschinen<br />

damals noch nicht. Bei dieser Steuerbewegung kommt aber auch<br />

die Propellerachse, die vorher schräg stand, in die Waagerechte.<br />

Das Flugzeug reagiert darauf und versucht um 90° nach rechts auszubrechen,<br />

wenn Du nicht rechtzeitig mit dem Seitenru<strong>der</strong> gegensteuerst.<br />

<strong>Die</strong>ses Ausbrechen <strong>der</strong> Erdachse nennt man in <strong>der</strong> Astronomie<br />

Präzession. Sie erfolgt entgegen dem Sonnenlauf.<br />

<strong>Die</strong> Sonne wan<strong>der</strong>t von den Fischen in den Wid<strong>der</strong>, in den<br />

Stier usw., <strong>der</strong> Frühlingspunkt von den Fischen in den Wassermann,<br />

den Steinbock usw., nur viel langsamer. Braucht die Sonne<br />

ein Jahr, um alle Sternbil<strong>der</strong> zu durchlaufen, so braucht die Erdachse<br />

nicht ganz 26 000 Jahre, um einmal um ihren imaginären<br />

Mittelpunkt zu kreisen.<br />

Zur Zeit Christi Geburt ist <strong>der</strong> Frühlingspunkt in das Sternbild<br />

<strong>der</strong> Fische gewan<strong>der</strong>t, 2 160 Jahre vorher in das Sternbild Wid<strong>der</strong><br />

usw. Um etwa 7 000 vor Christi war also das Zeitalter <strong>der</strong> Zwillinge.”<br />

Es wurde eine lange Nacht.<br />

Steht die Auffor<strong>der</strong>ung Gottes an Abraham, nicht seinen erstgeborenen<br />

Sohn, son<strong>der</strong>n einen Wid<strong>der</strong> als Opfer darzubringen,


sinnbildlich für den Übergang vom Zeitalter des Stieres zum Zeitalter<br />

des Wid<strong>der</strong>s?<br />

Kündigt deshalb <strong>der</strong> Stern von Bethlehem im Sternbild Fische<br />

Christus den Menschenfischer an?<br />

Sinnbild <strong>der</strong> ersten Christen waren die Fische.<br />

Wie gesagt, es wurde eine lange Nacht. <strong>Die</strong> Tiefgründigkeit <strong>der</strong><br />

Gespräche wuchs mit <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> geleerten Flaschen.<br />

Später im Bett hatte ich einen langen Traum. Ich war Wildbeuter<br />

und lernte erstmalig die Zauberwurzel kennen.


II. Im Zeitalter <strong>der</strong> Zwillinge<br />

6 540 v. Chr. – 4 380 v. Chr.


1. <strong>Die</strong> Wildbeuter<br />

Es war Nacht. Ich lag neben an<strong>der</strong>en Gestalten am Boden in einer<br />

Höhle. Vor mir brannte ein Feuer. Zum Ausgang <strong>der</strong> Höhle<br />

hin witterten zwei wolfartige Hunde.<br />

Ich stand auf, trat vor die Höhle, blickte nach Osten. In <strong>der</strong><br />

Bergspalte wurde es schon hell. Doch die beiden Augen des Drachen<br />

<strong>der</strong> Finsternis über <strong>der</strong> Bergspitze waren noch offen. Erst<br />

wenn sie sich schlossen, weil die Sonne aus <strong>der</strong> Bergspalte aufleuchtete,<br />

hatte <strong>der</strong> Geist des Lichtes über den Geist <strong>der</strong> Finsternis<br />

gesiegt. Der Mondgott legte sich blutig leuchtend vom Kampf gegen<br />

den Drachen <strong>der</strong> Finsternis im Westen zur Ruhe 1 .<br />

Ich legte mein Bärenkleid an, stülpte den Bärenkopf über mein<br />

Haupt und begann mit dumpfem Bärenbrummen um das Feuer zu<br />

tanzen. Immer mehr Jäger <strong>der</strong> Horde nahmen ihre Speere in die<br />

Hand und stampften tanzend um mich und das Feuer herum, dabei<br />

den Höhlenausgang freilassend, so dass eine mäan<strong>der</strong>artig sich<br />

windende Männerschlange entstand.<br />

<strong>Die</strong> Weiber <strong>der</strong> Horde traten nach und nach in den offenen<br />

Halbkreis <strong>der</strong> Männer und warfen getrocknete Kräuter in das Feuer.<br />

Auch sie begannen zu tanzen und wanden sich als stampfende<br />

Schlange mäan<strong>der</strong>artig um mich und die tanzenden Männer,<br />

<strong>Die</strong> Luft wurde immer schwerer und betäuben<strong>der</strong>. Ich war unter<br />

meinem Bärenfell zusammengesunken und flehte den Geist des<br />

heraufziehenden Lichtes um reichhaltige Beute an.<br />

Ich sah mich im Wald inmitten einer Herde von Hirschen und<br />

1 Für die Wildbeuter des 7. Jahrtausends wurde es Frühling, wenn zur Zeit <strong>der</strong> Tag-<br />

und Nachtgleiche im Osten die Sonne die Hauptsterne Castor und Pollux des Sternbildes<br />

Zwillinge überstrahlte.


Hirschkühen. Sooft ich meinen Speer auf einen Hirsch schleu<strong>der</strong>te,<br />

traf ich und <strong>der</strong> Hirsch fiel tot um. Sobald ich aber auf eine<br />

Hirschkuh zielte, zerbrach <strong>der</strong> Speer mitten im Flug und die<br />

Hirschkuh blieb unversehrt.<br />

Ich erwachte aus meiner Trance, erhob mich unter meinem Bärenfell,<br />

stieß einen röhrenden Schrei aus, nahm einem <strong>der</strong> mich<br />

erwartungsvoll anstarrenden Krieger den Speer aus <strong>der</strong> Hand und<br />

schleu<strong>der</strong>te ihn mit Schwung gegen die Höhlendecke. Zitternd<br />

blieb er in einer Felsspalte und damit im Hals eines dort dargestellten<br />

Hirsches stecken. <strong>Die</strong> Jägerhorde reagierte mit einem röhrenden<br />

Schrei. Dann legte ich einen Pfeil auf die Sehne meines Bogens<br />

und zielte auf eine <strong>der</strong> hinter dem Hirsch gezeichneten Hirschkühe.<br />

Der Pfeil zerbrach wie auch alle an<strong>der</strong>en bei den folgenden<br />

Versuchen. <strong>Die</strong> Horde reagierte mit verblüfftem Schweigen 2 .<br />

Der Tanz setzte wie<strong>der</strong> ein.<br />

Ich trat vor die Höhle und starrte auf die immer heller werdende<br />

Bergspalte. Da, das erste Licht blitzte auf, <strong>der</strong> Lichtgeist war da. Er<br />

würde von jetzt an immer früher den Drachen <strong>der</strong> Finsternis besiegen.<br />

Zurück in <strong>der</strong> Höhle hob ich einen <strong>der</strong> zerbrochenen Pfeile auf<br />

und legte ihn einem <strong>der</strong> tanzenden Weiber auf die Schulter. Sie löste<br />

sich aus <strong>der</strong> Gruppe, kniete vor dem Feuer nie<strong>der</strong>, legte den<br />

Kopf auf die ausgestreckten Hände und wiegte ihren Hinterleib im<br />

2 <strong>Die</strong> Jagdtechnik <strong>der</strong> Menschen <strong>der</strong> mittleren Steinzeit war inzwischen so erfolgreich<br />

geworden, dass durch sie die Herden <strong>der</strong> Großwildtiere fühlbar dezimiert wurden. Um<br />

diese Entwicklung aufzuhalten, malten sie die Abbil<strong>der</strong> ihrer Jagdtiere an die Wände<br />

ihrer Höhlen und beschworen sie als <strong>der</strong>en Geister um Jagdglück.<br />

Alles, was diese Menschen sahen, war für sie belebt. Wir nennen daher heute dieses<br />

Zeitalter das Zeitalter <strong>der</strong> Animation (von anima = Seele).<br />

Wenn <strong>der</strong> Schamane nur die Jagd auf männliche Tiere als erfolgreich prophezeite, so<br />

versuchte er, <strong>der</strong> Dezimierung <strong>der</strong> Herden entgegen zu wirken, denn es genügen wenige<br />

männliche Tiere, um den Nachwuchs zu sichern. Der Fruchtbarkeitstanz <strong>der</strong> Horde<br />

for<strong>der</strong>t die Geister <strong>der</strong> Tiere dazu auf, für diesen Nachwuchs zu sorgen. Dass die Jäger<br />

<strong>der</strong> mittleren Steinzeit um diese Problematik wussten, beweist ein fossiler Müllhaufen<br />

in Syrien aus dieser Zeit, in <strong>der</strong> die Archäozoologen ausschließlich kleine Knochen und<br />

junge Gebisse von männlichen Gazellen fanden. <strong>Die</strong> Forscher vermuten, dass die Jäger<br />

die Herden in aus Flechtwerk gebildete Sackgassen getrieben haben und dort gezielt<br />

nur die männlichen Jungtiere getötet haben.


Rhythmus des Tanzes. Jedes von mir mit dem zerbrochenen Pfeil<br />

berührte Weib folgte dem Beispiel.<br />

Der Tanz <strong>der</strong> Männer um die vor ihnen knieenden Weiber<br />

wurde immer hektischer. Ich nahm wie<strong>der</strong> den Bogen, legte einen<br />

frischen Pfeil auf die Sehne und hob den Bogen höher und höher,<br />

während die Männer mir stöhnend zusahen. Der Pfeil schoss zischend<br />

zur Decke und zerbrach. Das war das Signal für die Männer.<br />

Sie stürzten sich auf die ihnen entgegenleuchtenden Hinterteile<br />

<strong>der</strong> Frauen und vollzogen den Fruchtbarkeitskult.<br />

Ich wachte aus meiner Urzeit auf. Irgendetwas Hartes war mir<br />

auf den Kopf gefallen. Es war das <strong>Wurzel</strong>männchen, das auf dem<br />

Bücherbord über dem Kopfende meines Bettes seinen Platz gefunden<br />

hatte.<br />

„Du fällst mir nicht mehr auf den Kopf”, murmelte ich, böse<br />

darüber, dass es mich an <strong>der</strong> interessantesten Stelle des Traumes<br />

aufgeweckt hatte.<br />

Ich schob das <strong>Wurzel</strong>männchen unter die Bettdecke. Und<br />

schon war ich wie<strong>der</strong> eingeschlafen.<br />

Ich stand neben zwei an<strong>der</strong>en Jägern vor dem Schamanen. Ihm<br />

zur Seite drei junge Frauen einer benachbarten Horde.<br />

Er nahm eines <strong>der</strong> Mädchen, schob sie mir zu und führte ihre<br />

und meine Hand zusammen. Ich war von nun an ihr Jäger, sie<br />

meine Sammlerin. Um den Hals trug sie an einer Bastschnur einen<br />

<strong>Wurzel</strong>geist, das Totem ihrer Horde 3 .<br />

3 Ein Totem, wie hier die <strong>Alraune</strong>, war ein Schutzgeist. Er schützte die Träger des Totems<br />

vor bösen Geistern. Umgekehrt for<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Schutzgeist, dass man ihn we<strong>der</strong> jagte<br />

noch verzehrte. Totems wurden in weiblicher Linie vererbt, wie wir von den Aborigien,<br />

den Ureinwohnern Australiens, wissen.<br />

Der Geschlechtsverkehr <strong>der</strong> Angehörigen eines Totems unterliegt einem Tabu. Er ist<br />

daher verboten zwischen Mutter und Sohn und unter Geschwistern, nicht aber zwischen<br />

Vater und Tochter, da sie verschiedenen Totemgemeinschaften angehören. <strong>Die</strong>ses<br />

Verbot verhin<strong>der</strong>t die Inzucht und zwingt dazu, sich Ehepartner bei an<strong>der</strong>en Horden<br />

zu suchen.


Es war Sommer.<br />

Ich lauerte am Waldrand auf Wild. Sie sammelte Körner, Beeren<br />

und Pilze. Jedes Mal wenn sie sich bückte, blitzten ihre prallen<br />

Hinterbacken auf. In mir wallte das Blut und stieg in meine Lenden.<br />

Ich sprang auf sie und wollte aufreiten.<br />

Bevor es dazu kam, drehte sie sich um und kniete vor mir nie<strong>der</strong>.<br />

Sie nahm mit <strong>der</strong> einen Hand mein Glied. In <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en hatte<br />

sie ihr Totem. Sie streichelte sanft mit dem <strong>Wurzel</strong>geist mein<br />

Glied, setzte sich mit gespreizten Beinen vor meine Füße und ließ<br />

sich dann nach hinten gleiten, immer mit <strong>der</strong> einen Hand mein<br />

stärker und stärker anschwellendes Glied festhaltend. Ich sank<br />

zwischen ihre Schenkel auf die Knie. Sie rutschte von mir weg,<br />

mein Glied festhaltend führte sie es in ihren Schoß, klammerte ihre<br />

Beine um meinen Leib und sog mir die Kraft aus meinen Lenden.<br />

Mein Kopf sank auf ihre Brust, mein Mund fand eine <strong>der</strong> angeschwollenen<br />

Warzen und sog daran. Ihr Mund formte Laute, die<br />

wie „Ejah! Ejah!” klangen, während ich „Oojeh! Oojeh!” stöhnte.<br />

Unsere Körper und unsere Seelen schmolzen zusammen.<br />

Der Pfeil des Jägers war zerbrochen, schlapp hing er zwischen<br />

den Lenden. Sie sah es lächelnd, umschlang mich mit ihren Armen<br />

und flüsterte: „Oojeh, oojeh”, zeigte dann auf mich „Oojeh” und<br />

dann auf sich „Ejah”.<br />

Es war Frühjahr.<br />

Ejah saß neben mir und wartete mit mir darauf, dass die in <strong>der</strong><br />

Ferne weidenden Bergziegen näher kamen. Ihr Leib war geschwollen,<br />

sie stöhnte leise und manchmal zuckte sie zusammen. <strong>Die</strong> Abstände<br />

wurden immer kürzer. Keiner <strong>der</strong> in solchen Dingen erfahrenen<br />

Weiber war in <strong>der</strong> Nähe.<br />

Ich bettete Ejah sanft auf das Moos des Waldbodens und umarmte<br />

ihren Leib, während sie die Beine spreizte. Sie starrte mich<br />

an und stöhnte: „Oojeh!”, stieß einen Schrei aus, dass die Bergziegen<br />

davon stoben und aus ihrem Schoß quoll zunächst <strong>der</strong> Kopf,<br />

dann Körper und Beine eines Knaben.


Vorsichtig lagerte ich ihn zur Seite, band mit Bast die Nabelschnur<br />

ab und trennte den Knaben von seiner Mutter.<br />

<strong>Die</strong> Fruchtblase kam nicht. Stattdessen quollen zwei Beine aus<br />

dem Schoß. Der Rest wollte und wollte nicht kommen. Als das<br />

Kind – es war ein Mädchen – endlich da war, war es tot. Ejah blutete<br />

und blutete, es wollte nicht aufhören. Sie wurde bleicher und<br />

bleicher, bis auch ihr Geist sie verlassen hatte. <strong>Die</strong> Sonne ging unter,<br />

ich sank zusammen und glaubte, ebenfalls zu sterben.<br />

Als ich aufwachte, neben mir krähte <strong>der</strong> Knabe, war es Tag, und<br />

Schäfchenwolken zogen über den Himmel. Vor mir weideten die<br />

Bergziegen. Bei einer <strong>der</strong> Ziegen stand ein Zicklein und saugte an<br />

dem Euter <strong>der</strong> Mutter.<br />

Ich nahm mein Wurfholz und surrend traf es den Kopf <strong>der</strong> Ziege.<br />

Bevor sie aus ihrer Betäubung aufwachte, hatte sie eine Schlinge<br />

um den Hals und war angebunden an einem Baumstamm. Vorsichtig<br />

legte ich den Knaben an einen ihrer Euter, das Zicklein<br />

beiseite drängend. Kräftig begann <strong>der</strong> Knabe zu saugen.<br />

Ich begrub mein Weib und die ungelebte Zwillingsschwester<br />

meines Sohnes und band diesen auf meinen Rücken 4 . Während ich<br />

nach dem Totem griff, erhielt ich einen Stoß von <strong>der</strong> Ziege in die<br />

Seite …<br />

… und erwachte. Ich fühlte den Schmerz. Aber er kam nicht<br />

von dem Ziegenschubs, son<strong>der</strong>n von dem <strong>Wurzel</strong>männchen, das<br />

ich im Schlaf unter mir begraben hatte.<br />

Es war schon hell. Ich nahm meine <strong>Alraune</strong>wurzel in die Hand.<br />

„Bist Du es, die mir diese blöden Träume eingegeben hat?”<br />

4 Der Tod <strong>der</strong> Mutter bei <strong>der</strong> Geburt zwingt den Vater dazu, sich tierische Muttermilch<br />

zu beschaffen. Beispielhaft wird hier <strong>der</strong> Übergang vom Wildbeuter zum Hirten<br />

deutlich, <strong>der</strong> historisch um diese Zeit einsetzt.<br />

Symbolisch deutet <strong>der</strong> Tod des Zwillingsmädchens an, dass die Zeit für das Seßhaftwerden<br />

des Menschen noch nicht gekommen ist. <strong>Die</strong>se „Neolithische Revolution”,<br />

ebenfalls eine Folge <strong>der</strong> Vernichtung <strong>der</strong> Großwildherden, geschieht erst zweitausend<br />

Jahre später zu Beginn <strong>der</strong> Jungsteinzeit.


Ist Oojeh nun zu seiner eigenen Horde zurückgekehrt o<strong>der</strong> zu<br />

<strong>der</strong> seines Weibes, um ihnen von ihrem Tod zu erzählen und um<br />

eine Ersatzmutter für seinen Sohn zu bitten?<br />

Ich wurde die beiden Träume nicht los. In Wachträumen fabulierte<br />

mein Geist, wie die Geschichte wohl weiterging.<br />

Das Ergebnis war die folgende Legende von <strong>der</strong> „Tochter des<br />

Schamanen”.


2. <strong>Die</strong> Tochter des Schamanen<br />

<strong>Die</strong> Frau hockte schon seit Stunden vor <strong>der</strong> Feuerstelle, – im<br />

Halbkreis um sie herum die übrigen Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Sippe. Im flackernden<br />

Schein des Feuers leuchtete ein Stein auf, <strong>der</strong> eine Grabstätte<br />

verschloss 5 .<br />

Sie waren am Nachmittag aus dem Tal heraufgekommen, hatten<br />

den Stein beiseite gewälzt, die Grabstätten gesäubert, Gaben<br />

hineingestellt und den Stein wie<strong>der</strong> vor die Graböffnung geschoben.<br />

Dann hatte die Frau in das Wasser, das sie in <strong>der</strong> letzten<br />

Vollmondnacht vor Frühlingsanfang aus <strong>der</strong> heiligen Quelle geschöpft<br />

hatte, eine nur ihr bekannte Mixtur aus Kräutern gestreut<br />

und den Tontopf in das Feuer gestellt. Im Duft <strong>der</strong> betäubenden<br />

Dämpfe wiegte sie ihren Oberkörper hin und her und flehte die<br />

Geister <strong>der</strong> Verstorbenen um Hilfe für die Lebenden an 6 .<br />

5 <strong>Die</strong> Hirtennomaden <strong>der</strong> Jungsteinzeit begruben ihre Toten in Steingräbern, einmal<br />

um sie vor dem Fraß <strong>der</strong> Wildtiere zu schützen, zum an<strong>der</strong>n um die Grabstätte in <strong>der</strong><br />

Weite <strong>der</strong> Steppe wie<strong>der</strong>zufinden, wenn es galt, an<strong>der</strong>e Sippenangehörige dort zu begraben<br />

bzw. die Geister <strong>der</strong> Verstorbenen zu besänftigen.<br />

Manche <strong>der</strong> in solchen Steingräbern gefundenen Skelette deuten darauf hin, dass die<br />

Toten in Hockerstellung begraben wurden, Man nimmt an, dass diese Toten, verschnürt<br />

in Weidengeflecht, aufgehoben wurden, bis die Horde das Sippengrab erreichte.<br />

6 <strong>Die</strong> Welt, in <strong>der</strong> die Menschen des frühen Neolithikums lebten, war erfüllt von Geistern.<br />

<strong>Die</strong> Seelen <strong>der</strong> Toten verließen die Körper und bestimmten als Schutzgeister<br />

o<strong>der</strong> böse Geister das Schicksal <strong>der</strong> Lebenden.<br />

In dieser manisch-magischen Welt, die den Animismus <strong>der</strong> Altsteinzeit abgelöst hatte,<br />

versuchten die Schamanen mit diesen Geistern Kontakt aufzunehmen, um das gnaden-<br />

o<strong>der</strong> schadensreiche Wirken mächtiger Toter aus dem Grab heraus vorhersagen<br />

zu können. Dazu versetzten sich die Schamanen mit Hilfe bestimmter Ingredienzien in<br />

einen psychotischen Rauschzustand. Zweifellos wussten sie um die Betäubungswirkung<br />

bestimmter Alkaloide in <strong>der</strong> <strong>Wurzel</strong> <strong>der</strong> <strong>Alraune</strong>, um die Rauschzustände durch<br />

den Genuss von Fliegenpilzen, um die LSD-Wirkung von Mutterkorn und des Krötengiftes<br />

Bufotenin.


Sie sah im flackernden Licht die Ritzzeichnung auf dem Stein:<br />

eine Sonne im Osten, die Wellenlinie und die Silhouette eines<br />

Bootes. Der hier begraben lag, war ihr Vater, <strong>der</strong> große Schamane,<br />

<strong>der</strong> sie auf einem Floß über das Meer aus dem Osten hierher geführt<br />

hatte. Spätere Generationen werden ihn Kronos nennen, weil<br />

er ein neues Zeitalter begründet hat.<br />

Dort unten am Fluss waren sie vor Jahren auf Flößen mit Hab<br />

und Gut angekommen. Ihre Gedanken wan<strong>der</strong>ten zurück.<br />

Aufgewachsen war sie zusammen mit ihrem Zwillingsbru<strong>der</strong> in<br />

einem Dorf an einem großen Meer. Ständig war in <strong>der</strong> Ferne das<br />

Donnern eines großen Wasserfalles zu hören und ständig stieg <strong>der</strong><br />

Wasserspiegel des Meeres. <strong>Die</strong> Fischer klagten von Jahr zu Jahr<br />

mehr, dass <strong>der</strong> Fischreichtum zurückging und dass das Wasser salziger<br />

wurde.<br />

Das muss nicht immer so gewesen sein. Ihr Vater hatte ihr erzählt,<br />

dass zu Zeiten seines Vaters kein Donnern eines Wasserfalls<br />

zu hören war, dass <strong>der</strong> Meeresspiegel gleichbleibend, das Wasser<br />

süß und das Meer voller Fische war.<br />

Ihr Großvater, ebenfalls Schamane <strong>der</strong> Sippe, hatte in einer kalten<br />

Winternacht, zu <strong>der</strong> Zeit, als die Tage wie<strong>der</strong> anfingen, länger<br />

zu werden, im Südosten kurz vor Sonnenaufgang das Füllhorn Tritons,<br />

des Wassermanns, so glitzern gesehen, dass die Sterne des<br />

Füllhorns zusammen mit den ersten Sonnenstrahlen sich im hohen<br />

Schnee bis zu ihm ergossen. Er prophezeite seiner Sippe ein wasserreiches<br />

Frühjahr.<br />

Er sollte Recht behalten. Der warme Regen des Frühjahrs<br />

schmolz den Schnee ungewöhnlich rasch hinweg und ließ die Flüsse<br />

ansteigen. Dann begann es. Zuerst war es nur ein fernes Rauschen,<br />

das sich binnen Wochen zu dem seitdem gewohnten Donnern des<br />

Wasserfalls<br />

Jahr für Jahr opferte die Sippe ihre erstgeborenen Kin<strong>der</strong> dem<br />

Wassergeist und flehte ihn an, in sein altes Bett zurückzukehren.


Es half nichts. Auch ihr älterer Bru<strong>der</strong> war auf diese Weise geopfert<br />

worden.<br />

Als ihre Mutter, Tochter des Sippenältesten eines befreundeten<br />

Hirtenstammes, danach Zwillinge gebar, wurde gelobt, dass dieser<br />

Segen auch dem Stamme ihrer Mutter zuteil werden sollte. Ihr<br />

Zwillingsbru<strong>der</strong> war, seit er Mann war, Mitglied dieses Hirtenstammes.<br />

Wie es ihm wohl gehen mag? Seit das Wasser auch die Weiden<br />

jenseits des Dorfes überspült hatte, war <strong>der</strong> Hirtenstamm, wie<br />

sonst alljährlich, nicht mehr vorbeigekommen. 7 .<br />

Ihr Vater hatte bis zur Erschöpfung im Tanz die Geister angefleht,<br />

seiner Sippe zu helfen. Da, als das Dorf schon rings vom<br />

7 Etwa um 5600 v. Chr. stürzten die Fluten des Mittelmeeres am Bosporus in das<br />

Schwarze Meer, dessen Ufer ehemals gut 120 m unter dem heutigen Wasserspiegel lag.<br />

Mit <strong>der</strong> Eisschmelze am Ende <strong>der</strong> Eiszeit um 12 500 v. Chr. sammelte sich das<br />

Schmelzwasser zunächst in den Bodensenken, die <strong>der</strong> Druck <strong>der</strong> gewaltigen Eisschicht<br />

geschaffen hatte. <strong>Die</strong> Riesenschmelzwasserseen hatten nach Süden zunächst keinen<br />

Abfluss, weil <strong>der</strong> Eisschild in seinem Vordringen die nachgebende Erdkruste als Erdwall<br />

vor sich hergeschoben hatte. Erst als diese Seen überquollen, ergoss sich das Schmelzwasser<br />

kaskadenartig in den Aralsee, das Kaspische Meer und das Schwarze Meer. Der<br />

Meeresspiegel des Schwarzen Meeres stieg dadurch über den des Mittelmeeres. Das<br />

Süßwasser des Schwarzen Meeres schuf sich einen Abfluss ins Marmarameer, und dieses<br />

über die Dardanellen einen ins Mittelmeer.<br />

<strong>Die</strong> Phase <strong>der</strong> nacheiszeitlichen Erwärmung wurde durch einen Rückfall in fast eiszeitliche<br />

Umweltbedingungen zwischen 10 500 bis 9 400 v. Chr. unterbrochen, eine Periode,<br />

die sich durch extreme Trockenheit auszeichnete.<br />

Das Schmelzwasser wurde spärlicher und floss nicht mehr nach Süden, son<strong>der</strong>n nach<br />

Westen in Nord- und Ostsee (Urstromtäler). Der Meersspiegel des Schwarzen Meeres<br />

sank unter den des Mittelmeeres.<br />

Menschen und Tiere entflohen <strong>der</strong> Unwirtlichkeit ihrer bisherigen Lebensräume und<br />

fanden an den Süßwasserufern des Schwarzen Meeres eine neue Heimat. <strong>Die</strong> Archäologen<br />

haben in Kleinasien viele während dieser Jahrtausende aufgegebene Siedlungsstätten<br />

gefunden.<br />

In diesem kulturellen Schmelztiegel an den Ufern des Schwarzen Meeres muss es zu<br />

vielen Errungenschaften des Neolithikums gekommen sein.<br />

Erst nach <strong>der</strong> Katastrophe in <strong>der</strong> Mitte des 6. Jahrtausends tauchen die Bandkeramiker<br />

in Europa, die Städtesiedlungen in Jericho und die Sumerer an Euphrat und Tigris auf.<br />

Sprachforscher haben eine Verwandtschaft des Baskischen mit dem Schrifttum <strong>der</strong><br />

Sumerer festgestellt.


Wasser umspült war, ist ihm <strong>der</strong> Flussgeist des Westens erschienen<br />

und hat ihn aufgefor<strong>der</strong>t, aus den Balken <strong>der</strong> Häuser Flöße zu bauen<br />

und zu ihm zu kommen.<br />

Sie erinnert sich noch genau, wie sie die Balken zusammengebunden<br />

hatten, günstige Ostwinde abgewartet, Felle als Segel aufgespannt<br />

und mit Hab und Gut in tage- und nächtelanger Fahrt,<br />

vorbei an aus dem Wasser ragenden toten Bäumen, die Mündung<br />

des Flusses erreicht hatten. Kurz vor ihrem Aufbruch war ihre<br />

Mutter gestorben. Seitdem trug sie das Totem <strong>der</strong> Sippe ihrer<br />

Mutter, die <strong>Wurzel</strong> <strong>der</strong> <strong>Alraune</strong>.<br />

<strong>Die</strong> Augen <strong>der</strong> Frau schweiften nach oben. Noch standen die<br />

Zwillingssterne im Zenith. Erst wenn sie im Osten erloschen,<br />

würde die Sonne aufgehen, ein Zeichen, dass <strong>der</strong> Frühling nahte.<br />

Als Kin<strong>der</strong> hatten sie und ihr Zwillingsbru<strong>der</strong> diese Sterne als ihre<br />

Sterne angesehen, ihr Bru<strong>der</strong> den etwas helleren und sie den etwas<br />

kleineren. Als <strong>der</strong> endgültige Abschied von ihrem Bru<strong>der</strong> nahte,<br />

hatte sich die Geschwisterliebe in eine verzehrende Leidenschaft<br />

gewandelt. Ob er beim Anblick dieser Sterne heute noch seiner<br />

Schwester gedachte wie sie dabei an ihren fernen Bru<strong>der</strong> und Vater<br />

ihrer Tochter denken musste? War etwa <strong>der</strong> Tod ihrer Tochter die<br />

Sühne für das von ihnen als Angehörige des gleichen Totems verletzte<br />

Tabu? 8<br />

Ihr Blick wandte sich wie<strong>der</strong> dem Stein zu. <strong>Die</strong> dort eingeritzte<br />

Ähre wies darauf hin, dass auch ihre Tochter ab heute in dem Grabe<br />

lag.<br />

Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ihre Gedanken schweiften<br />

zurück zu den Tagen, als sie für ihren toten Vater diese Grabstätte<br />

errichteten.<br />

Ihre Tochter, die sie zärtlich Kore nannte, rannte geschäftig um<br />

die Grabstätte herum und streute überall Samen und Körner auf<br />

die aufgeschüttete Erde, damit <strong>der</strong> Ahne in seinem jenseitigen Leben<br />

etwas zu essen hatte.<br />

8 vgl. (3)


Auch bei <strong>der</strong> Rückkehr ins Tal spielte sie noch den Großvater<br />

mit Nahrung versorgen. Sie hatte den Boden zu einer Grabstätte<br />

aufgelockert und streute Körner von Emmer und Erbsen auf diese<br />

simulierte Grabstätte.<br />

Ein leichtes Lächeln huschte über die Gesichtszüge <strong>der</strong> Hockenden,<br />

als sie daran dachte, wie zornig ihre Tochter geworden<br />

war, als die Vögel begannen, diese Körner aufzupicken, wie sie sie<br />

mit einem Reisigbesen verscheucht hatte und dann mit diesem Besen<br />

die Körner zum Schutz vor diesen Vögeln unter die Erde geharkt<br />

hatte.<br />

Im Frühjahr hatte sich dichtes Grün über die von ihrer Tochter<br />

angelegte Grabstätte gebreitet. Im Laufe <strong>der</strong> Monde entfalteten<br />

sich daraus Ähren tragende Halme und Erbsen tragende Wicken.<br />

<strong>Die</strong> Menschen sahen es mit Staunen, dankten dem Geist des verstorbenen<br />

Schamanen für diesen Segen und vergaßen nicht, einen<br />

Teil <strong>der</strong> Ernte dem Ahnengeist zu opfern.<br />

Als sie auch oben beim Grab des Schamanen diese Ährenfülle<br />

vorfanden, sahen sie darin den Willen des verehrten Toten, seine<br />

Enkelin mit dem Ahnenkult zu betrauen.<br />

Von Jahr zu Jahr stieg <strong>der</strong> Ertrag <strong>der</strong> Ernte, <strong>der</strong> Bestand <strong>der</strong><br />

Viehherde und auch die Zahl <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Sippe. Der Segen<br />

des Schamanen blieb <strong>der</strong> Sippe erhalten<br />

Ja, bis die Katastrophe hereinbrach. Es war ein sehr mil<strong>der</strong> Vorfrühling<br />

gewesen. <strong>Die</strong> Saat stand schon hoch im Grün. Jetzt zum<br />

Frühlingsanfang zogen sie hinauf zum Grab des Schamanen, um die<br />

Grabstätte zu säubern und mit ihm den Frühlingsanfang zu feiern.<br />

Ihre Tochter war vorausgeeilt, Von Ferne sahen sie, wie Kore<br />

mit einem Stock Ziegen vom Grab des Ahnen vertrieb, die die frische<br />

Saat abfraßen. Mit Entsetzen sahen sie aber auch, wie <strong>der</strong> fremde<br />

Hütejunge seine Hunde auf das Mädchen hetzte und wie diese die<br />

Enkelin des Schamanen zerfleischten. Bevor sie eingreifen konnten,<br />

waren Hütejunge, Hunde und Ziegen im Wald verschwunden.<br />

Fassungslos hatte sie sich über das tote Kind ihrer Liebe zu ihrem<br />

Zwillingsbru<strong>der</strong> geworfen, laut heulend die Haare gerauft, das


Gesicht mit Erde beschmiert, dann wie<strong>der</strong> tagelang versteinert neben<br />

ihrer Tochter gehockt und sie schließlich im Tal in einem<br />

Weidengeflecht aufgebahrt, bis ihr Tod gerächt werden konnte.<br />

Auch <strong>der</strong> Geist des Schamanen zürnte. An seinem Grab wuchsen<br />

keine Früchte, im Tal hatte ein Sommerhochwasser die Saat<br />

mitsamt <strong>der</strong> Erde weggespült.<br />

<strong>Die</strong> Gedanken <strong>der</strong> Hockenden kehrten in die Gegenwart zurück.<br />

Jetzt nach Jahr und Tag waren sie des Hütejungen habhaft<br />

geworden. Er lag als gefesseltes Bündel neben ihr.<br />

Ihre Züge versteinerten sich. Auf einen Wink hin hoben Männer<br />

den Gefangenen hoch und hielten seinen Kopf über das Loch<br />

<strong>der</strong> Grabstätte, aus dem die Seelen <strong>der</strong> Verstorbenen aus- und einfliegen<br />

konnten. <strong>Die</strong> Frau erhob sich und schnitt dem Hütejungen<br />

die Kehle durch, so dass sein Blut durch das Grabloch den Geistern<br />

<strong>der</strong> Ahnen als Sühneopfer zufließen konnte.<br />

Drei mitgefangene Ziegen des Hütejungen wurden ebenfalls geschächtet<br />

und dann als Brandopfer zu Ehren <strong>der</strong> Toten verspeist.<br />

Der tote Hütejunge wurde den Hunden zum Fraß vorgeworfen.<br />

Der Oberkörper <strong>der</strong> Hockenden wippte mit ausgebreiteten<br />

Armen vor und zurück. Ihr Singsang schwoll an, mit aufgerissenen<br />

Augen blickte sie ins Leere. Ihr durch die Kräuter erweitertes Bewusstsein<br />

schien etwas zu sehen. Gebannt starrten die Sippenmitglie<strong>der</strong><br />

sie an und warfen sich dann zitternd zu Boden. Erst als <strong>der</strong><br />

Singsang erstarb, wagten sie wie<strong>der</strong> aufzublicken. Sie sahen, dass<br />

die Frau sie fixierte, sie schien wie<strong>der</strong> in die Gegenwart zurückgekommen<br />

zu sein.<br />

Mit erschöpfter Stimme erklärte sie ihrer Sippe, dass <strong>der</strong> große<br />

Schamane ihr erschienen sei, die dargebrachten Opfer angenommen<br />

habe, gleichwohl bleibe <strong>der</strong> Ort wegen <strong>der</strong> Untat unfruchtbar.<br />

Er habe sie aufgefor<strong>der</strong>t, weiter flussaufwärts nach Westen zu<br />

ziehen, bis sie an einer Flussaue einen weidenden Stier mit seiner<br />

Herde fänden. Dort sollten sie sich nie<strong>der</strong>lassen, dort werde sein<br />

Geist sie auch weiterhin beschützen, denn <strong>der</strong> Stier sei ja das Totem<br />

<strong>der</strong> Sippe.


Sie fanden die Stelle. <strong>Die</strong> eingebrachte Saat trug reichhaltige<br />

Frucht. Der dort in den Fluss mündende Bach lieferte nicht nur<br />

sauberes Trinkwasser, son<strong>der</strong>n enthielt auch gelbe Steine, die<br />

schwerer waren als normale Steine, aber nicht splitterten, wenn<br />

man sie bearbeitete 9 . Aus Dankbarkeit formten geschickte Hände<br />

daraus Stiersymbole und stellten diese Totems als Schutz vor die<br />

Hütten.<br />

Als nach Jahr und Tag ein Händler mit seinem Tragtier bei ihnen<br />

erschien und Bernstein gegen Otterfelle tauschen wollte, sah<br />

er diese Stiersymbole. Er bot für ein solches Stiersymbol milchige<br />

Steine, die er weiter im Westen erworben hatte. Dort seien Berge,<br />

die so hoch wären, dass man ihre Spitzen nicht sehen könne.<br />

Wahrscheinlich schabten diese Spitzen an dem Himmel und diese<br />

milchigen Steine, die ja wie <strong>der</strong> Himmel aussehen, wenn die Sonne<br />

nicht scheine, fielen herunter. <strong>Die</strong> Bewohner <strong>der</strong> Berge würden<br />

damit ihr Fleisch einreiben, das Fleisch schmecke danach ganz an<strong>der</strong>s,<br />

er habe es selbst ausprobiert 10 .<br />

<strong>Die</strong> Tochter des Schamanen fragte den Händler, ob er weiter<br />

im Osten eine Sippe kenne, die ein Totem habe, das so aussähe,<br />

wie das <strong>Wurzel</strong>männchen, das sie hier am Gürtel trage.<br />

In dreißig Tagereisen hoffe er da zu sein, war seine Antwort, <strong>der</strong><br />

Sippenälteste sei so alt wie sie, sähe ihr sehr ähnlich und hieße<br />

Zeus. Da übergab sie dem Händler ein weiteres Stiertotem und<br />

bat ihn, dieses Totem dem Zeus von seiner Zwillingsschwester<br />

Demeter zu überreichen.<br />

9 Gold kam in vielen Flüssen vor. Wie an<strong>der</strong>e Mineralien wurde es aus den Felsen gewaschen,<br />

blieb jedoch wegen seines hohen spezifischen Gewichtes und seiner chemischen<br />

Bindungsresistenz länger artrein in den Flussbetten eingelagert. Julius Cäsar hat<br />

Gallien erobert, nicht zuletzt um an das keltische Gold zu kommen, das diese wahrscheinlich<br />

auch aus dem Rhein (Rheingold) gewonnen hatten. Spätere römische Kaiser<br />

führten aus demselben Grund Krieg mit den Thrakern, die an <strong>der</strong> unteren Donau siedelten.<br />

Der kalifornische Goldrausch in <strong>der</strong> Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts am Sacramento<br />

o<strong>der</strong> am Ende dieses Jahrhun<strong>der</strong>ts in Alaska am Klondike sind Beispiele in <strong>der</strong> Neuzeit.<br />

10 <strong>Die</strong> milchigen Steine des Händlers sind Steinsalze aus dem Salzkammergut, die ebenso<br />

wie <strong>der</strong> Bernstein <strong>der</strong> Ostsee schon in frühester Zeit Gegenstand des Handelns waren.


Sie hoffe ihren Bru<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Ahnenverehrung an <strong>der</strong> Grabstätte<br />

ihres Vaters zu treffen. Sie werde da sein, wenn ihrer bei<strong>der</strong><br />

Sterne zum dritten Male im Osten dem Sonnenaufgang weichen<br />

müssten. Sie beschrieb dem Händler den Ort <strong>der</strong> Grabstätte <strong>der</strong><br />

Stiersippe und entließ ihn mit <strong>der</strong> Bitte, ihrem Bru<strong>der</strong> die Nachricht<br />

zu übermitteln.<br />

Am Tage des Treffens erschien Zeus mit einem wun<strong>der</strong>schönen<br />

Stier als Geschenk für seine Schwester und <strong>der</strong> Sippe seines Vaters.<br />

Demeter war jedoch vor einem halben Jahr gestorben.<br />

Ein Stier hatte sie angegriffen, seine mächtigen, geschwungenen<br />

Hörner tief in ihre Brust gebohrt und sie hoch über seinen Nacken<br />

zu Boden geschleu<strong>der</strong>t, wo sie tot liegen blieb. Sie hatte versucht,<br />

ihn und seine Herde von dem Feld mit <strong>der</strong> frischen Saat zu vertreiben.<br />

Nun am Tage des Wie<strong>der</strong>sehens führten ihre Leute sie in einem<br />

Weidenkorb mit, um sie neben ihrem Vater und ihrer Tochter in<br />

dem Sippengrab beizusetzen.<br />

Nach <strong>der</strong> Totenfeier nahm Zeus das <strong>Wurzel</strong>männchen seiner<br />

Schwester an sich, da sie die letzte <strong>der</strong> Stiersippe war, die über ihre<br />

Mutter gleichzeitig auch <strong>der</strong> Sippe <strong>der</strong> <strong>Alraune</strong> angehörte. Um auch<br />

in <strong>der</strong>en Sippengrab Teile <strong>der</strong> verehrten Toten bestatten zu können,<br />

erhielt Zeus den Schädel seiner Schwester als Grabbeigabe 11 .<br />

11 Auch heute noch werden die Überreste verehrenswürdiger Tote auf mehrere Gedenkstätten<br />

verteilt. Man denke nur an die Reliquien <strong>der</strong> heutigen Glaubensgemeinschaften.<br />

Ein Überbleibsel <strong>der</strong> Steinzeit?


III. Im Zeitalter des Stieres<br />

4 380 v. Chr. – 2 220 v. Chr.


Ahnen werden zu Göttern<br />

Über <strong>der</strong> Ansiedlung am Meer lag eine flirrende Hitze. <strong>Die</strong><br />

Sonne stand im Sternzeichen <strong>der</strong> Großen Mutter, die Ernte war eingebracht.<br />

<strong>Die</strong> Zeit für die Große Vereinigung zwischen <strong>der</strong> Göttin<br />

und dem Stier war nahe. Sie wurde alle 100 Monde gefeiert und<br />

<strong>der</strong> letzte <strong>der</strong> 100 Monde stand kurz vor seiner Vollendung 12 .<br />

Aus allen Dörfern des Stammes waren die Menschen mit ihren<br />

Opfergaben herbeigeströmt und hatten sie am Altar <strong>der</strong> Großen<br />

Mutter nie<strong>der</strong>gelegt, wo sie von <strong>der</strong> Schreiberin <strong>der</strong> Hohenpriesterin<br />

aufgezeichnet und dann den Vorräten <strong>der</strong> Göttin hinzugefügt<br />

wurden 13 .<br />

<strong>Die</strong> Weisen Frauen <strong>der</strong> einzelnen Siedlungen saßen mit Hekate,<br />

<strong>der</strong> Hohenpriesterin, zusammen, um Probleme des Stammes zu<br />

besprechen. Seit Jahren schon waren die Dörfer im Norden Opfer<br />

<strong>der</strong> Überfälle von Hirtenstämmen. Es waren Ungeheuer mit Pferdeleibern<br />

und menschlichen Oberkörpern sowie fürchterlichen<br />

12 In <strong>der</strong> Mitte des 4. Jahrtausends v. Chr. im Zeitalter des Stieres trat die Sonne Mitte<br />

Juni in das Sternbild <strong>der</strong> Jungfrau. Es war die Zeit, in <strong>der</strong> die Steinzeitbauern ihre Ernte<br />

einbrachten. Schon sie sahen in <strong>der</strong> Sternansammlung um den Hauptstern Spica eine<br />

weibliche Gestalt, eben die ihrer Großen Mutter.<br />

13 Bei den Ausgrabungen auf Kreta fand man zwei verschiedene Schriftformen, die in<br />

<strong>der</strong> Schriftforschung mit „Linear A” und „Linear B” gekennzeichnet werden.<br />

<strong>Die</strong> jüngere Schrift, Linear B, hat man inzwischen weitgehend entziffern können, weil<br />

die mykenischen Eroberer Kretas, etwa ab 1 500 v. Chr., sie für die Darstellung ihrer<br />

protohellenischen Sprache verwandten, die den Forschern bekannt ist.<br />

Linear A entzieht sich aber bis heute noch <strong>der</strong> Deutung, weil die Sprachforscher nicht<br />

wissen, welche Sprache im minoischen Kreta gesprochen wurde. Interessant ist aber,<br />

dass diese Schriftzeichen eine große Ähnlichkeit mit alteuropäischen Schriftzeichen aus<br />

dem 4. Jahrtausend aufweisen, wie man sie bei Ausgrabungen auf dem Balkan gefunden<br />

hat. Es wird vermutet, dass es sich bei den Schriftfunden um Inventarlisten von<br />

Opfergaben handelt.


Waffen: Streitäxte und Bögen, <strong>der</strong>en Pfeile weiter flogen als die des<br />

Stammes 14 .<br />

Außerdem musste <strong>der</strong> Ablauf des hohen Festes besprochen werden.<br />

Das Fest selbst würde nach uraltem Ritus ablaufen.<br />

Erst wird <strong>der</strong> heilige Weiße Stier die von den Bauern mitgebrachten<br />

Kühe besamen.<br />

Dann wird das Stierspringen stattfinden. Jedes Dorf wird seinen<br />

kräftigsten Jungstier als Opfertier mitbringen, gegen die freiwillig<br />

junge Männer antreten, um, den Stier bei den Hörnern packend,<br />

im Salto über ihn hinweg zu springen. Der jeweilige Verlierer,<br />

Springer o<strong>der</strong> Stier, wird <strong>der</strong> Großen Mutter feierlich zum Opfer<br />

dargebracht.<br />

Danach wird von den Weisen Frauen in geheimer Wahl <strong>der</strong>jenige<br />

ausgewählt, <strong>der</strong> als heiliger Stier, aus dem Meer aufsteigend,<br />

mit <strong>der</strong> Großen Mutter, versinnbildlicht in einer jungfräulichen<br />

Priesterin als heiliger Kuh, die Heilige Hochzeit feiert.<br />

In <strong>der</strong> Ansiedlung selbst herrschte geschäftiges Treiben. Ein<br />

Händler hatte seinen Stand aufgebaut und bot Bernstein sowie<br />

Felle seltener Tiere aus dem Norden gegen Perlen sowie Kupfer<br />

und an<strong>der</strong>e Metalle an 15 . Mehr noch als <strong>der</strong> Händler erregte sein<br />

Begleiter, ein großer blon<strong>der</strong>, fremdländisch gekleideter Jüngling,<br />

die Aufmerksamkeit <strong>der</strong> Menge.<br />

Ein junges Mädchen trat an den Stand, suchte sich eine Bern-<br />

14 Noch im 5. Jahrtausend v. Chr. lebten die Steinzeitbauern Südosteuropas getrennt<br />

von den Hirtenstämmen, die weiter im Osten nördlich des Schwarzen Meeres ihre<br />

Herden weideten. Zu Beginn des 4. Jahrtausends kam es allmählich zu Kontakten zwischen<br />

<strong>der</strong> alteuropäischen Bevölkerung und den Kurganvölkern, wie man heute diese<br />

ersten indogermanischen Stämme wegen ihrer Hügelgräber (Kurgane) nennt.<br />

<strong>Die</strong> Kontakte bestanden darin, dass die Nomaden nach <strong>der</strong> Erntezeit die Dörfer überfielen,<br />

um sich in den Besitz <strong>der</strong> Wintervorräte zu bringen. Sie ritten auf Pferden und<br />

waren mit ihren Doppelstreitäxten sowie ihren weiterreichenden Bögen den Dörflern<br />

militärisch weit überlegen. Angst und Schrecken ließ bei den überlebenden Flüchtlingen<br />

das Bild von Pferdemenschen (Zentauren) entstehen, eine Vorstellung, die in <strong>der</strong><br />

griechischen Mythologie sich nie<strong>der</strong>geschlagen hat.<br />

15 Metalle, wie Gold und Kupfer, waren den Menschen des 4. Jahrtausends bekannt.<br />

Doch verwendeten sie diese Metalle als Schmuckgegenstände. Ihr Werkzeugcharakter,<br />

vor allem mit <strong>der</strong> Legierung von Kupfer und Zinn, setzte erst später ein.


steinkette aus und bot dafür zwei Armreifen aus Kupfer. Der blonde<br />

Jüngling starrte sie unverwandt an und wurde feuerrot im Gesicht<br />

als sie ihn freundlich anlächelte.<br />

„Ich bin Europe, die Tochter von Hekate. Und wer bist Du?”<br />

„Asterios, Sohn des Kadmos”, stotterte er, denn soviel hatte er,<br />

trotz <strong>der</strong> ihm fremden Sprache, verstanden, dass sie sich ihm vorgestellt<br />

hatte.<br />

Als sie verschwunden war, bestürmte <strong>der</strong> Jüngling den Händler<br />

mit Fragen. Der erklärte ihm das bevorstehende Ritual und dass<br />

diesmal Europe die heilige Kuh sein werde, die <strong>der</strong> heilige Stier,<br />

aus dem Meer aufsteigend, befruchten werde. Ob auch Fremde am<br />

Stierkampf teilnehmen könnten, wollte er, ohne von <strong>der</strong> Technik<br />

des Stierspringens eine Ahnung zu haben, abschließend wissen.<br />

Am Tage des Stierspringens verfolgten Hun<strong>der</strong>te von Augenpaaren<br />

gespannt den Kampf zwischen Mensch und Stier.<br />

Von den sechs vor Asterios startenden Springern hatten vier einen<br />

Fehlsprung getan und waren anschließend von Stierhörnern<br />

zerfleischt worden.<br />

Als Asterios die Arena betrat und <strong>der</strong> Stier auf ihn zustürmte,<br />

packte <strong>der</strong> Jüngling ihn bei den langen Hörnern und ließ sich von<br />

ihm über den Nacken schleu<strong>der</strong>n. Doch mangels Springertechnik<br />

landete er nicht auf seinen Füßen, son<strong>der</strong>n fiel in den Sand <strong>der</strong><br />

Arena. So schnell jedoch wie <strong>der</strong> Stier wendete, so schnell stand<br />

Asterios wie<strong>der</strong> auf seinen Beinen. Mit einer geschickten Körperdrehung<br />

wich er dem heranstürmenden Stier seitwärts aus, packte<br />

ihn bei den Hörnern und drehte damit seinen Kopf so, dass <strong>der</strong> Stier<br />

von den Beinen kam und sich dabei gleichzeitig das Genick brach.<br />

Zweifellos war Asterios <strong>der</strong> Sieger, doch war dieser Kampf mit<br />

dem üblichen eleganten Stierspringen vergleichbar? Noch nie hatten<br />

die Zuschauer solchen Sieg eines Menschen über einen Stier<br />

gesehen. <strong>Die</strong> Weisen Frauen waren uneinig, ob <strong>der</strong> auf diese Weise<br />

besiegte Stier als Opfer für die Große Mutter dienen dürfe.<br />

Schließlich entschied Hekate, Asterios zu einer Befragung vor den<br />

Rat <strong>der</strong> Weisen Frauen zu laden.


„Woher kommst Du und wer bist Du?”, fragte Hekate. Asterios<br />

schaute fragend drein, bis eine <strong>der</strong> Weisen Frauen, seiner Sprache<br />

mächtig, übersetzte.<br />

„Ich komme aus dem Norden. Mein Name ist Asterios. Mein<br />

Vater ist <strong>der</strong> Fürst eines großen Hirtenstammes.<br />

Eure Art des Stierspringens ist uns fremd. Wir besiegen den<br />

Stier so, wie ich es tat. Wir töten die Stiere dabei nicht, wir markieren<br />

sie und dann lassen wir sie wie<strong>der</strong> frei.<br />

Unser Gott ist keine Frau. Unser Gott ist ein Mann. Er heißt<br />

Zeus.”<br />

Während Asterios sprach, fiel <strong>der</strong> Blick Hekates auf ein figürliches<br />

Etwas an seinem Gürtel. Sie erstarrte.<br />

„<strong>Die</strong> <strong>Wurzel</strong> <strong>der</strong> <strong>Alraune</strong>! Das heilige Kraut <strong>der</strong> Großen Mutter!<br />

Woher hast Du das?” Sie zeigte mit ihren Fingern auf das<br />

Zaubermännchen.<br />

„Das ist das Totem <strong>der</strong> Fürstensippe unseres Stammes. Es ist<br />

seit Urzeiten in unserer Familie. Meine Mutter gab es mir zum<br />

Schutz mit.”<br />

Asterios sah, wie die Frauen ihre Köpfe zusammensteckten und<br />

erregt in <strong>der</strong> ihm fremden Sprache miteinan<strong>der</strong> sprachen. Dann<br />

wandte sich Hekate wie<strong>der</strong> dem Fremdling zu und ließ übersetzen:<br />

„Du trägst das Heilige Zeichen. Dich hat die Große Mutter geschickt.<br />

Du bringst uns die Fruchtbarkeit. Du bist <strong>der</strong> Heilige<br />

Stier <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Heiligen Kuh die Heilige Hochzeit feiern wird.”<br />

Am Tage <strong>der</strong> Großen Vereinigung wurde am Strand das Weidengerüst<br />

errichtet. Über vier Pfosten war ein Weidengeflecht gespannt.<br />

Ein Kuhfell mit Kopf lag darüber.<br />

Langsam sank die Sonne im Westen. Auf dem Altar brannten<br />

Herz, Leber und Hirn <strong>der</strong> Opfer sowie Früchte <strong>der</strong> Fel<strong>der</strong>. <strong>Die</strong><br />

Priesterinnen umschritten singend den Altar. Der Rauch <strong>der</strong> Opfer<br />

stieg senkrecht nach oben. <strong>Die</strong> Große Mutter hatte das Opfer angenommen.<br />

<strong>Die</strong> Priesterinnen füllten die um den Altar aufgestapelten Op-


fergaben in geflochtene mit Blättern ausgelegte Schalen und verteilten<br />

die nun geweihten Gaben an die im großen Halbkreis um<br />

den Altar sitzenden Mitglie<strong>der</strong> des Stammes.<br />

<strong>Die</strong> Dämmerung brach herein und überall flammten kleine Feuer<br />

auf, an denen die Gaben zubereitet wurden.<br />

Im Osten zeigte sich ein heller Schein, dann stieg langsam <strong>der</strong><br />

volle Mond aus dem Meer auf.<br />

Das war das Zeichen für die Priesterinnen. Zusammen mit einer<br />

ganz in weißes Linnen gehüllten Gestalt schritten sie zu dem Weidengerüst,<br />

hoben die Gestalt hoch und legten sie bäuchlings auf<br />

das Weidengerüst. Sie nahmen das weiße Linnen weg und banden<br />

Hand- und Fußgelenke <strong>der</strong> nunmehr nackten Gestalt mit Weidenruten<br />

an den vier Pfosten fest. Dann legten sie ihr das Kuhfell über<br />

den Rücken.<br />

<strong>Die</strong> Weisen Frauen stellten sich im Halbkreis um das Weidengestell.<br />

Hekate begann zu beten und wiegte sich dabei mit ausgestreckten<br />

Händen hin und her.<br />

„Du, Große Mutter, bist Anfang und Ende. Du lässt unsere<br />

Saaten keimen, Du lässt unsere Früchte reifen, Du segnest unsere<br />

Ernte. Segne nun auch die Heilige Hochzeit <strong>der</strong> himmlischen<br />

Mondkuh mit dem Heiligen Stier aus dem Meer!”<br />

<strong>Die</strong> Menge im weiten Rund verstummte und hielt den Atem an.<br />

Aus dem Schatten <strong>der</strong> Klippe löste sich ein Stierhaupt,<br />

schwamm in den hellen Strahl, den das Mondlicht auf das Wasser<br />

warf und aus dem Meer stieg eine mächtige nackte Gestalt. Der<br />

Mann mit dem Stierhaupt zögerte, schaute sich suchend um und<br />

schritt dann mit bedächtigen Schritten auf die himmlische Mondkuh<br />

zu.<br />

<strong>Die</strong> Menge sah die Tropfen auf dem Körper des Mannes im<br />

Mondlicht schimmern, sah wie das Glied des Mannes immer<br />

mächtiger wurde, wie es rot im Schein <strong>der</strong> zahlreichen Feuer aufglänzte.<br />

Der heilige Stier hob das Fell <strong>der</strong> himmlischen Mondkuh und<br />

schob sein mächtiges Glied in das Vlies <strong>der</strong> Mondkuh. <strong>Die</strong> Frau


auf dem Weidengeflecht schrie auf. Der Mann hielt inne, streichelte<br />

ihre Brüste und schob sein Glied langsam immer tiefer in ihr<br />

Vlies hinein.<br />

Wie<strong>der</strong> hielt er inne, bis er merkte, dass <strong>der</strong> Schoß sein Glied<br />

annahm. Immer mehr fanden seine ziehenden und schiebenden<br />

Bewegungen Unterstützung. Seine Stöße wurden schneller, ihr<br />

Hinterteil hob und senkte sich im Rhythmus <strong>der</strong> Stöße. Sein Keuchen<br />

vermischte sich mit ihrem immer lustvoller klingenden Stöhnen.<br />

Das Weidengerüst wankte unter dem sich heftig bewegenden<br />

Gewicht bei<strong>der</strong> Körper. Schließlich stürzte es in sich zusammen.<br />

Der Mann befreite hastig die Frau von ihren Fesseln. Kaum befreit,<br />

drehte sie sich um, umschlang mit ihren Armen seinen Hals und<br />

mit ihren Beinen seine Hüften, bedeckte sein Gesicht mit Küssen<br />

und drängte mit einem lustvollen Stöhnen sein Glied wie<strong>der</strong> in ihren<br />

Schoß.<br />

<strong>Die</strong> Menge hatte zunächst atemlos <strong>der</strong> Heiligen Hochzeit zugesehen,<br />

sie dann aber mehr und mehr mit Anfeuerungsrufen begleitet.<br />

Nun aber, wo man nur noch sich am Boden wälzende, ineinan<strong>der</strong><br />

verschlungene Körper sah, folgten immer mehr Männer und<br />

Frauen dem erlebten Beispiel. Bald sah man auch hier verschlungene<br />

Körper, hörte das Stöhnen von Männern und das lustvolle Kreischen<br />

von Frauen.<br />

Der Heilige Stier und seine Mondkuh waren inzwischen erschöpft<br />

zusammengesunken. Nach einer Weile erhob sich <strong>der</strong><br />

Mann, nahm die Frau auf seine Arme und strebte unbemerkt von<br />

<strong>der</strong> Menge dem Wasser zu und entschwand mit ihr zu den Klippen,<br />

von denen er gekommen war.<br />

Zurück blieben ein Stierhaupt, ein Kuhfell und ein zerstörtes<br />

Weidengeflecht.<br />

Mit Frühjahrsbeginn, im Zeichen des Stieres, gebar Europe einen<br />

Sohn. Sie nannte ihn Tauros.


Als <strong>der</strong> Sommer zur Neige ging und die Ernte eingebracht war,<br />

traten zwei Ereignisse ein, die die Welt des Stammes verän<strong>der</strong>n<br />

sollte.<br />

Als erstes trafen Flüchtlinge aus dem Norden ein. Sie hatten<br />

Hab und Gut verloren durch die Überfälle <strong>der</strong> Hirtenvölker. Ihre<br />

Berichte glichen denen, die Hekate aus dem Vorjahr kannte.<br />

Fast gleichzeitig tauchte <strong>der</strong> Händler wie<strong>der</strong> auf. Er hatte den<br />

Eltern im Norden von den Erlebnissen und <strong>der</strong> Hochzeit ihres<br />

Sohnes berichtet. Als Geschenk für Asterios hatten sie dem Händler<br />

ein feuriges Ross, einen Eibenholzbogen mit reich verziertem<br />

Köcher sowie eine Doppelstreitaxt mit scharfer Onyxklinge<br />

mitgegeben.<br />

Hekate ließ Asterios rufen.<br />

„Asterios, Du kommst aus dem Norden. Sag mir, wie können<br />

wir uns gegen diese Hirtenvölker wehren?”<br />

„Komm Hekate, ich will Dir was zeigen. Hole den besten Bogenschützen<br />

des Stammes!”<br />

Als <strong>der</strong> Bogenschütze kam, for<strong>der</strong>te Asterios ihn auf, ein Ziel in<br />

<strong>der</strong> Reichweite seines Bogens anzuvisieren und zu schießen. Zitternd<br />

blieb <strong>der</strong> Pfeil in dem anvisierten Ziel stecken. Dann for<strong>der</strong>te<br />

ihn Asterios auf, fünfzig Schritte zurückzutreten und mit einem<br />

zweiten Pfeil das anvisierte Ziel zu treffen. Der Pfeil fiel dreißig<br />

Schritt vor dem Ziel zu Boden. An demselben Standort hob Asterios<br />

seinen Eibenholzbogen, zielte kurz und sein Pfeil blieb dicht<br />

neben dem ersten Pfeil des Bogenschützen stecken.<br />

Dann legte Asterios eine Melone in die Astgabel eines Baumes,<br />

sprang auf sein Pferd, preschte fünfzehn Schritt an dem Baum vorbei<br />

und schleu<strong>der</strong>te seine Streitaxt, die, nachdem sie die Frucht gespalten<br />

hatte, in <strong>der</strong> Baumgabel stecken blieb.<br />

Er zügelte sein Pferd vor Hekate und sprang ab.<br />

„Hekate, Du siehst, die Ungeheuer <strong>der</strong> Hirtenvölker sind keine<br />

Zentauren. <strong>Die</strong> Völker des Nordens haben das Pferd gezähmt, sie<br />

spannen es nicht nur vor ihre Wagen, son<strong>der</strong>n sie reiten sogar auf<br />

ihm, wie ich Dir gezeigt habe. Beides macht sie schneller und be-


weglicher. Sie haben Streitäxte und die Pfeile ihrer Bögen aus Eibenholz<br />

fliegen weiter als Eure Pfeile.<br />

Auf all diesen Gebieten ist Dein Stamm hoffnungslos unterlegen.<br />

Aber Ihr habt etwas, was die Hirtenvölker nicht haben. Ihr<br />

habt Boote.<br />

Ich bin mit Deinen Fischern drüben auf <strong>der</strong> Insel gewesen. Auf<br />

ihr sind Weiden, es fließen Bäche und sie ist menschenleer. Von<br />

den Bergspitzen <strong>der</strong> Insel kann man im Süden weitere Inseln sehen.<br />

Auch die sind, so haben es mir Fischer erzählt, fruchtbar und<br />

menschenleer.<br />

Lass die Flüchtlinge Deines Stammes auf dieser Insel dort draußen<br />

Häuser errichten und den Boden bebauen und sorge dafür,<br />

dass ihr restliches Hab und Gut und ihr Vieh mit den Booten zur<br />

Insel gebracht werden.”<br />

Hekate rief die Weisen Frauen zusammen. Als auch sie nach einer<br />

erneuten Demonstration durch Asterios von <strong>der</strong> waffentechnischen<br />

Überlegenheit <strong>der</strong> Hirtenvölker überzeugt waren, stimmten<br />

sie seinem Vorschlag zu.<br />

<strong>Die</strong> Flüchtlinge wurden aus den Vorräten <strong>der</strong> Großen Mutter<br />

mit dem Notwendigen ausgestattet. Europe sollte die Priesterin<br />

<strong>der</strong> Insel werden und auch den heiligen weißen Stier in Sicherheit<br />

bringen.<br />

Europe, Asterios und <strong>der</strong> kleine Tauros bestiegen das erste<br />

Boot. Im Schlepptau an einem Seil schwamm <strong>der</strong> weiße Stier<br />

hinterher 16 . <strong>Die</strong> an<strong>der</strong>en Boote folgten, beladen mit Saatgut und<br />

dem Kleinvieh. Auch sie hatten im Schlepptau schwimmende<br />

Kühe. Doch bedurfte es mehrerer Fahrten zwischen Festland und<br />

Insel, bis alles glücklich angelandet war.<br />

Fieberhaft arbeiteten die neuen Siedler, um vor den Herbst-<br />

16 Hier wurde versucht, den realen historischen Kern <strong>der</strong> in <strong>der</strong> griechischen Mythologie<br />

berichteten Entführung <strong>der</strong> Europa durch Zeus aufzuspüren, nämlich dass die alteuropäische<br />

Bevölkerung bei ihrer Flucht vor den patriarchalisch ausgerichteten Indogermanen<br />

ihre heiligen Stiere mitnahmen.


stürmen ein schützendes Dach zu errichten und die Saat in den<br />

Boden zu bringen. Mit den Stürmen brach die Verbindung zum<br />

Festland ab.<br />

In einer kleinen Höhle hatte Europe einen Altar errichtet. Im<br />

Kreise <strong>der</strong> Inselbewohner dankte sie <strong>der</strong> Großen Mutter, dass sie<br />

den Winden Einhalt geboten hatte, bis <strong>der</strong> Keim <strong>der</strong> Fruchtbarkeit<br />

in ihrer neuen Heimat dem Boden anvertraut werden konnte.<br />

<strong>Die</strong> Winterzeit hatte man in <strong>der</strong> Siedlung auf dem Festland dazu<br />

benutzt, für die auf <strong>der</strong> Insel verbliebenen Boote Ersatz zu<br />

schaffen. Zusätzlich wurde den Bootsbauern aufgetragen, größere<br />

seetüchtigere Boote zu entwickeln und anzufertigen. Außerdem<br />

hatte <strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> Weisen Frauen beschlossen, die Opfervorräte <strong>der</strong><br />

Großen Mutter, die als Ausgleich für schlechte Ernten dienen, auf<br />

die Insel auszulagern, damit sie dem Zugriff <strong>der</strong> Hirtenvölker<br />

entzogen werden.<br />

Hekate hatte ihrer Tochter mit dem Aufklaren des Wetters die<br />

Entscheidungen des Rates durch einen Fischer zukommen und Europe<br />

eine dafür geeignete größere Höhle herrichten lassen. So<br />

konnten schon vor dem Einbringen <strong>der</strong> neuen Ernte die Opfervorräte<br />

auf <strong>der</strong> Insel in Sicherheit gebracht werden.<br />

Asterios hatte mit Hilfe <strong>der</strong> größeren Boote die weiter draußen<br />

liegenden Inseln erkundet und auf ihnen Schafe und Ziegen ausgesetzt.<br />

Gleichzeitig wurden auf diesen Inseln Hütten für Fischer errichtet.<br />

<strong>Die</strong>se Fischer sollten mit den ihnen überlassenen kleineren Booten<br />

die besten Fischgründe erkunden und durch Trocknen und<br />

Räuchern Fangvorräte für die Zeiten anlegen, in denen sie nicht<br />

auf See hinaus fahren konnten.<br />

All diese Maßnahmen führten dazu, dass Siedlungen des Stammes<br />

um so früher aufgegeben wurden, je weiter sie im Norden lagen.<br />

Es führte dazu, dass <strong>der</strong> Bootsbau erweitert und verbessert


wurde und dass immer weiter draußen im Meer liegende Inseln besiedelt<br />

wurden 17 .<br />

Als Hekate starb, wurde auch die Siedlung am Meer aufgegeben.<br />

Streifende Horden <strong>der</strong> Hirtenvölker waren zuletzt nur noch<br />

eine Tagesreise nördlich <strong>der</strong> Siedlung gesehen worden.<br />

In einem Pithoi, einer mannshohen Totenvase, wurde ihre Leiche<br />

mit dem letzten Boot zur Insel gebracht, wo Europe sie erwartete.<br />

<strong>Die</strong> Totengruft für die Priesterinnen war feierlich hergerichtet<br />

worden.<br />

„Demeter. Große Mutter, nimm Deine Tochter Hekate, die<br />

Deine Stellvertreterin war, gnädig in Deinem Schoß wie<strong>der</strong> auf,<br />

aus dem sie gekommen war, um segensreich für Deine Kin<strong>der</strong> hier<br />

auf Erden zu walten.”<br />

So betete Europe, die inzwischen selbst das Amt <strong>der</strong> Hohenpriesterin<br />

übernommen hatte.<br />

17 Gegen Ende des 4. Jahrtausends tauchen auf den dem griechischen Festland östlich<br />

vorgelagerten Inseln, den Kykladen, bei den Funden Motive auf, wie sie aus <strong>der</strong> alteuropäischen<br />

Kultur bekannt waren. <strong>Die</strong> Archäologen haben sich darüber gewun<strong>der</strong>t,<br />

dass die Kykladenkultur um 3200 vor Chr. plötzlich aus dem Nichts auftaucht. Auf<br />

einer pfannenförmigen Palette, die man auf <strong>der</strong> Insel Syros ausgegraben hat, ist ein<br />

Schiff mit Fischverzierung (heilige Barke?) zu erkennen.<br />

Auf Kreta sind im 3.Jahrtausend nicht nur alteuropäische Siedler eingewan<strong>der</strong>t, son<strong>der</strong>n<br />

auch aus Kleinasien. Auch dort weicht die einheimische Bevölkerung dem Druck<br />

<strong>der</strong> indogermanischen Hirtenvölker durch Flucht auf die ägäischen Inseln. Sie brachten<br />

die Kenntnisse <strong>der</strong> Bronzeherstellung mit. Wahrscheinlich sind in ihre Schmelzöfen<br />

zufällig neben Kupfererze auch Zinnerze hineingeraten und, da Zinn eine nie<strong>der</strong>e<br />

Schmelztemperatur hat, dadurch eine Legierung aus Kupfer und Zinn, die Bronze angefallen.


IV. Im Zeitalter des Wid<strong>der</strong>s<br />

2 220 v. Chr. – 60 v. Chr.


1. Polytheismus: Nomadengötter und Bauerngötter<br />

Wie ein Pferd im Galopp so ritt das Schiff auf den sich in gleiche<br />

Richtung wälzenden Wogen. Auf dem Wellenkamm konnte<br />

man die Häuser von Phaistos noch sehen, im Wellental sah man<br />

nur noch den Kamm des Gebirges. Im Morgengrauen hatten sie<br />

den Hafen verlassen, ru<strong>der</strong>nd den Windschatten des Gebirges<br />

überwunden und nun das Rahsegel aufgezogen, das sie gleichmäßig<br />

nach Süden trieb.<br />

Nur sie, die Kreter, trauten sich, mit ihren Schiffen auf das offene<br />

Meer hinauszufahren. Ihr Inselleben hatte sie gezwungen, sich<br />

mit den Winden und den Meeresströmungen vertraut zu machen.<br />

Jetzt nach den Frühjahrsstürmen begann auf dem Festland im<br />

Norden die Schneeschmelze und es wehte ein gleichmäßiger<br />

Nordwind, <strong>der</strong> südlich <strong>der</strong> Insel bei schönem Wetter die Fahrt<br />

nach Afrika ermöglichte.<br />

So waren sie im Morgengrauen aus Phaistos ausgelaufen, drei<br />

Handelsschiffe und ein Kriegsschiff zu ihrem Schutz, um Handelsgüter<br />

nach Ägypten zu schaffen. Auf hoher See bestand keine Gefahr<br />

eines feindlichen Überfalls. Aber entlang <strong>der</strong> libyschen Küste<br />

auf dem Weg ins Nildelta konnten durchaus Piraten versucht sein,<br />

Beute zu machen.<br />

Der Kapitän des Kriegsschiffes beobachtete amüsiert die schmale<br />

Gestalt des Jünglings, <strong>der</strong>, sich am Achtersteven festhaltend, unverwandt<br />

den hinter dem Horizont versinkenden Gestaden Kretas<br />

nachstarrte. Erst als auch <strong>der</strong> letzte Zacken des Gebirges verschwunden<br />

war, drehte er sich um und schwankte bleich, offensichtlich<br />

mit einer beginnenden Seekrankheit kämpfend, auf den<br />

Kapitän zu.


„Wann werden wir wie<strong>der</strong> Land sehen?”, wollte er wissen.<br />

„Wenn wir genau gen Mittag segeln und <strong>der</strong> Wind so bleibt, in<br />

etwa drei Tagen. Doch wir müssen damit rechnen, dass nachts <strong>der</strong><br />

Wind einschläft. Außerdem segeln wir nicht direkt auf die afrikanische<br />

Küste zu, son<strong>der</strong>n, wie du siehst, zur Zeit auf die Sonne zu,<br />

obgleich sie erst die Hälfte ihres höchsten Standes erreicht hat.<br />

Dadurch segeln wir schräg auf die afrikanische Küste zu. <strong>Die</strong><br />

Strecke, die wir Richtung Sonnenaufgang entlang <strong>der</strong> afrikanischen<br />

Küste ru<strong>der</strong>n müssen, wird dadurch kürzer und damit die Gefahr<br />

feindlicher Überfälle.<br />

Alles in allem rechne ich mit fünf Tagen.”<br />

Wenig getröstet torkelte <strong>der</strong> seekranke Jüngling zur Reling und<br />

opferte dem Meeresgott seinen Mageninhalt.<br />

Am Abend des nächsten Tages schien er seine Seekrankheit<br />

überwunden zu haben. Er hatte eine frische Melone gegessen und<br />

kam nun, seine Bewegungen dem Rollen des Schiffes besser anpassend,<br />

auf den Kapitän zu.<br />

„Woran orientiert man sich eigentlich in <strong>der</strong> Nacht?”<br />

„Siehst du den großen Wagen hinter uns am Sternenhimmel?<br />

Wenn du dem Bogen <strong>der</strong> Deichsel folgst, kommst du zu drei großen<br />

Sternen. Sie stehen da, wo die Sonne am Vormittag steht.<br />

<strong>Die</strong>ses Sterndreieck wan<strong>der</strong>t des Nachts wie die Sonne über den<br />

Himmel. So wie wir tagsüber ständig unseren Kurs gegenüber dem<br />

Sonnenstand nach links verschieben, so verfahren wir des Nachts<br />

mit unserem Kurs gegenüber diesen drei Sternen 18 .<br />

Übrigens siehst du diese sieben eng beieinan<strong>der</strong> stehenden Sterne<br />

da, wo vorhin die Sonne untergegangen ist? Für uns Seeleute ist<br />

es das Blinzeln des Meeresgottes. Wenn im Frühjahr dieses Sieben-<br />

18 Gemeint sind die Sterne Arktur im Bootes, Spica in <strong>der</strong> Jungfrau und Denebola im<br />

Löwen. <strong>Die</strong>ses Dreieck war zur Orientierung in klaren Nächten für die Seefahrer sehr<br />

nützlich. Im Zeitalter des Wid<strong>der</strong>s erschien es im Monat März im Osten, wan<strong>der</strong>te des<br />

Nachts über den Meridian und senkte sich gegen Morgen im Westen.<br />

Heute bildet statt Denebola (Schwänzchen des Löwen) <strong>der</strong> hellere Stern Regulus (Herz<br />

des Löwen) zusammen mit Arktur und Spica eine größere Version des Frühlingsdreiecks.


gestirn am Abendhimmel auftaucht, wissen wir, dass <strong>der</strong> Gott uns<br />

einlädt, wie<strong>der</strong> aufs Meer hinaus zu fahren, ohne seine Stürme befürchten<br />

zu müssen 19 .”<br />

Am Nachmittag des fünften Tages kam die afrikanische Küste in<br />

Sicht. <strong>Die</strong> Schiffe fuhren ostwärts an ihr entlang, bis sie den Deltaarm<br />

des Nils erreichten, <strong>der</strong> sie nach Auaris, dem Ziel ihrer Reise<br />

brachte.<br />

Am Anleger standen schon die Lagerschreiber und registrierten<br />

die kretischen Güter: die schönen Vasen, die Bronzegefäße und<br />

Bronzewaffen, berühmt wegen ihrer Härte, sowie Honig und kretischen<br />

Wein. Als Gegenleistung luden die Schiffe Kupferbarren,<br />

Papyros und Bast für Schiffstaue.<br />

<strong>Die</strong> Ägypter erzeugten zwar erstklassiges Kupfer, doch fehlte<br />

ihnen das zur Bronze notwendige Zinn, das sich die Kreter aus<br />

dem westlichen Ende des Meeres besorgten, – und sie kannten<br />

nicht das Geheimnis <strong>der</strong> Legierung, welches die kretische Bronze<br />

so hart machte 20 .<br />

Der junge Mann ging auf den Kapitän zu um sich zu verabschieden.<br />

„Wie verständigt ihr euch mit den Leuten hier? Ich verstehe<br />

kein Wort.”<br />

„<strong>Die</strong> Fürsten sind Hyksos. Sie sprechen die gleiche Sprache, wie<br />

die Leute des Festlandes, jenseits von Kreta. Sie teilen mit ihnen ja<br />

19 <strong>Die</strong> Pleiaden im Stier, das Siebengestirn, erschien vor 4000 Jahren im März kurz nach<br />

Sonnenuntergang im Westen. Es war das Zeichen für die Seefahrer, dass die Zeit <strong>der</strong><br />

Frühjahrsstürme vorbei war und sie sich wie<strong>der</strong> aufs Meer hinauswagen konnten.<br />

20 <strong>Die</strong> von den Kretern zu Bronze verarbeiteten Zinnbarren kamen aus Spanien und<br />

England. Es ist unwahrscheinlich, dass sie mit ihren Schiffen den Weg über den Atlantik<br />

und die stürmische Biskaya nach England nahmen, um dort ihre Güter gegen Zinn<br />

einzutauschen. Wahrscheinlicher haben die zu dieser Zeit in Westeuropa lebenden<br />

Glockenbecherleute die Zinnbarren als Handelsgut über den Ärmelkanal und Frankreich<br />

nach Spanien gebracht, wo sie von den Kretern gegen ihre Produkte eingetauscht<br />

wurden.<br />

Fest steht, dass die Kreter die Schmelztechnik ihrer Bronzeherstellung so verfeinert hatten,<br />

dass ihre Bronzequalität unübertroffen war. Zudem härteten sie ihre Bronzewaffen<br />

durch mehrmaliges Erhitzen und Schmieden aus, eine Technik, die dann in <strong>der</strong> späteren<br />

Eisenzeit bei <strong>der</strong> Stahlherstellung wie<strong>der</strong> angewendet wurde.


auch die Vorliebe für Rosse und Streitwagen. <strong>Die</strong> Leute hier in<br />

den Lagerhallen sprechen wie die Leute von Byblos. Ägyptisch<br />

spricht hier kaum einer.”<br />

„Dafür muss ich aber die Sprache <strong>der</strong> Ägypter lernen. Ich komme<br />

ja auf Einladung des Hohenpriesters. Lebt wohl!”<br />

Der Kapitän sah, wie sein Fahrgast eines <strong>der</strong> Feluken bestieg<br />

und mit ihr langsam nilaufwärts nach On segelte, dem Ort, wo <strong>der</strong><br />

Nil sich in seine Deltaarme aufzuteilen beginnt.<br />

In On legte <strong>der</strong> Segler am Ufer des weitläufigen Tempelbezirks<br />

an. Während <strong>der</strong> junge Kreter einem Bediensteten zu den Privatgemächern<br />

des Hohenpriesters folgte, staunte er über die fremdartigen,<br />

so gar nicht seiner Heimat ähnelnden Tempelanlagen. Sie<br />

waren viel imposanter und von einer asketischen Strenge, bar jener<br />

farbenfrohen Heiterkeit und Gelöstheit seiner kretischen Heimat.<br />

„Du bist also Piktos, <strong>der</strong> kretische Künstler, den mir <strong>der</strong> kretische<br />

Hof angekündigt hat?”<br />

Den jungen Künstler riss es aus <strong>der</strong> Versunkenheit, mit <strong>der</strong> er<br />

eine lebensgroße Statue mit Kuhhörnern und einer goldenen<br />

Scheibe zwischen den Hörnern betrachtet hatte. Sie stellte offensichtlich<br />

eine ägyptische Göttin dar, doch ihre Gesichtszüge glichen<br />

denen einer jungen Kreterin.<br />

Vor ihm stand ein vornehmer Ägypter, leicht ergraut, <strong>der</strong> ihn in<br />

seinem kretischen Dialekt angesprochen hatte.<br />

„Ich bin Imunhep, <strong>der</strong> Hohepriester von On. Sei mir willkommen!<br />

Folge dem Bediensteten, er wird Dich in Deine Gemächer führen,<br />

wo Du Dich frisch machen und Deine Klei<strong>der</strong> wechseln<br />

kannst. Alles Weitere werden wir dann beim Abendmahl besprechen.”<br />

Der junge Kreter wusste zwar, dass er nach On geschickt worden<br />

war, um im Palast des Hohenpriesters Räume mit kretischen<br />

Motiven auszumalen. Was er nicht wusste, war, dass Imunhep vor<br />

zwanzig Jahren von den Hyksos, den Machthabern des ägyptischen<br />

Unterlandes, nach Kreta geschickt worden war, um die durch den


Einfall <strong>der</strong> neuen Machthaber unterbrochenen Handelsbeziehungen<br />

zwischen Ägypten und Kreta wie<strong>der</strong> anzuknüpfen 21 .<br />

Nicht nur daher stammten die kretischen Sprachkenntnisse des<br />

Hohenpriesters. Er hatte auf Kreta auch seine Frau kennengelernt<br />

und mit ihr eine jetzt achtzehnjährige Tochter. Das Heimweh seiner<br />

Frau nach Kreta war auch <strong>der</strong> Auslöser für den Plan Imunheps,<br />

Räume seines Palastes mit kretischen Motiven ausmalen zu lassen.<br />

Das Abendmahl fand in einem zum Garten des Innenhofes offenen<br />

Raum statt. Zwei Säulen trennten diese Terrasse von dem mit<br />

Blumen und Kräutern bepflanzten Garten. Sie strömten in <strong>der</strong> beginnenden<br />

Abendkühle einen betörenden Duft aus.<br />

„Das ist Piktos, unser Gast aus Kreta. Piktos, ich darf Dir meine<br />

Gemahlin Dinyme und meine Tochter Hathor vorstellen.”<br />

Der junge Kreter starrte Hathor minutenlang an.<br />

„Ich habe Dich schon mal gesehen. Warte, du bist die Göttin<br />

mit den Kuhhörnern und <strong>der</strong> goldenen Scheibe.”<br />

Imunheb half <strong>der</strong> errötenden Hathor aus ihrer Verlegenheit.<br />

„Gratuliere Piktos. Ich sehe, Du hast als Künstler einen Blick<br />

für das, was an<strong>der</strong>e Künstler schaffen. <strong>Die</strong> Statue mit den Kuhhörnern<br />

ist die Göttin Hathor. Sie entspricht <strong>der</strong> Großen Mutter, die<br />

ihr auf Kreta verehrt. Aus Dankbarkeit zu ihr hat meine Gemahlin<br />

21 Ausgelöst wurde die Invasion Ägyptens gegen Ende des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts vor Chr.<br />

durch die Hyksos von den indogermanischen Wan<strong>der</strong>ungen nach Kleinasien. Ob die<br />

Hyksos selbst Indogermanen waren, ist zweifelhaft, wenn dann nur eine dünne Oberschicht.<br />

<strong>Die</strong> größere Masse <strong>der</strong> Invasoren bestand aus kleinasiatischen Mitläufern, die,<br />

aus ihrer Heimat vertrieben, sich dem Beutezug anschlossen. Dass die Hyksos nach ihrer<br />

Vertreibung aus Ägypten zu Beginn des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts spurlos als Volk aus <strong>der</strong><br />

Geschichte verschwanden, ist ein Indiz für diese These.<br />

Waffentechnisch waren die über das Delta in Ägypten eindringenden Hyksos den<br />

Ägyptern überlegen. Ihr größter Vorteil waren die Geschwindigkeit und Schlagkraft<br />

des Streitwagens mit seinem Pferdegespann, <strong>der</strong> in Ägypten unbekannt war. <strong>Die</strong> Hyksos<br />

trugen Panzerhemden, neuartige Schwerter, Dolche sowie Bögen aus zusammengeleimten<br />

Holzschichten, Sehnen und Horn, die eine wesentlich größere Schussweite<br />

und Durchschlagskraft hatten als die einfachen Bogen <strong>der</strong> Ägypter.<br />

<strong>Die</strong> Hyksos-Herrscher selbst, eine nur dünne Oberschicht, lebten getrennt von den<br />

Ägyptern in befestigten Lagern. Was sie wollten, waren ägyptische Tributzahlungen,<br />

nicht Einglie<strong>der</strong>ung in die ägyptische Kultur.


ihre Tochter Hathor genannt und einen ägyptischen Künstler gebeten,<br />

ihre Gesichtszüge <strong>der</strong> Göttin Hathor zu verleihen.”<br />

„Piktos, was ist das für ein seltsames Amulett, das Du um den<br />

Hals trägst?”<br />

Mit dieser Frage wandte sich Dinyme an den Gast des Hauses.<br />

„<strong>Die</strong>ses Amulett ist seit Urzeiten in unserer Familie. Meine<br />

Mutter hängte es mir um den Hals, als ich mich auf die Reise nach<br />

Ägypten begab. Es solle mich vor Gefahren beschützen.”<br />

„Seltsam, es ist hart wie Stein. Es scheint mir die <strong>Wurzel</strong> einer<br />

<strong>Alraune</strong> zu sein. Es muss wirklich uralt sein.”<br />

„Du musst wissen, Piktos, meine Frau und durch sie meine<br />

Tochter sind Kräuterweiber”, schalt sich Imunhep in das Gespräch ein.<br />

„Im Garten wimmelt es von Heilkräutern. <strong>Die</strong> Leute verehren<br />

meine Frau, weil sie mit ihren Kräutern schon manchen Kranken<br />

hat heilen können.<br />

Übrigens diese Terrasse, die zu dem Garten führt, sollst Du<br />

kretisch ausmalen. Morgen bei Tageslicht wirst Du Dir einen ersten<br />

Eindruck verschaffen können.”<br />

Der Abend verlief für unseren Künstler sehr harmonisch. Man<br />

sprach kretisch und die Hausherrin hatte kretische Gerichte auftischen<br />

lassen. <strong>Die</strong> Schönheit <strong>der</strong> Tochter, die er von <strong>der</strong> Seite verstohlen<br />

betrachtete und die, wenn sich ihre Blicke trafen, errötend<br />

zur Seite schaute, trug ebenfalls zu seiner Hochstimmung an diesem<br />

Abend bei.<br />

„<strong>Die</strong> beiden Säulen werde ich als stilisierte Korkeichen gestalten,<br />

die zur Kräuterseite des Gartens als junge und die zum Blumengarten<br />

als knorrige alte Korkeiche. Der obere Teil <strong>der</strong> Säulen<br />

wird als Zweige in den blassblauen kretischen Himmel hineinragen,<br />

zu dem ich die Decke auszumalen gedenke. <strong>Die</strong> Wände will<br />

ich mit kretischem Leben füllen und <strong>der</strong> Boden soll das Meer mit<br />

seinen Lebewesen verdeutlichen.”<br />

Das waren die Vorschläge des Künstlers, nachdem er die Terrasse<br />

und den Garten am an<strong>der</strong>en Morgen von allen Seiten aus be-


gutachtet hatte. Sie fanden die Zustimmung des Hausherrn und<br />

vor allem auch die seiner kretischen Gemahlin.<br />

Wochen gingen ins Land. Piktos hatte seine Decke ausgemalt<br />

und die Zweige ragten aus den in Baumstämme verwandelten Säulen<br />

in den gemalten Himmel. Hathor hatte es sich angewöhnt, ihm<br />

zuzuschauen, wenn sie sich in ihrer täglichen Gartenarbeit eine<br />

Pause gönnte. Sie bewun<strong>der</strong>te seine Feinarbeit, wie er den Zweigen<br />

Blatt für Blatt hinzufügte. Umgekehrt kam er, wenn er in seiner<br />

Arbeit aussetzte, zu ihr in den Garten und schaute ihr zu, wie<br />

sie mit Liebe jede einzelne Pflanze umhegte.<br />

Sie nannte die Namen <strong>der</strong> einzelnen Pflanzen und erklärte ihm<br />

ihre heilende Wirkung; den Fenchel, Kardamon, Kümmel, Knoblauch,<br />

Senna. Schlafmohn und schließlich auch die <strong>Alraune</strong>, <strong>der</strong>en<br />

versteinerte <strong>Wurzel</strong> er als Amulett trug.<br />

Inzwischen war Sothis am Morgenhimmel erschienen, <strong>der</strong><br />

Stern, <strong>der</strong> den Ägyptern den Beginn <strong>der</strong> Nilschwemme anzeigte 22 .<br />

<strong>Die</strong> sommerliche Hitze wurde immer schwüler und die abendliche<br />

Mückenplage immer unerträglicher, zumal für einen Kreter, <strong>der</strong><br />

auch im Sommer abends kühlende Seeluft gewohnt war.<br />

Piktos hatte sich <strong>der</strong> zweiten Säule zugewandt, <strong>der</strong> alten Korkeiche,<br />

<strong>der</strong>en Zweige verdorrt waren und keine Blätter mehr trieben.<br />

Stattdessen ließ er aus einer Baumhöhle Bienen herausfliegen,<br />

die den Betrachter vermuten lassen, dass dort ein Bienennest sich<br />

befindet. <strong>Die</strong> Bienen, zunächst winzig klein, wurden, je näher sie<br />

kamen, immer größer.<br />

Piktos hatte sich schon den ganzen Morgen nicht wohl gefühlt.<br />

Jetzt stand er auf <strong>der</strong> Leiter und fügte einer riesengroßen Biene<br />

ihre Flügel an. Da hatte er die Halluzination, als begännen die Flü-<br />

22 <strong>Die</strong> heißen ägyptischen Sommerwinde lösen im Spätsommer in Äthiopien Monsunregen<br />

aus, <strong>der</strong> die Nilquellen anschwellen lässt und das langersehnte Nilhochwasser<br />

verursacht. Zur gleichen Zeit erscheint Sirius, Hauptstern des Sternbildes „Großer<br />

Hund”, am Osthimmel, für die Ägypter ein Zeichen, sich auf die Hochwasserflut vorzubereiten.


gel <strong>der</strong> Biene zu schwirren und sie selbst käme mit gezücktem Stachel<br />

drohend auf ihn zu.<br />

Als er wie<strong>der</strong> zu sich kam, lag er in einem verdunkelten kühlen<br />

Raum auf einer Liege. Über ihn gebeugt, Hathor, die ihm ein<br />

feuchtes Linnen auf die Stirn gelegt hatte.<br />

„Wo bin ich? Was ist passiert?”<br />

„Wir haben Dich ohnmächtig am Fuß <strong>der</strong> Leiter gefunden. Das<br />

war vor acht Tagen. Der Fiebergeist des Deltas hatte Dich in seinen<br />

Klauen. Dank <strong>der</strong> Kräutertees meiner Mutter ist er von Dir<br />

gewichen.”<br />

„Und dank <strong>der</strong> aufopfernden Pflege Hathors”, ergänzte Didyme,<br />

die unbemerkt den Raum betreten hatte. „Sie hat Dir ständig<br />

feuchte Tücher auf Deine Stirn gelegt und die fiebernassen Leinentücher<br />

wechseln lassen.”<br />

Es dauerte Wochen, bis <strong>der</strong> fiebergeschwächte Künstler seine<br />

Arbeit wie<strong>der</strong> aufnehmen konnte. Er saß des Abends mit Hathor<br />

auf <strong>der</strong> Terrasse, genoss die Kühle und den Duft <strong>der</strong> Kräuter.<br />

„Hathor, erzähle mir von den Göttern Ägyptens!”<br />

„Früher, vor uralten Zeiten, haben die Menschen hier im Delta<br />

nur an die Göttin Hathor, <strong>der</strong>en Namen ich trage, geglaubt. Sie<br />

war das, was bei Euch die Große Mutter ist. Auch Euren heiligen<br />

Stier, das Sinnbild <strong>der</strong> Fruchtbarkeit, kennen wir. Er heißt bei uns<br />

Apis.<br />

Doch in Theben verehren die Leute heute einen heiligen Wid<strong>der</strong>.<br />

Er ist, wie mein Vater mir erzählte, als Chnum von den Menschen<br />

am 1. Katarakt verehrt worden.<br />

Dann haben die Leute des Oberlandes, auf <strong>der</strong> Suche nach<br />

Weiden für ihr Vieh mit ihrem König Osiris das Volk im Delta angegriffen.<br />

Doch <strong>der</strong>en König Seth hat gesiegt und Osiris dabei getötet.<br />

Doch immer wie<strong>der</strong> haben die Herrscher des Oberlandes<br />

versucht, die beiden Län<strong>der</strong> zu vereinen. Mein Vater sagt, das<br />

muss ein Generationen dauern<strong>der</strong> Kampf gewesen sein.<br />

Der Sieger schließlich sagte, er sei Horus, ein Gott <strong>der</strong> fernen<br />

Räume, wie <strong>der</strong> Falke ein Gott des Himmels, er verkörpere


Hathor und Nut, die Göttinnen, die für Ober- und für Unterägypten<br />

stehen 23 .<br />

In <strong>der</strong> Folge galten die Herrscher Ägyptens als Gott Re. So wie<br />

die Sonne im Westen untergeht, so kehrt <strong>der</strong> tote Pharao in das<br />

im Westen liegende Totenreich heim, während Re sofort in dem<br />

neuen Pharao wie<strong>der</strong> aufersteht.<br />

Du siehst, es ist eine an<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> Auferstehung, wie ihr sie<br />

auf Kreta als jährliche Wie<strong>der</strong>kehr <strong>der</strong> Fruchtbarkeit feiert.<br />

Übrigens Herr des Totenreiches ist Osiris, unser früherer Totengott<br />

Anubis ist jetzt im Totenreich sein Gehilfe.”<br />

„Du sagtest, die Pharaonen galten als Gott Re. Ist das heute<br />

nicht mehr?”<br />

„Du weißt, seit die Hyksos hier sind, gibt es kein vereinigtes<br />

23 Soweit Ägypten vom Nil abhing, war es ein Land. Im Innern dagegen zerfiel es in zwei<br />

unterschiedliche Regionen, die lange schmale Wanne Oberägyptens im Süden und das<br />

weite, auseinan<strong>der</strong>strebende Deltaland Unterägyptens im Norden.<br />

In <strong>der</strong> alten wie in <strong>der</strong> neuen Zeit sprachen die beiden Landesteile merklich verschiedene<br />

Dialekte und vertraten wesentlich verschiedene Lebensanschauungen. Es waren<br />

tatsächlich, in einer staatlichen Einheit zusammengefasst, „zwei Län<strong>der</strong>”.<br />

Wahrscheinlich sind die Wildbeuter Nordafrikas durch die klimatischen Verän<strong>der</strong>ungen<br />

in <strong>der</strong> Nacheiszeit, wodurch die Savannenlandschaft <strong>der</strong> Sahara zunehmend austrocknete,<br />

gezwungen worden, zusammen mit ihren Beutetieren sich auf das Niltal als<br />

einzige Wasserquelle zurückzuziehen. <strong>Die</strong> Vernichtung <strong>der</strong> Großwildherden durch bessere<br />

Jagdtechnik und die Konzentration dieser Tiere an den Wasserstellen des Nils<br />

zwingt auch diese Menschen sich vom Wildbeuter zum Hirten zu wandeln.<br />

Dort in Oberägypten war die Abhängigkeit vom Hochwasser des Nils größer als in<br />

Nordägypten. Daher war die gesellschaftliche Organisation zwingen<strong>der</strong> und die Not<br />

größer. <strong>Die</strong> Vereinigung <strong>der</strong> beiden Län<strong>der</strong> erfolgte daher vom Süden aus. <strong>Die</strong> Mentalität<br />

des Frühzeitmenschen war animistisch, kannte keine scharfen Grenzen zwischen<br />

den verschiedenen Seinsweisen. Daher fiel es ihm leicht vom Menschlichen zum Göttlichen<br />

hinüberzugleiten und sich auf den Glaubenssatz zu verlassen, <strong>der</strong> den Pharao,<br />

obgleich er unter Menschen lebte, als sei er selbst ein sterbliches Wesen von Fleisch<br />

und Blut, zu einem Gott machte.<br />

In Unterägypten, im Delta, hatte sich, wie in Europa auf dem Balkan, eine Bauerngesellschaft<br />

mit einer matriarchalischen Gottesvorstellung entwickelt, <strong>der</strong>en Göttin<br />

Hathor mit einem Kuhhaupt dargestellt wurde. Auch hier wurde ein heiliger Stier als<br />

Symbol <strong>der</strong> Fruchtbarkeit verehr.<br />

Durch die Eroberung des Nordens trat eine Vermischung von patriarchalischer und<br />

matriarchalischer Gottesvorstellung ein, bei <strong>der</strong> die Götter Südägyptens die Oberhand<br />

gewannen.


Ägypten mehr. Daher werden im Unterland die Herrscher auch<br />

nicht mehr als Gott Re angesehen. Doch da fragst Du besser meinen<br />

Vater. Du weißt, <strong>der</strong> Tempel von On ist die Heimat des Gottes<br />

Re.”<br />

Piktos begann mit <strong>der</strong> Ausgestaltung <strong>der</strong> Seitenwände. Unter<br />

dem Eindruck <strong>der</strong> Gespräche mit Hathor verwandelte sich die<br />

dem alten, knorrigen Baum zugewandte Seite in eine karge Küstenlandschaft,<br />

bevölkert mit Schafen und Ziegen hütenden Hirten.<br />

In <strong>der</strong> Ferne glänzten die schneebedeckten Gipfel des Idagebirges.<br />

Auf <strong>der</strong> gegenüberliegenden Seite entstand eine üppige Talaue,<br />

<strong>der</strong>en Bach sich im Vor<strong>der</strong>grund in den noch zu gestaltenden Fußboden<br />

ergoss. Fe<strong>der</strong>vieh durchstreifte den Schilfsaum des Baches.<br />

Auf <strong>der</strong> Wiese dahinter erfreuten sich junge Kreterinnen <strong>der</strong> Blumen.<br />

Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite des Baches lauerte im Dickicht ein<br />

Leopard, während im Hintergrund ein ahnungsloser Bauer sein<br />

Feld bestellte. Über allem strich ein Kranich hinweg.<br />

Während Piktos letzte Feinarbeiten an seinem Kranich durchführte,<br />

war Imunhep in den Raum getreten und hatte die gegenüberliegenden<br />

Wände minutenlang schweigend betrachtet.<br />

„Du hast das Wesen des Oberlandes und des Unterlandes geistig<br />

in die Darstellung Deiner kretischen Heimat komponiert. Das<br />

ist Dir hervorragend gelungen. Auf <strong>der</strong> einen Seite das karge Oberland,<br />

auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite das fruchtbare Unterland, dazu die Bedrohung<br />

des Unterlandes durch das wilde Tier.”<br />

„Ich danke Dir für Dein Lob, Imunhep. Doch ich glaube, das<br />

Lob steht zum Teil Deiner Tochter zu.<br />

Wir haben uns über die ägyptische Götterwelt unterhalten, die<br />

so ganz an<strong>der</strong>s ist als die kretische. <strong>Die</strong> künstlerische Umsetzung<br />

ist das, was Dir aufgefallen ist.<br />

Steckengeblieben waren wir bei <strong>der</strong> Frage, warum die herrschenden<br />

Pharaonen nicht mehr als Gott Re gelten. Sie meinte, du<br />

könntest mir die Frage besser beantworten.”<br />

„Wir Priester sagen heute, Re stirbt nicht mehr mit dem leben-


dem Pharao und steht mit seinem Nachfolger wie<strong>der</strong> auf, son<strong>der</strong>n<br />

wir sagen Re ist unsterblich.<br />

Er spricht durch den jeweiligen Pharao zu seinem gläubigen<br />

Volk, <strong>der</strong> Pharao ist gewissermaßen das Sprachrohr Res.”<br />

„Damit gewinnt Eure Priesterschaft mehr Macht in Ägypten.”<br />

„Machtpolitisch hast Du Recht, aber theologisch ist das nicht<br />

unser Problem. Das theologische Problem hast Du künstlerisch<br />

schon dargestellt, ohne es zu wissen.<br />

Aus dem Spalt an dieser knorrigen alten Eiche lässt Du Bienen<br />

herausschwärmen und sie beim Näherkommen immer größer werden.<br />

<strong>Die</strong>se Bienen sind unsere Götter, ihre Größe die Bedeutung<br />

für Ägypten. Alle diese Götter sind unsterblich, doch geboren, das<br />

heißt, aus an<strong>der</strong>en Gottheiten hervorgegangen. Welches ist die<br />

Gottheit, ungeboren und unsichtbar, die jenseits von Zeit und<br />

Raum, all das aus sich heraus geschaffen hat?<br />

Auch bei Deinem Baum sieht man nur die Bienen, was in dem<br />

Spalt ist, bleibt dem Auge verborgen.<br />

<strong>Die</strong> Priester von Theben nennen ihren Stadtgott Amun-Re. Aus<br />

Amun ist Re hervorgegangen, Amun selbst bleibt unsichtbar, verborgen.<br />

Ich vermute, diese Glaubensrichtung wird in Zukunft an<br />

Bedeutung gewinnen.“ 24<br />

Imunheb ließ den jungen Künstler zutiefst verunsichert zurück.<br />

<strong>Die</strong>se Aufgewühltheit fand ihren Ausdruck in den großen Meereswellen,<br />

mit denen er den Fußboden ausmalte. Doch je mehr<br />

sein Gemüt sich beruhigte, umso sanfter wurden die Wellen. Waren<br />

durch die hohen Wellen in <strong>der</strong> Ferne allerlei Meeresgetier<br />

durcheinan<strong>der</strong> gewirbelt worden, so ließ er am Ufer des Unterlandes<br />

sich einen blauen Delphin auf seine Schwanzflossen erheben,<br />

24 <strong>Die</strong> Vorstellung eines unsichtbaren ewigen Gottes muss in den Köpfen <strong>der</strong> priesterlichen<br />

Führungselite dieser Zeit sich entwickelt haben und dann von Generation zu<br />

Generation als Geheimwissen weitergegeben worden sein.<br />

Wahrscheinlich hat Amenophis IV., 300 Jahre später, als Pharao davon Kenntnis erhalten<br />

und als Echnaton seinen Glauben an Aton, dem einen Gott, <strong>der</strong> durch ihn, den<br />

Pharao zu seinem Volke spricht, daraus abgeleitet.


um neugierig ein Rind zu betrachten, das aus dem Bachwasser<br />

trank, bevor <strong>der</strong> Bach sich in das Meer ergoss.<br />

Imunheb betrachtete sinnend das fertige Werk.<br />

„Ich finde die Beziehung zwischen Ägypten und Kreta, die Du<br />

durch das Rind und den Delphin hergestellt hast, sehr symbolisch.<br />

Nur eins ist nicht erkennbar. Welches <strong>der</strong> beiden Figuren ist<br />

männlich und welches ist weiblich? Je nach Auslegung erhält die<br />

Symbolik einen an<strong>der</strong>en Aspekt.”<br />

Piktos errötete.<br />

„Liebst Du Hathor?”<br />

„Ja, und ich glaube, sie mag mich auch! Ich würde gerne hier<br />

bleiben. Arbeit für einen Künstler ist genug hier. Im Tempelbezirk<br />

ist vieles künstlerisch zu erneuern.”<br />

Imunheb lächelte.<br />

„Von Deiner Qualität als Künstler hast Du mich überzeugt.<br />

Über Deine Qualität als Ehemann soll Hathor entscheiden.”<br />

Jahre waren ins Land gegangen. Hathor und Piktos lebten bei<br />

Imunheb im Tempelbezirk zu On. Ihr Sohn Dymos leitete die kretische<br />

Handelsstation seines Schwiegervaters in Auaris.<br />

„Dymos”, sagte Imunhep zu seinem Enkel, als <strong>der</strong> von Auaris zu<br />

Besuch gekommen war, „ich habe Nachricht aus Theben. Es wird<br />

Krieg geben. Der Gaufürst weigert sich, den Tribut an die Hyksos<br />

zu zahlen. Er hat, das weißt Du aus Deinen Lieferungen, aufgerüstet.<br />

Er verfügt jetzt wie die Hyksos über Pferde und Streitwagen,<br />

hat die gleichen Bogen, aber mehr Soldaten.<br />

Wir im Tempelbezirk zu On werden wahrscheinlich nichts zu<br />

befürchten haben. Doch Du giltst als Auslän<strong>der</strong> und Deine Lagervorräte<br />

werden geplün<strong>der</strong>t werden. Ich rate Dir, löse Deine Handelsstation<br />

auf und kehre nach Kreta zurück.”<br />

„Deshalb bin ich heute hier. Ihr wisst, auch wir Händler haben<br />

unsere Informationen.<br />

Mein Schwiegervater hat mir mit den beiden Schiffen, die vor<br />

ein paar Tagen aus Kreta angekommen sind, den Auftrag gegeben,


nach Verkauf <strong>der</strong> Ladungen an die Hyksos die Stationsvorräte einzuladen<br />

und mit ihnen nach Ugarit zu segeln. Ich soll dort die<br />

Handelsstation übernehmen.<br />

Mesope, mein Weib, und meine Tochter Dydime lösen bereits<br />

in Auaris unseren Haushalt auf. Ich möchte auch in ihren Namen<br />

‚Lebet wohl’ sagen.”<br />

Piktos erhob sich, umarmte seinen Sohn und hing ihm sein<br />

Amulett um den Hals.<br />

„So wie meine Mutter mir die <strong>Alraune</strong> mitgegeben hat, als ich<br />

aus Kreta aufbrach, so soll sie auch Dir in Deiner neuen Heimat<br />

Schutz gewähren.”<br />

„Nein, Dymos, wir werden nicht hier von einan<strong>der</strong> Abschied<br />

nehmen“, meldete sich Hathor zu Wort, „Piktos und ich werden<br />

Dich nach Auaris begleiten. Ich will meine Enkelin und meine<br />

Schwiegertochter noch einmal sehen.”<br />

Vier Tage später standen sie am Ufer, winkten und sahen, mit<br />

Tränen in den Augen, den langsam nilabwärts gleitenden kretischen<br />

Schiffen nach. Sie ahnten, dass es ein Abschied für immer<br />

sein würde.


2. Hen kai Pan – Eines ist Alles<br />

Auf <strong>der</strong> Bank unter <strong>der</strong> großen Korkeiche saß, die Hände auf<br />

seinen knorrigen Wan<strong>der</strong>stab gestützt, ein Greis. Dem Aussehen<br />

nach musste er uralt sein. Das von langen silberweißen Haaren<br />

eingerahmte Gesicht war tief zerfurcht. <strong>Die</strong> durchgeistigten Züge<br />

gaben diesem Antlitz jedoch eine Altersschönheit, wie man sie<br />

normalerweise bei so alten Menschen nicht findet.<br />

Der Weißhaarige schien tief in Gedanken versunken. Er beachtete<br />

das vor ihm im Gegenlicht glitzernde Meer nicht. Eine Eichel<br />

fiel auf seinen Kopf und brachte ihn in die Gegenwart zurück. Er<br />

blickte nach oben und sah noch den buschigen Schwanz eines erschrocken<br />

davon stiebenden Eichhörnchens.<br />

Seine Augen schweiften über die Bucht und blieben an dem<br />

schwarzen Schatten eines auf dem Wasser schaukelnden Fischerbootes<br />

hängen, in dem gerade ein Fischer sein Netz auswarf.<br />

„Wie lange ist es her, als ich mit Anaximenes in eben solch einem<br />

Boot saß? Ich glaube, es müssen über 70 Jahre sein.”<br />

Er war mit einer Ladung Wollballen und einer Ölpresse von<br />

seinem Vater zu Thales nach Milet geschickt worden.<br />

„Du bist jetzt über 20 Jahre alt. Geh’ zu Thales nach Milet.<br />

Von ihm kannst Du noch lernen. Er ist ein weiser Mann und zudem<br />

auch ein geschickter Kaufmann.”<br />

<strong>Die</strong> Eltern des Thales und seine Großeltern waren zusammen<br />

aus Phönizien geflohen, wo die Assyrer regelmäßig wie die Heuschrecken<br />

einfielen, die Menschen ausraubten und ihre Häuser anzündeten.<br />

Seine Großeltern hatten sich in Kolophon nie<strong>der</strong>gelassen,<br />

die Eltern des Thales waren nach Milet gezogen.


Aus dem gemeinsamen Schicksal wurde eine Geschäftsbeziehung.<br />

<strong>Die</strong> Wolle, die seine Familie von den Bauern <strong>der</strong> Umgebung<br />

aufkaufte, verarbeiteten die Milesier zu Stoffen.<br />

„Was meint Thales, wenn er sagt, alles käme aus dem Wasser?”,<br />

hatte er Anaximenes gefragt, <strong>der</strong> als Schüler schon mehrere Jahre<br />

im Hause des Thales lebte.<br />

Anaximenes blickte von seiner Angelschnur hoch.<br />

„Unser Boot schwimmt hier auf dem Wasser. Ich versuche aus<br />

dem Wasser Fische zu fangen. Anaximandros, auch ein Schüler von<br />

Thales, Du hast ihn nicht kennen gelernt, er lebt heute auf Samos,<br />

meint sogar alle Lebewesen hätten früher im Wasser gelebt. Durch<br />

Weiterentwicklung seien etwa die Delphine aufs Land gekrochen<br />

und hätten sich nach und nach zum Menschen entwickelt.<br />

Thales meint, das Wasser nehme verschiedene Gestalt an.<br />

Wenn es aus den Wolken regnet, wie kommt das Wasser in die<br />

Wolken?<br />

Wenn es im Winter bei Euch im Gebirge schneit, fließt, wenn<br />

es wärmer wird, aus dem Schnee Wasser. Wie kommt das Wasser<br />

in den Schnee?<br />

Wenn Du mit dem Spaten ein Loch in trockene Erde gräbst,<br />

stößt Du spätestens nach einem halben Meter auf feuchte Erde.<br />

Wie ist das Wasser in die Erde gekommen?<br />

Wenn Du frühmorgens über eine Wiese gehst, hängt Tau an<br />

Gräsern und Blättern. Wie kommt <strong>der</strong> Tau dahin, obgleich es<br />

nachts nicht geregnet hat?<br />

Ich glaube aber, die Luft ist <strong>der</strong> Urstoff. Wenn Du keine Luft<br />

mehr bekommst, erstickst Du und bist tot. Wenn Du Dich überanstrengst,<br />

atmest Du schneller, die Luft verdichtet sich in Dir und<br />

<strong>der</strong> Schweiß tritt als Wasser auf Deine Stirn.<br />

Wenn die Luft sich bei schönem Wetter verdünnt, saugt sie das<br />

Wasser auf und <strong>der</strong> Boden trocknet aus. Verdichtet sich die Luft,


entstehen am Himmel Wolken, aus denen es bei zunehmen<strong>der</strong><br />

Verdichtung regnet.”<br />

Ein Donnergrollen holte unseren Greis wie<strong>der</strong> in die Gegenwart<br />

zurück. Im Norden hatten sich die Wolken aufgetürmt und ihr<br />

Zusammenprall führte zu Blitz und Donner.<br />

Er erinnerte sich.<br />

Der Zusammenprall <strong>der</strong> Lydier und Perser am Halys wurde seiner<br />

Familie zum Verhängnis. Nicht Kroisos, <strong>der</strong> Ly<strong>der</strong>, siegte, son<strong>der</strong>n<br />

Kyros, <strong>der</strong> Perser. Das große Reich, das Kroisos beim Überschreiten<br />

des Halys laut dem Orakel von Delphi zerstören würde,<br />

war sein eigenes nicht das <strong>der</strong> Perser.<br />

Als die Botschaft vom Ausgang <strong>der</strong> Schlacht Milet erreichte,<br />

war er in einem Gewaltritt von Milet nach Kolophon geeilt. Doch<br />

er kam zu spät. Zwischen den rauchenden Trümmern seines Vaterhauses<br />

lagen die Leichen seiner Eltern und Geschwister. Der<br />

Versuch, Hab und Gut vor <strong>der</strong> Plün<strong>der</strong>ung zu bewahren, hatte ihnen<br />

das Leben gekostet.<br />

Mit Tränen in den Augen hatte er das Amulett vom Halse seines<br />

Vaters abgenommen und bei dieser <strong>Wurzel</strong> <strong>der</strong> <strong>Alraune</strong> geschworen,<br />

den Persern diese Gräueltat niemals zu vergessen.<br />

Er hatte seine Angehörigen bestattet und war dann nach Milet<br />

zurückgeritten, leeren Herzens und ha<strong>der</strong>nd mit den Göttern.<br />

Milet war unverän<strong>der</strong>t. <strong>Die</strong> Perser hatten Thales wissen lassen,<br />

dass sie um seinetwillen – und, wie Thales glaubte, wegen <strong>der</strong> Bedeutung<br />

Milets als Ausfuhrhafen für den Handel mit den Inseln<br />

und dem griechischen Mutterland, – die Stadt verschonen würden,<br />

solange ihre Bewohner sich nicht gegen sie auflehnten.<br />

„Woher wusstest Du”, hatte er den Thales damals gefragt, „dass<br />

vor vierzig Jahren, als die Lydier gegen die Me<strong>der</strong> kämpften, eine<br />

Sonnenfinsternis eintreten würde?”<br />

„Gewusst habe ich es nicht, nur vermutet.


Ich muss so alt gewesen sein, wie Du jetzt, da hat mich mein<br />

Vater nach Babylon geschickt zu einem Geschäftsfreund, von dem<br />

wir Güter aus Indien bezogen. Dort habe ich Einblick in die Jahrhun<strong>der</strong>te<br />

alten Aufzeichnungen <strong>der</strong> Chaldäer über die Bewegungen<br />

<strong>der</strong> Sonne und <strong>der</strong> Sterne nehmen können. Aufgefallen war mir<br />

dabei die Regelmäßigkeit, mit <strong>der</strong> Sonnenfinsternisse auftraten.<br />

Aus diesen Tabellen hatte ich errechnet, dass zur Zeit <strong>der</strong><br />

Schlacht zwischen den Lydiern und den Me<strong>der</strong>n wie<strong>der</strong> eine solche<br />

Sonnenfinsternis eintreten würde. Was ich nicht wusste, zu<br />

welcher Stunde genau <strong>der</strong> Schatten des Neumondes die Erde streifen<br />

würde und ob er das Schlachtfeld verdunkeln würde.<br />

Ich habe damals den Lydiern und den Me<strong>der</strong>n die Botschaft gesandt,<br />

dass die Götter ihren Kampf nicht wollten. Sollten sie dieser<br />

Botschaft keinen Glauben schenken, würden die Götter die Sonne<br />

verfinstern. Als es dann während ihres Kampfes Nacht wurde, haben<br />

sie vor Entsetzen den Kampf eingestellt und Frieden geschlossen.<br />

Seitdem gelte ich bei ihnen als Sprachrohr <strong>der</strong> Götter. <strong>Die</strong> Me<strong>der</strong><br />

sind mir darüber hinaus dankbar für vierzig Jahre Ruhe an <strong>der</strong><br />

Grenze zu Lydien.”<br />

Der Greis lächelte in sich hinein, als er daran dachte, wie unverständlich<br />

ihm damals die Äußerungen des Thales über die Bewegungen<br />

<strong>der</strong> Sonne und des Mondes gewesen waren.<br />

Fragend hatte er den Weisen von Milet angeschaut. Auch <strong>der</strong><br />

hatte das Unverständnis seines Gegenübers bemerkt.<br />

„Weißt Du, die genauen naturwissenschaftlichen Zusammenhänge<br />

sind mir erst später aufgegangen.<br />

Anaximenes hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass <strong>der</strong><br />

Mond kein eigenes Licht haben könne, sonst gäbe es keinen Neumond.<br />

Das Licht des Mondes müsse von <strong>der</strong> Sonne kommen.<br />

Vollmond ist nur dann, wenn <strong>der</strong> Mond im Osten aufgeht, wenn<br />

die Sonne im Westen untergeht. Steht <strong>der</strong> Mond in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong><br />

Sonne, so ist er nur als Sichel zu sehen.


Bilden Sonne, Erde und Mond eine Linie, dann fällt <strong>der</strong> Schatten<br />

<strong>der</strong> Erde auf den Mond und wir sehen eine Mondfinsternis.<br />

Mondfinsternisse gibt es also nur bei Vollmond.<br />

Liegen Sonne, Mond und Erde in einer Linie, dann fällt <strong>der</strong><br />

Schatten des Mondes auf die Erde und wir erleben eine Sonnenfinsternis.<br />

Sonnenfinsternisse gibt es folglich nur bei Neumond.<br />

Aus den Aufzeichnungen <strong>der</strong> Chaldäer wissen wir, dass diese<br />

Finsternisse sich in einem genauen zeitlichen Abstand wie<strong>der</strong>holen,<br />

wobei Mondfinsternisse häufiger zu sehen sind als Sonnenfinsternisse.<br />

Anaximenes vermutet daher, dass <strong>der</strong> Schatten <strong>der</strong> Erde größer<br />

ist als <strong>der</strong> des Mondes und er glaubt, die Erde muss eine Kugel<br />

sein, denn <strong>der</strong> Schatten <strong>der</strong> Erde wan<strong>der</strong>t kreisförmig über den<br />

Mond.”<br />

Der alte Mann auf <strong>der</strong> Bank hatte damals seinen Lehrer bewun<strong>der</strong>t<br />

angestarrt und ihn gefragt: „Glaubst Du an Götter?”<br />

„Für die vorausgesagte Sonnenfinsternis war es entscheidend,<br />

dass die Me<strong>der</strong> und die Lydier diese Finsternis als ein Zeichen <strong>der</strong><br />

Götter ansahen”, wich Thales <strong>der</strong> Frage aus, um dann fortzufahren,<br />

„wenn Du mich fragst, ob es Götter gibt, dann muss ich Dir<br />

sagen, es gibt so viele Götter, wie es Dinge und Ereignisse auf Erden<br />

gibt, die sich die Menschen nicht erklären können.”<br />

<strong>Die</strong>ser letzte Satz des Thales war für ihn, so stellte <strong>der</strong> Greis<br />

rückblickend fest, zu einem Schlüsselsatz geworden, <strong>der</strong> ihn zeit<br />

seines Lebens nicht mehr loslassen sollte.<br />

„Xenophanes”, hatte Thales damals noch väterlich zu ihm gesagt,<br />

„ich weiß um Deinen Hass auf die Perser und ich kann ihn<br />

verstehen. Aber solange ich lebe und die Milesier auf meinen Rat<br />

hören, bist Du hier sicher. Nach meinem Tode magst Du nach<br />

Samos ins freie Jonien zu Anaximandros gehen.”<br />

Er musste sein Ende gefühlt haben, denn wenige Wochen nach


diesem Gespräch war er, mitten unter Menschen, plötzlich tot zusammengebrochen.<br />

Dem Rat des Thales folgend, hatte er sich einige Wochen später<br />

nach Samos eingeschifft. Er sollte Anaximandros jedoch nie<br />

kennenlernen, denn <strong>der</strong> war kurz vor seiner Ankunft gestorben 25 .<br />

Mittellos doch glücklich genoss er die Atmosphäre des freien<br />

Joniens. Der Ruf, ein Schüler des hochverehrten Thales gewesen<br />

zu sein, öffnete ihm die Häuser <strong>der</strong> reichen Kaufleute von Samos.<br />

Mit seinen selbstverfassten Versen, die er als Rapsode, sich auf <strong>der</strong><br />

Lyra begleitend, auf den Festen <strong>der</strong> Kaufleute vortrug, wurde er<br />

zum begehrten Gast ihrer Einladungen.<br />

Hatte er in seinen Versen zunächst die übertriebene Verherrlichung<br />

<strong>der</strong> siegreichen Wettkämpfer in den athletischen Spielen<br />

kritisiert und über <strong>der</strong>en Leistungen das geistige Wissen gestellt,<br />

weil dieses allein für die gute Ordnung im Staate nützlich sei, so<br />

wurden seine polemischen Verssatiren, beson<strong>der</strong>s bei den Ausschweifungen<br />

<strong>der</strong> dionysischen Mysterien immer frecher.<br />

„Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt, was<br />

nur bei Menschen Schimpf und Schande ist:<br />

Stehlen und Ehebrechen und sich gegenseitig betrügen!<br />

25 Mit Thales, geb. ca. 624 v. Chr., gest. 546 v. Chr. in Milet, beginnt erstmalig ein<br />

Mensch Dinge und Ereignisse seiner Welt als natürliche Phänomene zu begreifen und<br />

nicht als von Göttern gesandte Zeichen und Schicksalsschläge.<br />

Ob die Aufzeichnungen <strong>der</strong> Chaldäer den Anstoß für diese Entwicklung gegeben haben,<br />

können wir nur vermuten. Sie wußten, dass sich Sonne, Mond und Erde nach 18<br />

Jahren und 10 1/3 bzw. 11 1/3 Tagen (je nach <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Schaltjahre) wie<strong>der</strong> in<br />

<strong>der</strong>selben Konstellation befinden (Saros-Zyklus). Das erlaubte schon diesen Sterndeutern<br />

<strong>der</strong> Antike, Sonnen- und Mondfinsternisse voraussagen zu können.<br />

Für Thales, und das ist das epochal Neue, waren Sonnen- und Mondfinsternisse keine<br />

Zeichen <strong>der</strong> Götter, son<strong>der</strong>n Regelmäßigkeiten natürlicher Abläufe.<br />

Zusammen mit Anaximan<strong>der</strong>, geb. ca. 610 v. Chr. in Milet, gest. 545 v. Chr. auf Samos,<br />

und Anaximenes, geb. ca.585 v. Chr., gest. 528 v. Chr. in Milet, suchte er nach<br />

den Grundstoffen des Universums. Für ihn war es das Wasser, für Anaximenes die<br />

Luft, während für Anaximan<strong>der</strong> <strong>der</strong> Urstoff das Apeiron war, was man als das unbestimmte<br />

Unendliche o<strong>der</strong> das unendlich Unbestimmte übersetzen kann.<br />

<strong>Die</strong>se drei Milesier versuchen erstmalig sich die Natur rational zu erklären. Sie gelten<br />

daher in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Philosophie als die Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Naturphilosophie.


<strong>Die</strong> Sterblichen wähnen, die Götter würden geboren und hätten<br />

Gewand und Stimme und Gestalt wie sie.<br />

<strong>Die</strong> Äthiopier behaupten, ihre Götter seien schwarz und<br />

stumpfnasig, die Thraker, blauäugig und rothaarig.<br />

Wenn die Rosse und Ochsen Hände hätten und mit ihren<br />

Händen malen könnten und Werke bilden wie die Menschen, so<br />

würden die Rosse rossähnliche und die Ochsen ochsenähnliche<br />

Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie ihre Art aussieht.”<br />

Sinnend wiegte <strong>der</strong> Greis auf <strong>der</strong> Bank seinen Kopf hin und her.<br />

Es waren damals wilde Jahre auf Samos, gewissermaßen seine<br />

Sturm- und Drangzeit.<br />

Er erinnerte sich. Er war in Spermos auf Samos Gast des reichen<br />

Goldschmiedes und Kaufmanns Mnesarchos und hatte gerade<br />

vorgetragen:<br />

„Und was nun die Wahrheit betrifft, so gab und wird es niemand<br />

geben, <strong>der</strong> sie wüsste in Bezug auf die Götter und alle Dinge,<br />

die ich nur immer erwähne. Denn spräche er auch einmal zufällig<br />

das Allervollendetste, so weiß er’s selber doch nicht. Denn nur<br />

Wahn ist allen beschieden.”<br />

Da wi<strong>der</strong>sprach ihm Pythagoras, <strong>der</strong> etwa gleichaltrige, fanatisch<br />

wirkende Sohn des Hauses:<br />

„Xenophanes, ich kenne das mathematische Gesetz, das Thales<br />

gefunden hat, mit dem man praktisch zum Beispiel die Höhe eines<br />

Hauses aus <strong>der</strong> Entfernung berechnen kann. Ich habe danach<br />

selbst die Höhe <strong>der</strong> Pyramiden in Ägypten errechnet.<br />

Aus den Aufzeichnungen <strong>der</strong> Ägypter habe ich als allgemeines<br />

Gesetz erkannt, dass das Quadrat über <strong>der</strong> Hypotenuse gleich <strong>der</strong><br />

Summe <strong>der</strong> Kathetenquadrate ist.<br />

Ich glaube auch, dass die Thesen des Thales über die Bewegungen<br />

von Sonne und Mond sich eines Tages mathematisch beweisen


lassen werden. <strong>Die</strong> Seeleute wissen seit langem, dass bestimmte<br />

Sterne des Nachts einen Kreis am Himmel beschreiben. Warum<br />

sollen die Sterne die unter dem Horizont versinken, das nicht auch<br />

tun. Nur schneidet ihr Kreis den Horizont.<br />

Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass <strong>der</strong> Abendstern nur dann<br />

leuchtet, wenn kein Morgenstern scheint und umgekehrt. Ich vermute,<br />

dass es sich dabei um denselben Stern handelt. Auch seine<br />

Bewegung gehorcht mathematischen Gesetzen, die wir nur noch<br />

nicht kennen.<br />

Wenn Du die Saiten Deiner Lyra in einem bestimmten Abstand<br />

festhältst, entstehen Töne, die harmonisch klingen. Ich habe festgestellt,<br />

dass Deine Griffe auf <strong>der</strong> Lyra in einem bestimmten Zahlenverhältnis<br />

zueinan<strong>der</strong> stehen.<br />

Ich glaube daher, dass nicht das Wasser, wie Thales meint, o<strong>der</strong><br />

die Luft, wie Anaximenes behauptet, son<strong>der</strong>n mathematische Gesetze<br />

die Welt geformt haben. Und wenn wir diese Gesetze kennen,<br />

dann ist das Wissen und kein Meinen mehr.”<br />

Mich hatten seine Worte beeindruckt. Doch wollte ich das<br />

nicht zugeben und trällerte:<br />

„Und es heißt, als er einmal vorüberging, wie ein Hündchen<br />

misshandelt wurde, soll er Mitleid empfunden und dieses Wort gesprochen<br />

haben: ‚Hör auf mit Deinem Schlagen. Denn es ist ja die<br />

Seele eines Freundes, die ich erkannte, wie ich ihre Stimme<br />

hörte.’“<br />

„Xenophanes, ich weiß, dass Du durch und durch ein Skeptiker<br />

bist, wahrscheinlich zu sehr von Thales geprägt. Ich weiß auch,<br />

worauf Du mit Deinem letzten Lied anspielst.<br />

Wenn Du Dir den Dionysoskult vor Augen führst, bei dem in<br />

jedem Herbst Dionysos stirbt, um im Frühjahr wie<strong>der</strong> aufzuerstehen,<br />

dann weißt Du, dass das uralte Fruchtbarkeitsmythen sind,<br />

denn auch die Phönizier und auch die Babylonier kennen ähnliche<br />

Kulte.


Im Frühjahr knospen nicht nur die Triebe <strong>der</strong> Pflanzen, son<strong>der</strong>n<br />

in den Mysterien des Dionysos alle Triebe <strong>der</strong> Menschen, die<br />

dann wie die Pflanzen die Schutzkapseln <strong>der</strong> Knospen alle Hemmungen<br />

abstreifen, um in Orgien ihre Triebe explodieren zu lassen.<br />

<strong>Die</strong> Triebe sind es nicht, die den Menschen von den Pflanzen<br />

und Tieren unterscheidet, denn die hat er mit ihnen gemeinsam.<br />

Was den Menschen von den an<strong>der</strong>en Lebewesen unterscheidet, ist,<br />

dass er Träger einer unsterblichen Seele ist.<br />

<strong>Die</strong> Aufgabe des Menschen ist es, sich dieser unsterblichen Seele<br />

würdig zu erweisen. Tut er das nicht, so muss die Seele nach seinem<br />

Tode in einem nie<strong>der</strong>en Körper fortleben.<br />

Das ist es wohl, worauf Du mit Deinem Spottlied anspielen<br />

wolltest.”<br />

Der alte Mann auf <strong>der</strong> Bank erinnerte sich. Er hatte damals in<br />

<strong>der</strong> Diskussion mit Pythagoras eine schlechte Figur gemacht. Doch<br />

hatte ihn die Vorstellung von <strong>der</strong> unsterblichen Seele nie richtig<br />

überzeugen können. Auch Heraklit, den er später in Ephesos getroffen<br />

hat, war kein Anhänger <strong>der</strong> Ideen des Pythagoras.<br />

Zu <strong>der</strong> Zeit war Pythagoras schon in Kroton. Er war nach<br />

Großgriechenland 26 gegangen, weil Polykrates Tyrann von Samos<br />

geworden war.<br />

Wahrscheinlich, so sinnierte im Rückblick <strong>der</strong> Alte auf seiner<br />

Bank, waren ihre Charaktere zu ähnlich, um zusammen auf Samos<br />

bestehen zu können.<br />

Seine fanatische Art und seine Überzeugungskraft hatten Pythagoras<br />

viele Jünger zugeführt, die ihn als einen Sohn Appolls verehr-<br />

26 Mit Großgriechenland ist Süditalien gemeint. So wie die Europäer des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

durch ihre Auswan<strong>der</strong>ung nach Nordamerika <strong>der</strong> Enge und den sozialen Verhältnissen<br />

ihrer alten Heimat den Rücken kehrten, so flohen viele Ionier vor <strong>der</strong> Bedrohung<br />

durch die Perser und den durch sie geschaffenen politischen Verhältnissen<br />

(Tyrannis) in das für sie freie Großgriechenland. Der Bevölkerungsüberschuß <strong>der</strong><br />

kleinasiatischen Ionerstädte verstärkte diesen Drang zur Auswan<strong>der</strong>ung.


ten. Wie Freunde erzählt hatten, soll er vor fünf Jahren in Metaponto<br />

am Golf von Tarent gestorben sein 27 .<br />

Der Greis nahm den Faden seiner Erinnerung wie<strong>der</strong> auf.<br />

Auch er hatte nach fünfjähriger Herrschaft des Polykrates die<br />

Insel Samos verlassen müssen. Mit den Spottversen auf die Knabenliebe<br />

des Tyrannen hatte er die Toleranzfähigkeit des Polykrates<br />

überstrapaziert 28 . Das Schiff, das ihn bei seiner eiligen Flucht<br />

aufnahm, segelte nach Naukratis, ins Nildelta.<br />

Er war damals nach Saïs gegangen, um sich die ägyptischen<br />

Tempel anzusehen. Ein Priester, <strong>der</strong> griechisch sprach, erklärte<br />

27 Pythagoras, geb. 570 v. Chr. in Samos, gest. 496 v. Chr. in Metapont, kannte sowohl<br />

Thales als auch den auf Samos lebenden Anaximan<strong>der</strong>. Zwischen 545 und 535 v. Chr.<br />

soll Pythagoras Forschungsreisen nach Babylonien und Ägypten unternommen haben.<br />

Dafür spricht, dass die Babylonier das praktische Wissen um die dem Pythagoras zugeschriebene<br />

Formel a 2 +b 2 =c 2 besaßen und die Ägypter die Bruchrechnung.<br />

Seine Entdeckung, dass in <strong>der</strong> Musik die verschiedenen Töne in einem bestimmten<br />

zahlenmäßigen Verhältnis zur Saitenlänge standen, verband er mit den mathematischen<br />

Erkenntnissen des Thales und schloss daraus, dass durch Zahlengesetze Strukturen<br />

entstehen, die aus dem unbestimmten Unendlichen des Urstoffes, des Apeiron bei<br />

Anaximan<strong>der</strong>, das Bestimmte <strong>der</strong> Stoffe schaffe. <strong>Die</strong> Form sei also das Prinzip des Seins.<br />

In diese Vorstellung, die Form sei das Prinzip des Seins, passt die auch von den Orphikern<br />

übernommene Lehre von <strong>der</strong> Seelenwan<strong>der</strong>ung. <strong>Die</strong> Seele, aus einer an<strong>der</strong>en, <strong>der</strong><br />

Geistwelt stammend, ist sündig geworden. Sie ist daher in einen Leib eingeschlossen,<br />

wan<strong>der</strong>t von Leib zu Leib und formt dabei die Lebewesen, in die sie eingeschlossen ist.<br />

Gelingt es ihr den Leib, in den sie eingeschlossen ist, frei von Sinnlichkeit zu machen,<br />

wird die Seele erlöst, frei und wie<strong>der</strong> ganz Geist.<br />

28 Polykrates, bekannt aus Schillers Ballade „Der Ring des Polykrates” war Tyrann auf<br />

Samos. Zusammen mit seinen Brü<strong>der</strong>n hat er 538 v. Chr. die Macht auf Samos übernommen.<br />

Im Kampf um die Alleinherrschaft tötete er den älteren seiner Brü<strong>der</strong>, während<br />

<strong>der</strong> jüngere an den Hof des persischen Großkönigs floh. Mit Hilfe eines starken<br />

Söldnerheeres, des Aufbaus einer beachtlichen Flotte und einer geschickten Bündnispolitik<br />

u.a. mit Ägypten gelang ihm eine zügige Ausbreitung seines Machtbereichs in<br />

<strong>der</strong> Ägäis.<br />

Unter ihm erlebte Samos seine größte Blüte. Raubzüge <strong>der</strong> Flotte, aber auch <strong>der</strong> Fernhandel,<br />

die Einführung <strong>der</strong> Münzwirtschaft, Veredlung des einheimischen Viehs<br />

durch Einführung von Zuchttieren, eine rege Bautätigkeit trugen zur Hebung des allgemeinen<br />

Lebensstandards bei.<br />

An seinen Hof versammelte Polykrates Künstler und Dichter und pflegte die Freundschaft<br />

zu den an<strong>der</strong>en Fürsten <strong>der</strong> Ägäis.<br />

Seine großzügige Verwendung des Reichtums ließen ihn in Geldnot geraten und in eine<br />

persische Falle tappen. Der Besuch bei dem persischen Satrapen Oroites im Jahre<br />

522 v. Chr. wurde für ihn zum Verhängnis. Er wurde verhaftet und grausam getötet.


ihm die dargestellten Statuen, hatte sich jedoch in seinem Redefluss<br />

plötzlich unterbrochen und auf die Brust seines Zuhörers gezeigt:<br />

„Was ist das?”<br />

„Das ist ein Amulett. Das ist die <strong>Wurzel</strong> <strong>der</strong> <strong>Alraune</strong>.”<br />

„Woher hast Du es?”<br />

„Es ist ein Erbstück <strong>der</strong> Familie. Es muss uralt sein. Ich habe es<br />

meinem Vater abgenommen, als ich ihn in den rauchenden Trümmern<br />

unseres Hauses in Kolophon, erschlagen von den Persern,<br />

fand. Aber warum fragst Du?”<br />

Doch <strong>der</strong> Priester forschte weiter.<br />

„Haben Deine Vorfahren immer in Kolophon gewohnt?”<br />

„Nein, sie stammen aus Phönizien, ich glaube aus Ugarit.”<br />

Der Priester blieb geheimnisvoll: „Bist Du bereit, mit mir nilaufwärts<br />

nach Heliopolis zu segeln. Ich möchte Dir etwas zeigen,<br />

was Dich überraschen wird.”<br />

In Heliopolis, dem früheren On, wurde er in die uralten Tempelanlagen<br />

des Amun-Rê geführt. In einem Raum blieb <strong>der</strong> Priester<br />

vor einem Wandbild stehen. Dargestellt war ein Mann mittleren<br />

Alters im Profil, offensichtlich kein Ägypter, aber das Verblüffende<br />

war, er trug an seinem Gürtel ein Amulett, das, wie ein Ei dem an<strong>der</strong>en,<br />

seinem eigenen Amulett glich.<br />

„Wir wissen von ihm, dass er aus Kreta stammte, dass er <strong>der</strong><br />

Schwiegersohn unseres Hohenpriesters Imunheb war und dass <strong>der</strong><br />

Enkelsohn des Imunheb zusammen mit den Hyksos nach Phönizien<br />

gegangen ist. Alles das haben wir den uralten Papyri jener Zeit<br />

entnehmen können.<br />

Wenn ich Dein Profil mit dem seinen vergleiche, ist eine gewisse<br />

Ähnlichkeit vorhanden. Ich möchte Dir noch etwas zeigen.”<br />

Der Priester hatte ihn in einen an<strong>der</strong>en Raum geführt.<br />

„Wir nennen diesen Raum die kretische Laube. Wir wissen,<br />

dass <strong>der</strong> Schwiegersohn des Imunheb diesen Raum ausgemalt hat.<br />

<strong>Die</strong> Wandbil<strong>der</strong> sind vor kurzem restauriert worden. <strong>Die</strong> Bienen,<br />

die dort aus dem uralten Baumstamm herausschwirren, symbolisieren<br />

die den Menschen vertrauten Götter.”


„Es gibt so viele Götter, wie es Dinge und Ereignisse gibt, die<br />

sich die Menschen nicht erklären können”, hatte er vor sich hingemurmelt.<br />

„Was hast Du gesagt”, fragte ihn <strong>der</strong> Priester, <strong>der</strong> sein Gemurmel<br />

nicht verstanden hatte.<br />

Er hatte den Satz wie<strong>der</strong>holt und hinzugefügt, dass es sich um<br />

eine Aussage seines Lehrers Thales handelt. Er selbst habe auf Samos<br />

als Sänger seinen Zuhörern vorgehalten, dass diese sich ihre<br />

Götter nach dem eigenen Ebenbild gestalten würden und dass an<strong>der</strong>e<br />

Völker mit ihren Göttern genau so verführen.<br />

Der Priester hatte ihn forschend angesehen und dann auf das<br />

dunkle Loch gewiesen, aus dem die Bienen herausströmten.<br />

„Das ist <strong>der</strong> Urgrund des Seins, unsichtbar und gestaltlos.”<br />

Der Greis schloss seine Augen. <strong>Die</strong> Sonne war im Westen aus<br />

den abziehenden Wolken des Gewitters hervorgetreten, und ihr<br />

Wi<strong>der</strong>schein auf dem Meer schuf ein gleißendes Licht.<br />

Fast zehn Jahre war er in Ägypten geblieben. Immer tiefer hatte<br />

man ihm Einblick in das Wissen <strong>der</strong> Eingeweihten gewährt. Einweihung<br />

war vor allem ein Prozess <strong>der</strong> Desillusionierung, eine Aufhebung<br />

<strong>der</strong> illusionären Bil<strong>der</strong>welt des Polytheismus.<br />

Er hatte noch die Worte des Hohenpriesters in seinen Ohren:<br />

„Einer ist er, aus sich selbst geworden. Aus Einem ist alles entsprungen.<br />

Unter den Sterblichen geht er umher, doch keiner erblickt<br />

ihn, er hingegen sieht alle.”<br />

Kurz bevor Kambysos, <strong>der</strong> Perser, Ägypten eroberte, war er<br />

nach Großgriechenland gesegelt. Auf Sizilien in Zankle und in Catania<br />

hatte er seine Verse, in die er seine Erkenntnisse geformt hatte,<br />

vorgetragen.<br />

Seine Lippen rezitierten lautlos Verse aus <strong>der</strong> Erinnerung:<br />

„Es gibt einen einzigen Gott, unter Göttern und Menschen <strong>der</strong><br />

größte, we<strong>der</strong> an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken.”<br />

„<strong>Die</strong> Gottheit ist ganz Auge, ganz Geist, ganz Ohr.”


„Doch son<strong>der</strong> Mühe schwingt er das All mit des Geistes Denkkraft.”<br />

„Stets am selbigen Ort verharrt er, sich nirgends bewegend, und<br />

es geziemt ihm nicht bald hierhin bald dorthin zu wan<strong>der</strong>n.”<br />

Sein Blick wan<strong>der</strong>te über die Häuser unten in <strong>der</strong> Bucht. Hier<br />

in Elea hatten er und einige Schüler sich vor über dreißig Jahren<br />

nie<strong>der</strong>gelassen, um über diesen einzigen Gott und sein Werk zu<br />

diskutieren und zu schreiben<br />

Nur einmal noch hatte er Elea verlassen. Mit einlaufenden<br />

Schiffen war die Nachricht gekommen, Jonien sei frei, die Tyrannis<br />

<strong>der</strong> Perser abgeschüttelt. Da hatte ihn <strong>der</strong> unbändige Wunsch gepackt,<br />

die alte Heimat noch einmal wie<strong>der</strong>zusehen. Er hatte die<br />

Philosophenschule seinem fähigsten Schüler Parmenides anvertraut<br />

und sich selbst den Unbilden <strong>der</strong> See.<br />

Des Alten Augen leuchten in <strong>der</strong> hereinbrechenden Dämmerung.<br />

Er sieht sich noch am Bug des Schiffes stehen, als aus dem<br />

Dunst die fünf Felsspitzen des Latmosgebirges auftauchen und die<br />

baldige Ankunft in Milet ankündigen.<br />

Milet war brodelnd wie immer. Doch irgendwie auch an<strong>der</strong>s.<br />

Der Schutz des Thales war ihr genommen. Ein Hauch von Todesahnung,<br />

von Untergang, schien ihm durch die Straßen zu wehen.<br />

Auch Kolophon war an<strong>der</strong>s, irgendwie fremd. Es war nicht<br />

mehr die Stadt seiner Kindheit.<br />

In Ephesus hatte er Heraklit getroffen. Prüfend hatte <strong>der</strong> Jüngere<br />

den Älteren angeschaut und dann gesagt:<br />

„Xenophanes, Dein Dämon ist Dein Schicksal.“ 29<br />

Er hatte in ihm den Gleichartigen, den in die Mysterien Eingeweihten<br />

erkannt. Es folgten Wochen fruchtbarer Gespräche.<br />

„So wie unser Heute nur das Ergebnis von Gestern ist, so wird<br />

29 Unter Dämonen verstanden die Griechen die im Menschen wirkenden Kräfte, seien<br />

es Triebe, Vorstellungen o<strong>der</strong> Ideen. Hier meint Heraklit die innere Unruhe des Xenophanes<br />

und sein Gefühl, dass <strong>der</strong> in ihm wirkende Geist auf <strong>der</strong> Suche nach dem<br />

Logos, <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Ideen, in seiner Persönlichkeit sich nicht vollenden wird.


unser Morgen nur das Ergebnis von Heute sein. Das Heute muss<br />

sterben, damit das Morgen leben kann. Das Sterben ist Vergehen,<br />

um neuem Leben Platz zu machen. Man kann nicht zweimal in<br />

denselben Fluss hinabsteigen.”<br />

„Das Leben wird dem Menschen zur Gefahr, wenn er am Vergänglichen<br />

haftet. <strong>Die</strong> Ewigkeit ist ein spielendes Kind. Der<br />

Mensch müsste mit den Dingen spielen wie ein Kind, aber sein<br />

Trachten darauf richten, aus den Dingen das Göttliche zu holen,<br />

das in ihnen verzaubert schläft.”<br />

„Nur – <strong>der</strong> Krieg ist <strong>der</strong> Vater aller Dinge!”<br />

„Das Werden ist eingespannt zwischen Gegensätzen, und diese<br />

Gegensätze sind es, die Bewegung in den Fluss bringen.”<br />

„Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Friede,<br />

Sattheit und Hunger. Er ist <strong>der</strong> Logos, das Weltgesetz, letztlich<br />

die Weltvernunft, die das Werden regelt.“ 30<br />

Zum Abschied sagte Heraklit noch, er glaube nicht, dass Jonien<br />

frei bleibe, dafür sei Persien zu mächtig. Mag sein, dass aus <strong>der</strong><br />

Übermacht <strong>der</strong> Perser sich eine Gegenmacht entwickle. Aber wann<br />

die entstehen werde, könne man jetzt noch nicht erkennen.<br />

Heraklit sollte Recht behalten. Kurz nach seiner Rückkehr<br />

wurde <strong>der</strong> jonische Aufstand durch Darius nie<strong>der</strong>gekämpft, Milet<br />

zerstört. Doch auch die Gegenmacht zu Persien wurde sichtbar.<br />

Athen und Sparta wehrten sich erfolgreich gegen die Eroberung<br />

durch die Perser.<br />

<strong>Die</strong> Gedanken des alten Mannes auf seiner Bank kehrten zurück<br />

zu <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Dunkelheit vor ihm liegenden Philosophenschule.<br />

Parmenides hatte inzwischen seine, des Xenophanes Aussage,<br />

‚von dem einen, am selbigen Ort verharrenden und sich nicht be-<br />

30 Mit Heraklit aus Ephesus, geb. 535, gest. 475 v. Chr., tritt neben die Form das Werden<br />

als gestaltende Kraft in den Blickpunkt <strong>der</strong> Philosophie. Logos ist bei Heraklit das<br />

Weltgesetz, das das Werden regelt. <strong>Die</strong>se Vorstellung von <strong>der</strong> immanenten Werdegesetzlichkeit<br />

war für seine Zeitgenossen schwer zugänglich. Im Gegensatz zu Pythagoras<br />

hielt er aristokratische Distanz zu denen, die er nicht für ebenbürtig hielt. Wegen <strong>der</strong><br />

Unzugänglichkeit seiner Persönlichkeit hießen ihn die Alten auch den Dunklen.


wegenden Gott’ weiter entwickelt zu dem ‚einen’ zusammenhängenden,<br />

in sich ruhenden All’. Dabei spielte in <strong>der</strong> Aussage ‚Eines<br />

ist Alles’ bei ihm das IST den Angelpunkt. Wenn das Sein ist, kann<br />

es kein Nichtsein geben.<br />

Wie bei den Pythagoreern aus mathematischen Gesetzen sich<br />

an<strong>der</strong>e Gesetze ableiten, so schließt Parmenides aus dem gesetzten<br />

Sein, dass Werden nicht möglich sei, da Werden ein vorheriges<br />

Nichtsein bedeute. Denken ist für Parmenides ein Wie<strong>der</strong>geben<br />

<strong>der</strong> Gegenstandswelt und insofern mit dem Sein identisch.<br />

Für den alten Mann auf <strong>der</strong> Bank war die Philosophie des Parmenides<br />

zwar in sich logisch, doch mit <strong>der</strong> Realität nicht vereinbar.<br />

Für Parmenides war die Realität nur <strong>der</strong> Schein, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong><br />

Wahrheit des Seins nichts zu tun hatte 31 .<br />

Der Greis fasste sich ans Herz. <strong>Die</strong> äußere Dunkelheit schien<br />

jetzt auch in ihm sich auszubreiten. Ihm fielen die Worte Heraklits<br />

ein:<br />

„Der Dämon kann sich nicht innerhalb einer Persönlichkeit abschließen.<br />

Er hat Kraft, viele Persönlichkeiten zu beleben. Von<br />

Persönlichkeit zu Persönlichkeit vermag er sich zu wandeln.”<br />

„Lebwohl Logos”, flüsterte er, „und suche Dir einen Körper,<br />

<strong>der</strong> Dir hilft, die Weltvernunft weiter zu erhellen.”<br />

In <strong>der</strong> Philosophenschule herrschte am Morgen Aufregung.<br />

Man hatte dem Parmenides gemeldet, dass das Lager des Xenophanes<br />

unberührt geblieben war. Man fand ihn auf seiner Lieblingsbank,<br />

den Körper an die alte Korkeiche gelehnt, in seinen Gesichtszügen<br />

ein überirdisches Lächeln.<br />

31 Mit <strong>der</strong> Absolutierung des Seins setzt Parmenides aus Elea, geb. ca. 540 und gest.<br />

470 v. Chr. die Antithese zu Heraklits Werden. Das Denken ist für ihn <strong>der</strong> einzige Weg<br />

zur Wahrheit und, da Denken das Sein wi<strong>der</strong>spiegelt, führen nur die Sinneserkenntnisse<br />

zu feststehenden, mit sich selbst identischen Wahrheiten.<br />

Alles, was später in <strong>der</strong> Philosophie geschrieben und gesagt worden ist, sind Modifikationen<br />

<strong>der</strong> Gestaltungsprinzipien Form, Werden und Sein, erstmals aufgezeigt an <strong>der</strong><br />

Wende vom 6. zum 5. Jahrhun<strong>der</strong>t v. Chr. von diesen Vorsokratiern.


V. Im Zeitalter <strong>der</strong> Fische<br />

60 v. Chr. – 2 100 n. Chr.


1. Monotheismus: «Geistliche Anleihen»<br />

Dem denkwürdigen Kolloquium, das im Jahre 5 <strong>der</strong> Regierungszeit<br />

Justinians bzw. im Jahre 1285 nach <strong>der</strong> Gründung Roms<br />

in Ktesiphon stattfand, gingen mehrere Entscheidungen voraus,<br />

aber auch einige zufällige Ereignisse.<br />

<strong>Die</strong> erste Entscheidung war die Schließung <strong>der</strong> neuplatonischen<br />

Philosophenschule in Athen, kurz Akademie genannt, zwei Jahre<br />

nach Beginn <strong>der</strong> Regierungszeit Justinians 32 .<br />

Ein Vierteljahr nach <strong>der</strong> Schließung tauchte bei Simplikios,<br />

dem damaligen Leiter <strong>der</strong> Akademie, ein Syrer auf und bot ihm<br />

und den übrigen entlassenen Mitglie<strong>der</strong>n an, ihre Forschungen und<br />

Lehrtätigkeiten an <strong>der</strong> Akademie in Gondishapur fortzusetzen.<br />

Der künftige Herrscher des Sassanidenreiches Chusro Anoscharwan<br />

brauche für die von ihm geplanten Reformen die Erfahrungen<br />

und das Wissen <strong>der</strong> Griechen.<br />

Er bat Simplikios, die übrigen Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Akademie von<br />

seinem Angebot in Kenntnis zu setzen. <strong>Die</strong> Ausreisewilligen sollten,<br />

um die Mission nicht zu gefährden, als Grund für ihre Abreise<br />

angeben, sie nähmen eine Hauslehrerstelle in Antiochia an. Sein<br />

Schiff läge, von heute an in sechs Wochen, in Piräus bereit, um sie<br />

und ihre Angehörigen an Bord zu nehmen.<br />

Zu dem angegebenen Zeitpunkt traten acht Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Akademie mit ihren Angehörigen die Reise an.<br />

32 Platon, geb. 427 v. Chr. in Athen, gest. 347 v. Chr. in Athen, Schüler von Sokrates,<br />

gründete im Jahre 387 v. Chr. die Academie, seine Schule in Athen, die erst 529<br />

n.Chr. von Kaiser Justinian geschlossen wurde. Bedeutende Gelehrte prägten den Ruf<br />

dieser Schule Auch Aristoteles lehrte zeitweise an <strong>der</strong> Akademia.


Ein Jahr nach Schließung <strong>der</strong> Akademie nahm in Gondishapur<br />

die Philosophenschule wie<strong>der</strong> ihre Arbeit auf.<br />

An einem klaren Frühherbstmorgen des folgenden Jahres traten<br />

zwei Männer aus einem alten tempelartigen Gebäude in Velia 33 auf<br />

die Straße und strebten dem Hafen zu. Der Jüngere führte ein<br />

Maultier am Zügel, das offensichtlich sein Reisegepäck trug.<br />

„Lucanus, hab' Dank für alles, was ich hier in den zwei Jahren,<br />

die ich euer Gast war, habe lernen können.”<br />

„Du weißt, David, dass wir römischen Neuplatoniker selbst nur<br />

Gastrechte in dieser alten vor 1 000 Jahren von Xenophanes und<br />

Parmenides gegründeten Eleaten-Schule genießen, weil wir es<br />

vorgezogen haben, aus dem zu christlich dominierten Rom in die<br />

Provinz auszuweichen.<br />

Wer weiß, wie lange wir hier noch ungestört lehren können.<br />

Seit Boëthius 34 hingerichtet wurde, haben wir Philosophen bei den<br />

Ostgoten an Sympathie eingebüßt, und seit Theo<strong>der</strong>ich 35 tot ist,<br />

wird Justinian alles versuchen, Italien wie<strong>der</strong> dem römischen Reich<br />

einzuglie<strong>der</strong>n. Und was das für uns bedeutet, siehst Du an <strong>der</strong><br />

Schließung <strong>der</strong> Akademie vor zwei Jahren in Athen.”<br />

33 Velia, das frühere Elea <strong>der</strong> griechischen Antike, liegt im Cilento, <strong>der</strong> gebirgigen Halbinsel<br />

südlich von Neapel. Dort hat ein heute fast ausgetrockneter Fluss eine Talaue geschaffen<br />

und damit Siedlungsraum und einen Hafen für die griechischen Kolonnisten.<br />

Archäologen versuchen seit einigen Jahren in Grabungskampagnien sich ein Bild <strong>der</strong><br />

früheren Siedlung zu verschaffen.<br />

34 Boëthius (475 – 524 n. Chr.) lebte in Rom und wurde von dem Ostgotenkönig<br />

Theo<strong>der</strong>ich 510 zum Konsul ernannt und später <strong>der</strong> höchste Verwaltungsbeamte des<br />

Hofes. Er wurde wegen Hochverrats in den Kerker geworfen und 524 hingerichtet<br />

Seine Übersetzung und Kommentierung von Schriften griechischer Philosophen waren<br />

die einzigen Quellen des Mittelalters über das Wissen <strong>der</strong> Antike, bis das vom Islam gespeicherte<br />

griechische Kulturgut nach Europa gelangte.<br />

35 Theo<strong>der</strong>ich <strong>der</strong> Große, im Nibelungenlied <strong>Die</strong>trich von Bern genannt, führte seine<br />

Ostgoten mit Einverständnis weströmischer Herrscher vom Balkan nach Italien und<br />

gründete dort das Ostgotenreich. Durch die Schwäche seiner Nachfolger und durch<br />

das Erstarken des oströmischen Reiches unter Justinian ging in <strong>der</strong> Mitte des 6. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

dieses Ostgotenreich wie<strong>der</strong> unter.


Schweigend gingen die beiden Männer eine Zeitlang nebeneinan<strong>der</strong><br />

her. Dann ergriff Lucanus von neuem das Wort.<br />

„David, ich weiß, Du hast hier vor allem die Gelegenheit dazu<br />

benutzt, Dich mit <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Eleaten auseinan<strong>der</strong> zu setzen.<br />

Ich nehme auch an, dass Du, wenn Du wie<strong>der</strong> in Ägypten bist,<br />

in Heliopolis die Stätten aufsuchen willst, von denen Xenophanes<br />

berichtet hat.<br />

Hier ist ein Paket. Es enthält eine Handschrift, die Xenophanes<br />

von Ägypten mitgebracht haben soll, aber keiner kann diese Bil<strong>der</strong>schrift<br />

<strong>der</strong> alten Ägypter lesen. Vielleicht findest Du jemand in<br />

Ägypten, <strong>der</strong> noch ihre Schrift lesen kann und ihrer Sprache mächtig<br />

ist.<br />

Ferner enthält das Paket noch etwas, das Du kennst. Es soll eine<br />

Überraschung sein. Öffne es bitte erst, wenn Du auf See bist.”<br />

Sie hatten den Hafen und das wartende Schiff erreicht. Es war<br />

ein Handelsschiff, das Keramik aus Velia für Ägypten geladen hatte.<br />

Während sich David von Lucanus verabschiedete, ließ <strong>der</strong> Kapitän<br />

das Reisegepäck seines Fahrgastes an Bord bringen und gab<br />

dann das Zeichen zum Ablegen.<br />

Der ablandig wehende Wind blähte die Segel und das Schiff<br />

gewann zunehmend an Fahrt.<br />

David öffnete das Paket. Er erkannte sofort die als Amulett des<br />

Xenophanes verehrte uralte <strong>Wurzel</strong> <strong>der</strong> <strong>Alraune</strong>. Voll Rührung las<br />

er das Begleitschreiben des Lucanus:<br />

„Lieber David, <strong>der</strong> eine Teil in Dir sucht ständig nach Erkenntnis,<br />

<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e wird als Kaufmann im <strong>Die</strong>nste <strong>der</strong> Familientradition<br />

gezwungen, ständig nach neuen Handelswegen zu suchen. Du<br />

wirst also wie Xenophanes ein unstetes Leben führen. Das Amulett<br />

möge Dich schützen.<br />

Verzeih’ mir diese abergläubigen Anwandlungen. Aber ich wüsste<br />

keinen besseren Träger als Dich. Außerdem glaube ich, dass es<br />

bei Dir in dieser unruhigen Zeit sicherer aufgehoben ist als hier in<br />

Velia.”<br />

David ließ das Schreiben sinken.


Vor zwei Jahren war er im Auftrag seines Vaters, des reichen<br />

Kaufmanns Baruch aus Alexandria nach Velia gekommen, um<br />

ägyptischem Weizen gegen Keramik aus Velia einzutauschen.<br />

Ägypten als Kornkammer des römischen Reiches exportierte regelmäßig<br />

seine Weizenüberschüsse. Da Keramik in Alexandria<br />

knapp und teuer war, umgekehrt Italien seit Generationen auf Getreideimporte<br />

angewiesen war, hatte sein Vater ihn beauftragt, in<br />

Velia einen Geschäftspartner für den Austausch dieser Waren zu<br />

suchen.<br />

Seitdem hatte er als Vertreter des Kaufhauses Baruch die Geschäfte<br />

zwischen Velia und Alexandria geleitet. Da ihm diese Tätigkeit<br />

viel freie Zeit ließ, hatte er in <strong>der</strong> alten Eleatenschule seine<br />

philosophischen Kenntnisse vertieft.<br />

Nun war mit diesem Schiff ein Schreiben seines Vaters gekommen,<br />

das ihn zur Rückkehr auffor<strong>der</strong>te.<br />

„Mein Geschäftsfreund aus Indien hat mir durch seinen Sohn,<br />

<strong>der</strong> mit dem letzten Schiff aus Indien gekommen ist, mitteilen lassen,<br />

dass unser ägyptisches Leinen durch die hohen Schutzzölle <strong>der</strong><br />

arabischen Piratenschiffe kaum mehr absetzbar sei. Er habe daher<br />

die Menge an Gewürzen und Seide kürzen müssen, die er mir als<br />

Gegenlieferung zur Verfügung stelle.<br />

Wir müssen deshalb einen Weg nach Indien finden, <strong>der</strong> die<br />

Schutzzölle <strong>der</strong> arabischen Seepiraten vermeidet. Ich habe an einen<br />

Basar in Babylon o<strong>der</strong> in Ktesiphon gedacht. Deine Aufgabe ist<br />

es herauszufinden, ob Kamelkarawanen durch das Sassanidenreich<br />

möglich und günstiger sind als <strong>der</strong> Seeweg um Arabien herum.<br />

Übrigens, <strong>der</strong> Sohn meines indischen Geschäftsfreundes”, so<br />

hatte es als persönliche Anmerkung in dem Schreiben seines Vaters<br />

geheißen, „ist in Deinem Alter. Varahamihira 36 heißt er. Auch er<br />

36 Varahamihira (505 bis 587 n. Chr.) indischer Philosoph, Mathematiker und Astronom,<br />

schrieb eine Abhandlung, in <strong>der</strong> er das astronomische Wissen <strong>der</strong> Griechen,<br />

Ägypter, Römer und In<strong>der</strong> zusammenfasste. Seine als Mathematiker in <strong>der</strong> Trigonometrie<br />

aufgestellten Sinustabellen erlaubten den Astronomen genauere Berechnungen<br />

<strong>der</strong> Sternbewegungen durchzuführen.


ist wie Du Kaufmann nur aus Pflicht, aus Neigung aber Wissenschaftler.<br />

Ich glaube, ihr werdet euch gut verstehen.<br />

Das erste, was er von mir wissen wollte, war, wie er an die<br />

astronomischen Aufzeichnungen eines gewissen Hipparchos aus<br />

Rhodos kommen könne. Ich habe ihn an Gelinda, die die Bibliothek<br />

leitet, verwiesen. Seitdem taucht er bei mir nur auf um zu fragen,<br />

wann Du kommst, wobei er froh zu sein scheint über jeden<br />

Tag, <strong>der</strong> ihm für seine astronomischen Studien bleibt.”<br />

David legte das Schreiben seines Vaters beiseite und entrollte<br />

den alten Papyrosbogen des Xenophanes. Sinnend starrte er auf die<br />

geheimnisvollen Hieroglyphen. Was war für Xenophanes so wichtig<br />

gewesen, dass er ihn mit nach Elea gebracht hatte?<br />

Vielleicht könnte Gelinda ihm helfen. Wie sie wohl jetzt aussehen<br />

wird. Sie hatten beide seinerzeit als Jahrgangsbeste das Quadrivium,<br />

das höhere Schulwissen, in Alexandria am Museion abgeschlossen<br />

und sich dann aus den Augen verloren.<br />

Beide stammten sie aus alten alexandrinischen Geschlechtern.<br />

Während das Handelshaus Baruch sich bis auf Philo, <strong>der</strong> zur Zeit<br />

<strong>der</strong> julischen Cäsaren lebte, zurückverfolgen ließ, zählte Gelinda<br />

zu ihren Vorfahren die berühmte Mathematikerin Hypatia, die vor<br />

über hun<strong>der</strong>t Jahren vom christlichen Pöbel in Alexandria bestialisch<br />

ermordet wurde.<br />

Zwei Monate später folgten zwei Männer einer Frau in die uralten<br />

Tempelanlagen von Heliopolis.<br />

„Das muss <strong>der</strong> Raum sein, von dem Xenophanes in seinen Aufzeichnungen<br />

gesprochen hat”, wandte sich Gelinda an David. <strong>Die</strong><br />

Farben waren weitgehend verblasst, teilweise abgeblättert.<br />

„Was fasziniert Dich so an diesem Raum, David?”, fragte Varahamihira.<br />

„Xenophanes nannte diesen Raum die kretische Laube. Siehst<br />

Du diese Andeutung eines alten Baumes, aus dessen Loch, man<br />

sieht es kaum noch, Bienen herausfliegen. <strong>Die</strong>se Bienen symbolisieren<br />

die von den Menschen geschaffenen Götter, die, so stellten sie


sich vor, unsterblich, aber alle geboren worden sind. <strong>Die</strong>ses Loch,<br />

so deutete es <strong>der</strong> den Xenophanes begleitende Priester, ist <strong>der</strong> Urgrund<br />

allen Seins. O<strong>der</strong> um es mit <strong>der</strong> Inschrift auf dem Isistempel<br />

zu Saïs zu sagen:<br />

Ich bin alles, was war, ist und sein wird.<br />

Das Faszinierende daran ist, um auf Deine Frage zurückzukommen,<br />

dass die Priester vor über zweitausend Jahren in ihrer<br />

Geheimlehre schon monotheistische Vorstellungen hatten; Vorstellungen<br />

wie sie Xenophanes zeit seines Lebens beschäftigt haben,<br />

wobei er unter dem Einfluss von Heraklit mehr einem Pantheismus<br />

zuneigte, wie ich aus meinen Studien in Velia erfahren<br />

habe.”<br />

„<strong>Die</strong>ses Loch wird bei uns im Hinduismus Brahman genannt, es<br />

ist das alles durchdringende, selbstexistierende kosmische Absolute.<br />

Atma ist das im einzelnen Menschen wirkende Brahman. Der<br />

Hinduismus verbindet, wie in Deinem Bienengleichnis, das Polytheistische<br />

mit dem Pantheistischen. Er vermeidet, so scheint<br />

mir, den Zwischenschritt über den Monotheismus.”<br />

„Hen kai pan – Eines ist Alles”, flüsterte David.<br />

Dann verzog sich sein Gesicht zu einem schalkhaften Grinsen<br />

bei dem Gedanken, <strong>der</strong> in ihm hochstieg. Als die beiden an<strong>der</strong>en<br />

ihn fragend ansahen, fuhr es aus ihm heraus:<br />

„Der Spötter Xenophanes würde sagen:<br />

Und dann kam Moses, nahm das Loch, steckte es in eine Kiste,<br />

nannte es die Bundeslade und erklärte den mit ihm aus Ägypten<br />

fliehenden Israelis:<br />

Höre, Volk Israel, das ist das Heiligtum unseres namenlosen und<br />

unsichtbaren Gottes, <strong>der</strong> uns aufgetragen hat, dieses Land zu verlassen.<br />

Und so wurde Moses zum ersten Verkün<strong>der</strong> des Monotheismus!”<br />

„Als Historikerin muss ich Einspruch einlegen”, wi<strong>der</strong>sprach<br />

Gelinda.<br />

„Der vergilbte Papyrus des Xenophanes, den Du mir gegeben<br />

hast, enthält Hymnen eines Echnaton an seinen Gott Aton, den er


als einzigen Gott preist. Es muss sich, vom ganzen majestätischen<br />

Gehabe des Gebetes an seinen Gott, bei dem Echnaton um einen<br />

Pharao handeln. Aber in den ganzen Königslisten taucht nirgendwo<br />

ein Echnaton auf.<br />

Während seit etwa tausend Jahren in den ganzen uns bekannten<br />

Kulturen <strong>der</strong> Ruf nach einem letzten Absoluten in <strong>der</strong> Luft lag, wie<br />

uns auch Varahamihira mit seinen Bemerkungen über den Hinduismus<br />

bestätigt hat, muss dieser Pharao seinen Monotheismus verkündigt<br />

haben zu einer Zeit, da we<strong>der</strong> die Priester, noch das Volk<br />

bereit waren, ihm zu folgen.<br />

Ich vermute folgendes:<br />

Da die Pharaonen bei ihrer Thronbesteigung in das Geheimwissen<br />

<strong>der</strong> Priester eingeweiht wurden, hat dieser Pharao aus seinem<br />

gewonnenen Wissen einen neuen monotheistischen Glauben verkündet,<br />

vielleicht auch um die Macht <strong>der</strong> Priester zu brechen.<br />

<strong>Die</strong>se Priester haben dann nach seinem Tode alles getan, um die<br />

Erinnerung an diesen Pharao auszulöschen.<br />

Siehst Du, David, das ist <strong>der</strong> Grund, warum ich Dich gebeten<br />

habe, mich mit nach Babylon zu nehmen. Denn wenn in dortigen<br />

Archiven eine Korrespondenz mit einem Pharao auftaucht, dessen<br />

Name in den Königslisten fehlt, so könnte es dieser unbekannte<br />

Pharao sein.<br />

Meine These ist, es muss sich um einen Pharao handeln, <strong>der</strong><br />

nach Amenophis III. und vor Ramses II. regiert hat 37 . Das würde<br />

auch mit dem Pentateuch übereinstimmen, denn Dein Namenspatron,<br />

<strong>der</strong> große König David, hat ungefähr dreihun<strong>der</strong>t Jahre nach<br />

dem Auszug <strong>der</strong> Israelis aus Ägypten gelebt.<br />

Stimmt meine These, David, dann hat Moses die Vorstellungen<br />

Echnatons für sein Volk übernommen. Und nicht Moses, son<strong>der</strong>n<br />

Echnaton ist <strong>der</strong> erste Verkün<strong>der</strong> eines Monotheismus.<br />

David! Hörst Du mir überhaupt noch zu?”<br />

37 Gemeint ist ein Zeitraum von etwa 75 Jahren zwischen dem Tode Amenophis III.<br />

und dem Beginn <strong>der</strong> Regierungszeit Ramses II. etwa um 1291.


David errötete. In den letzten Minuten hatte er mehr die<br />

Schönheit Gelindas auf sich wirken lassen, die noch gesteigert<br />

wurde durch das Temperament, mit <strong>der</strong> sie ihre Argumente<br />

vortrug.<br />

In Wahrheit war er ihrer Bitte, sie mit nach Babylon zu nehmen,<br />

nur zu gerne gefolgt. Als er sie nach seiner Rückkehr aus Italien<br />

wie<strong>der</strong>sah, war er überrascht zu welcher Schönheit sich das<br />

unscheinbare Mädchen, das er kannte, entwickelt hatte.<br />

Um zu vertuschen, dass sie ihn ertappt hatte, sagte er:<br />

„Hoffentlich findest Du in Babylon jemanden, <strong>der</strong> die Keilschrift<br />

lesen und sie Dir übersetzen kann.”<br />

Gemächlich trieb <strong>der</strong> Nordwind das Frachtschiff in den folgenden<br />

Tagen nilaufwärts. An den einzelnen Faktoreien, die für das<br />

Handelshaus Baruch arbeiteten, legte das Schiff an und David<br />

prüfte und übernahm unter Hilfe seines indischen Freundes Partien<br />

ägyptischen Leinens, die es galt, nach Indien zu liefern. In Den<strong>der</strong>a<br />

würden die Leinenballen auf Kamele geladen und nach Myos<br />

zum Roten Meer transportiert.<br />

„Varahamihira, was zieht Dich so nach Den<strong>der</strong>a?”<br />

Sie saßen auf dem Sonnendeck und genossen die Abendstimmung.<br />

„Auch ich versuche wie Du, Gelinda, eine These bestätigt zu<br />

bekommen.<br />

Als ich Dich in <strong>der</strong> Bibliothek in Alexandria traf, hatte ich nach<br />

Hipparchos von Rhodos gefragt. <strong>Die</strong>ser Astronom hat vor siebenhun<strong>der</strong>t<br />

Jahren eine Sternenkarte erstellt, in die er über tausend<br />

Sterne in einem Gitter von Längen- und Breitengraden fixiert hat.<br />

Mir war in Indien aufgefallen, dass Sterne nicht mehr an <strong>der</strong><br />

Stelle waren, wo sie nach den Aufzeichnungen früherer Astronomen<br />

zur Zeit <strong>der</strong> Tag- und Nachtgleiche hätten sein müssen.<br />

Wenn das keine falschen Messungen waren, dann müssten die<br />

Standorte bestimmter Sterne, die Hipparchos vor siebenhun<strong>der</strong>t<br />

Jahren fixiert hatte, heute auch an einer an<strong>der</strong>en Stelle zu finden<br />

sein. Daher mein Interesse an den Tabellen des Hipparchos.


Übrigens dem Hipparchos war das auch schon aufgefallen. Als<br />

er den Standort des Sternes Spica mit den Aufzeichnungen eines<br />

Astronomen verglich, <strong>der</strong> den Stern hun<strong>der</strong>tfünfzig Jahre früher<br />

vermessen hatte, stellte er fest, dass, bezogen auf die Tag- und<br />

Nachtgleiche, Spica zwei Grad rechts von dem gemessenen Standort<br />

war.<br />

Ich habe festgestellt, dass Spica heute rund zehn Grad seit den<br />

Tagen des Hipparchos weiter nach rechts gewan<strong>der</strong>t ist. <strong>Die</strong> Bewegung<br />

betrifft aber nur die Längengrade und gilt für alle Sterne<br />

des Tierkreises.”<br />

„Was hat das aber mit Den<strong>der</strong>a zu tun?”<br />

„Nun in den Aufzeichnungen <strong>der</strong> Astronomen in <strong>der</strong> Bibliothek<br />

von Alexandria wird erwähnt, dass die Decke des Hathortempels<br />

in Den<strong>der</strong>a einen in Sandstein gemeißelten Tierkreis ziert 38 . Mich<br />

interessiert, durch welches Sternzeichen bei diesem Relief <strong>der</strong><br />

Schnittpunkt <strong>der</strong> Tag- und Nachtgleiche verläuft.”<br />

„Ich komme mit!”, erklärte Gelinda spontan.<br />

„Wir werden morgen kurz vor Mittag in Den<strong>der</strong>a sein. Ich<br />

muss die Entladung überwachen und dafür sorgen, dass die Ballen<br />

sicher in das Lager kommen. Das dauert drei Stunden. Wann wollt<br />

Ihr zum Hathortempel?”<br />

Varahamihira überlegte.<br />

„Am besten am späten Nachmittag. Dann fallen die<br />

Sonnenstrahlen waagerecht in den Tempel und das Deckenrelief<br />

wirft Schatten und wird plastischer.”<br />

„Gut, dann kann auch ich mitkommen”, entschied David.<br />

Deutlich hoben sich die einzelnen Figuren des Deckenreliefs<br />

durch die flach hereinfallenden Sonnenstrahlen voneinan<strong>der</strong> ab,<br />

wie Varahamihira vorausgesagt hatte.<br />

„Das kann doch nicht wahr sein!”<br />

38 Das Original des Tierkreises befindet sich heute im Louvre, während man in Den<strong>der</strong>a<br />

eine Gipskopie besichtigen kann.


Gelinda und David starrten fragend in das verblüffte Gesicht ihres<br />

Freundes.<br />

„Schaut, <strong>der</strong> Künstler hat den Frühlingspunkt in das Sternzeichen<br />

des Stieres gelegt. Dann müsste er das Relief vor, vor …”<br />

Varahamihira rechnete,<br />

„vor dreitausend Jahren gemeißelt haben. Aber so alt ist <strong>der</strong><br />

Hathortempel nicht. O<strong>der</strong>, er hat nach einer Vorlage gearbeitet,<br />

die so alt ist. Jedenfalls muss für den Erstverfasser <strong>der</strong> Vorlage <strong>der</strong><br />

Frühlingspunkt im Sternzeichen des Stieres gelegen haben.<br />

In <strong>der</strong> Zwischenzeit ist er durch den Wid<strong>der</strong> gewan<strong>der</strong>t und befindet<br />

sich seit fünfhun<strong>der</strong>t Jahren im Sternbild <strong>der</strong> Fische.”<br />

„Vor dreitausend Jahren sind den Göttern noch Menschenopfer<br />

dargebracht worden, nicht wahr David?”, wandte sich Gelinda an<br />

ihren alten Schulfreund.<br />

Sie sah, wie in Davids Gesicht wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Schalk aufstieg.<br />

„Woran denkst Du?”<br />

„Ich kann mir nicht helfen. Seit meinen Studien über Xenophanes<br />

betrachte ich die Erklärungen <strong>der</strong> Menschen über ihr Handeln<br />

mit einer gewissen Skepsis.<br />

Da gibt es im 1. Buch Mosis eine Stelle, wo Abraham aufgefor<strong>der</strong>t<br />

wird, seinen Sohn Isaak zu opfern. Isaak war <strong>der</strong> einzige Sohn<br />

seines rechtmäßigen Weibes Sarah. Den Grund <strong>der</strong> Opferung gibt<br />

diese Stelle nicht an. Vielleicht hatten Seuchen den Herdenbestand<br />

des Abraham so dezimiert, dass nur ein übergroßes Opfer<br />

den Gott versöhnen konnte.<br />

Bezeichnend ist, dass Abraham dieses Opfer nicht vor seinem<br />

Volke vollzieht, son<strong>der</strong>n mit seinem Sohn auf einen einsamen<br />

Berggipfel wan<strong>der</strong>t, dann aber nach einer Weile mit seinem nicht<br />

geopferten Sohne zu seinem Stamm zurückkehrt und erklärt:<br />

Gott habe ihn daran gehin<strong>der</strong>t, seinen Sohn zu schlachten, weil<br />

<strong>der</strong> <strong>der</strong> Stammvater eines großen Volkes werden solle, und ihn<br />

stattdessen aufgefor<strong>der</strong>t, einen Wid<strong>der</strong> zu opfern, <strong>der</strong> sich in <strong>der</strong><br />

Nähe im Gestrüpp verfangen hatte.<br />

Dass Abraham ein Mann mit Grundsätzen war, kann man nicht


ehaupten, eher ein Überlebenskünstler, wie einige Berichte aus<br />

<strong>der</strong> Zeit vor <strong>der</strong> Geburt seines Sohnes Isaak beweisen. <strong>Die</strong>se Sarah<br />

muss ein sehr schönes Weib gewesen sein. Immer wenn dieser<br />

Nomadenfürst mit seinen Herden in ein fremdes Land kam, gab er<br />

seine Frau als seine Schwester aus, um nicht wegen seines Weibes<br />

aus dem Weg geräumt und getötet zu werden.<br />

Wir wissen nicht, ob Abraham mit seinem Gott geha<strong>der</strong>t und<br />

ihn letztlich von einem Menschenopfer zu einem Tieropfer heruntergehandelt<br />

hat, o<strong>der</strong> ob er die Geschichte nur erfunden hat. Es<br />

gab ja keine Zeugen.<br />

Jedenfalls sind im Zeitalter des Wid<strong>der</strong>s die Menschenopfer seltener<br />

geworden und wurden im jüdischen Volke durch das<br />

Schlachten eines Lammes ersetzt.”<br />

„Wenn die Sternbil<strong>der</strong> maßgebend für die Art <strong>der</strong> Opfer sind,<br />

dann müssten die Christen heute im Sternbild <strong>der</strong> Fische, Fische<br />

opfern”, folgerte Gelinda.<br />

„Nein”, wi<strong>der</strong>sprach Varahamihira, „die alten Völker haben die<br />

Fruchtbarkeitszyklen ihrer Tiere an den Himmel als Sternbil<strong>der</strong><br />

projiziert. Erst warfen die Schafe ihre Jungen, dann kalbten die<br />

Kühe und zum Schluss gebaren die Ziegen. Entsprechend folgen<br />

die Sternbil<strong>der</strong> Wid<strong>der</strong>, Stier und Zwillinge aufeinan<strong>der</strong>, wobei<br />

man wissen muss, dass die Zwillinge ursprünglich zwei kleine<br />

Zicklein gewesen sind.”<br />

„Aber um auf die Opferriten <strong>der</strong> Christen zurückzukommen”,<br />

das Gesicht Davids war sehr ernst geworden, „wenn sie bei ihrer<br />

Abendmahlfeier verkünden, das genossene Brot sei Christi Fleisch<br />

und <strong>der</strong> getrunkene Wein sei Christi Blut, so läuft mir dabei immer<br />

ein kalter Schauer den Rücken herunter, denn das ist ritualisiertes<br />

Menschenopfer.”<br />

„Aber irgendwie haben die Christen doch etwas mit dem Sternbild<br />

<strong>der</strong> Fische zu tun”, beharrte Gelinda,<br />

„in einem ihrer Evangelien for<strong>der</strong>t Jesus die Fischer des Sees<br />

Genezareth auf, ihm zu folgen und zu Menschenfischern zu werden.<br />

Und ich weiß, aus alten Aufzeichnungen, dass die Christen


einan<strong>der</strong> erkannten an einem stilisierten Fisch, den sie an die<br />

Wand malten. Und ihr berühmter Stern von Bethlehem soll im<br />

Sternbild <strong>der</strong> Fische gestanden haben.”<br />

„Der stilisierte Fisch ist das Zeichen Alpha. Im Johannes-<br />

Evangelium heißt es ‚Am Anfang war das Wort …’ und Alpha ist<br />

das Zeichen für den Anfang. <strong>Die</strong> meisten Christen waren Analphabeten<br />

und konnten nicht lesen, daher deuteten sie das Zeichen Alpha<br />

als einen Fisch.”<br />

„Was den Stern von Bethlehem angeht”, ergänzte Varahamihira,<br />

„so hoffe ich bei den Aufzeichnungen <strong>der</strong> Babylonier etwas Genaueres<br />

zu erfahren.”<br />

„Wann werden wir in Babylon sein?”, fragte Gelinda.<br />

David überlegte:<br />

„Morgen brechen wir mit unseren Kamelen nach Myos auf, in<br />

drei Tagen sind wir dort. Dann segeln wir nach Elath. Dort werden<br />

wir in einer Woche sein. Dann geht es über den Karawanenweg<br />

nach Damaskus und Palmyra zum Euphrat. Den werden wir<br />

drei Wochen später erreichen. Wenn wir für die Flussfahrt auf dem<br />

Euphrat bis nach Babylon noch mal eine Woche brauchen, sind<br />

wir von heute an gerechnet in fünf Wochen in Babylon.<br />

„Also auf nach Babylon”, beendete Varahamihira das Gespräch.<br />

Ausschnitt aus dem Brief Davids an seinen Vater in Alexandria:<br />

„Auftragsgemäß habe ich hier in Ktesiphon einen Basar gemietet.<br />

Wir sind von Myos aus, wie besprochen, nicht um die arabische<br />

Halbinsel herumgesegelt, son<strong>der</strong>n nach Elath. Von dort sind<br />

wir über den Karawanenweg störungsfrei hier in Ktesiphon angekommen.<br />

Varahamihira hat ebenfalls einen Basar gemietet und in einem<br />

Schreiben seinen Vater aufgefor<strong>der</strong>t, Gewürze und Seide, einmal<br />

auf dem Seewege über Basra und zum an<strong>der</strong>en auf dem Landwege<br />

über Harmadan nach Ktesiphon zu schicken, um zu testen, welcher<br />

Transportweg gefahrloser und damit günstiger ist. Der Warenaustausch<br />

soll dann hier in Ktesiphon stattfinden.


Übrigens Seide kommt hier nach Ktesiphon nicht nur aus Indien,<br />

son<strong>der</strong>n direkt aus China über einen Weg, den die Händler<br />

Seidenstraße nennen. Dadurch können wir preismäßig zwischen<br />

mehreren Anbietern wählen.<br />

<strong>Die</strong> Zeit bis zum Eintreffen <strong>der</strong> Karawanen wird uns nicht lang<br />

werden. Gelinda und Varahamihira stöbern in den babylonischen<br />

Archiven und ich habe Kontakt zu den Philosophen <strong>der</strong> Athener<br />

Schule aufgenommen, die seit zwei Jahren hier in Gondishapur<br />

lehren.”<br />

Sie saßen auf <strong>der</strong> Terrasse des Königspalastes in Ktesiphon. Sie,<br />

das waren unsere drei Freunde und die aus Gondishapur gekommenen<br />

Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Akademie.<br />

Es war später Nachmittag. <strong>Die</strong> Strahlen <strong>der</strong> schräg stehenden<br />

Sonne spiegelten sich in den träge dahin gleitenden Wassern des<br />

Tigris.<br />

„Ich habe gehört”, wandte sich Simplikios an Gelinda, „Du<br />

suchst einen aus den ägyptischen Annalen verschwundenen Pharao.<br />

War Deine Suche in den babylonischen Archiven erfolgreich?”<br />

„Ich habe einen Keilschrifttext gefunden, in dem ein Hethiterkönig<br />

Mursilis III. erwähnt, dass eine ägyptische Prinzessin Anchesenpaaton<br />

seinen Vater Suppiluliumas gebeten habe, er möge ihr<br />

einen seiner Söhne als Gatten schicken, da ihre Ehe mit dem kürzlich<br />

verstorbenen Tutanchamun genauso ohne Söhne geblieben sei,<br />

wie die ihrer Mutter Nofretete mit ihrem Vater. Interessant daran<br />

ist <strong>der</strong> Name des ägyptischen Pharaos und <strong>der</strong> seiner Gattin.<br />

Wir wissen, dass Tutanchamun in <strong>der</strong> Königsliste <strong>der</strong> Nachfolger<br />

von Semenchkarê war und dass Semenchkarê ein Sohn von<br />

Amenophis III. war. Semenchkarê war mit Meritaton <strong>der</strong> älteren<br />

Schwester von Anchesenpaaton verheiratet. Bei<strong>der</strong> Mutter hat also<br />

nur weiblichen Nachwuchs gehabt. Nach dem Tode des Ehegatten<br />

von Nofretete musste also sein jüngerer Bru<strong>der</strong> Pharao werden.<br />

<strong>Die</strong>ser unbekannte Pharao fügt dem Namen seiner Töchter die<br />

Bezeichnung ‚.aton’ an. Es muss sich bei ihm um den älteren Bru<strong>der</strong>


Semenchkarês und unmittelbaren Nachfolger Amenophis III. handeln.<br />

Wahrscheinlich nannte er sich bei seiner Inthronisierung<br />

Amenophis IV. und wandelte seinen Namen erst später in Echnaton<br />

um.”<br />

„Doch”, und damit wandte sich Gelinda David zu, „ich muss<br />

mich korrigieren. Nach genauerem Studium <strong>der</strong> Papyrusrolle des<br />

Xenophanes komme ich zu <strong>der</strong> Erkenntnis, dass die von Echnaton<br />

praktizierte Anbetung Atons kein reiner Monotheismus war. Nur<br />

er trat mit Aton in Verbindung, alle an<strong>der</strong>en mussten weiterhin<br />

Echnaton als den göttlichen Pharao verehren. Vermutlich trug die<br />

fehlende Bindung des neuen Glaubens im Volke dazu bei, dass<br />

nach dem Tode Echnatons die Priester so erfolgreich die Erinnerung<br />

an diesen Glauben und an Echnaton auslöschen konnten.”<br />

„Dann könnte Moses ein Anhänger Echnatons gewesen sein”,<br />

folgerte David, „<strong>der</strong> die Rückkehr zu den alten Glaubensvorstellungen<br />

nicht mitgemacht hat. Er hat dann mit an<strong>der</strong>en, die gleich<br />

ihm an <strong>der</strong> neuen Religion festhielten, Ägypten verlassen.<br />

<strong>Die</strong> große Leistung des Moses besteht darin, dass er die Glaubensvorstellungen<br />

Echnatons zu einer klaren Gegenreligion entwickelt<br />

hat, wie es in den Gesetzestafeln nie<strong>der</strong>geschrieben ist:<br />

- «die Verwerfung <strong>der</strong> Magie»<br />

- «die Bildlosigkeit»<br />

- «Verzicht auf ein Jenseits und auf die Unsterblichkeit <strong>der</strong> Seele»<br />

- «Statt Vielheit von Göttern nur einen Gott»<br />

- «Betonung moralischer gegenüber kultischer Reinheit»<br />

Dabei vermeidet er den Fehler Echnatons. Für die mit ihm ziehenden<br />

Israelis ist er kein Gott, son<strong>der</strong>n nur das Sprachrohr Gottes,<br />

sein Prophet. Gott lebt also über den Tod seines Propheten<br />

hinaus weiter.”<br />

„Warum sitzen wir hier? Warum ist es uns nicht gelungen, die<br />

Ideen Platons, die Erkenntnisse Plotins so zu verbreiten, dass sie<br />

Glaubensgut <strong>der</strong> Menschen wurden und sie gefeit machten gegen<br />

die Irrlehren <strong>der</strong> Christen?”, fragte Perkos, einer <strong>der</strong> Akademielehrer.<br />

„Plotin hat seinerzeit versucht, Kontakte nach Indien zu knüpfen.


Wir wissen nicht, wieweit es ihm gelungen ist”, warf Simplikios<br />

ein, „aber soviel mir bekannt ist, sind die Vorstellungen Plotins<br />

nicht allzuweit von den Gottesvorstellungen des Hinduismus entfernt.”<br />

„Das EINE Plotins wird bei uns im Hinduismus Brahman genannt,<br />

es ist das alles durchdringende, selbstexistierende kosmische<br />

Absolute. Atma ist das im einzelnen Menschen wirkende Brahman”,<br />

erklärte Varahamihira.<br />

„<strong>Die</strong> Übereinstimmung ist zweifellos verblüffend. Aber um auf<br />

die Frage Perkos einzugehen: wir haben in Indien eine alles beherrschende<br />

Kaste, die Brahmanen. Sie haben diese geistigen Vorstellungen<br />

im Volke durchgesetzt. Nie<strong>der</strong>geschrieben sind diese Vorstellungen<br />

unter an<strong>der</strong>em in <strong>der</strong> Bhagavad-Gitâ, dem Offenbarungstext<br />

des Hinduismus. Ihre einzelnen Kapitel können als<br />

Stufenweg aufgefasst werden, <strong>der</strong> den Leser zur Gottheit hinführt.<br />

Im hellenistischen Raum fehlte es an <strong>der</strong> beherrschenden Priesterkaste,<br />

die die philosophischen Ideen in religiöse Praxis umsetzen<br />

konnte. In dieses religiöse Vakuum, so scheint mir, ist das<br />

Christentum vorgestoßen.”<br />

„Verzeiht, dass ich noch mal auf Moses zurückkomme”, unterbrach<br />

David die Diskussion.<br />

„Aber wenn das stimmt, was ich über die Leistungen Moses gesagt<br />

habe, dann werden bestimmte Teile des Pentateuch noch unlogischer,<br />

als sie es für mich vorher schon waren.<br />

Wie kann ein Prophet, <strong>der</strong> den unmittelbaren Kontakt des<br />

Menschen mit seinem einzigen Gott for<strong>der</strong>t, eine Priesterhierarchie<br />

wie<strong>der</strong> einrichten, obgleich er weiß, dass unter den Motiven<br />

Echnatons für seine neue Religion das Brechen <strong>der</strong> Priestermacht<br />

eine nicht geringe Rolle gespielt hat?<br />

Wie kann ein Prophet, <strong>der</strong> das Gebot <strong>der</strong> Nächstenliebe als<br />

Gottes Offenbarung verkündet, seinen Gott, den er vorher Elohim,<br />

<strong>der</strong> EINE genannt hat, plötzlich Jahwe nennen, so wie die Midianiter<br />

ihren Rachegott nennen?<br />

War das Volk Israel noch nicht reif genug, das Gesetz des ‚Auge


um Auge, Zahn um Zahn’ durch das Gebot ‚Liebe Deinen Nächsten<br />

wie Dich selbst’ zu überhöhen?<br />

Hat Moses aufgegeben? Hat man ihn als geistigen Führer abgesetzt?<br />

Ihn gar getötet und durch eine Priesterkaste ersetzt?<br />

<strong>Die</strong> achthun<strong>der</strong>t Jahre später den Pentateuch geschrieben haben,<br />

werden es selbst nicht gewusst haben. Mündliche Überlieferungen<br />

beschönigen und verdrängen die Erinnerung 39 .<br />

<strong>Die</strong> Folgen sind bekannt. Der Rachegott Jahwe wurde <strong>der</strong><br />

Staatsgott, sein Volk ein auserwähltes Volk. Dass das nicht gut<br />

gehen kann, weiß man seit <strong>der</strong> Geschichte von Josef und seinen<br />

Brü<strong>der</strong>n.”<br />

„Wer war Josef und was ist mit ihm passiert?”, fragte Varahamihira,<br />

dem als In<strong>der</strong> die Bücher Moses unbekannt waren.<br />

„Josef war <strong>der</strong> elfte Sohn des Erzvaters Jakob, von dem die<br />

Israelis ihre Herkunft ableiten. Er war aber auch <strong>der</strong> Auserwählte<br />

seines Vaters, weil er das erste Kind <strong>der</strong> Lieblingsfrau Rahel seines<br />

39 Der Pentateuch, die fünf Bücher Moses, stammt in seiner Urform von einem Verfasser,<br />

den die Alttestamentler den „Jahwisten” nennen, weil <strong>der</strong> Gott Jahwe bei ihm am<br />

häufigsten genannt wird. Zwischen 480 und 420 v. Chr. muss er diese Urform nie<strong>der</strong>geschrieben<br />

haben.<br />

Grundmuster seiner Darstellung ist <strong>der</strong> Gegensatz zwischen Gut und Böse, angefangen<br />

beim Sündenfall im Paradies und sich fortsetzend bis zur babylonischen Gefangenschaft,<br />

aus <strong>der</strong> Kyros, <strong>der</strong> Perserkönig das Volk Israel 538 v. Chr. befreite. In <strong>der</strong> antiken<br />

Religionsgeschichte ist es <strong>der</strong> Perser Zarathustra, <strong>der</strong> zu Beginn des 6. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

diesen Gegensatz im vor<strong>der</strong>asiatischen Raum erstmalig verkündete.<br />

Der Jahwist gestaltet die Figur des Propheten Moses nach dem Vorbild von Zarathustra,<br />

wenn er ihn die Gesetzestafeln Jahwes vom Berge Sinai bringen lässt, während Kyros<br />

Pate stand bei <strong>der</strong> Befreiung des Volkes Israel aus ägyptischer Knechtschaft durch<br />

Moses. Nur es gibt keine Aufzeichnungen, in denen Moses vor <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schrift durch<br />

den Jahwisten erwähnt wird.<br />

Später haben zentralistische Reformer diese Urform in eine national-religiöse Geschichte<br />

<strong>der</strong> Reiche Israel und Juda umgewandelt. So opferte <strong>der</strong> einzelne Israelist beim Jahwisten<br />

seinem Gott an jedem geeigneten Platz im Freien, während die Reformer den<br />

Opferkult nur im Tempel von Jerusalem zuließen. Auch fügten sie <strong>der</strong> Urform des<br />

Jahwisten Heldentaten des Volkes Israel bei <strong>der</strong> Zerstörung kanaanitischer Städte und<br />

<strong>der</strong> Ausrottung an<strong>der</strong>sgläubiger Volksstämme hinzu.<br />

Nur we<strong>der</strong> haben die Alttestamentler schriftliche Beweise von außerbiblischen Quellen<br />

hierüber, noch haben die Archäologen bei den angegebenen Orten Spuren von<br />

Zerstörungen aus jener Zeit gefunden.


Vaters war. <strong>Die</strong> Betonung <strong>der</strong> Auserwähltheit seinen Brü<strong>der</strong>n gegenüber,<br />

führte dazu, dass die ihn eines Tages gefangen nahmen,<br />

einer vorbeiziehenden Karawane als Sklaven verkauften und ihrem<br />

Vater gegenüber erklärten, er sei von einem Löwen gefressen worden.<br />

Jedenfalls die Betonung <strong>der</strong> Auserwähltheit hat bis heute bei<br />

den Nachbarvölkern die gleichen Reaktionen ausgelöst.<br />

Zu den Folgen: Als <strong>der</strong> Stolz <strong>der</strong> Juden das Joch <strong>der</strong> römischen<br />

Besatzungsmacht glaubte nicht länger ertragen zu können und sie<br />

vor vierhun<strong>der</strong>tfünfzig Jahren im Vierkaiserjahr 40 den Aufstand<br />

wagten, wurde Juda als Staatsgebilde von den Flaviern ausgelöscht.<br />

Und als sie sechzig Jahre später in einem Kleinkrieg Rache suchten,<br />

wurde die gesamte jüdische Bevölkerung aus Juda vertrieben.<br />

Entschuldigt die Langatmigkeit. Aber vielleicht sind außer Varahamihira<br />

auch noch an<strong>der</strong>en aus diesem Kreis diese für die römische<br />

Geschichte episodenhaften Vorkommnisse nicht geläufig.<br />

Meines Erachtens sind sie aber <strong>der</strong> Keim für die Entstehung des<br />

Christentums.”<br />

„Ich habe mich in Athen ausgiebig mit dem Gnostizismus 41 beschäftigt”,<br />

schaltete sich Protoklos in die Diskussion ein, „<strong>der</strong> in<br />

40 Als Vierkaiserjahr bezeichnet man die Zeitspanne (68 bis 69 n. Chr.) zwischen dem<br />

Ende <strong>der</strong> Julisch-Claudischen Dynastie und <strong>der</strong> Flavischen Dynastie.<br />

Nach dem Selbstmord Neros, als seine Schutztruppe, die Prätorianer, von ihm abfallen,<br />

wird zunächst Galba sein Nachfolger. Als er Anfang 69 n. Chr. von meuternden Prätorianern<br />

ermordet wird, folgt Otho für drei Monate. Doch auch er begeht Selbstmord,<br />

nachdem seine Truppen dem Feldherrn Vitellius unterlagen. Nach acht Monaten Regierungszeit<br />

wurde Vitellus von Vespasians Truppen beseitigt.<br />

Vespasian war 67 n. Chr. von Nero mit <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>werfung des jüdischen Aufstandes<br />

betraut worden. Nachdem seine Truppen den Flavier zum Kaiser ausgerufen hatten,<br />

übernahm es sein Sohn Titus, <strong>der</strong> nach dem Tode Vespasians, 10 Jahre später, ihm auf<br />

dem Thron folgen sollte, den jüdischen Aufstand im Jahre 70 mit <strong>der</strong> Zerstörung Jerusalems<br />

zu beenden.<br />

41 Der Gnostizismus verstand sich als Geheimwissenschaft über das Göttliche. Nach<br />

gnostischer Lehre fielen Funken o<strong>der</strong> Samen des Göttlichen Wesens aus <strong>der</strong> transzendenten<br />

geistigen Sphäre in die materielle (böse) Welt. Durch die Wie<strong>der</strong>erweckung des<br />

göttlichen Elementes mit Hilfe <strong>der</strong> Erkenntnis könnte <strong>der</strong> Mensch in seine Heimat, den<br />

spirituellen Bereich des Transzendenten, zurückkehren<br />

<strong>Die</strong> gnostische Mythologie entwickelte sich am Ende des 1. Jahrhun<strong>der</strong>ts n. Chr. aus<br />

spekulativen philosophischen Strömungen im Judentum.


den Zeiten <strong>der</strong> jüdischen Kriege vor allem in Alexandria als Geheimwissenschaft<br />

eine Rolle gespielt hat. Danach müsse es sich bei<br />

Jahwe um einen gefallenen Engel gehandelt haben, <strong>der</strong> sich als<br />

Gott das jüdische Volk untertan gemacht haben.<br />

Der eine, unsichtbare Gott werde aber einen Boten als Lichtträger<br />

seinem Volke schicken, <strong>der</strong> Juda aus <strong>der</strong> Dunkelheit, von<br />

dem Bösen, befreie.<br />

Hier tauchte also eine Art Dualität des Göttlichen, zwischen<br />

Licht und Dunkel, zwischen Gut und Böse auf.”<br />

„Auch im Hinduismus kennen wir die Korrektur durch das<br />

Göttliche, wenn die Menschen fehlgeleitet worden sind”, schaltete<br />

sich Varahamihira in das Gespräch ein.<br />

„Es gibt da in <strong>der</strong> von mir bereits erwähnten Bhagavad-Gitâ<br />

eine Stelle, die frei übersetzt lautet:<br />

Wenn das Gute verschwindet und das Böse zunimmt,<br />

schaffe ich mir einen Leib.<br />

In jedem Zeitalter kehre ich zurück und erlöse das Heilige,<br />

vernichte die Sünde <strong>der</strong> Sün<strong>der</strong> und setze das Recht wie<strong>der</strong> ein.<br />

Wenn Gott sich einen Leib schafft, dann bedeutet das, dass<br />

Gott einen Boten auf die Erde schickt.”<br />

„Zur Zeit <strong>der</strong> Gefangenschaft des jüdischen Volkes hier in<br />

Babylon hat Jesaja einen Messias, eine Lichtgestalt geweissagt, mit<br />

den Worten:<br />

Mache dich auf, werde licht! Denn dein Licht kommt, und<br />

die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir.<br />

Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker;<br />

Aber über dir geht auf <strong>der</strong> Herr, und seine Herrlichkeit<br />

erscheint über dir.”<br />

„Und David, dieser Jesus ist”, so forschte Varahamihira weiter,<br />

„<strong>der</strong> geweissagte Messias? Ihm ist also, um es hinduistisch zu formulieren,<br />

die Vereinigung seines persönlichen Atmas mit dem<br />

Brahman gelungen. Und dieser Yoga ist dann bei <strong>der</strong> Verkündigung<br />

seiner Erkenntnis an den ihn umgebenden bösen Mächten<br />

persönlich gescheitert?”


„So einfach ist das nicht”, schaltete Gelinda sich ein.<br />

„Genau so, wie wir nichts von authentischen Dritten über Moses<br />

wissen, so ist auch <strong>der</strong> historische Jesus für uns nicht greifbar.<br />

Moses ist eine Legende des jüdischen Volkes, Jesus eine des Christentums.<br />

Echnaton dagegen, so scheint mir, können wir historisch<br />

verifizieren.<br />

Mit <strong>der</strong> Eroberung <strong>der</strong> Randstaaten des östlichen Mittelmeeres<br />

haben sich die Römer nicht nur <strong>der</strong>en Reichtümer einverleibt,<br />

son<strong>der</strong>n sich auch für die orientalischen Mysterien geöffnet, die zusammen<br />

mit den eleusinischen Mysterien <strong>der</strong> Griechen einen emotionalen<br />

Nährboden bildeten, <strong>der</strong> nur darauf wartete, einen göttlichen<br />

Samen zu empfangen.”<br />

„Ich kann das, was Gelinda sagt, nur bestätigen”, schaltete<br />

Simplikios sich in das Gespräch ein.<br />

„Gemeinsam war diesen Mysterien ein als göttliche Offenbarung<br />

verkündeter Lógos, <strong>der</strong> die Menschwerdung, das Leiden und<br />

Sterben, die Auferstehung o<strong>der</strong> die göttliche Erhöhung des Kultgottes<br />

zum Inhalt hat.”<br />

„Und als dann mein verehrter Urahn Philon 42 eine Verbindung<br />

zwischen <strong>der</strong> Septuaginta und dem griechischen Lógos herstellte,<br />

war <strong>der</strong> Nährboden für diesen göttlichen Samen auch in <strong>der</strong> jüdischen<br />

Diaspora bereitet, zumal nach <strong>der</strong> Vertreibung des jüdischen<br />

Volkes aus Israel”, ergänzte David.<br />

„Wenn dieser Jesu eine christliche Legende und historisch nicht<br />

greifbar ist, wie Du behauptest”, wandte sich Varahamihira an Gelinda,<br />

„so müssen doch seine Anhänger, die Christen, irgendwann<br />

42 Philon von Alexandria, jüdischer Religionsphilosoph, geb. etwa 20 bis 15 v. Chr.,<br />

gest. um 50 n.Chr., war Leiter einer Gesandtschaft, die bei Kaiser Caligula im Jahre<br />

39/40 n. Chr. die Wie<strong>der</strong>herstellung jüdischer Bürgerrechte in Alexandria erreichen<br />

wollte. Ein Neffe von ihm unterhielt Handelsbeziehungen nach Arabien und Indien.<br />

Religiöses Hauptthema Philons ist <strong>der</strong> Aufstieg <strong>der</strong> von allem Sinnlichen gereinigten<br />

Seele zu Gott, dessen Transzendenz in <strong>der</strong> Schöpfung durch verselbständigte göttliche<br />

Kräfte, insbeson<strong>der</strong>e den Logos, vermittelt wird. Der Logos ist die Idee <strong>der</strong> Ideen, die<br />

Kraft <strong>der</strong> Kräfte, <strong>der</strong> oberste Engel, <strong>der</strong> Stellvertreter und Gesandte Gottes, <strong>der</strong> erstgeborene<br />

Sohn Gottes.


erstmals historisch in Erscheinung getreten sein, denn das Christentum<br />

ist ja heute Staatsreligion im römischen Reich.”<br />

„Ziehen wir die christlichen Quellen heran, so haben die Jünger<br />

Jesu, nachdem er ihnen nach seinem Tode erschienen ist, angefangen<br />

im jüdischen Volke die Lehren Jesu zu verbreiten.<br />

Gleichzeitig ist ein Diasporajude aus Tarsos, nachdem Christus<br />

sich ihm offenbart hat, von einem Gegner zu einem gläubigen Anhänger<br />

Christi geworden.<br />

<strong>Die</strong>ser Paulus ist deshalb so bedeutend, weil er aus diesen jüdischen<br />

Erkenntnissen Lehren für das ganze römische Weltreich gemacht<br />

hat und weil für ihn dieser jüdischen Messias Erlöser <strong>der</strong><br />

ganzen Menschheit ist. Durch seine Missionstätigkeit hat er den<br />

Monotheismus quasi aus seiner jüdischen Gefangenschaft befreit<br />

und Jahwe abgelöst durch das, was du Brahman nennst.<br />

Nur das Problem ist, auch dieser Paulus wird in außerchristlichen<br />

Quellen nicht erwähnt. Historisch fassbar ist ein Simon Magus,<br />

<strong>der</strong> bezeichnen<strong>der</strong>weise zur gleichen Zeit an den Orten auftaucht,<br />

an denen nach christlichen Quellen Paulus geweilt hat.<br />

Von ihm wird gesagt, dass er viele Wun<strong>der</strong> getan hat und viele Anhänger<br />

gefunden hat.”<br />

„Varahamihira, du musst Dir das so vorstellen, dieser Nährboden,<br />

von dem ich vorhin sprach”, erläuterte Simplikios, „war während<br />

<strong>der</strong> ersten hun<strong>der</strong>t Jahre damit beschäftigt, den in ihm versenkten<br />

Samen zum Keimen zu bringen. Man sieht die sich<br />

ausbreitenden <strong>Wurzel</strong>n nicht.”<br />

„Der erste, <strong>der</strong> versucht hat, die Spreu vom Weizen zu trennen,<br />

hier den neuen christlichen Glauben vom alten jüdischen”, ergänzte<br />

Protokos, „war meines Erachtens Markion von Sinope. Er wollte<br />

verhin<strong>der</strong>n, dass <strong>der</strong> christliche Glaube in seine alte jüdische<br />

Gefangenschaft zurückkehrte. Er bezog sich dabei auf die Briefe<br />

des Paulus an seine Gemeinden.<br />

Nur, bei unseren Studien zum Gnostizismus sind uns Zweifel<br />

gekommen, ob diese Briefe von Paulus, dem Zeltmacher, stammen.<br />

Wir glauben, dass diese Briefe von Markion und seinen


Anhängern geschrieben sind, hun<strong>der</strong>t Jahre nach dem Auftreten des<br />

historischen Paulus. Sie enthalten, genau wie das Johannis-<br />

Evangelium, sehr viele Vorstellungen <strong>der</strong> Gnosis.<br />

Anlass, so vermuten wir, war, dass er mit seinen Vorstellungen<br />

bei den christlich-jüdischen Gemeinden in Rom in ein Wespennest<br />

stieß, man ihn aus den Gemeinden ausschloss und er deshalb seine<br />

eigene Kirche gründete.”<br />

„Um auf mein Bild von den keimenden Samen im Nährboden<br />

zurückzukommen”, griff Simplikios den Faden wie<strong>der</strong> auf, „Was<br />

da als Früchte des Bodens sichtbar wurde, war eine Vielfalt von<br />

Glaubensvorstellungen. Damit das Christentum nicht in viele bedeutungslose<br />

und einan<strong>der</strong> bekämpfende Sekten zerfiel, musste<br />

man, wie Markion es vergeblich vorgemacht hatte, die Spreu vom<br />

Weizen trennen.<br />

Rom ist ja deshalb so groß geworden, weil es im Gegensatz zu<br />

allen an<strong>der</strong>en Völkern eine juristisch gut organisierte Verwaltungshierarchie<br />

besitzt, wie beson<strong>der</strong>s wir Griechen neidvoll anerkennen<br />

mussten. Und diese Vorstellung <strong>der</strong> hierarchischen Ordnung übernahmen<br />

die Christen gegen Ende <strong>der</strong> Adoptivkaiserzeit 43 und legten<br />

damit den Keim zu einer christlichen Kirche. Es war ja nur folgerichtig,<br />

dass die Bischöfe, als das Christentum staatlich<br />

anerkannt wurde, den Cäsaren, seit Konstantin, die Spitze <strong>der</strong><br />

Hierarchie antrugen und damit die Göttlichkeit <strong>der</strong> Cäsaren in<br />

den <strong>Die</strong>nst <strong>der</strong> Kirche stellten.”<br />

„Natürlich hat diese Vielfalt <strong>der</strong> Glaubensvorstellungen die<br />

Ausbreitung des Christentums geför<strong>der</strong>t. In den ersten drei Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />

ist um den Erhalt je<strong>der</strong> <strong>der</strong> heiligen Schriften erbittert<br />

43 Nach <strong>der</strong> Ermordung des letzten größenwahnsinnigen flavischen Kaisers Domitian<br />

im Jahre 96 n. Chr. setzte <strong>der</strong> römische Senat einen <strong>der</strong> Ihrigen, Nerva, als Kaiser ein.<br />

Er bestimmte seinen Adoptivsohn Trajan zum Nachfolger. Damit beginnt die Adoptivkaiserzeit,<br />

bei <strong>der</strong> <strong>der</strong> jeweilige Kaiser einen befähigten Nachfolger auswählt und adoptiert.<br />

Das 2. Jahrhun<strong>der</strong>t nach Christus gilt daher als das glanzvollste <strong>der</strong> römischen Geschichte.<br />

Es endet, als Kaiser Hadrian diese Regel durchbricht und seinen leiblichen Sohn<br />

Commodus zum Nachfolger bestimmt.


gekämpft worden. Erst die konstantinische Reichskirche konnte in<br />

ihren Reichssynoden ein einheitliches Neues Testament schaffen”,<br />

griff Protoklos die Vorstellungen von den unterschiedlichen Früchten<br />

des Nährbodens wie<strong>der</strong> auf.<br />

„Wie ich inzwischen gelernt habe, gehört das Matthäus-<br />

Evangelium dazu”, schaltete sich Vaharamihira in die Diskussion ein.<br />

„Wir hatten im Zusammenhang mit meinen Forschungen über<br />

die Präzession in Den<strong>der</strong>a über den Stern von Bethlehem gesprochen,<br />

<strong>der</strong> in diesem Evangelium erwähnt wird.”<br />

Dem überwiegenden Teil <strong>der</strong> Gesprächsrunde war die astronomische<br />

Problematik unbekannt, daher erläuterte Vaharamihira<br />

kurz seine gewonnenen Erkenntnisse.<br />

„Da dieser Stern von Bethlehem nicht einzuordnen war, vermutete<br />

ich, dass es sich um eine Konstellation <strong>der</strong> Wandelsterne handelt.<br />

<strong>Die</strong> Babylonier haben sich mit <strong>der</strong>en Bewegungen ausführlich<br />

beschäftigt. Ich glaube, ich habe in ihren Archiven eine Erklärung<br />

gefunden.<br />

Nach den Aufzeichnungen <strong>der</strong> Babylonier hat im Jahre 747<br />

nach Gründung Roms im Sternbild Fische eine Konjunktion des<br />

Planeten Marduk mit dem Planeten Ninurte stattgefunden, zu denen<br />

sich noch <strong>der</strong> Wandelstern Ischtar so hinzugesellte, dass diese<br />

3 Wandelsterne wie ein einziger Stern erschienen.<br />

<strong>Die</strong> Astrologen maßen <strong>der</strong> Konjunktion <strong>der</strong> langsamen Planeten<br />

Jupiter, wie Marduk bei den Griechen heißt, und Saturn, das ist<br />

<strong>der</strong> griechische Name für Ninurte, im Sternbild Fische eine beson<strong>der</strong>e<br />

Bedeutung für ein Volk zu. Da sich zu diesen Planeten Venus<br />

(Ischtar) hinzugesellte, muss es sich um eine Konstellation in <strong>der</strong><br />

Nähe <strong>der</strong> untergehenden Sonne, also für die Babylonier im Westen,<br />

gehandelt haben. Und das weist auf Palästina hin.”<br />

„Selbst wenn wir die Geschichte <strong>der</strong> Weisen aus dem Morgenland<br />

als nicht historisch ansehen, so hat doch <strong>der</strong> Erfin<strong>der</strong> dieser<br />

Legende astronomische Kenntnisse haben müssen”, stellte Gelinda<br />

bewun<strong>der</strong>nd fest. „Zumal die Venus in dieser Konstellation auf die<br />

kommende Bedeutung <strong>der</strong> Liebe, hier <strong>der</strong> Nächstenliebe, hinweist.”


„Übrigens, das, was Markion wollte, hat die Kirche bei <strong>der</strong><br />

Entwicklung des Neuen Testamentes praktiziert. Sie hat Christus<br />

in die Sätze des Alten Testamentes so hinein interpretiert, dass das<br />

Alte Testament als Vorläufer des Neuen Testaments erscheint”,<br />

ergänzte Simplikios.<br />

„Vorlage für diese Interpretationen war das Alte Testament in<br />

seiner griechischen Version, <strong>der</strong> Septuaginta”, bemerkte David,<br />

„den hebräischen Urtext hat die Kirche nicht anerkannt, zumal er<br />

sich vielfach dieser Allegorisierung wi<strong>der</strong>setzt.<br />

Mit <strong>der</strong> Zerstörung des Tempels in Jerusalem verschwindet die<br />

Kaste <strong>der</strong> Hohenpriester, <strong>der</strong> Priester und <strong>der</strong> Sadduzäer. An ihre<br />

Stelle treten die Rabbiner, die Gesetzeslehrer. Rabbi konnte je<strong>der</strong><br />

werden, unabhängig von Herkunft o<strong>der</strong> Titel, <strong>der</strong> die geistigen Fähigkeiten<br />

dazu hatte.<br />

Sie schufen in <strong>der</strong> gleichen Zeit, in <strong>der</strong> das Neue Testament<br />

entsteht, die Mischna, die jüdische Gesetzessammlung, und als<br />

Krönung hier am Euphrat den Babylonischen Talmud, die Sammlung<br />

des ganzen Stoffes <strong>der</strong> mündlichen Lehre.<br />

<strong>Die</strong>se jüdischen Schriftgelehrten haben sich natürlich gegen die<br />

Manipulation <strong>der</strong> Aussagen ihrer Propheten und gegen die Deutung<br />

des Alten Testamentes als Vorläufer des Neuen Testamentes<br />

gewehrt, doch gegen das Christentum als Staatsreligion des römischen<br />

Reiches war nichts auszurichten.”<br />

„Perkos, Du hast vorhin die Frage gestellt, warum es uns nicht<br />

gelungen sei, die Ideen Platons, die Erkenntnisse Plotins so zu<br />

verbreiten, dass sie Glaubensgut <strong>der</strong> Menschen werden konnten<br />

und sie damit gegen die Irrlehren <strong>der</strong> Christen gefeit gemacht hätten?”,<br />

griff Simplikios dessen Gedanken wie<strong>der</strong> auf.<br />

„<strong>Die</strong> Antwort ist sehr einfach. <strong>Die</strong> Christen haben, wie sie den<br />

Juden das Alte Testament wegmanipuliert haben, so die Ideen Platons,<br />

die Erkenntnisse Plotins in ihrer Christologie verarbeitet.<br />

Das hat mit Origenes begonnen und lässt sich verfolgen bis zu Augustinus.”<br />

„Wer war Origenes?”, erkundigte sich Varahamihira.


„Origenes war wohl <strong>der</strong> philosophisch bedeutendste Kirchenlehrer,<br />

den das Christentum bisher hervorgebracht hat. Um einen<br />

genauen Text des Alten Testamentes herzuleiten – vielleicht um<br />

auch die Einwendungen <strong>der</strong> jüdischen Schriftgelehrten zu wi<strong>der</strong>legen<br />

– verglich er in sechs nebeneinan<strong>der</strong> aufgeführten Texten die<br />

Septuaginta mit dem hebräischen Text in hebräischer Sprache,<br />

dem hebräischen Text in griechischer Übersetzung und den Übersetzungen<br />

dreier Kommentatoren.<br />

Bei seiner Auslegung <strong>der</strong> Texte ging er von einem dreifachen<br />

Schriftsinn aus, dem wörtlichen, dem psychischen und dem geistlichen<br />

Sinne, wobei für ihn <strong>der</strong> geistliche den Vorrang genoss.<br />

Auf Grund dieser Verbalinspiration entwickelte er eine göttliche<br />

Trinität, wobei <strong>der</strong> Sohn dem Vater untergeordnet ist wie <strong>der</strong><br />

Geist dem Sohn. Da er aber gleichzeitig die Wesenseinheit dieser<br />

drei Einheiten betont, kann das nur heißen, – um es in den Begriffen<br />

des Hinduismus zu formulieren –, dass sich das Atma des Christus<br />

mit dem Brahman verschmolzen hat, dass Christus sich zu<br />

Gott wie das Abbild zum Urbild verhält und dass die danach erfolgten<br />

Worte Christi Verkündigungen Gottes sind.<br />

Varahamihira, Du merkst die Verwandtschaft zwischen dem<br />

Hinduismus, Plotin und Origenes. Da Origenes zwanzig Jahre älter<br />

als Plotin war, nachweislich nicht in Indien gewesen ist, Plotin<br />

sein philosophisches Konzept erst nach dem Tode Origenes zur<br />

Reife gebracht hat, kann diese geistige Verwandtschaft zwischen<br />

Neuplatonismus und Hinduismus auch nicht in <strong>der</strong> Teilnahme<br />

Plotins am persischen Feldzug ihre <strong>Wurzel</strong> haben.<br />

Sowohl Origenes als auch Plotin waren Schüler des alexandrinischen<br />

Philosophen Ammonios Sakkas. Ob sie sich bei Sakkas begegnet<br />

sind, wissen wir nicht. Zur Zeit als Plotin bei Sakkas war,<br />

lehrte Origenes in Cäsarea. Plotin hat zeit seines Lebens Sakkas<br />

verehrt.<br />

Da Sakkas wie Sokrates keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen<br />

hat, können wir auf seine Bedeutung nur durch die Werke sei-


ner Schüler schließen. Ich vermute, was Sokrates für Plato war<br />

Sakkas für Origenes und Plotin 44 .<br />

Jedenfalls hat die Christusvorstellung des Origenes bis heute für<br />

Zündstoff in <strong>der</strong> Kirche gesorgt.”<br />

„Wieso?”, wollte Varahamihira wissen, für den diese Vorstellung<br />

mit seinen Glaubensvorstellungen durchaus konform ging.<br />

„Stelle Dir doch bloß einmal die Beispielwirkung vor”, schaltete<br />

sich David in die Diskussion ein, „da hat ein Yoga sein Atma mit<br />

dem Brahman verschmolzen, ist zum Abbild des Urbildes geworden.<br />

Das hat doch dazu geführt, dass viele sagten, was Christos<br />

kann, das kann ich auch. In den nächsten Hun<strong>der</strong>ten von Jahren<br />

saßen ungekämmte, schmutzige Männer in Höhlen, auf Bäumen<br />

und auf Bergspitzen und versuchten autark sich mit Gott zu vereinen.<br />

<strong>Die</strong>se Selbstverwirklichung, diese Autarkie, ist tödlich für eine<br />

auf Hierarchie aufgebaute Kirche. Sie musste alles tun und hat<br />

auch alles getan, um diesen Anachoreten klarzumachen, dass diese<br />

Verschmelzung nur ein einmaliger Vorgang gewesen sei, weil dieser<br />

Yoga Gottes Sohn war. Wenn diese Anachoreten Gott möglichst<br />

nahe kommen wollen, sollen sie Gott als Mönch in einem Kloster<br />

dienen.<br />

Eines dieser Klöster ist bei meiner Abreise aus Italien von einem<br />

Benedikt von Nursa unter dem Leitspruch Bete und Arbeite<br />

gegründet worden. Dort wird man diesen Eiferern den autarken<br />

Weg zu Gott schon austreiben.”<br />

44 Nach <strong>der</strong> Lehre Plotins (ca. 205 bis 270 n. Chr.) ist Gott das EINE, <strong>der</strong> Ursprung,<br />

aus dem alles fließt. Das erste, was das EINE aus sich entlässt, ist <strong>der</strong> Geist, <strong>der</strong> Nous.<br />

Das vom Geist ausstrahlende Licht ist die Seele. Da, wo die Seele sich mit einem Leib<br />

umkleidet, teilt sie das Schicksal des Leibes und wird sündig.<br />

Um sich aus <strong>der</strong> Gefangenschaft des Leibes zu befreien, muss die Seele zum EINEN<br />

zurückstreben. Sie muss danach trachten, ganz Geist zu werden. Je mehr Geist, je mehr<br />

Freiheit. Nur dadurch wird <strong>der</strong> Mensch zur reifen, sittlichen Person. Person ist nicht,<br />

sie wird erst.<br />

Auch bei <strong>der</strong> Lehre Plotins ist die Verwandtschaft zum Hinduismus unverkennbar.<br />

Nach allem muss <strong>der</strong> in Alexandria 242 n. Chr. verstorbene Ammonios Sakkas ein In<strong>der</strong>,<br />

vielleicht sogar ein Brahmane gewesen sein.


„Der nächste Streit begann”, nahm Simplikios den Faden wie<strong>der</strong><br />

auf, „als <strong>der</strong> Diakon Arius vor zweihun<strong>der</strong>t Jahren in Alexandria<br />

mit aristotelischer Logik bewies, Christus käme die Wesensgleichheit<br />

mit Gott nicht zu, da er nicht ewig, son<strong>der</strong>n ein<br />

sterbliches Geschöpf gewesen sei.”<br />

„Also keine Biene aus <strong>der</strong> kretischen Laube”, murmelte David<br />

so leise, dass nur Varahamihira ihn verstand.<br />

„Für die Arianer”, erklärte Simplikios, „ist in den menschlichen<br />

Leib und die menschliche Seele Jesu <strong>der</strong> göttliche Logos hineingekommen.<br />

Folglich sei Maria die Mutter Jesu und nicht die Gottesmutter.<br />

Für die Gegenseite hat sich das göttliche Wort mit dem<br />

menschlichen Leib Jesu, <strong>der</strong> selbst keine menschliche Seele besitze,<br />

verbunden und ihn dadurch von <strong>der</strong> Endlichkeit und <strong>der</strong> Geschöpflichkeit<br />

befreit. Damit war vereinbar, dass Maria eine Gottesgebärerin<br />

war. Das kam den christlichen Massen entgegen, die<br />

im christlichen Glauben eine Göttin, vergleichbar <strong>der</strong> Isis, vermissten.<br />

So wurde durch Umbenennung aus <strong>der</strong> Gottesmutter Isis die<br />

Gottesmutter Maria 45 .”<br />

„<strong>Die</strong>se zuletzt von Simplikios geschil<strong>der</strong>te Version hat im oströmischen<br />

Reich den Sieg davon getragen”, ergänzte Gelinda.<br />

„Wenn es Justinian gelingt, das Mare nostrum, das alte römische<br />

Weltreich wie<strong>der</strong> herzustellen, das heißt die Vandalen aus <strong>der</strong> Cyreneika<br />

und Numidien, die Ostgoten aus Italien und die Westgoten<br />

aus Spanien zu vertreiben, dann vernichtet er gleichzeitig den<br />

in diesen germanischen Reichen herrschenden Arianismus und bestätigt<br />

so seine Stellung als oberster Schirmherr <strong>der</strong> Kirche.”<br />

<strong>Die</strong> Sonne war untergegangen und nach einer kurzen Dämmerung<br />

die Nacht hereingebrochen. Simplikios rief nach den Bedien-<br />

45 <strong>Die</strong> Göttin Isis stammt ursprünglich aus <strong>der</strong> ägyptischen Götterwelt. Sie war die<br />

Tochter des Gottes Keb (Erde) und <strong>der</strong> Göttin Nut (Himmel). Sie war Braut und Schwester<br />

von Osiris, dem Richter <strong>der</strong> Toten, und Mutter von Horus, dem Himmelsgott.<br />

Sie galt als die Göttin <strong>der</strong> Fruchtbarkeit und <strong>der</strong> Mutterschaft. Nach dem griechischen<br />

Geschichtsschreiber Herodot ist sie identisch mit Demeter, <strong>der</strong> griechischen Göttin des<br />

Ackerbaus.


steten und gab Befehl, Lichter auf die Terrasse zu bringen und<br />

neue Erfrischungen zu reichen.<br />

„Als Hindu erscheint mir das alles als ein durch die Hintertür<br />

wie<strong>der</strong> eingeführter Polytheismus”, nahm Varahamihira den Gesprächsfaden<br />

wie<strong>der</strong> auf.<br />

„Was ist, wenn, unterstellt Justinian erreicht seine Ziele, irgendein<br />

Yoga eine Erleuchtung bekommt und erklärt, ihm sei von<br />

Gott die endgültige und vollkommene Wahrheit verkündigt. Man<br />

dürfe nur Gott und keinen an<strong>der</strong>en anbeten. Er selbst und alle seine<br />

Vorgänger seien nur Propheten.”<br />

„Dann bekommt das Christentum ein Problem”, war die tiefe<br />

Überzeugung Davids.<br />

„Zumal dann, wenn dieser neue Prophet die Erbsünde bestreitet<br />

und die Erlösung <strong>der</strong> Menschen nur von ihren guten Taten hier<br />

auf Erden abhängig macht.<br />

Bei meinem Aufenthalt in <strong>der</strong> Eleatenschule in Velia las ich in<br />

den Werken des Kirchenlehrers Augustinus. <strong>Die</strong> Texte sind lateinisch,<br />

nicht griechisch, abgefasst. Es ist möglich, dass sie deshalb<br />

<strong>der</strong> Akademie nicht vorgelegen haben. Für die römischen Neuplatoniker<br />

sind diese Texte insofern interessant, weil Augustinus stärker<br />

noch als Origenes die Lehren <strong>der</strong> Stoa und die des Plotin für<br />

seine Diskussionen über christliche Glaubensfragen verwendet.<br />

In einem seiner Hauptwerke, den Confessiones, setzt sich Augustinus<br />

mit <strong>der</strong> Erbsünde auseinan<strong>der</strong>, die die Menschen, so seine<br />

christliche Überzeugung, seit dem Sündenfall Adams im Paradies<br />

von Generation zu Generation vererbt bekommen. Ob sie als<br />

Mensch erlöst werden, hänge nicht von ihren guten Werken hier<br />

auf Erden ab, son<strong>der</strong>n allein von <strong>der</strong> Gnade Gottes. Es mag bei<br />

dieser seiner Überzeugung die Schwäche seines eigenen Fleisches<br />

während seines irdischen Lebens eine Rolle gespielt haben, doch<br />

wurde diese Überzeugung zum Allgemeingut christlicher Lehre,<br />

obgleich sich <strong>der</strong> Kirchenlehrer Pelagius darüber empörte, dass unschuldige<br />

Kin<strong>der</strong> mit dieser Erbsünde behaftet sein sollen.”


Im Osten kündigte ein roter Schein den baldigen Aufgang des<br />

Vollmondes an.<br />

„Das Christentum wird unabhängig von <strong>der</strong> Hypothese Varahamihiras<br />

in Zukunft ein Problem bekommen”, behauptete Gelinda.<br />

„Auch in <strong>der</strong> Bibliothek von Alexandria gibt es die Schriften des<br />

Augustinus. Ich habe mich als Historikerin mit dem Gottesstaat,<br />

De civitate Dei, auseinan<strong>der</strong>gesetzt. Mir sind bei <strong>der</strong> Lektüre Vergleiche<br />

mit Ägypten zur Zeit Echnatons und mit Juda in <strong>der</strong> Spätphase<br />

durch den Kopf geschossen.<br />

Was wird, wenn <strong>der</strong> Gleichklang <strong>der</strong> Interessenlage zwischen<br />

weltlicher Ausdehnung des Reiches und Bekehrung <strong>der</strong> Heiden<br />

zum Christentum seinen Abschluss gefunden hat, aus <strong>der</strong> Macht<br />

im Reich? Werden die Cäsaren unbeschränkt ihre Macht behalten<br />

o<strong>der</strong> werden die Priester, unter dem Deckmantel des Gottesstaates<br />

ihre eigene Macht über die <strong>der</strong> Cäsaren stellen wollen?<br />

Zwar ist auch für Augustinus eine aus machtpolitischen Gründen<br />

von den Priestern angestrebte Vorherrschaft im Staat kein<br />

Gottesstaat. Aber wird die Priesterkaste das zugeben?”<br />

Schweigen breitete sich in <strong>der</strong> Runde aus. Der Mond stand als<br />

riesiger roter Ball dicht über dem Horizont. Sein roter Schein ließ<br />

die Wellen des Tigris wie kleine Feuerzungen erscheinen.<br />

„Und was wird aus den Philosophenschulen werden”, fragte<br />

Perkos bang.<br />

„Philosophenschulen wird es im römischen Reich nicht mehr<br />

geben”, war sich Simplikios klar.<br />

„Das Christentum kann eine von ihr unabhängige Weltanschauung<br />

nicht dulden.<br />

Aber <strong>der</strong> Geist Platons und seiner Nachfolger bis hin zu Plotin<br />

wird in den christlichen Kirchenlehrern und in den Klöstern weiterleben.<br />

Dafür spricht die Fülle unserer philosophischen Erkenntnisse,<br />

die sie als Lehren in ihren Glaubenskanon eingearbeitet haben.<br />

„Und was wird das Schicksal Deines jüdischen Volkes sein?”,<br />

wandte sich Simplikios David zu.


Davids Finger seiner rechten Hand hatten mit <strong>der</strong> <strong>Wurzel</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Alraune</strong> gespielt. Plötzlich hatte er das Gefühl, als würde die <strong>Wurzel</strong><br />

in seiner rechten Hand zu brennen anfangen.<br />

Wie unter einem Zwang formulierten seine Lippen:<br />

„<strong>Die</strong> Zerstreuung des jüdischen Volkes ist seine Chance. Um<br />

seinen Glauben zu bewahren, muss je<strong>der</strong> Jude lesen und schreiben<br />

können. Das jüdische Volk wird das einzige Volk ohne Analphabeten<br />

sein. Daher werden die Juden in ihrer nichtjüdischen Umgebung<br />

als weiser, klüger und erfahrener angesehen werden. Viele<br />

werden zu einflussreichen Beratern ihrer nichtjüdischen Fürsten<br />

aufsteigen.<br />

Das Beharren in ihrem Glauben als auserwähltes Volk, <strong>der</strong> Neid<br />

auf ihre Erfolge sowie die Hinweise christlicher Priester, dass sie<br />

Jesus ans Kreuz geliefert haben, werden aber immer wie<strong>der</strong> zu antijüdischen<br />

Pogromen führen.<br />

Ich sehe für das jüdische Volk keinen Ausweg aus dieser Ambivalenz<br />

des Schicksals.”<br />

Das Brennen <strong>der</strong> <strong>Wurzel</strong> in seiner rechten Hand hatte aufgehört.<br />

David löste sich aus seiner Starrheit. Gleichzeitig fühlte er,<br />

wie sich die Hand Gelindas tröstend auf seinen linken Arm legte.<br />

Der Vollmond stand jetzt hoch über dem Fluss. Sein Licht<br />

tauchte den Tigris in ein silbernes von Horizont zu Horizont reichendes<br />

Band.


2. Monotheismus: «Sic et non»<br />

„Wir haben genau die Situation, die mein verehrter Oheim,<br />

Papst Innozenz III. immer vermeiden wollte. Der Kirchenstaat ist<br />

eingezwängt durch kaiserliches Gebiet.<br />

Um das zu verhin<strong>der</strong>n hatte er nach seiner Wahl zum Papst<br />

1198 die Chance, die ihm die Vormundschaft über den zweijährigen<br />

Sohn Friedrich Roger aus <strong>der</strong> Ehe des Kaisers Heinrich VI. mit<br />

Konstanze, <strong>der</strong> Erbin von Sizilien, bot, genutzt und den Welfen<br />

Otto von Braunschweig als Nachfolger des Staufers Heinrich VI.<br />

favorisiert.<br />

Ein Welfe in Deutschland und ein von seinem Lehnsherrn, dem<br />

Papst, abhängiger Staufer in Sizilien wäre das Ende <strong>der</strong> Sorge um<br />

die Einkreisung des Kirchenstaates gewesen.Ich selbst habe als<br />

Mitglied <strong>der</strong> Kurie, zunächst als Kardinaldiakon und später als Kardinalbischof<br />

an <strong>der</strong> Vorbereitung dieser Kirchenpolitik mitgewirkt.”<br />

Der so zu seinem Vertrauten Sinibald Fieschi sprach, war <strong>der</strong><br />

vor drei Tagen nach dem Tode des Papstes Honorius III. zum<br />

Papst gewählte Ugolino, Graf von Segni.<br />

„<strong>Die</strong>se Politik ist doch auch aufgegangen. Nach <strong>der</strong> Ermordung<br />

Philipp von Schwabens sind doch auch die den Bru<strong>der</strong> Heinrichs<br />

favorisierenden deutschen Fürsten mit <strong>der</strong> Wahl Ottos einverstanden<br />

gewesen. Und Euer Oheim hat ihn doch 1209 als Otto IV.<br />

zum deutschen Kaiser gekrönt.”<br />

„Als Otto mit Heeresaufgebot im Sommer 1209 nach Italien<br />

kam, merkten wir schon vor <strong>der</strong> Krönung, dass die Legaten Ottos<br />

sich nicht an die geheimen Zugeständnisse Ottos bezüglich <strong>der</strong>


Neuerwerbungen des Kirchenstaates hielten 46 . Wir drängten daher<br />

auf Veröffentlichung <strong>der</strong> Geheimabkommen, denn uns war klar,<br />

dass die kaiserlichen Legaten juristisch korrekt handelten, solange<br />

sie nicht von den Vereinbarungen Kenntnis hatten.<br />

Otto vertröstete uns auf einen Zeitpunkt nach seiner Krönung.<br />

Doch er zog im November 1209 nach seiner Krönung mit seinem<br />

Heeresaufgebot nicht nach Norden, son<strong>der</strong>n nach Süden, angeblich<br />

um den geplanten Kreuzzug vorzubereiten.<br />

Als er dann im Januar 1210 zwei seiner Anhänger mit <strong>der</strong> Mark<br />

Ancona und dem Herzogtum Spoleto belehnte und mit Pisa einen<br />

Beistandspakt abschloss, <strong>der</strong> ihm zum Übersetzen nach Sizilien<br />

Galeeren zusagte, sahen wir unser Misstrauen bestätigt.<br />

Ein Welfe, <strong>der</strong> das Königreich Sizilien als kaiserliches Lehen<br />

einzog, <strong>der</strong> als Welfe im kaiserlichen Norditalien sowohl die Anhänger<br />

<strong>der</strong> Staufer als auch die <strong>der</strong> Welfen auf seiner Seite wusste,<br />

<strong>der</strong> zudem das volle Vertrauen <strong>der</strong> deutschen Fürsten genoss, wäre<br />

mächtiger als Heinrich VI. geworden. Unser Kirchenstaat wäre<br />

über kurz o<strong>der</strong> lang genau so eingezogen worden wie die Mark Ancona<br />

und das Herzogtum Spoleto.<br />

Wir haben daher sofort reagiert und in Schreiben an das deutsche<br />

Episkopat und an den König von Frankreich den Kirchenbann<br />

über Otto wegen Verletzung von Kirchengut angekündigt und<br />

bald darauf durch Innozenz auch aussprechen lassen.<br />

Unseren diplomatischen Bemühungen ist es dann gelungen, eine<br />

oppositionelle Fürstengruppe dazu zu bewegen, Friedrich Roger<br />

zum deutschen König zu wählen.<br />

<strong>Die</strong> weitere Entwicklung, Sinibald, ist Dir bekannt. Als Otto<br />

1218 starb, hat mein Vorgänger Honorius III. unter meiner Assistenz<br />

Friedrich zum Deutschen Kaiser gekrönt. Vorher hatte<br />

46 Im Jahre 1198 hatte Papst Innocenz III., die Gunst des Machtvakuums nach dem<br />

Tode Kaiser Heinrich VI. im Jahre 1197 ausnutzend, die Mark Ancona und das Herzogtum<br />

Spoleto dem Kirchenstaat einverleibt. Als Preis für die päpstliche Kaiserkrönung,<br />

sollte Otto, wie er geheim im sogenannten „Neußer Eid” zugesagt hatte, diese<br />

Okkupation legalisieren.


Friedrich, was Dir wahrscheinlich nicht bekannt ist, zugesagt, auf<br />

Sizilien zugunsten seines Sohnes zu verzichten und das Kreuz zu<br />

nehmen.<br />

Stattdessen hat er, unter dem Vorwand, die Nachfolge im Reich<br />

müsse geregelt sein, wenn er zum Kreuzzug aufbreche, nach seiner<br />

Krönung seinen Sohn zum deutschen König wählen lassen und sich<br />

selbst <strong>der</strong> Verwaltungsreform in Sizilien gewidmet.<br />

Sinibald, Du erinnerst Dich, wir beide haben im Vorjahr die<br />

Politik Friedrichs in <strong>der</strong> Kurie analysiert und festgestellt, dass er im<br />

Grunde die gleiche Politik wie Otto verfolgt, nur nicht vom Norden<br />

her, son<strong>der</strong>n vom Süden aus. Dafür braucht er im Reich Frieden,<br />

deshalb die Zugeständnisse, die er den geistlichen und weltlichen<br />

Fürsten gewährte. Er nimmt uns gleichzeitig damit die<br />

Möglichkeit, über die geistlichen Fürsten Druck auf ihn auszuüben.<br />

Ich kenne ihn. Er ist hochintelligent, zielstrebig, skrupellos und<br />

versucht, im Gegensatz zu Otto, sich keine Blöße zu geben.<br />

Deshalb haben wir ja nach <strong>der</strong> Analyse den lombardischen Städten<br />

klar zu machen versucht, dass Friedrich nach <strong>der</strong> erfolgreichen<br />

Reform im Königreich Sizilien, bei <strong>der</strong> er zur Zeit die Lehnsherrschaft<br />

abschafft und die Lehnsherren durch kaiserliche Verwaltungsministralen<br />

ersetzt, dieselben Reformen in <strong>der</strong> Lombardei<br />

durchführen wird. Der lombardische Bund, als Verteidigungsbund<br />

gegen die Ambitionen des Kaisers im Vorjahr geschlossen, hat uns<br />

an <strong>der</strong> Nordflanke vorläufig Entlastung verschafft.<br />

Den Namen Gregor IX., den ich für mein Pontifikat gewählt<br />

habe, wird Friedrich als Fehdehandschuh sehr wohl verstehen, die<br />

Priorität des Gottesstaates vor dem Weltstaat, so wie mein großer<br />

Vorgänger Gregor VII. es gegenüber Heinrich IV. praktiziert hat.“ 47<br />

47 Gregor VII., Papst von 1073 bis 1085, hatte die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Cluniacenser, Freiheit<br />

<strong>der</strong> Kirche vom Staat, erweitert um die For<strong>der</strong>ung, Herrschaft <strong>der</strong> Kirche über den<br />

Staat. Der Kaiser führe das weltliche, <strong>der</strong> Papst das geistliche Schwert. Beide Schwerter habe<br />

Gott dem heiligen Petrus verliehen. Das weltliche leihe <strong>der</strong> Papst, als Nachfolger Petri dem Kaiser.


„Eure Heiligkeit, Friedrich muss doch in diesem Jahr sein<br />

Kreuzzugsversprechen einlösen, will er nicht wegen Verletzung seines<br />

Eides den Bannspruch riskieren, den ihm Euer Vorgänger,<br />

Honorius III. im Vorjahr angedroht hat. Und, wenn er durch die<br />

Wie<strong>der</strong>eroberung des Königreiches Jerusalem möglichst lange gebunden<br />

ist, haben wir doch in Sizilien freie Hand.”<br />

„Schon, doch ich durchschaue noch nicht, welche dynastischen<br />

Pläne Friedrich durch seine Vermählung vor zwei Jahren mit Jolante,<br />

<strong>der</strong> Tochter Johanns von Brienne, des Titularkönigs von Jerusalem<br />

48 , verfolgt. Äußerlich dokumentiert Friedrich damit die Ernsthaftigkeit<br />

seiner Kreuzzugsabsicht. Aber was steckt dahinter?<br />

Unmittelbar nach <strong>der</strong> Vermählung mit <strong>der</strong> noch nicht volljährigen<br />

Jolante hat Friedrich doch von Johann von Brienne den Verzicht<br />

auf alle königlichen Rechte und die Herausgabe <strong>der</strong> finanziellen<br />

Hilfsgel<strong>der</strong> gefor<strong>der</strong>t, die <strong>der</strong> König von Frankreich zur<br />

Unterstützung des Heiligen Landes dem Titularkönig überlassen<br />

hat. Auch das lässt sich begründen, dienen diese Gel<strong>der</strong> doch zur<br />

Finanzierung des Kreuzzuges.<br />

Wir können zwar den zu uns in den Kirchenstaat geflüchteten<br />

Johann von Brienne schützen, doch wir können juristisch die<br />

Handlungsweise des Staufers nicht verurteilen.”<br />

„So, sie haben also Hugo, den Grafen Segni, zum Papst erkoren.<br />

Und den Namen Gregor hat er gewählt. Gut, wir werden sehen,<br />

wer in diesem Streit letztlich <strong>der</strong> Sieger sein wird!”<br />

Durch den Kirchenbann, den Gregor VII. über Heinrich IV. verhängt hatte, waren die<br />

deutschen Bischöfe, die gleichzeitig Lehnsherren des Kaisers waren, angewiesen, Heinrich<br />

die Gefolgschaft zu verweigern. Er konnte sich nur durch den „Gang nach Canossa”<br />

von diesem Kirchenbann befreien. Im jahrelangen Streit danach brachte Heinrich IV.<br />

die deutschen Reichsfürsten wie<strong>der</strong> auf seine Seite. 1084 erobert <strong>der</strong> Salier Rom und<br />

lässt sich durch den Gegenpapst Clemens III. zum Kaiser krönen. Gregor VII. flieht<br />

nach Süditalien, wo er ein Jahr später in Salerno im Gefühl <strong>der</strong> vollen Nie<strong>der</strong>lage stirbt.<br />

48 Seit Saladin, dem Lessing in „Nathan <strong>der</strong> Weise” literarisch ein Denkmal gesetzt hat,<br />

1187 Jerusalem erobert hatte, waren die Nachfolger Guidos von Lusignan, des letzten<br />

Königs von Jerusalem, nur noch dem Titel nach Könige von Jerusalem.


Friedrich hielt in <strong>der</strong> Hand das Schreiben, in dem ihm die vor<br />

zwei Tagen erfolgte Papstwahl gemeldet wurde.<br />

Er wandte sich um und rief nach einem Bediensteten.<br />

„Man hole mir Tariq!<br />

Ich unter dem Druck des Kirchenbanns, Kalif al-Malik al-Kamil<br />

im Kampf mit seinen beiden Brü<strong>der</strong>n 49 um den Nachlass des großen<br />

Saladins, <strong>der</strong> den Christen Jerusalem weggenommen hat; gibt<br />

es zwei idealere Partner für einen friedlichen Interessenausgleich<br />

über Jerusalem?”<br />

„Herr, Ihr habt mich rufen lassen?”<br />

Der herein tretende Vertraute des Kaisers riss Friedrich aus seinen<br />

Gedanken.<br />

„Tariq, Ihr seid zu mir gekommen, um mich um Urlaub zu bitten,<br />

weil Ihr als Mohammedaner eine Hadsch, eine Pilgerfahrt<br />

nach Mekka, machen wollt. Er sei Euch hiermit gewährt.”<br />

Tariq schaute verständnislos drein.<br />

„Aber ich will doch gar nicht nach Mekka!”<br />

„Tariq, Ihr sollt doch auch nicht nach Mekka, son<strong>der</strong>n nur<br />

nach Kairo reisen. Doch wenn man Euch fragt, wo Ihr hin wollt,<br />

gebt Ihr Mekka und als Grund Eure Pilgerfahrt an. Deshalb werdet<br />

Ihr auch nicht mit einer kaiserlichen Galeere reisen, son<strong>der</strong>n<br />

als Pilger mit irgendeinem Handelsschiff.<br />

In Kairo sucht Ihr den Kalifen auf, zeigt ihm diesen Ring. Er<br />

kennt ihn, das ist <strong>der</strong> Siegelring des Titularkönigs von Jerusalem.<br />

Versteckt den Ring sorgfältig. Er ist Eure einzige Legitimation. Ihr<br />

bekommt von mir kein Schreiben mit, damit Eure Mission nicht<br />

verraten werden kann.<br />

So Tariq, nun prägt Euch folgende Sätze ein, die Ihr dem Kalifen<br />

von mir sagen sollt!<br />

Sultan, ich komme von Kaiser Friedrich. Er bittet Euch, mir einen<br />

49 Sowohl Saladin, <strong>der</strong> mit dem Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> Fatamiden in Ägypten die kurdischstämmige<br />

Dynastie <strong>der</strong> Ayyubiden begründete, als auch sein Nachfolger al-Adil teilten<br />

das Reich vor ihrem Tode, so dass sich al-Adil selbst als auch al-Kamil in Machtkämpfen<br />

gegen ihre Miterben im Kampf um das Reich durchsetzen mussten.


Mann Euren Vertrauens mitzugeben, <strong>der</strong> mit ihm Modalitäten<br />

ausarbeitet, wie die Interessengegensätze des Königreiches Jerusalem<br />

und des Kalifats Ägypten friedlich beigelegt werden können.<br />

Tariq, ich erwarte Euch mit dem Abgesandten des Kalifen spätestens<br />

bis Ende August in Otranto. Nehmt für die Rückfahrt ein<br />

ägyptisches Schiff bis Kreta. In Kandia erwartet Euch eine kaiserliche<br />

Galeere. Ein ägyptisches Schiff würde in Otranto zuviel Aufsehen<br />

erregen.”<br />

An diesem frühen Morgen verließ Josef ben Jehuda ibn Aknin<br />

wie immer pünktlich sein Haus, um im Palast des Kalifen seinen<br />

ärztlichen Verpflichtungen nachzukommen. <strong>Die</strong> Straße war um diese<br />

Morgenstunde noch leer, bis auf einen Mann in unscheinbarer<br />

Kleidung, <strong>der</strong> nun auf ihn zukam.<br />

„Ihr seid Josef ben Jehuda, <strong>der</strong> Leibarzt des Kalifen?”<br />

„Ja, doch warum fragt Ihr?”<br />

„Ich versuche seit Tagen zum Kalifen zu gelangen. Ich habe eine<br />

wichtige Botschaft für ihn. Doch man lässt mich nicht in den Palast.”<br />

„Und Ihr meint, in meiner Gesellschaft würde man Euch einlassen?<br />

Da irrt Ihr Euch. Wer seid Ihr überhaupt?”<br />

Der Fremde schien die letzte Frage zu überhören. Stattdessen<br />

nestelte er aus seinem Turban einen kostbaren Ring.<br />

„Bitte, nehmt diesen Ring an Euch und zeigt ihn dem Kalifen.<br />

Er kennt diesen Ring. Sagt ihm <strong>der</strong> Überbringer dieses Ringes habe<br />

ihm von dem Träger dieses Ringes eine wichtige Botschaft zu<br />

übermitteln.”<br />

Josef schaute den Ring an. Es war ein sehr kostbarer Siegelring<br />

mit christlichen Motiven. Prüfend schaute er den Fremden an.<br />

„Ihr müsst Gründe haben, dass Ihr mir Euren Namen nicht sagen<br />

wollt. Ich werde Euch trotzdem helfen. Dass Ihr mir einen<br />

solch kostbaren Ring anvertraut, spricht für Euch. Wartet vor dem<br />

Palast auf mich.”<br />

Josef betrat den Palast. Der Kalif lag noch auf seinem Diwan.<br />

„Josef, ich habe zwar schlecht geträumt. Aber gesundheitlich


habe ich keine Beschwerden. Lasst Euch in den Harem führen,<br />

damit Ihr die Wehwehchen meiner Konkubinen und ihrer Kin<strong>der</strong><br />

pflegen könnt.”<br />

Al Malik al Kâmil merkte, dass Josef zögerte:<br />

„O<strong>der</strong> ist noch etwas?”<br />

Josef erzählte, was ihm diesen Morgen auf dem Weg zum Palast<br />

begegnet war und überreichte dann dem Kalifen den Ring.<br />

Al Malik al Kâmil wog den Ring prüfend in seiner Hand. Er war<br />

aufgestanden und zum Fenster gegangen, um den Ring genauer betrachten<br />

zu können. Dann drehte er sich zu Josef um.<br />

„Und er hat Euch we<strong>der</strong> seinen Namen genannt, noch etwas<br />

über die Botschaft verlauten lassen? Und was hat Euch bewogen,<br />

ihm zu glauben?”<br />

Josef schaute dem Kalifen fest in die Augen.<br />

„Weil das <strong>der</strong> Ring des Königs von Jerusalem sein muss. Und<br />

weil <strong>der</strong> Träger dieses Ringes <strong>der</strong> Stauferkaiser Friedrich ist. Und<br />

weil <strong>der</strong> Mann da unten”, Josef zeigte auf die Gestalt vor dem Palast,<br />

„wahrscheinlich ein sizilianischer Edler ist.”<br />

„Josef, ich weiß zwar um Euren messerscharfen Verstand, aber<br />

Ihr überrascht mich immer wie<strong>der</strong>. Könnt Ihr mir vielleicht auch<br />

etwas über die Botschaft sagen?”<br />

„Friedrich muss den Kreuzzug führen, will er nicht den Kirchenbann<br />

riskieren. Bei einem langen kriegerischen Kreuzzug<br />

droht Gefahr für Sizilien durch den Kirchenstaat. Vermutlich<br />

sucht er einen Interessenausgleich mit Euch.”<br />

Der Kalif ging gedankenverloren im Zimmer auf und ab. Dann<br />

wandte er sich wie<strong>der</strong> Josef zu.<br />

„Ich werde mir die Botschaft des Fremden anhören. Geht jetzt<br />

in den Harem. Aber kommt, wenn <strong>der</strong> Fremde gegangen ist, wie<strong>der</strong><br />

zu mir.”<br />

Im Anschluss an seine ärztliche Visite kehrte Josef wie<strong>der</strong> zurück.<br />

„Josef, Eure Analyse hat gestimmt. Kaiser Friedrich bittet mich,<br />

ihm einen Mann meines Vertrauens zu schicken, <strong>der</strong> mit ihm die<br />

Modalitäten des Interessensausgleich aushandelt.”


Al Malik al Kâmil machte eine Pause, dann fuhr er fort:<br />

„Ich habe dabei an Euch gedacht.Erstens steckt Ihr schon in <strong>der</strong><br />

Sache drin. Zweitens seid Ihr als Arzt eine Privatperson. Man vermutet<br />

in Euch keinen offiziellen Emissär. Drittens seid Ihr, von<br />

Eurem Lebenslauf her, <strong>der</strong> ideale Gesprächspartner für diesen<br />

hochintelligenten und wissbegierigen Herrscher.<br />

Mit Euch wird <strong>der</strong> Emir Fahr ed-Din als Euer medizinischer<br />

Gehilfe reisen.”<br />

So kam es, dass die Vertrauten des Sultans und Tariq Ende Juli<br />

1227 mit einem ägyptischen Handelsschiff nilabwärts nach Kreta<br />

segelten, wo sie von einer sizilianischen Galeere in Kandia schon<br />

erwartet wurden.<br />

Ende August bezogen die ägyptischen Gäste ihr Quartier im<br />

Jagdschloss des Kaisers in Otranto. Tariq war direkt nach Brindisi<br />

hinüber geritten, um dem dort mit <strong>der</strong> Vorbereitung des Kreuzzuges<br />

beschäftigten Kaiser ihre Ankunft zu melden.<br />

Josef hatte sich an diesem Morgen, man schrieb den 7. September<br />

1227, in Abelaerds Sic et Non vertieft, als Pferdegetrappel und<br />

Hundegebell ihn aufschauen ließ. Ein kaiserlicher Tross mit einer<br />

Sänfte näherte sich dem Schloss.<br />

Wenig später betrat ein hochgewachsener Herr die Gemächer<br />

<strong>der</strong> Ägypter.<br />

„Ich bin Berardo, Erzbischof von Palermo. Bei den Kreuzfahrern<br />

in Brindisi ist eine Seuche ausgebrochen. Der Kaiser hat angeordnet,<br />

dass seine Gemahlin sofort nach hier in Sicherheit gebracht<br />

werde. Er hat mir auch vor meinem Aufbruch gesagt, dass er sich<br />

hier mit Abgesandten des Sultans von Ägypten treffen wolle.”<br />

Der Erzbischof hatte sich zunächst an Josef gewandt. Doch <strong>der</strong><br />

Gehilfe ergriff das Wort.<br />

„Ich bin Emir Fahr ed-Din und das ist Josef ben Jehuda ibn<br />

Aknin, <strong>der</strong> Leibarzt des Kalifen. Er wird Euch gerne ärztlich zur<br />

Seite stehen. Beschreibt uns, was Ihr von dem Erscheinungsbild<br />

<strong>der</strong> Seuche mitbekommen habt.”


„<strong>Die</strong> Kranken hatten hohes Fieber und Durchfall. Es schien<br />

mir, als flöße alle Flüssigkeit aus ihnen heraus. <strong>Die</strong> Toten wirkten<br />

wie vertrocknet.”<br />

„Eminenz, seid Ihr sicher”, gab Josef zu bedenken, „dass keiner<br />

des Trosses von <strong>der</strong> Seuche angesteckt ist?”<br />

Der Erzbischof zuckte mit den Achseln.<br />

„Ich empfehle Euch dann”, fuhr Josef fort, „haltet die Ankömmlinge<br />

von <strong>der</strong> Schlossbesatzung getrennt, lasst sie zwei Tage lang<br />

fasten und nur Tee aus diesen Kamillenblüten trinken. Sind bis<br />

dahin keine Symptome aufgetreten, ist die Seuche nicht eingeschleppt<br />

worden.”<br />

Am Tage nach <strong>der</strong> Entlassung des kaiserlichen Trosses aus <strong>der</strong><br />

Quarantäne lief die Galeere des Kaisers in den Hafen ein. Eingedenk<br />

<strong>der</strong> Warnungen des ägyptischen Leibarztes ließ Berardo nur<br />

Friedrich und dessen Schwager, den Landgrafen von Thüringen,<br />

beide von <strong>der</strong> Seuche gezeichnet, in abgetrennte Kammern des<br />

Schlosses bringen. Tariq und die Schiffsbesatzung mussten sich auf<br />

<strong>der</strong> Galeere <strong>der</strong> Quarantäneprozedur unterwerfen.<br />

Der Landgraf starb am Tage nach <strong>der</strong> Ankunft 50 . Der Zustand<br />

des Kaisers hatte sich zusehends verschlechtert.<br />

„Josef, rettet mir das Leben meines Herrn!”<br />

Josef sah den Erzbischof an.<br />

„Das Leben des Menschen liegt in Gottes Hand. Aber ich will<br />

alles versuchen, Eurem Herrn zu helfen. Nur verlange ich, dass<br />

kein fränkischer Arzt meinen Anordnungen zuwi<strong>der</strong> handeln darf.”<br />

Der Kaiser lag frisch gewaschen auf seinem Lager. Fieber schüttelte<br />

und Leibschmerzen krümmten ihn.<br />

Im Vorzimmer entnahm <strong>der</strong> Leibarzt des Kalifen seinem Medikamentenbeutel<br />

ein Pulver und schüttete es in einem Becher mit<br />

Quellwasser. Berardo fuhr erschrocken zurück, als er sah, wie das<br />

50 <strong>Die</strong> Witwe des Landgrafen von Thüringen, die heilige Elisabeth, wurde <strong>der</strong> Engel<br />

<strong>der</strong> Armen genannt. Auch sie verstarb früh. Der Stammsitz des Landgrafen, die Wartburg,<br />

wurde literarisch berühmt durch den Sängerkrieg auf <strong>der</strong> Wartburg und durch<br />

Luther, <strong>der</strong> hier als Junker Jörg die Bibel übersetzte.


Wasser aufschäumte und sich blutrot färbte. Es erschien ihm wie<br />

Zauberei, zumal an dem Beutel ein Zaubermännchen baumelte.<br />

Josef nahm einen Schluck von dem roten Wasser, gurgelte und<br />

spuckte das Wasser wie<strong>der</strong> aus.<br />

„Berardo, ich möchte, dass je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> mit dem Kaiser in Berührung<br />

kommt, anschließend mit diesem roten Wasser gurgelt und<br />

sich dann gründlich die Hände wäscht. <strong>Die</strong>ses rote Wasser zieht<br />

den Speichel im Mund zusammen und tötet die Seuche.<br />

Was den Kaiser betrifft, so lasst ihm lauwarmes Leinen um den<br />

Leib und kalte Binden um die Fußfesseln wickeln, stündlich zu erneuern.<br />

Wichtig ist, dass er ständig löffelweise Kamillentee trinkt,<br />

leicht gesalzen, um seine Austrocknung zu verhin<strong>der</strong>n.”<br />

Zehn Tage später, die Krisis war überstanden und, dank <strong>der</strong><br />

Beachtung <strong>der</strong> strengen Hygieneanordnungen, keiner <strong>der</strong> Schiffsmannschaft<br />

angesteckt worden, brachte man den Genesenden nach<br />

Pozzuoli.<br />

„Josef, mein ärztlicher Diktator, ich habe einen Bärenhunger.<br />

Wann bekomme ich denn endlich wie<strong>der</strong> einen anständigen Braten<br />

zu essen?”<br />

Der geistig wie<strong>der</strong> hellwache, aber körperlich von seiner Krankheit<br />

noch gezeichnete Kaiser schaute den Leibarzt des Kalifen fragend<br />

an.<br />

„Noch etwa acht Tage müsst Ihr Euch mit Haferbrei, Hirsebrei,<br />

aber auch Pasta begnügen. Frisches Gemüse und frisches<br />

Obst würden Euch ebenfalls gut tun. Danach schätze ich sind Eure<br />

Eingeweide soweit in Ordnung, dass Ihr Euch an den ersten Braten<br />

herantrauen könnt. Aber bitte in Maßen!”<br />

„Josef, an Eurem Medikamentenbeutel baumelt ein Zaubermännchen.<br />

Hilft es Euch, wie Berardo allen Ernstes behauptet, bei<br />

<strong>der</strong> Zubereitung Eurer Heilmittel. Ist es Euer Heiliger Geist?”<br />

Josef spürte die Ironie in des Kaisers Worten, sah aber auch die<br />

zwischen Neugier und Furcht vor dem Übersinnlichen schwankende<br />

Miene des Genesenden. Gelassen erklärte er:


„<strong>Die</strong>ses Zaubermännchen ist die <strong>Wurzel</strong> einer <strong>Alraune</strong>. Es ist so<br />

alt, dass es wie versteinert ist. Seit wann es in unserer Familie sich<br />

befindet, kann ich nicht sagen. Ich habe es an den Medikamentenbeutel<br />

befestigt, weil für mich die <strong>Alraune</strong> das Symbol für die<br />

Heilkraft <strong>der</strong> Pflanzen bedeutet.<br />

Was den Erzbischof in diesem Zusammenhang so erschreckt<br />

hat, ist die Reaktion dieses Pulvers”,<br />

und damit holte Josef aus seinem Beutel ein dicht verschlossenes<br />

Fläschchen,<br />

„mit Wasser. Das Pulver löst sich wie Salz im Wasser auf, nur<br />

viel heftiger, und färbt dabei das Wasser rot. Woraus dieses Pulver<br />

sich zusammensetzt, weiß ich nicht 51 . Aber ich glaube, irgendein<br />

Salz muss als Bestandteil enthalten sein, denn ich muss es vor<br />

Feuchtigkeit schützen. Es findet sich in Ägypten nur an wenigen<br />

trockenen Stellen. Wegen seiner hohen hygienischen Wirkung trage<br />

ich einen Vorrat immer bei mir. Ohne dieses Hygienemittel wären<br />

wir wahrscheinlich nicht ansteckungsfrei im Jagdschloss geblieben.”<br />

Der Kaiser hatte mit wachsendem Interesse zugehört.<br />

„Eine letzte Frage noch, Josef. Der Erzbischof hat mir erzählt,<br />

dass Ihr darauf bestanden habt, dass kein fränkischer Arzt sich in<br />

Eure Therapie einmischen durfte. Warum?”<br />

Josef wurde verlegen.<br />

„Herr, ich muss gestehen, dass hier ein arabisches Vorurteil eine<br />

Rolle gespielt hat. Der arabische Schriftsteller Usamam ibn Munqidh<br />

hat meinem Vorgänger als Leibarzt des Kalifen folgende Geschichte<br />

erzählt:<br />

Sein Oheim sei als Arzt an einen fränkischen Hof gesandt worden,<br />

um einen Ritter und seine Frau zu behandeln.<br />

Das eitrige Ekzem am Bein des Adeligen behandelte er mit einer<br />

Packung, worauf <strong>der</strong> Eiter abfloss.<br />

51 Es spricht einiges dafür, dass es sich hierbei um Kaliumpermanganat gehandelt hat.<br />

Es löst sich in Wasser gut zu einer tief violetten Lösung auf. In <strong>der</strong> Medizin wird es als<br />

adstringierendes (zusammenziehendes) und desinfizierendes Mittel eingesetzt.


Ein ebenfalls konsultierter fränkischer Arzt gab sich damit nicht<br />

zufrieden und fragte den Ritter, ob er lieber mit einem Bein leben<br />

o<strong>der</strong> mit zwei Beinen sterben wolle. Da <strong>der</strong> Ritter lieber leben<br />

wollte, durchtrennte man mit einer Axt das kranke Bein. Erst <strong>der</strong><br />

zweite Hieb war erfolgreich. Das Knochenmark floss aus. Der Patient<br />

starb kurz darauf.<br />

Der Frau, die an Trockenheit litt, verordnete <strong>der</strong> arabische Arzt<br />

eine Diät aus frischem Gemüse.<br />

Der fränkische Arzt verwarf diese Therapie, weil er glaubte, die<br />

Frau sei von einem Dämon besessen. Er schnitt ihr die Haare ab<br />

und gab ihr Knoblauch und Senf zu essen. Da die Trockenheit zunahm,<br />

behauptete er, <strong>der</strong> Dämon sei in ihren Kopf eingedrungen.<br />

Er machte eine kreuzförmige Kerbe in den Schädel, zog die Haut<br />

beiseite und rieb den freigelegten Schädel mit Salz ein. <strong>Die</strong> Frau<br />

starb sofort.”<br />

<strong>Die</strong> Heiterkeit, die sich bei <strong>der</strong> Behandlung des Ritters noch<br />

auf den Zügen des Kaisers ausgebreitet hatte, wich zunehmendem<br />

Entsetzen und Unverständnis.<br />

„Eine letzte Frage noch, Josef. Wer war <strong>der</strong> Leibarzt des Kalifen,<br />

Euer Vorgänger, von dem Ihr diese Geschichte gehört habt?”<br />

„Morche ben Maimon. Ihr kennt ihn wahrscheinlich unter seinem<br />

latinisierten Namen, Maimonides 52 .”<br />

52 Mosche ben Maimon wird um 1135 als Sohn eines geachteten Rabbiners in Cordoba<br />

geboren.<br />

Um die Mitte des 12, Jahrhun<strong>der</strong>ts lösen in Spanien die Almohaden die Dynastie <strong>der</strong><br />

Almoraviden ab. <strong>Die</strong>se „Bekenner <strong>der</strong> Einheit” zwangen An<strong>der</strong>sgläubige zum Islam<br />

überzutreten o<strong>der</strong> auszuwan<strong>der</strong>n. Viele Juden bekannten sich offiziell zum Islam, praktizierten<br />

insgeheim aber weiter jüdische Riten.<br />

<strong>Die</strong> Familie des Maimonides wan<strong>der</strong>te aus und gelangte über Fes, Palästina 1165 nach<br />

Ägypten. Nach dem Tode seiner Eltern und seines Bru<strong>der</strong>s ließ sich Maimonides endgültig<br />

in Fostat (Alt-Kairo) nie<strong>der</strong>. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Leibarzt Saladins<br />

und seiner Nachfolger.<br />

Mit <strong>der</strong> Mischne Tora (1180 vollendet) schuf er eine systematische Zusammenfassung<br />

des jüdischen Religionsgesetzes mit seinen 613 Ge- und Verboten <strong>der</strong> hebräischen Bibel.<br />

Der „Führer <strong>der</strong> Unschlüssigen” (More Nebuchim), seinem Lieblingsschüler Josef<br />

ben Jehuda Ibn Aknin gewidmet, (1190 veröffentlicht) dient dem Ziel „mit <strong>der</strong> Fackel<br />

<strong>der</strong> Wissenschaft in das innere Heiligtum <strong>der</strong> Religion hineinzuleuchten”.


„Michael, dass ist <strong>der</strong> Mann, dem Ihr es verdankt, mir vom<br />

Papst Gregor den Kirchenbann mitteilen zu dürfen.”<br />

Friedrich zeigte auf den eintretenden Josef ben Jehuda.<br />

„Hätte er mir nicht das Leben gerettet, hätte er Euch um das<br />

Vergnügen gebracht, mir den Kirchenbann erläutern zu können,<br />

und dem Papst das Vergnügen bereitet, mich nicht mehr unter den<br />

Lebenden zu wissen.”<br />

Der Kaiser wandte sich Josef zu.<br />

„Josef, das ist Michael Scotus, ein ausgezeichneter Übersetzer<br />

des Aristoteles aus dem Arabischen und ein begeisterter Verehrer<br />

des Averroës. Übrigens, ich habe heute erstmals Braten in Maßen<br />

gegessen. Er ist mir gut bekommen. Doch wo bleibt Euer Gehilfe?”<br />

Josef stutzte. Er sah den Spott in des Kaisers Augen. Wusste<br />

Michael Scotus nicht, wer sie waren. Vorsicht war geboten.<br />

„Mein Gehilfe wird gleich kommen, er hat noch einige Besorgungen<br />

zu verrichten.”<br />

<strong>Die</strong> Frage des Verehrers des Averroës bestätigte seine Vermutung.<br />

„Woher kommt Ihr, Josef? Euer Arabisch hat einen leicht spanischen<br />

Akzent.”<br />

Gespannt wartete <strong>der</strong> Kaiser, wie Josef sich wohl aus <strong>der</strong><br />

Schlinge ziehen würde, ohne ihre Mission zu verraten.<br />

„Ihr habt Recht. Ich komme aus Lucena, wo ich geboren bin<br />

und jahrelang als Arzt praktiziert habe.”<br />

„Aus Lucena? Dorthin ist doch Averroës verbannt worden.<br />

Habt Ihr ihn noch gekannt?”<br />

„Ja, Mohammed Ibn Ahamad Ibn Rushd kam zu uns nach Lucena,<br />

und ich wurde sein medizinischer Gehilfe. Ihm habe ich sehr<br />

viel von meinem medizinischen Wissen zu verdanken und Ihr,<br />

mein Herr”, und damit wandte sich Josef an den Kaiser, „wahrscheinlich<br />

den Erfolg Eurer Heilung.”<br />

Der Spott aus Friedrichs Zügen war verschwunden.<br />

„Es ist ein unersetzbarer Verlust für die Menschheit, dass man<br />

Das Ehrenamt des Nagid (Oberhaupt <strong>der</strong> Juden Ägyptens), 1176 verliehen, hatte er<br />

bis zu seinem Tod 1204 inne.


vorher in Cordoba alle Schriften des Ibn Rushd verbrannt hat”, erregte<br />

sich <strong>der</strong> Stauferkaiser.<br />

„Nicht alle”, korrigierte Josef, „denn in <strong>der</strong> jüdischen Gemeinde<br />

von Cordoba gab es Abschriften. Von dort kamen sie auf geheimen<br />

Wegen zu uns in die jüdische Gemeinde von Lucena. Ich sehe<br />

noch die Rührung im Gesicht des Averroës, als er sah, dass sein<br />

Lebenswerk nicht endgültig vernichtet war.<br />

Vorsichtshalber haben wir Kopien angefertigt, die wir zu unserer<br />

jüdischen Gemeinde nach Toledo, ins christliche Ausland,<br />

schaffen ließen. Vermutlich sind es diese Abschriften, Michael, die<br />

Euch als Vorlage für Eure Übersetzung ins Lateinische dienten.”<br />

Sowohl <strong>der</strong> Kaiser als auch Michael Scotus konnten ihre Erregung<br />

nicht verbergen. Josef hatte die letzten Lebensjahre des berühmten<br />

„Kommentators”, miterlebt.<br />

„Averroës ist doch in seinem letzten Lebensjahr rehabilitiert<br />

worden.”<br />

„Ja, ich habe ihn dann nach Marrakesch begleitet und ihn, als er<br />

kurz darauf starb, nach Cordoba zurückgeleitet, wo er in heimatlicher<br />

Erde seine letzte Ruhe gefunden hat.“ 53<br />

In ehrfurchtsvollem Schweigen bewun<strong>der</strong>ten die beiden Jüngeren<br />

den greisen Arzt; Michael Scotus ob seiner gemeinsamen Jahre<br />

mit dem verehrten Ibn Rushd, <strong>der</strong> Kaiser zusätzlich, ob des diplomatischen<br />

Geschicks, wie Josef ohne zu lügen, ihre Mission verschwiegen<br />

hatte.<br />

Der Kaiser sah, wie dem Übersetzer des Aristoteles noch viele<br />

Fragen auf <strong>der</strong> Zunge brannten. Doch er bat ihn, sich zu entfernen,<br />

da <strong>der</strong> Arzt ihn nunmehr untersuchen müsse.<br />

53 Der Philosoph, Mediziner und Jurist Ibn Rushd (im Abendland Averroës genannt),<br />

1126 in Cordoba geboren, wurde wie sein Vater und Großvater Richter, zuerst in Sevilla,<br />

dann in Cordoba. Der Kalif Abu Jakub Jusuf beauftragte ihn, die Schriften des Aristoteles<br />

zu bearbeiten. Den christlichen Scholastikern galt Averroës als <strong>der</strong> Kommentator<br />

des Aristoteles schlechthin. Als man Averroës bei dem Nachfolger des Kalifen, Al-<br />

Mansur, 1195 verklagte, er, Averroës, gefährde durch seine Philosophie die islamische<br />

Religion, verbannte <strong>der</strong> Kalif ihn nach Lucena. Seine philosophischen Schriften wurden<br />

in Cordoba öffentlich verbrannt. 1198 ist Averroës in Marrakesch, nachdem man<br />

seine Verbannung aufgehoben hatte, gestorben.


Der Kaiser wurde entkleidet und stieg nach <strong>der</strong> ärztlichen<br />

Untersuchung in das Schwefelbad <strong>der</strong> heißen Quellen.<br />

„Ich habe Michael schon danach gefragt, wie es kommt, dass<br />

Meerwasser salzig, Quellwasser salzlos und dieses Wasser heiß und<br />

schwefelig ist. Aber seine Antwort hat mich nicht zufrieden gestellt.<br />

Wisst Ihr es, Josef?”<br />

„Ich glaube, <strong>der</strong> Emir kennt sich in den Naturwissenschaften<br />

besser aus als ich”, verwies Josef den Kaiser auf den hinzugekommenen<br />

Fahr ed-Din.<br />

„Monsignore, dieses Problem hat schon die griechischen Naturphilosophen,<br />

die dreihun<strong>der</strong>t Jahre vor Aristoteles lebten, beschäftigt.<br />

Sie haben erkannt, dass Wasser in <strong>der</strong> Sonne verdunstet<br />

und bei kühlerem Wetter aus den Wolken wie<strong>der</strong> als Regen auf<br />

die Erde kommt. Das nicht verdunstete Wasser versickert in den<br />

Boden, tritt als Quelle wie<strong>der</strong> hervor und fließt in Bächen und<br />

Flüssen in das Meer. Aber wie kommt das Salz in das Meer?”<br />

Der Emir schien vom Kaiser keine Antwort erwartet zu haben,<br />

denn er fuhr fort:<br />

„<strong>Die</strong>se Frage ist bis heute nicht exakt gelöst. Doch ich wage mal<br />

eine Erklärung. In Palästina, das Ihr das Heilige Land nennt, fließt<br />

<strong>der</strong> Jordan in ein abflussloses Meer, dessen Meeresspiegel trotz des<br />

Zuflusses nicht steigt, weil sein Wasser so schnell verdunstet, wie<br />

die Wasser des Jordans zufließen. <strong>Die</strong>ses Tote Meer ist so salzhaltig,<br />

dass selbst Nichtschwimmer vom Wasser getragen werden. Das<br />

Jordanwasser muss also, obgleich man es nicht schmecken kann, in<br />

geringen Mengen Mineralsalze enthalten, die bei <strong>der</strong> Verdunstung<br />

zurückbleiben.<br />

Und so ist es mit allen Flüssen, die ins Meer fließen. <strong>Die</strong> Sonne<br />

lässt das Meerwasser verdunsten, aber nicht die hinein geflossenen<br />

Mineralsalze. Aber wenden wir dieses Verfahren nicht selber an,<br />

wenn wir aus dem Meer Salz gewinnen?<br />

Was dieses heiße schwefelhaltige Wasser anbetrifft, so wissen<br />

wir, dass hier beim Vesuv und beim Ätna auf Sizilien das Höllenfeuer<br />

<strong>der</strong> Erde dicht unter <strong>der</strong> Oberfläche brennt. Wenn hier in


Spalten <strong>der</strong> Regen in die Tiefe dringt, bringt die Hitze dieses Wasser<br />

zum Kochen und lässt es als heiße Quellen wie<strong>der</strong> an die Oberfläche<br />

sprudeln. Dabei löst dieses heiße Wasser vorhandene Mineralsalze<br />

aus dem Gestein, wie hier Schwefel.”<br />

Das Gesicht des Kaisers erhellte sich.<br />

„Im Reich, in <strong>der</strong> Nähe von Aachen, gibt es auch heiße Quellen,<br />

Sie sind salzhaltig und man kann das Wasser trinken. Nach<br />

Eurer Erklärung, Emir, müsste <strong>der</strong> Teufel mit seinem Höllenfeuer<br />

dort auch dicht unter <strong>der</strong> Erde das Wasser aufheizen.”<br />

Inzwischen war Friedrich dem Bade entstiegen, Bedienstete<br />

trockneten ihn ab und hüllten ihn in eine weiche wollene Toga.<br />

Auf einer Liege entspannte er sich von dem heißen Bade.<br />

„Wie mir Michael erklärt hat”, nahm er nach einer Weile das<br />

Gespräch wie<strong>der</strong> auf, „ist für Averroës die Welt nicht geschaffen,<br />

son<strong>der</strong>n von Ewigkeit her vorhanden. <strong>Die</strong> Vielfalt <strong>der</strong> Arten, seien<br />

es Steine, Pflanzen o<strong>der</strong> Lebewesen sei als Form, als Seele, in <strong>der</strong><br />

Ursubstanz vorgegeben. So wird aus einem in den Acker gesätes<br />

Weizenkorn stets eine Weizenähre, aus einem ausgebrüteten Falkenei<br />

stets ein Falke.<br />

Wenn aber nur die Art eine Seele hat, nicht das einzelne Individuum,<br />

was wird dann aus <strong>der</strong> Verheißung des Paradieses? Stimmt<br />

es, dass Averroës Moses, Jesus und Mohammed die drei großen Betrüger<br />

genannt hat? Was hat denn Euer Vorgänger als Leibarzt des<br />

Sultans, <strong>der</strong> große Maimonides dazu gesagt. O<strong>der</strong>, Josef habt Ihr<br />

mit ihm nur über medizinische Probleme gesprochen?”<br />

„Ich bin ungefähr zehn Jahre vor Eurer Geburt als junger Schüler<br />

zu Mosche ben Maimon nach Fostat in Ägypten gekommen,<br />

nicht um bei ihm Medizin zu studieren, son<strong>der</strong>n um mich in <strong>der</strong><br />

jüdischen Religionslehre zu vervollkommnen. Im Zuge <strong>der</strong> Machtergreifung<br />

durch die Almohaden in Marokko mussten wir uns in<br />

Lucena zwangsweise zum Islam bekennen. Im Herzen war ich aber<br />

immer Jude geblieben<br />

Damals war Mosche schon Leibarzt des Sultans. Doch diese<br />

ärztliche Tätigkeit diente ihm nur zum Lebensunterhalt. Sein eigent-


liches Lebensziel war, Gott zu erfassen, soweit es einem Menschen<br />

möglich ist. Dabei unterschied Mosche zwei Gruppen von Menschen.<br />

Zur ersten Gruppe zählt er einfache fromme Gläubige, die nur<br />

den Wunsch haben, das jüdische Gesetz zu befolgen. Für sie<br />

schrieb er das Werk Mischne Tora, an dem er zehn Jahre gearbeitet<br />

und das er fünf Jahre vor meiner Ankunft in Ägypten vollendet<br />

hatte.<br />

Als ich eintraf, war Maimonides dabei, für die zweite Gruppe<br />

von Menschen den Führer <strong>der</strong> Unschlüssigen zu entwickeln. Gedacht<br />

war dieses Werk für Menschen, die die Erkenntnisse <strong>der</strong><br />

Philosophen in <strong>der</strong> Heiligen Schrift wie<strong>der</strong>zufinden versuchen. Ich<br />

habe drei Jahre an diesem Werk mitgearbeitet, ehe mich persönliche<br />

Umstände nach Lucena zurückriefen.<br />

Doch nun zu Eurer eigentlichen Frage, o Cäsar. Für Mosche<br />

sind Religion und Philosophie Zwillingsschwestern. <strong>Die</strong> Lebensaufgabe<br />

des Menschen besteht darin, zu einer immer höheren Stufe<br />

<strong>der</strong> geistigen Vollendung emporzusteigen. Dabei können wir, nach<br />

Mosche, mit menschlicher Erkenntnis nichts Näheres über die<br />

Vollkommenheit Gottes aussagen. Wir können nur sagen, dass<br />

Gott ist, nicht aber was er ist.<br />

Im Gegensatz zu Aristoteles verneint Maimonides die Lehre<br />

von <strong>der</strong> Ewigkeit <strong>der</strong> Welt. Selbst dass, wie Averroës sagt, nur die<br />

Art eine Seele habe, setze voraus, dass es einen Schöpfer gegeben<br />

haben muss, <strong>der</strong> diese Welt geschaffen habe.<br />

Da in <strong>der</strong> jüdischen Religion die Verheißung eines jenseitigen<br />

Lebens keine Rolle spielt, ist <strong>der</strong> Streit um die Seele des Individuums<br />

hier ohne Bedeutung.<br />

Für die Verurteilung des Averroës hat das aber die entscheidende<br />

Bedeutung gehabt, tangiert doch seine Behauptung, nur die Art<br />

habe eine Seele, unmittelbar die Verheißung des Paradieses. Den<br />

Satz von den drei großen Betrügern, den man ihm im Zusammenhang<br />

mit seiner Verurteilung in den Mund gelegt habe, sei eine<br />

Verleumdung, erklärte mir Ibn Rushd, als ich ihn danach fragte.<br />

<strong>Die</strong>se Äußerung sei in <strong>der</strong> arabischen Literatur seit hun<strong>der</strong>t Jahren


im Umlauf und, soviel ihm bekannt sei, erstmalig von Nizam al<br />

Molk, dem Angehörigen einer arabischen Sekte, geäußert worden.<br />

Für das Christentum wird diese Weiterentwicklung aristotelischer<br />

Gedanken durch Averroës aus dem gleichen Grunde Zündstoff<br />

bergen. Denkt nur an die Lehren des Amalrich von Bène, dass<br />

Gott im Menschen sei, dass das wahre Paradies das gottgleiche<br />

Wissen des Erleuchteten und die wahre Hölle die Angst <strong>der</strong> Unwissenden<br />

sei. 54 Es wird vieler Auslegungen kirchlicher Philosophen<br />

und kirchlicher Verbote bedürfen, um diese Vorstellungen<br />

des großen Kommentators zu entschärfen.”<br />

„Und Du Josef, was ist Deine Ansicht über Gott?”<br />

Der Kaiser hatte nachdenklich den Aussagen des Leibarztes<br />

zugehört.<br />

„Ich glaube wie Maimonides, dass es eine höhere Macht gibt,<br />

die diese Entelechie, diese Formgebung <strong>der</strong> Materie gesteuert hat<br />

und noch steuert. Dass dieser Prozess in sechs Tagen vollendet<br />

wurde, wie es in <strong>der</strong> Heiligen Schrift steht, ist symbolisch zu verstehen.<br />

Ich glaube auch nicht, dass diese Formgebung je abgeschlossen<br />

wird.”<br />

„Imperator, Ihr habt mich rufen lassen.” Mit dieser in lateinischer<br />

Sprache formulierten Floskel betrat <strong>der</strong> Emir Fahr ed-Dihn<br />

das kaiserliche Gemach.<br />

„Emir, ich muss wegen meines kaiserlichen Eides trotz des Kirchenbannes<br />

im nächsten Frühjahr meinen Kreuzzug durchführen”,<br />

eröffnete <strong>der</strong> Kaiser auf Arabisch das Gespräch.<br />

„Und ich werde das, was Ihr Eurem Sultan vortragen sollt, jetzt<br />

auch in Arabisch formulieren, damit Übersetzungsfehler zwischen<br />

Latein und Arabisch ausgeschlossen bleiben.<br />

<strong>Die</strong> Ziele meines Kreuzzuges sind «Befreiung Jerusalems» sowie<br />

«Gewähr des freien Zugangs für Pilger nach Bethlehem und Nazareth».<br />

54 <strong>Die</strong>ser Ausspruch Amalrich de Bene (Philosoph in Paris, gestorben 1206) geht meines<br />

Erachtens über seine pantheistischen Vorstellungen hinaus in Richtung auf die<br />

Immanenzvorstellungen Spinozas.


Meine Krönung zum König von Jerusalem in Jerusalem wird<br />

den Papst zwingen, den Kirchenbann aufzuheben.<br />

Ich habe kein Interesse daran, in langwierigen Kämpfen gegen<br />

Euren Herrn diese Ziele zu erreichen. Sie würden mich hohe finanzielle<br />

Zugeständnisse an meine Herren Kreuzritter kosten, und<br />

sie würden dem Papst Gelegenheit geben, während meiner Abwesenheit<br />

Apulien und Sizilien als kirchliche Lehen wie<strong>der</strong> einzuziehen.<br />

Auch <strong>der</strong> Kalif von Ägypten kann kein Interesse daran haben,<br />

seine militärischen Kräfte zu Lasten <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit<br />

seinen Brü<strong>der</strong>n in einem Kampf gegen mich zu schwächen.<br />

Ich strebe daher für die Erreichung meiner Kreuzzugsziele eine<br />

vertragliche Lösung an.<br />

Als kirchlich Gebannter habe ich keinen päpstlichen Legaten an<br />

meiner Seite, <strong>der</strong> wie vor zehn Jahren Pelagius vertragliche Vereinbarungen<br />

blockieren kann”, schloss Friedrich spöttisch seine Ausführungen.<br />

55<br />

Der Emir schwieg lange, dann jedes Wort wägend antwortete er<br />

in <strong>der</strong> blumenreichen Sprache des Orients:<br />

„Erhabener Sultan des Westens, ich werde Eure Vorstellungen<br />

meinem Herrn übermitteln. Doch bedenket, auch für die Anhänger<br />

Mohammeds ist <strong>der</strong> Tempelberg in Jerusalem ein heiliger Ort.<br />

Es wird viel Überzeugungsarbeit kosten, den Vertrag zu realisieren.<br />

Beson<strong>der</strong>s hier sind Modalitäten zu finden, die beiden Seiten gerecht<br />

werden.”<br />

55 Friedrich spielt hier auf das Fiasko des 5. Kreuzzuges an.<br />

Von Papst Innozenz III. 1213 geplant, begann er erst 1217 unter seinem Nachfolger<br />

Honorius III. Ziel war Ägypten. <strong>Die</strong> Kreuzfahrer nahmen 1219 Damiette im Nildelta<br />

ein. Der Sultan al-Kamil bot die Rückgabe des gesamten Königreichs Jerusalem gegen<br />

Verschonung Ägyptens an. Der König von Jerusalem stimmte diesem Handel zu, <strong>der</strong><br />

Kardinal Pelagius als Legat des Papstes lehnte ab. Bis die Entscheidung zugunsten des<br />

Legaten fiel, vergingen zwei Jahre, eine Zeit die al-Kamil ausnutzte um seine Truppen<br />

zu verstärken.<br />

Als dann die Kreuzfahrer 1221 nilaufwärts auf Mansurah zumarschierten, tappten die<br />

christlichen Truppen in eine tödliche Falle. <strong>Die</strong> Ägypter hatten hinter ihnen das Delta<br />

geflutet, den Kreuzfahrern den Rückzug abgeschnitten und sie damit zur Kapitulation<br />

gezwungen. Ohne Gebietsgewinn mussten sie Ägypten verlassen.


„Ich weiß, Fahr ed-Dihn. Auch auf christlicher Seite wird es viele<br />

geben, beson<strong>der</strong>s die Priester, die sich querlegen werden. Aber<br />

als gekrönter König von Jerusalem werde ich die Autorität haben,<br />

um den Vertrag abzuschließen und seine Regeln einzuhalten.<br />

<strong>Die</strong> hohe Intelligenz und die tiefe Weisheit, die ich in Ihnen,<br />

den Abgesandten des Sultans, in den letzten Wochen erleben durfte,<br />

haben mir deutlich gemacht, dass nur ein für diese Dinge aufgeschlossener<br />

Geist sich solche Boten leistet. Sagt al-Malik al Kâmil,<br />

ich freue mich darauf, seine Bekanntschaft zu machen.”<br />

Es war Mitte Oktober. Der gleichmäßige Nordwind blähte die<br />

Segel <strong>der</strong> Galeere und ließ die Küste Apuliens hinter dem Horizont<br />

versinken. <strong>Die</strong> beiden Gesandten des Kalifen starrten schweigend<br />

in die vorauseilenden Wellen, die von dem sie einholenden<br />

Bug des Schiffes ständig geteilt wurden.<br />

„Glaubt Ihr, dass es zu einem Vertrag zwischen unserem Herrn<br />

und dem Caesar romanorum kommen wird?”, brach Josef endlich<br />

das Schweigen.<br />

„Ja. Ich werde alles tun, um unseren Herrn davon zu überzeugen,<br />

dass <strong>der</strong> Vertrag im bei<strong>der</strong>seitigen Interesse liegt. Ich kenne<br />

keinen christlichen Herrscher, <strong>der</strong> so klug, wissbegierig und klar<br />

logisch denkend ist wie dieser Stauferkaiser. Sein Angebot ist<br />

ernsthaft und ehrlich gemeint.”<br />

Verblüfft starrte Josef den Emir an. Eine so leidenschaftliche<br />

Verehrung für Friedrich hatte er von dem sonst so kühlen Fahr ed-<br />

Dihn nicht erwartet. <strong>Die</strong> Verlegenheit des Jüngeren überspielend<br />

bestätigte er:<br />

„Von allen Herrschern auf dem Kaiserthron ist Friedrich als<br />

Mensch und Herrscher <strong>der</strong> faszinierendste, das einzige Genie auf<br />

dem Kaiserthron. Ich bin überzeugt, dass al-Malik al Kâmil, wenn<br />

er den Staufer kennenlernt, er in ihm Geist von seinem Geist achten<br />

wird.”<br />

<strong>Die</strong>smal war es <strong>der</strong> Emir, <strong>der</strong> nach einem längeren Schweigen<br />

das Gespräch wie<strong>der</strong> aufnahm.


„Was meint Ihr, Josef, wird Friedrich gegen den Papst die<br />

Oberhand gewinnen?”<br />

Der Leibarzt des Sultans zögerte mit seiner Antwort. Schließlich<br />

breitete er dem Fragenden das Ergebnis seines langen Nachdenkens<br />

aus.<br />

„Emir, Ihr kennt, so nehme ich an, von Augustinus De civitate<br />

Dei. Augustinus hat bei dieser Vorstellung vom Gottesstaat an die<br />

Realisierung des Waltens Gottes auf Erden gedacht. Ihm schwebte<br />

we<strong>der</strong> die Weltstaatversion eines Stauferkaisers noch die Gottesstaatversion<br />

<strong>der</strong> Päpste vor.<br />

Wir beobachten nun, dass seit fast zweihun<strong>der</strong>t Jahren ein erbitterter<br />

Kampf um die Vorherrschaft <strong>der</strong> jeweils eigenen Version<br />

geführt wird. Das Faszinierende o<strong>der</strong> das Tragische je nach Standpunkt<br />

ist dabei, dass die Gegner blind für die Keime <strong>der</strong> Zerstörung<br />

<strong>der</strong> eigenen Machtbasis sind.<br />

Friedrich will in Apulien und danach in Sizilien einen mo<strong>der</strong>nen<br />

Staat aufbauen, bei dem an Stelle <strong>der</strong> Lehnsherrn auf ihn ausgerichtete<br />

Verwaltungsbeamte treten. Dafür braucht er Frieden in<br />

Germanien. Den hat er sich mit Zugeständnissen an seine geistigen<br />

und weltlichen Lehnsherren erkauft, die er schwerlich jemals wird<br />

zurücknehmen können. Vielmehr wird das Reich als Machtbasis<br />

durch die Egoismen <strong>der</strong> Landesfürsten auseinan<strong>der</strong>brechen. Er<br />

selbst wird das Reich noch zusammenhalten können. Aber was geschieht,<br />

wenn nach ihm weniger geniale Nachfolger kommen?<br />

An <strong>der</strong> wirtschaftlichen Macht und dem Freiheitsstreben <strong>der</strong><br />

lombardischen Städte sind bisher alle Staufer gescheitert. Auch<br />

Friedrich sieht nicht, dass den städtischen Gemeinschaften die Zukunft<br />

gehört. Norditalien soll wie <strong>der</strong> Süden in seine Version eines<br />

mo<strong>der</strong>nen Staates eingeglie<strong>der</strong>t werden.<br />

Es ist möglich, dass es <strong>der</strong> katholischen Kirche gelingt, <strong>der</strong> staufischen<br />

Hydra nach dem Tode Friedrichs das Haupt abzuschlagen.<br />

Aber durch die Zugeständnisse Friedrichs sind wie in <strong>der</strong> griechischen<br />

Mythologie mit England, Frankreich und Germanien <strong>der</strong>


Hydra viele Häupter nachgewachsen. An diesen vielen Gegnern<br />

wird auch die Macht <strong>der</strong> Päpste zerbrechen.<br />

Dem Ende <strong>der</strong> Weltstaatversion wird das Ende <strong>der</strong> Gottesstaatversion<br />

folgen.”<br />

„Und wo liegen für Euch, Josef, die Keime <strong>der</strong> inneren Zerstörung<br />

des Gottesstaates?”<br />

„In Otranto hatte ich Gelegenheit von Peter Abaelard Sic et<br />

Non zu studieren. Er kannte von Aristoteles nur die Logik, wie sie<br />

von Boëthius ins Lateinische übersetzt worden ist.<br />

Außerdem war für ihn, wie auch heute noch für das Christentum<br />

die Heilige Schrift das Reale und nicht die Natur, nicht das<br />

einzelne Ding. Auf diese Heilige Schrift hat er nun die Regeln <strong>der</strong><br />

Logik angewandt. <strong>Die</strong>se von ihm entwickelte Methodenlehre, insbeson<strong>der</strong>e<br />

seine Dialektik, das Sic et Non, kann von den heutigen<br />

Philosophen nun auf die durch Averroës bekannt gewordenen inhaltlichen<br />

Erkenntnisse des Aristoteles angewandt werden. Und<br />

das dürfte die Vorstellungen des Realen vom Kopf auf die Füße<br />

stellen. 56<br />

Was sich aus dieser brodelnden Vielfalt des Weltlichen und<br />

Geistigen an Schöpferischem entwickeln wird, vermag ich nicht zu<br />

sagen. Der Prozess kann sehr lange dauern. In jedem Falle wird er<br />

sehr schmerzhaft sein.”<br />

„Da haben wir im Islam es besser. Wir haben nur Gottesstaaten,<br />

denn unsere Herrscher sind Nachfahren des Propheten. Und<br />

56 Im 11. Jahrhun<strong>der</strong>t hatte <strong>der</strong> Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst in <strong>der</strong> europäischen<br />

Christenheit zu tiefer Verunsicherung geführt. Kirchliche und politische<br />

Kreise beriefen sich auf divergierende Bibelstellen und kirchliche Autoritäten.<br />

Peter Abaelard (1079 bis 1142) versuchte auf die zahlreichen offenen Fragen eine<br />

Antwort zu finden. Und er tat das mit einer zukunftweisenden geradezu revolutionären<br />

Methode, vernunftorientiert, mit den Gesetzen <strong>der</strong> Logik. Unter Einbeziehung aller zugänglichen<br />

Textstellen <strong>der</strong> Bibel, <strong>der</strong> Kirchenlehrer, aber auch <strong>der</strong> nichtchristlichen<br />

antiken Philosophen, unterzieht er die christliche Lehre einer kritischen Revision, mit<br />

Hilfe <strong>der</strong> Dialektik und des methodischen Zweifels.<br />

Peter Abaelard hatte nie die Absicht, die christliche Lehre durch das Primat <strong>der</strong> Vernunft<br />

aus den Angeln zu heben. Und doch wird er mit seiner Methodenlehre zum Vater<br />

<strong>der</strong> Scholastik und später inhaltlich zum Wegbereiter europäischer Wissenschaft.


wir haben nicht den Polytheismus des Christentums mit ihren drei<br />

Göttern, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. Wir haben<br />

den wahren Monotheismus, denn wir haben nur einen Gott<br />

und das ist Allah.”<br />

„Fahr ed Din, ich bin mir da nicht sicher, ob <strong>der</strong> Islam auch in<br />

Zukunft <strong>der</strong> Hort <strong>der</strong> größeren geistigen Blüte bleiben wird. Mir<br />

ist noch zutiefst die Begründung <strong>der</strong> Verdammnis des Ibn Rushd<br />

durch die islamischen Theologen in Erinnerung, mit <strong>der</strong> sie seine<br />

Gedankenspiele verboten.<br />

Sie nannten ihre dogmatische Auslegung des Islams „die Schließung<br />

<strong>der</strong> Pforte”.<br />

Wenn das bleibt, dann wird sich die geistige Entwicklung vom<br />

Orient in den Okzident verlagern.”


3. Pantheismus: «Deus sive natura»<br />

Prüfend hob Baruch de Spinoza die Linse, an <strong>der</strong> er gearbeitet<br />

hatte, vor sein Auge und betrachtete durch sie hindurch ein handspannengroßes<br />

Gebilde, das wie ein Männlein aussah, die <strong>Wurzel</strong><br />

einer <strong>Alraune</strong>. Sie befand sich seit Urzeiten im Besitz seiner Familie.<br />

Der Fama nach stamme sie von einem griechischen Philosophen<br />

namens Xenophanes.<br />

Durch die Linse hindurch wurde das Männlein nur verschwommen<br />

sichtbar. Vor seinem inneren Auge verwandelte sich<br />

die <strong>Wurzel</strong> in einen nackten Mann, <strong>der</strong> an eine Säule gefesselt war.<br />

Er sah, wie dieser Mensch unter den Peitschenhieben, die seinen<br />

Rücken trafen, zusammenzuckte, wie dieser Mensch sich anschließend<br />

nackt auf eine Türschwelle legen musste und alle an<strong>der</strong>en<br />

über ihn hinweg schritten.<br />

Der Linsenschleifer lehnte sich zurück. Was da als Bildfolge vor<br />

sein Gedächtnis trat, war das eindrucksvollste Erlebnis seiner Jugend.<br />

Als siebenjähriger Talmudschüler hatte er, Baruch de Spinoza,<br />

zugesehen, wie Uriel da Costa durch dieses Ritual vom Cherem,<br />

dem Bann <strong>der</strong> jüdischen Gemeinde von Amsterdam, befreit<br />

und wie<strong>der</strong> in die Gemeinde aufgenommen wurde.<br />

Was ihn damals verstört hatte, war <strong>der</strong> Umgang <strong>der</strong> Gemeinde<br />

mit einem Menschen, <strong>der</strong> zutiefst an Gott glaubte und nicht verstehen<br />

konnte, dass die Naturgesetze, die doch Gott geschaffen<br />

hatte, geringer zu achten seien als die Vorschriften <strong>der</strong> Gemeinde.<br />

Später war Uriel da Costa an diesem Wi<strong>der</strong>spruch zwischen den<br />

Naturgesetzen und den Regeln des jüdischen Glaubens zerbrochen<br />

und hatte Selbstmord begangen, nachdem er in dem Dokument


Exemplar humanae vitae seine Überzeugungen und ihre Behandlung<br />

durch die jüdische Mitwelt dokumentiert hatte.<br />

Für ihn, den jungen Talmudschüler, war die Handlungsweise<br />

<strong>der</strong> jüdischen Gemeinde zu Amsterdam vergleichbar dem, was um<br />

ihn herum in den letzten hun<strong>der</strong>t Jahren in <strong>der</strong> Welt geschehen<br />

war und noch geschah, ob es die Verfolgung <strong>der</strong> Marranen 57 in<br />

Spanien und Portugal war, o<strong>der</strong> die Verfolgung <strong>der</strong> Hugenotten in<br />

Frankreich, o<strong>der</strong> die Geschehnisse <strong>der</strong> letzten zwanzig Jahre in den<br />

deutschen Landen.<br />

Immer scharten sich um die Fahne <strong>der</strong> Intoleranz Menschen<br />

mit dem Ziel, dem wahren Glauben zum Sieg zu verhelfen.<br />

Wer hat denn den wahren Glauben? Sind es die Juden? <strong>Die</strong> Mohammedaner?<br />

Und wer von den Christen? <strong>Die</strong> Katholiken? O<strong>der</strong><br />

etwa die Protestanten?<br />

Ein Hustenanfall brachte den Linsenschleifer in die Gegenwart<br />

zurück. Das Tuch, das er vor den Mund führte, enthielt Blut. Baruch<br />

wusste, dass er an Schwindsucht litt und er nicht mehr lange<br />

leben würde.<br />

Stunden vergingen, in denen Spinoza die Unschärfe <strong>der</strong> Linse<br />

wegpolierte. Er nahm eine zweite Linse zur Hand. Prüfend blickte er<br />

durch beide Linsen hindurch auf sein <strong>Wurzel</strong>männchen. Es schien<br />

weit weg zu sein. Vor seinem inneren Auge verwandelte es sich in eine<br />

kleine schwarz gekleidete Gestalt, die vor einer großen Menge sprach.<br />

Spinoza ließ die Linsen sinken und lehnte sich zurück. Es musste<br />

Ende <strong>der</strong> 40er Jahre gewesen sein, als Descartes 58 in Amsterdam<br />

57 <strong>Die</strong> Marranen waren spanische und portugiesische Juden, die sich unter dem Zwang<br />

<strong>der</strong> Inquisition hatten taufen lassen, dennoch insgeheim ihren jüdischen Riten treu<br />

geblieben waren. Rund 200.000 Marranen sind aus Spanien und Portugal vertrieben<br />

worden. Sie gründeten Gemeinden in Amsterdam, London, Hamburg u. a. Der wirtschaftliche<br />

und kulturelle Nie<strong>der</strong>gang dieser beiden Län<strong>der</strong> seit dem 17. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

ist nicht zuletzt auf diesen geistigen A<strong>der</strong>lass zurückzuführen.<br />

58 René Descartes wurde 1596 als Sohn einer adeligen Familie geboren. Nach dem<br />

Studium in Paris tritt er in holländische, 1619 in bayerische Kriegsdienste. Seit 1629 in<br />

den Nie<strong>der</strong>landen lebend, entstehen hier seine philosophischen Werke, beson<strong>der</strong>s<br />

1637 sein Hauptwerk <strong>der</strong> „Discours de la méthode”. 1649 folgt er einem Ruf <strong>der</strong> Königin<br />

Christine von Schweden nach Stockholm, wo er ein halbes Jahr später 1650 gestorben<br />

ist.


war. Er selbst war inzwischen im Geschäft seines Vaters tätig. Cogito,<br />

ergo sum so lautete <strong>der</strong> Leitspruch des französischen Philosophen.<br />

Ob das, was man denke, wahr sei, erkenne man daran, ob es<br />

klar und deutlich erkennbar sei, ob es auf einfache und absolute<br />

Elemente zurückzuführen sei, ob über das Erkannte kein Zweifel<br />

übrig bleibe, so wie kein Zweifel darüber bestehe, dass ein Dreieck<br />

durch drei Seiten begrenzt ist und dass eine Kugel nur eine Oberfläche<br />

hat.<br />

Descartes wurde <strong>der</strong> Auslöser für sein Studium <strong>der</strong> lateinischen<br />

Sprache und <strong>der</strong> zeitgenössischen Wissenschaft, <strong>der</strong> Werke von<br />

Campanella 59 , Bacon und Hobbes 60 .<br />

Das Problem des Wi<strong>der</strong>spruches zwischen den Naturgesetzen<br />

und den jüdischen heiligen Schriften hatte ihn nicht mehr losgelassen.<br />

59 Thomas Campanella (1568 bis 1639) sucht wie Thomas Morus (1480 bis 1535)<br />

und Huig de Groot (1583 bis 1645) nach einem Korrektiv <strong>der</strong> Machtideologie <strong>der</strong> Renaissance.<br />

Während Morus in seinem Werk „Utopia” die ungerechte Verteilung <strong>der</strong><br />

Reichtümer anprangert und allgemeine Gleichheit durch Gütergemeinschaft for<strong>der</strong>t,<br />

for<strong>der</strong>t Campanella in seinem „Sonnenstaat” (Civitas solis) ein Gemeinwesen, in dem<br />

jede Individualität ausgeschlossen ist. Alles hat sich wi<strong>der</strong>spruchslos nach <strong>der</strong> einzigen<br />

und ewigen idealen Ordnung zu richten.<br />

Grotius sucht in seinem Werk „De iure belli ac pacis” nach Regeln für die Streitigkeiten<br />

zwischen Individuen, zwischen Individuen und Staat sowie für Kriege zwischen Staaten.<br />

Rechtsquellen für diese Regeln sind ihm einmal die Richtlinien <strong>der</strong> Natur (Naturrecht)<br />

und zum an<strong>der</strong>en <strong>der</strong> Wille Gottes.<br />

60 <strong>Die</strong>sen Idealisten stehen die Realisten Nicoló Macchiavelli (1469 bis 1527), Francis<br />

Bacon (1561 bis 1626) und Thomas Hobbes (1588 bis 1679) gegenüber.<br />

<strong>Die</strong> radikalsten Regeln stellt Macchiavelli in seinem Werk „Der Fürst” (Il principe) auf.<br />

Ausgehend davon, dass die Menschen schlecht seien, muss auch <strong>der</strong> Fürst in seinem<br />

Handeln von <strong>der</strong> Schlechtigkeit Gebrauch machen und sich dabei vor halben Maßnahmen<br />

hüten.<br />

Bei Bacon ist es <strong>der</strong> Vorsprung des Wissens („Wissen ist Macht„), <strong>der</strong> für den Erhalt<br />

von Besitz und Macht sorgt. Wissen und Weisheit ist nicht mehr wie seit Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />

um ihrer selbst willen da, son<strong>der</strong>n steht ausschließlich im <strong>Die</strong>nste ihrer technischen<br />

Nützlichkeit.<br />

<strong>Die</strong>se utilitaristische Auffassung teilt auch Hobbes. Um die unmöglichen Verhältnisse<br />

des Naturzustandes, des Krieges aller gegen alle (bellum omnium contra omnes) zu beenden,<br />

schließen die Menschen einen Staatsvertrag. Der so gebildete Staat ist nichts<br />

an<strong>der</strong>es als die Machtballung des kollektiven Egoismus. Für die Staaten herrscht immer<br />

noch <strong>der</strong> Naturzustand. Nur heißt er jetzt Souveränität.


Hatte nicht Maimonides in seinem Hauptwerk Führer <strong>der</strong> Unschlüssigen<br />

gesagt:<br />

„Wir können nur sagen, dass Gott ist, nicht aber was er ist“?<br />

Wie kann man von den fünf Büchern Moses und <strong>der</strong> Thora behaupten,<br />

dass das in ihnen Geschriebene Wahrheiten im Sinne <strong>der</strong><br />

Klarheit und Eindeutigkeit von Descartes sind? Kann es nicht sein,<br />

dass diese heiligen Schriften keine Aussagen für alle Ewigkeit enthalten,<br />

son<strong>der</strong>n nur zeitbezogene Vorstellungen wie<strong>der</strong>geben?<br />

In dem Arzt Juan de Prado fand er eine verwandte Seele, die<br />

dazu beitrug, seine häretischen Ideen zu för<strong>der</strong>n und zu artikulieren.<br />

Prado hatte in Spanien als Marrane Theologie studiert und dort<br />

unter seinen Freunden manche zum jüdischen Glauben zurück gewonnen.<br />

Verraten, war er nach Holland geflohen, fand aber hier<br />

ein Judentum mit einem Geflecht von bis ins einzelne festgelegten<br />

Glaubensinhalten und Riten vor, die seine im spanischen Untergrund<br />

entwickelten ketzerischen Ideen einschnürten.<br />

<strong>Die</strong> strenge Beachtung dieser Riten und beson<strong>der</strong>s das Verbot,<br />

am Sabbat Speisen zuzubereiten, hatte in Spanien den Christen<br />

verraten, welche Marranen insgeheim noch dem jüdischen Glauben<br />

angehörten, und sie damit <strong>der</strong> Inquisition ausgeliefert.<br />

Wie soll man zum Beispiel die Sabbatverbote, dass man am<br />

Sabbat keinen Weg von mehr als 2 000 Ellen zurücklegen darf, mit<br />

dem Sabbatverbot, dass man seine Notdurft nicht näher als 2 000 Ellen<br />

von seiner Wohnung verrichten darf, gleichzeitig erfüllen können?<br />

O<strong>der</strong>: Warum muss man getrenntes Geschirr für Milchiges und<br />

Fleischliches verwenden, wenn doch beide Speisen in demselben<br />

Magen landen?<br />

Warum muss man die Sehnen des Fleisches vor dem Braten entfernen?<br />

Auch den Ritus des Händewaschens vor dem Hauptgericht<br />

sucht man vergebens in den fünf Büchern Mosis o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Thora.<br />

<strong>Die</strong>ser Ritus muss <strong>der</strong> mündlichen Überlieferung entstammen.<br />

Sind so viele und unmögliche Gebote erlassen worden, um<br />

Jahwe Gelegenheit zu geben, seinem Volk wegen Nichteinhaltung<br />

seiner Gebote durchweg zu zürnen?


Er erinnerte sich an die heißen Diskussionen mit Isaak La Peyrére,<br />

<strong>der</strong> in seinem Buch über die Präadamiten die Ansicht vertrat,<br />

schon vor Adam und Eva habe es Menschen auf Erden gegeben, die<br />

ohne göttliches Gesetz in einer Art Naturzustand gelebt hätten.<br />

<strong>Die</strong> Bibel sei daher keine Geschichte <strong>der</strong> ganzen Menschheit, son<strong>der</strong>n<br />

nur <strong>der</strong> Juden. Adam sei nicht <strong>der</strong> erste Mensch <strong>der</strong> gesamten<br />

Menschheit, son<strong>der</strong>n nur <strong>der</strong> erste Jude. Was ihn an La Peyrére<br />

faszinierte, war die Methode seiner Bibelkritik.<br />

Aus diesen fruchtbaren Diskussionen mit La Peyrére und Prado<br />

entwickelte er die Fragen für seine Bibeluntersuchungen:<br />

Zu welcher Zeit, bei welcher Gelegenheit, für wen und in welcher<br />

Sprache sind die einzelnen prophetischen Bücher entstanden?<br />

Wie viele Lesarten gibt es davon?<br />

Wer waren die Verfasser?<br />

Was wissen wir über das Leben des o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Verfasser?<br />

Welche Aussprüche sind zweideutig o<strong>der</strong> dunkel?<br />

Wo wi<strong>der</strong>sprechen sich die Aussagen?<br />

Seine Studien zu den jüdischen Gesetzesvorschriften hatten ihm<br />

offenbart, wie zeitbezogen viele Vorschriften waren, wie in den<br />

Büchern Moses die dort verwandten Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Zeit entstammten,<br />

in <strong>der</strong> diese Bil<strong>der</strong> lebendige Wirklichkeit waren, und wie spätere<br />

Generationen versuchten, unter Wahrung dieser Bil<strong>der</strong>, diesen<br />

eine ihrer Zeit gemäße Deutung zu geben.<br />

<strong>Die</strong> Veröffentlichung seiner Ergebnisse und seine Kritik an <strong>der</strong><br />

jüdischen Gottesvorstellung und an <strong>der</strong> Gültigkeit <strong>der</strong> jüdischen<br />

Gesetze brachte auch über ihn den Bannfluch <strong>der</strong> jüdischen<br />

Gemeinde:<br />

Nach dem Urteile <strong>der</strong> Engel und dem Beschlusse <strong>der</strong> Heiligen bannen,<br />

verstoßen, verwünschen und verfluchen wir den Baruch<br />

de Spinoza mit <strong>der</strong> Zustimmung Gottes und dieser heiligen<br />

Gemeinde im Angesicht <strong>der</strong> heiligen Bücher <strong>der</strong> Thora und<br />

<strong>der</strong> 613 Vorschriften, die darin geschrieben sind; mit dem Banne,<br />

womit Josua Jericho bebannt, mit dem Fluche, womit Elisa<br />

die Knaben verflucht hat, mit allen Verwünschungen, die im<br />

Gesetz geschrieben stehen.


Er sei verflucht bei Tag und sei verflucht bei Nacht! Er sei<br />

verflucht, wenn er schläft, und sei verflucht, wenn er aufsteht!<br />

Er sei verflucht bei seinem Ausgang und sei verflucht bei<br />

seinem Eingang!<br />

Der Herr wolle ihm nie verzeihen.<br />

Im Gegensatz zu Juan de Prado hatte er gegen seinen Ausschluss<br />

aus <strong>der</strong> jüdischen Gemeinde von Amsterdam keinen Einspruch<br />

erhoben, obgleich man ihm vorher eine Rente in Aussicht<br />

gestellt hatte, wenn er seine Kritik zurücknähme.<br />

Zum einen erkannte er eine religiöse Gerichtsbarkeit neben <strong>der</strong><br />

bürgerlichen nicht an. Zum an<strong>der</strong>en hätte es gegen sein Prinzip<br />

verstoßen, Überzeugungen abzuschwören, die vor <strong>der</strong> Vernunft<br />

gerechtfertigt waren.<br />

Wirtschaftlich bedeutete <strong>der</strong> Bannfluch für ihn die Aufgabe des<br />

väterlichen Geschäftes. Seitdem musste er sich seinen Lebensunterhalt<br />

mit dem Schleifen von Gläsern für Teleskope und<br />

Mikroskope verdienen, soweit ihn nicht Renten wohlhaben<strong>der</strong><br />

Freunde unterstützten.<br />

Seine kaufmännische Tätigkeit hatte ihn in Kontakt zu einem<br />

Kreis mennonitischer Kaufleute gebracht, in <strong>der</strong>en religiösen Kollegien<br />

man freimütig diskutierte. Dort und in <strong>der</strong> nahegelegenen<br />

Universität Leiden wurde er mit <strong>der</strong> durch Pierre Gassendi 61 wie<strong>der</strong><br />

aufgegriffenen Lebensphilosophie Epikurs 62 vertraut, dessen<br />

materialistische Weltanschauung zwei Jahrtausende lang, von den<br />

61 Pierre Gassendi (1592 bis 1655) lernt über Epikur Demokrits Atomismus kennen<br />

und damit seine drei Prinzipien <strong>der</strong> Natur: die Atome, den leeren Raum und die den<br />

Atomen innewohnende ewige Bewegung. Er wird damit einer <strong>der</strong> Wegbereiter des mechanistischen<br />

Denkens, welches gekennzeichnet ist durch die neue Methode <strong>der</strong> Induktion,<br />

durch die Ablösung <strong>der</strong> Wesenswissenschaft durch die Geschehniswissenschaft<br />

und den dynamisch-kausalen Seinsbegriff, <strong>der</strong> keinen Schöpfer mehr zulässt.<br />

<strong>Die</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> neuzeitlichen Physik, Kepler, Galilei, Gassendi und Newton ziehen<br />

diesen Schluss jedoch nicht; sie sind und bleiben gläubige Christen.<br />

62 Begründet wurde <strong>der</strong> Epikureismus durch Epikur aus Samos (341 bis 270 v. Chr.).<br />

<strong>Die</strong> Epikureer sind Individualisten. Sie suchen die innere Zufriedenheit, das Ruhen in sich<br />

selbst. Sie bejahen das Leben in seiner Fülle und auch in seinen Schattenseiten. Der<br />

stille Glanz und <strong>der</strong> heitere Friede des Herzens macht sie unabhängig von transzendenten<br />

Gottheiten.


Stoikern 63 an über die Kirchenväter, die Scholastiker bis in seine<br />

Zeit, als Irrlehre verdammt worden war. Beson<strong>der</strong>s Epikurs Gottesanalyse<br />

hatte ihn beeindruckt:<br />

Entwe<strong>der</strong> will Gott das Übel beseitigen und kann es nicht,<br />

dann ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft;<br />

o<strong>der</strong> er kann es und will es nicht, dann ist er missgünstig,<br />

was ebenfalls Gott fremd ist;<br />

o<strong>der</strong> er kann es nicht und will es nicht dann ist er sowohl<br />

missgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott;<br />

o<strong>der</strong> er kann es und will es.<br />

Wenn er aber will und kann, woher kommen dann die Übel,<br />

und warum nimmt er sie nicht weg?<br />

<strong>Die</strong> Diskussion über die antiteleologische Naturphilosophie<br />

eines Giordano Bruno 64 und des Galileo Galilei 65 schufen den<br />

Durchbruch. Wenn die Erde nicht Mittelpunkt <strong>der</strong> Schöpfung<br />

Gottes war, son<strong>der</strong>n nach ehernen Naturgesetzen zusammen mit<br />

den an<strong>der</strong>en Planeten um die Sonne kreist, warum sollte in allen<br />

an<strong>der</strong>en Fällen die Zweckfreiheit <strong>der</strong> Natur nicht gelten?<br />

63 Der zur gleichen Zeit lebende Zenon aus Zypern entwickelte die Lehre <strong>der</strong> Stoa.<br />

Auch sie hat den Materialismus als <strong>Wurzel</strong> und vertritt bei <strong>der</strong> Frage nach den letzten<br />

Grund des Seins einen Pantheismus. Im Gegensatz zu den Epikureern sind die Stoiker<br />

Tatmenschen. Als solche nehmen sie am öffentlichen Leben teil, um <strong>der</strong> Vernunft zum<br />

Siege zu verhelfen. Der stoischen Ethik verdanken wir den Naturrechtsbegriff und das<br />

damit zusammenhängende Humanitätsideal. Als Willensmenschen bekämpfen sie ihre<br />

Affekte und führen ein asketisches Leben nach <strong>der</strong> Vernunft, denn nur sie macht den<br />

Menschen unabhängig und frei.<br />

64 Für Giordano Bruno (1548 bis 1600) ist Wissen nicht Macht, son<strong>der</strong>n eine Weltanschauung.<br />

Schon Cusanus hatte 100 Jahre vorher von einer grenzenlosen Welt gesprochen.<br />

Aber bei ihm ist die Unendlichkeit nur eine unerfüllbare Annäherung des Abbildes<br />

an das im eigentlichen Sinne unendliche Urbild, Gott. Bruno sieht hinter <strong>der</strong><br />

kopernikanischen Erkenntnis, die die Sonne an die Stelle <strong>der</strong> Erde in den Mittelpunkt<br />

rückte, das unendliche Universum aufleuchten. War für Cusanus die Grenzenlosigkeit<br />

<strong>der</strong> Welt ein Lobpreis Gottes, so ist sie für Bruno <strong>der</strong> neue Gott, <strong>der</strong> Gott <strong>der</strong> Weltgläubigkeit<br />

und Weltfrömmigkeit. Mit dieser Vorstellung <strong>der</strong> Weltimmanenz wird Bruno<br />

<strong>der</strong> Prophet <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Naturwissenschaft.<br />

65 Was Galileo Galilei (1564 bis 1642) für die katholische Kirche so gefährlich machte,<br />

war nicht so seine Bestätigung des kopernikanischen Weltbildes, als vielmehr <strong>der</strong> Bruch<br />

mit dem qualitativ-eidetischen Denken und dessen Ersetzen durch das Gegenteil, <strong>der</strong><br />

quantitativ-mechanistischen Naturbetrachtung.


Menschen handeln um des Nutzens willen, den sie begehren.<br />

Alles das, was sie nicht selbst hergestellt haben, ihr eigenes Leben<br />

und die Güter, die die Natur ihnen schenkt, muss daher eine fremde<br />

Macht zum Zwecke ihres Nutzens ihnen zur Verfügung gestellt<br />

haben.<br />

<strong>Die</strong>se fremde Macht gilt es zu verehren, damit die Quelle ihres<br />

Lebenszweckes weiter sprudelt, und es gilt ihr zu opfern, damit <strong>der</strong><br />

Zorn dieser fremden Macht besänftigt wird.<br />

<strong>Die</strong>se Zweckhaftigkeit menschlichen Denkens ist die Ursache<br />

für die Vorstellung einer fremden Macht, die den Menschen gegenübersteht,<br />

ob diese Transzendenz sich in viele Götter aufglie<strong>der</strong>t<br />

o<strong>der</strong> sich in einem Gott konzentriert.<br />

Blitzartig, intuitiv wurde ihm klar:<br />

Nein, Gott ist zweckfrei. Er steht <strong>der</strong> Schöpfung nicht gegenüber.<br />

Er ist immanent in allen Erscheinungen <strong>der</strong> Natur.<br />

Wenn Gott sich in den Erscheinungsweisen <strong>der</strong> Natur manifestiert,<br />

dann ist er kein Individuum. Dann sind Maßstäbe wie Gut<br />

und Böse keine Maßstäbe Gottes.<br />

Individuen sind die mit Geist beseelten Körper. Sie schaffen<br />

sich die Maßstäbe Gut und Böse. Sie haben die Möglichkeit, das<br />

Unvollkommene vom Vollkommenen zu unterscheiden und nach<br />

dem Vollkommenen zu streben.<br />

Seine Intuition <strong>der</strong> Einheit von Gott und <strong>der</strong> Welt hatte er in<br />

seiner ersten Schrift Korte Verhandeling van God, de Mensch en deszelvs<br />

Welstand nie<strong>der</strong>gelegt.<br />

Über Baruchs Züge glitt ein Lächeln.<br />

Wie unendlich weit hatte er sich geistig von <strong>der</strong> leeren hohlen<br />

Formel des Bannfluches <strong>der</strong> jüdischen Gemeinde von Amsterdam<br />

entfernt.<br />

Anfang 1660, fast vier Jahre nach seinem Bann, unterzog man<br />

ihn im Rathaus <strong>der</strong> Stadt einem Verhör. Ob konservative calvinistische<br />

Kreise ihm nur die Kritik am Alten Testament verübelten<br />

o<strong>der</strong> ob sie schon vor <strong>der</strong> Veröffentlichung seiner Schrift Kenntnis


von seiner Vorstellung eines immanenten Gottes hatten, bleibt offen.<br />

Jedenfalls verdächtigten sie ihn des Atheismus und wiesen ihn<br />

aus Amsterdam aus.<br />

Er war damals nach Rijnsburg bei Leiden gezogen in ein gerade<br />

erbautes Haus eines Kollegiaten.<br />

Unter dem Vorwurf des Atheismus hatte er sich gefragt, woran<br />

es liegt, dass die Menschen so unterschiedliche Vorstellungen von<br />

Gott haben. Müssten sie nicht alle, wenn sie tief genug nach<br />

Erkenntnis bohrten, zu einem gemeinsamen Ziel hin gelangen?<br />

Weil aber die Menschen, selbst bei einer Verbesserung ihres<br />

Verstandes, nie induktiv zu einer gemeinsamen Vorstellung von<br />

Gott, dem Unbedingten hingeführt werden können, erschien es<br />

ihm notwendig, diese Intuition von <strong>der</strong> Einheit Gottes und <strong>der</strong><br />

Natur, von Gott, dem Unbedingten, deduktiv herzuleiten.<br />

In Rijnsburg begann er die Erkenntnisse aus <strong>der</strong> Korten Verhandelung<br />

van God, de Mensch en deszelvs Welstand philosophisch<br />

zu vertiefen. Es entstand <strong>der</strong> Entwurf zu seiner „Ethica”.<br />

Baruch lehnte sich zurück. Er erinnerte sich, wie er gegrübelt<br />

hatte, wie die Welt <strong>der</strong> Erscheinungen und Wirkungen zurückzuführen<br />

ist auf die eine Substanz, auf Gott.<br />

Wirkungen und Erscheinungen sind Fähigkeiten o<strong>der</strong> Vermögen<br />

<strong>der</strong> Körper. Da Denken ein Produkt des Gehirns ist, sei auch<br />

das eine körperliche Wirkung bzw. Erscheinung.<br />

Hat Hobbes Recht mit diesem, seinem monistischem Materialismus?<br />

O<strong>der</strong> ist Descartes zuzustimmen, <strong>der</strong> bei seiner endlichen Substanz<br />

zwei große Klassen annimmt, den Geist (cogito) und den<br />

Körper (ergo sum).<br />

Dem Geist billigt er als Attribut Bewusstsein, Seele, Ich zu und<br />

als Akzidentien die Liebe, den Hass, das Wollen und das Urteilen.<br />

Körper haben als Attribut die räumliche Ausdehnung und als<br />

Modi ihre Lage, ihre Gestalt und ihre Bewegung.<br />

Aber wofür braucht Descartes neben <strong>der</strong> endlichen Substanz<br />

eine unendliche Substanz?


Wenn er argumentiert, um das Unvollkommene zu denken,<br />

müsse man das Vollkommene voraussetzen, damit wird Gott aber<br />

doch nicht vergleichbar einem Dreieck o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Oberfläche einer<br />

Kugel. Selbst wenn man akzeptiert, dass das Dasein so notwendig<br />

zur Wesenheit Gottes gehöre, wie zur Idee des Berges die Idee des<br />

Tales, so gehören doch beide Ideen <strong>der</strong> gleichen Klasse, dem Geist, an.<br />

Ziel muss sein, die „Natur <strong>der</strong> Dinge”, wie Descartes sagt, zu<br />

erkennen.<br />

Beim Linsenschleifen wurde ihm klar, erst wenn sich alle Strahlen<br />

in einem Brennpunkt treffen, ist die Linse vollkommen. Dreht<br />

man die Linse um, laufen die Strahlen vom Brennpunkt aus in alle<br />

Richtungen.<br />

Von Gott als Brennpunkt laufen die Strahlen zu den Attributen<br />

Körper und Geist und von dort brechen sie sich an <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong><br />

Erscheinungsweisen und Wirkungen in <strong>der</strong> Welt.<br />

Durch Leone Ebreos Dialoghi d’amore war ihm die platonische<br />

Ideenlehre und <strong>der</strong>en neuplatonischen Variationen von Ideen im<br />

Geiste Gottes vertraut.<br />

Plotin hat Recht. Es gibt nur das EINE. Es ist das höchste<br />

Prinzip o<strong>der</strong> <strong>der</strong> letzte Grund für alles an<strong>der</strong>e. Aus ihm strömt sowohl<br />

Geist als auch Körper.<br />

Folglich muss eine Philosophie <strong>der</strong> Immanenz mit Gott beginnen,<br />

an die sich eine Betrachtung <strong>der</strong> Attribute Geist und Natur<br />

anschließen muss. <strong>Die</strong> Welt des Geistes ist die Welt <strong>der</strong> Ideen.<br />

Das führt zu <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Entstehung und dem Unterschied<br />

zwischen wahren und falschen Ideen.<br />

Schon Averroës hatte von <strong>der</strong> doppelten Wahrheit gesprochen.<br />

<strong>Die</strong> eine wird den Philosophen direkt geschenkt, die an<strong>der</strong>e dem<br />

Volk durch die Religion in Bil<strong>der</strong>n und Gleichnissen vermittelt.<br />

Für ihn war Religion nichts an<strong>der</strong>es als „Philosophie in Metaphern”.<br />

Aber wie adäquat sind die Bil<strong>der</strong> den wahren Ideen?<br />

Weil die Menschen alles für wahr halten, was ihre Sinne ihnen<br />

erzählen, wobei diese Sinne in den Menschen unterschiedliche Bil<strong>der</strong><br />

erzeugen, liegt hier <strong>der</strong> Ursprung <strong>der</strong> falschen Ideen.


<strong>Die</strong>se unterschiedlichen Anschauungen von <strong>der</strong> Welt sind <strong>der</strong><br />

Keim für Streit, Uneinigkeit, Gewalt und Krieg, Fanatismus und<br />

die verschiedenen Formen <strong>der</strong> Intoleranz.<br />

Zwei Jahre später, als er nach Voorburg bei Den Haag umgezogen<br />

war, beteiligte er sich intensiv an den politischen Diskussionen<br />

<strong>der</strong> Zeit. Der Westfälische Frieden hatte die Souveränität des<br />

Staates juristisch festgeschrieben und den Grundsatz <strong>der</strong> Nichteinmischung<br />

in die inneren Angelegenheiten des Staates aufgestellt.<br />

<strong>Die</strong>se Souveränität entsteht nach Hobbes durch einen Staatsvertrag<br />

seiner Bürger. Man schafft durch freie Konvention <strong>der</strong> Individuen<br />

Ordnung, Recht, Sitte und Sittlichkeit an die Stelle des<br />

persönlichen Naturrechts, bei dem galt „Homo homini lupus”.<br />

Aber wer ist <strong>der</strong> Souverän des Staates? Wer übt die Machtballung<br />

des kollektiven Egoismus aus?<br />

Solange nicht alle Dinge <strong>der</strong> Natur restlos erkannt sind, verbleibt<br />

<strong>der</strong> Rest, wie Hobbes sagt, dem Glauben. Und dafür ist nicht die<br />

Philosophie zuständig, son<strong>der</strong>n die Religion. Philosophie sei zuständig<br />

für die rationelle Erkenntnis von Wirkungen und Erscheinungen.<br />

Baruchs Beitrag zu den Diskussionen <strong>der</strong> Zeit bestand darin,<br />

die Trennung zwischen Religion (Domäne des Gehorsams gegenüber<br />

Gott) und Philosophie (vorurteilsfreie Suche nach <strong>der</strong> Wahrheit<br />

entsprechend den Prinzipien <strong>der</strong> Vernunft) zu for<strong>der</strong>n und<br />

damit zwischen Religion und Staat.<br />

Ihm war klar, dass man nicht alle Staatsbürger auf die Ebene<br />

<strong>der</strong> Vernunft heben kann. <strong>Die</strong> Menschen leben in <strong>der</strong> Welt ihrer<br />

unterschiedlichen Vorstellungen. Um die daraus resultierende<br />

Quelle des Fanatismus und <strong>der</strong> Intoleranz und <strong>der</strong>en Folge von<br />

Uneinigkeit, Streit und Krieg auszutrocknen, galt es daher die<br />

Wirkungen ihrer Vorstellungswelt in rationale Muster abzuän<strong>der</strong>n<br />

und diese Wirkungen zu institutionalisieren.<br />

In seinem theologisch-politischen Traktat analysierte er, wie<br />

diese zerstörerischen Elemente neutralisiert werden können, um<br />

ein gesellschaftlich nützliches Verhalten aufkommen zu lassen.


<strong>Die</strong> heftigen Angriffe auf sein anonym veröffentlichter Traktatus<br />

theologico-politicus und die Ermordung Jan de Witts 66 bewiesen,<br />

dass die feudalistischen Kräfte nicht daran dachten, ihre Macht in<br />

die Hand <strong>der</strong> Philosophen zu legen und das Instrument <strong>der</strong> Religion<br />

als staatsför<strong>der</strong>nde Kontrollinstanz aufzugeben, um das Volk<br />

zum Gehorsam zu bewegen.<br />

Er zog sich zurück und verzichtete auf jede weitere Veröffentlichung<br />

seiner Lehren.<br />

Auch die Berufung an die Universität von Heidelberg lehnte er<br />

ab, um seine Überzeugungen nicht dem Zeitgeist opfern zu müssen.<br />

Wie<strong>der</strong> nahm Baruch die Vergrößerungslinse zur Hand. Je<br />

nachdem, in welchem Abstand er die Linse zu dem Männlein hielt,<br />

wurden die Strukturen schärfer und deutlicher o<strong>der</strong> gestaltloser<br />

und verschwommener.<br />

Gelingt es dem Menschen im Chaos seiner Leidenschaften die<br />

Struktur zu erkennen, diese seine Leidenschaften <strong>der</strong> Struktur gemäß<br />

zu ordnen, dann kann <strong>der</strong> Mensch seine Selbstbestimmung<br />

erlangen, kann seinen Geist nach dem unendlichen Geist Gottes<br />

ausrichten.<br />

Ein letztes Mal überprüfte er seine Linsen. Ihr Schliff war jetzt<br />

vollkommen. Sein Auftraggeber konnte sie abholen. Erschöpft sank<br />

er auf sein Lager nie<strong>der</strong>.<br />

66 Jan de Witt, Ratspräsident <strong>der</strong> Generalstaaten, hatte während <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>jährigkeit<br />

des militärischen Statthalters, Wilhelms von Oranien, die militärischen Ausgaben zugunsten<br />

des Ausbaus <strong>der</strong> Handelsflotte stark vernachlässigt. Als Ludwig XIV., König<br />

von Frankreich, Erbansprüche auf die spanischen Nie<strong>der</strong>lande geltend machte und<br />

Holland angriff, wurde durch den inzwischen volljährigen Oranier de Witt gestürzt<br />

und ermordet.<br />

Als Generalkapitän <strong>der</strong> Vereinigten Generalstaaten lässt Wilhelm von Oranien das<br />

Land weitgehend überfluten, beendet den Seekrieg mit England und wirbt in Europa<br />

für eine antifranzösische Koalition.


<strong>Die</strong> letzten Worte seiner „ethica”, die er bisher nicht veröffentlicht<br />

hatte, weil er die Zeit noch nicht reif dafür fand, gingen ihm<br />

durch den Kopf.<br />

„Der Weise wird in <strong>der</strong> Seele kaum beunruhigt, son<strong>der</strong>n,<br />

seiner selbst, Gottes und <strong>der</strong> Dinge mit einer gewissen ewigen<br />

Notwendigkeit bewusst, hört er niemals auf zu sein und<br />

ist immer im Besitze <strong>der</strong> wahren Befriedigung <strong>der</strong> Seele.”<br />

Der Mann im Bettkasten fuhr so jäh hoch aus seinen Kissen,<br />

dass er sich an einem Bettpfosten den Kopf stieß.<br />

Gott sei dank, die Kanonenkugeln, die neben ihm die Schiffswand<br />

eingeschlagen hatten, waren nur Traumgespinste. Das<br />

kommt davon, wenn man in <strong>der</strong> Roten Laterne zu lange zecht. Ein<br />

Zechkumpan hatte ihm die Seeschlacht des Admirals Ruyters 67<br />

gegen die Englän<strong>der</strong> in solch glühenden Farben geschil<strong>der</strong>t, dass er<br />

auf dem Heimweg beschloss, diese Seeschlacht in einem Gemälde<br />

zu verewigen.<br />

Der Krach, <strong>der</strong> in seinen Träumen das Bild einschlagen<strong>der</strong> Kanonenkugeln<br />

erzeugt hatte, setzte wie<strong>der</strong> ein und entpuppte sich<br />

als <strong>der</strong> des Türklopfers, mit dem jemand draußen Einlass begehrte.<br />

„Jongheer Rifenkoek, was führt Euch denn zu so früher Stunde<br />

hierher?”<br />

„Entschuldigt die Störung, Mynheer van <strong>der</strong> Spyck. Aber ich<br />

wollte zu Mynheer Spinoza. Er hat mit meinem Baas, Mynheer<br />

van Leeuwenhoek vereinbart, dass die Linsen am 21. Februar, also<br />

heute, abgeholt werden können. Aber er scheint nicht da zu sein.<br />

Und da wollte ich fragen, ob er sie vielleicht bei Euch deponiert<br />

hat.”<br />

67 Michiel de Ruyter war einer <strong>der</strong> berühmtesten Flottenführer in den Seekriegen gegen<br />

England zwischen 1652 und 1674. <strong>Die</strong>se Seekriege wurden ausgelöst durch die<br />

vom englischen Parlament beschlossene Navigationsakte, die bei <strong>der</strong> Einfuhr von Waren<br />

nach England fremde Schiffe ausschloss. Damit sollte die Vorherrschaft des holländischen<br />

Frachtschifffahrtsmonopols gebrochen werden.


„Seltsam, er geht nie aus, ohne mir eine Botschaft zu hinterlassen.<br />

Wartet, ich habe einen Schlüssel zu seiner Wohnung. Vielleicht<br />

hat er ja die Linsen mit einem Vermerk für Euch auf seinem<br />

Arbeitstisch liegen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er Euch drei<br />

Stunden von Leiden nach hier kommen lässt, wenn er seinen Auftrag<br />

nicht fertig hat.”<br />

Baruch de Spinoza lag bewusstlos auf seinem Lager. Er schien<br />

einen Blutsturz erlitten zu haben, wie das blutbeschmierte Bettlaken<br />

vermuten ließ.<br />

Der Maler veranlasste seine Magd, den bewusstlosen Philosophen<br />

zu waschen und in frische Linnen zu betten.<br />

„Jongheer Rifenkoek, bitte bleibt bei Mynheer de Spinoza, bis<br />

ich den Doktor Lodewijk Meyer geholt habe.”<br />

Rifenkoek war schon oft hier gewesen. Er kannte diese Wohnung,<br />

<strong>der</strong>en Kargheit im Gegensatz zu <strong>der</strong> gehaltvollen Bibliothek<br />

stand, die sie barg. Er nahm ein Buch aus dem Regal. Es war von<br />

Christian Huygens. In einer Abbildung war <strong>der</strong> Strahlengang durch<br />

die Linsen des Fernrohrs dargestellt, mit dem Huygens den Orionnebel<br />

entdeckt hatte.<br />

„Piet, die Linsen, die Ihr abholen sollt, sind fertig. Sie liegen<br />

dort drüben zusammen mit dem <strong>Wurzel</strong>männchen in dem Kästchen.<br />

Ich schenke Euch das <strong>Wurzel</strong>männchen, denn ich werde<br />

keine Linsen mehr schleifen. Und Ihr habt es immer so bewun<strong>der</strong>t.”<br />

Baruch de Spinoza war aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht und<br />

sprach mit <strong>der</strong> Klarheit, wie sie Sterbenden kurz vor ihrem Tode<br />

zu eigen ist.<br />

Der Maler betrat mit dem Arzt das Zimmer.<br />

„Lodewijk, meine Zeit ist abgelaufen. Bitte Jan Rieuwertsz die<br />

Herausgabe <strong>der</strong> Ethika zu übernehmen.”<br />

Erschöpft ließ sich <strong>der</strong> Kranke zurück in die Kissen sinken.<br />

Der sich über ihn beugende Arzt sah, wie sich das Gesicht des<br />

Sterbenden verklärte. Und nur er hörte den letzten gehauchten<br />

Satz Baruch de Spinozas:


„Lebwohl, Ewiger Geist, und suche Dir einen Körper, sub<br />

specie aeternitatis, in dem Du die Welt <strong>der</strong> Vernunft weiter erleuchten<br />

kannst.”<br />

We<strong>der</strong> <strong>der</strong> sterbende Spinoza noch <strong>der</strong> nun die Augen des Toten<br />

schließende Arzt wussten, dass vor über zweitausend Jahren<br />

sich an einer Korkeiche ein Philosoph mit ähnlichem Wunsch aus<br />

dieser Welt verabschiedet hatte.


4. Panheismus: «Humanitas»<br />

„Frau Dr. Rifenkoek, ich habe Sie kommen lassen, um Sie zu<br />

fragen, ob Sie bereit sind, im kommenden Schuljahr, im Rahmen<br />

des einzuführenden Kurssystems, einen Philosophiekurs zu übernehmen.<br />

Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass die geplante Reform <strong>der</strong><br />

gymnasialen Oberstufe mit dem ab dem Schuljahr 1974 einzuführenden<br />

Kurssystem für uns als einziges Gymnasium am Ort mehr<br />

Schwierigkeiten bereitet, als sie für Oberschulen in Großstädten<br />

bestehen, die eine größere Palette von Kursen durch Verbundsystem<br />

anbieten können.<br />

Ich habe daher die kommenden Schüler <strong>der</strong> Oberstufe nach ihren<br />

Interessenlagen befragen lassen. Vierzehn von ihnen bekundeten<br />

ihren Wunsch nach einem Philosophiekurs. Da dreizehn Teilnehmer<br />

die Mindestzahl ist, könnte ein solcher Kurs eingerichtet<br />

werden.”<br />

Der Schulleiter lehnte sich in seinem Sessel zurück und schaute<br />

die ihm gegenüber sitzende Kollegin erwartungsvoll an.<br />

„Welche Vorgaben über den Inhalt legt die Kultusbehörde fest?”<br />

„Im Grunde genommen keine. Es gibt nur das allgemeine<br />

Richtziel, ethische Werte zu vermitteln und ein wertorientiertes<br />

Handeln zu erreichen.”<br />

„Gut, wenn ich freie Hand im Rahmen des von Ihnen genannten<br />

Richtzieles habe und nicht ein philosophiegeschichtliches<br />

Kompendium vermitteln muss, dann übernehme ich den Kurs.”<br />

„Wir haben uns nun zu Beginn unseres Philosophiekurses gegenseitig<br />

vorgestellt, aber wir verwenden den Ausdruck Vorstellung


nicht nur im Zusammenhang mit Personen, son<strong>der</strong>n auch bei<br />

Sachverhalten.<br />

Ich möchte jetzt einmal von Ihnen wissen, was Sie sich laienhaft<br />

unter Philosophie vorstellen”, kam Frau Dr. Rifenkoek zum Thema.<br />

„Peter, fangen Sie mal an!”<br />

Der hoch aufgeschossene blonde Siebzehnjährige, den die Philosophielehrerin<br />

aus dem Deutschunterricht in <strong>der</strong> Mittelstufe als<br />

beredt kannte, räusperte sich und meinte: „Philosophie hat was<br />

mit Lebenskunde, mit Ethik zu tun.”<br />

„Peter meint, Philosophie habe mit <strong>der</strong> Frage zu tun, wie sollten<br />

wir leben?”<br />

„Philosophie hat aber auch mit unseren Lebenswurzeln zu tun”,<br />

meldete sich Erika zu Wort.<br />

Karl ergänzte: „Wie wurde die Welt erschaffen? Liegt hinter<br />

dem, was geschehen ist und noch geschieht, ein Sinn?”<br />

Maria erwartet von <strong>der</strong> Philosophie die Antwort: „Gibt es ein<br />

Leben nach dem Tode?”<br />

„Philosophie hat es also mit Grundfragen des Seins zu tun, mit<br />

den Fragen nach einem Gottesbild, einem Menschenbild und einem<br />

Weltbild”, fasste die Kursleiterin zusammen.<br />

„Wichtig ist, die Fähigkeit sich zu wun<strong>der</strong>n, die Dinge zu hinterfragen.<br />

Das ist <strong>der</strong> Anfang jedes Philosophierens.<br />

Fragen wir also, woher stammen unsere Vorstellungen? Werden<br />

sie uns als Anlagen bei <strong>der</strong> Geburt mitgegeben?”<br />

„Nein”, meinte Christine, „Vorstellungen sind die Erinnerungen<br />

früherer Erlebnisse.”<br />

„Mir ist gestern im Konzert”, erinnerte sich Sarah, „bei einem<br />

bestimmten Satz das Bild eines plätschernden Baches vor Augen<br />

gestanden.”<br />

„Plätschern<strong>der</strong> Bach?” Frau Dr. Rifenkoek musterte die Bücherregale<br />

<strong>der</strong> Bibliothek, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Philosophiekurs stattfand.<br />

Dann zog sie aus einem <strong>der</strong> Regale ein Buch heraus.<br />

„Das Buch heißt <strong>Die</strong> Lebensformen. Der Verfasser ist Eduard<br />

Spranger.


Ich möchte das, was Spranger mit Lebensformen meint, an<br />

folgendem Beispiel erläutern:<br />

Es stehen 3 Jungen vor einem Wasserfall.<br />

Sagt <strong>der</strong> erste:<br />

‚Welch ein Anblick! <strong>Die</strong>se Wucht! <strong>Die</strong>ses Schäumen! <strong>Die</strong>ses<br />

Farbenspiel in <strong>der</strong> Sonne!’<br />

Erklärt <strong>der</strong> Zweite:<br />

‚<strong>Die</strong> Schwerkraft ist es, die das Wasser sprühend unter Luftaufnahme<br />

in die Tiefe stürzen lässt. Daher das Schäumen.<br />

Dabei wirkt das Wasser wie ein Prisma und zerlegt das<br />

Sonnenlicht in seine Elementarfarben.’<br />

Bedauert <strong>der</strong> Dritte:<br />

‚Donnerwetter, gehen da PS verloren.’<br />

Reagiert <strong>der</strong> erste als Ästhet, <strong>der</strong> einen Eindruck formuliert, so<br />

erklärt <strong>der</strong> zweite das Naturphänomen als Erkenntnisobjekt mit<br />

dem Rüstzeug seines Wissens, während <strong>der</strong> dritte als ökonomischer<br />

Mensch den entgangenen Nutzen bedauert.<br />

Eduard Spranger, <strong>der</strong> große Pädagoge <strong>der</strong> ersten Hälfte dieses<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts, nennt diese Reaktionen auf die Umwelt Lebensformen.<br />

In ihnen aktualisiert sich eine mögliche Betrachtungsweise <strong>der</strong><br />

Umwelt. Spranger nennt daher seine Lebensformen auch aktualisierte<br />

Gegenstandsschichten 68 .<br />

Der Gegenstand, hier <strong>der</strong> Wasserfall, weckt eine bestimmte<br />

Schicht im Menschen.<br />

Eine bestimmte gleichartige Wahrnehmung löst in den Betrachtern<br />

ungleichartige Vorstellungen aus.<br />

Mit dieser Erkenntnis möchte ich die heutige Stunde beenden,<br />

nicht ohne Ihnen eine Lektüre als Hausaufgabe für die nächste<br />

Stunde aufzugeben.<br />

Lesen Sie von Antoine de Saint-Exupéry Der kleine Prinz und<br />

bringen Sie bitte diese Lektüre zur nächsten Stunde mit.”<br />

68 Eduard Spranger, Lebensformen, S. 96ff. Tübingen 1950


a) Ichentfaltung<br />

„Der kleine Prinz verlässt seinen Planeten, um an<strong>der</strong>e Planeten<br />

kennen zu lernen. Ist <strong>der</strong> kleine Prinz ein Astronaut? O<strong>der</strong> was<br />

meint <strong>der</strong> Dichter mit diesem Bild?”<br />

„Je<strong>der</strong> Mensch lebt in seiner eigenen Welt. <strong>Die</strong> Welt des kleinen<br />

Prinzen ist bisher klein. Ich glaube”, so meint Klara, „<strong>der</strong> kleine<br />

Prinz will wissen, wie an<strong>der</strong>e Menschen die Welt anschauen.”<br />

„Klaus, versuchen Sie bitte die Welt des Säufers zu deuten!”<br />

Klaus rezitierte:<br />

„‚Was machst du da?’, fragte er den Säufer.<br />

‚Ich trinke’, antwortete <strong>der</strong> Säufer.<br />

‚Warum trinkst du?’, fragte ihn <strong>der</strong> kleine Prinz<br />

‚Um zu vergessen’, antwortete <strong>der</strong> Säufer<br />

‚Um was zu vergessen?’, erkundigte sich <strong>der</strong> kleine Prinz<br />

‚Um zu vergessen, dass ich mich schäme.’<br />

‚Weshalb schämst du dich?’<br />

‚Weil ich saufe!’, endete <strong>der</strong> Säufer 69<br />

Bei diesem Menschen sehe ich das Bild des die Welt mit seinen<br />

<strong>Wurzel</strong>n umklammernden Affenbrotbaumes vor mir.<br />

Auf dem Planeten des kleinen Prinzen gab es fürchterliche<br />

Samen. Und das waren die Samen <strong>der</strong> Affenbrotbäume. Der Boden<br />

des Planeten war voll davon. Aber einen Affenbrotbaum kann man,<br />

wenn man sich seiner zu spät annimmt, nie mehr loswerden. Er<br />

bemächtigt sich des ganzen Planeten. Er durchdringt ihn mit seinen<br />

<strong>Wurzel</strong>n. Und wenn <strong>der</strong> Planet zu klein ist und die Affenbrotbäume<br />

zu zahlreich werden, sprengen sie ihn 70 .<br />

69 Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz, S. 42ff., Düsseldorf 1998<br />

70 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 21ff.


<strong>Die</strong>ser Mensch ist <strong>der</strong> Alkoholsucht verfallen und kommt davon<br />

nicht los. Ich glaube, das gilt auch für Rauschgiftsüchtige, die mit<br />

ihrer Lebenssituation nicht fertig geworden sind und Zuflucht im<br />

Rausch des Vergessens suchen.”<br />

„Einverstanden?” Frau Dr. Rifenkoek blickte in die Runde.<br />

Nach dem beifälligen Nicken wandte sie sich an Silvia:<br />

„Bitte, lesen Sie uns auszugsweise den Besuch beim König vor<br />

und versuchen Sie dann seine Welt zu erklären.<br />

‚Ah! Sieh da, ein Untertan’ rief <strong>der</strong> König, als er den kleinen<br />

Prinzen sah. Und <strong>der</strong> kleine Prinz fragte sich:<br />

Wie kann er mich kennen, da er mich noch nie gesehen hat?<br />

Er wusste nicht, dass für die Könige die Welt etwas<br />

höchst Einfaches ist. Alle Menschen sind Untertanen.<br />

‚Herr …, worüber herrscht Ihr?’<br />

‚Über alles’, antwortete <strong>der</strong> König mit großer Einfachheit 71 .<br />

Für den König besteht die Welt aus Untertanen. Überträgt man<br />

das auf die Welt, in <strong>der</strong> wir leben, so ist damit, so vermute ich, <strong>der</strong><br />

Herrschsüchtige gemeint, <strong>der</strong> alle kommandieren muss und keine<br />

an<strong>der</strong>e Meinung gelten lassen will.”<br />

„Frank, was ist mit dem Eitlen?”<br />

‚Ah, ah, schau, schau, ein Bewun<strong>der</strong>er kommt zu Besuch!’, rief <strong>der</strong><br />

Eitle von weitem, sobald er des kleinen Prinzen ansichtig wurde.<br />

Denn für die Eitlen sind die an<strong>der</strong>en Leute Bewun<strong>der</strong>er.<br />

‚Sie haben einen spaßigen Hut auf.’<br />

‚Er ist zum Grüßen, wenn man mir zujauchzt. Schlag deine<br />

Hände zusammen’, empfahl ihm <strong>der</strong> Eitle.<br />

Der kleine Prinz schlug seine Hände gegeneinan<strong>der</strong>.<br />

Der Eitle grüßte bescheiden, indem er seinen Hut lüftete.<br />

‚Und was muss man tun, damit <strong>der</strong> Hut herunter fällt?’<br />

Aber <strong>der</strong> Eitle hörte ihn nicht. <strong>Die</strong> Eitlen hören immer nur<br />

die Lobreden 72<br />

71 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 34ff.<br />

72 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 40ff.


Sein Lebensziel ist, bewun<strong>der</strong>t zu werden. Solche Menschen<br />

plustern sich in <strong>der</strong> Gesellschaft auf wie ein Pfau, nur um den<br />

Beifall des Publikums willen. Ich glaube, solche Menschen sehen<br />

Kritik an ihrer Meinung o<strong>der</strong> an ihrem Handeln als Denkmalschändung<br />

an.”<br />

„Konrad, besuchen Sie den Geschäftsmann und sagen Sie uns<br />

dazu Ihre Meinung!”<br />

‚Und was machst du mit diesen Sternen?’<br />

‚Was ich damit mache?’<br />

‚Ja!’<br />

‚Nichts. Ich besitze sie.’<br />

‚Du besitzt die Sterne?’<br />

‚Ja!’<br />

‚Aber ich habe schon einen König gesehen, <strong>der</strong> …’<br />

‚Könige besitzen nicht, sie regieren über, das ist etwas<br />

ganz an<strong>der</strong>es.’<br />

‚Und was hast du davon, die Sterne zu besitzen?’<br />

‚Das macht mich reich.’<br />

‚Und was hast du vom Reichsein?’<br />

‚Weitere Sterne kaufen, wenn jemand welche findet.’ 73<br />

Ich glaube, das ist <strong>der</strong> Junge vom Wasserfall, <strong>der</strong> die verlorengehenden<br />

PS bedauert und zeit seines Lebens von dieser Anschauung<br />

nicht mehr losgekommen ist. Verstärkt sich diese Einstellung,<br />

so wird sie zur Habsucht. <strong>Die</strong>se Typen sind neidisch, karrieregeil<br />

und gebrauchen rücksichtslos um finanzieller Vorteile willen ihre<br />

Ellenbogen.”<br />

„In all diesen Fällen handelt es sich hier um eine Versteinerung<br />

<strong>der</strong> Spranger’schen Lebensformen”, fasste Frau Dr. Rifenkoek zusammen.<br />

„Wir wollen uns in <strong>der</strong> nächsten Stunde mit diesen Vorgängen<br />

genauer beschäftigen. Sigmund Freud, <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Psychoanalyse,<br />

weiß uns mehr davon zu berichten.<br />

73 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 43ff.


Ich suche einen Freiwilligen, <strong>der</strong> uns zur Einführung in die<br />

nächste Stunde ein Kurzreferat über das ES, ICH und ÜBER-ICH<br />

hält. Literatur findet er hier in <strong>der</strong> Bibliothek. Detlef, <strong>der</strong> sich bisher<br />

an den Diskussionen noch nicht beteiligt hatte, meldete sich.<br />

Detlef begann sein Referat in <strong>der</strong> nächsten Stunde mit dem Begriff<br />

des ES.<br />

„Der Ausdruck ES wurde eingeführt von dem Psychoanalytiker<br />

Georg Groddeck, 1866 geboren und 1934 gestorben:<br />

Das ES ist das Insgesamt <strong>der</strong> Triebe und Leidenschaften, die als<br />

naturhafte Kräfte vom Leibe her die menschliche Lebensführung<br />

bestimmen.<br />

Es hat mich übermannt<br />

Es hat mich dazu gedrängt<br />

Es gab für mich keinen an<strong>der</strong>en Ausweg<br />

Das ES ist unbewusst und strebt nach einer unmittelbaren und<br />

vollständigen Abfuhr <strong>der</strong> Triebenergie. Es wird als Drang erlebt,<br />

meist in Verbindung mit einer Zielvorstellung. <strong>Die</strong> Befriedigung des<br />

Triebes verschafft Lust, bleibt <strong>der</strong> Trieb unbefriedigt, entsteht Unlust.<br />

Schon Heinrich Gossen hatte in <strong>der</strong> Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

erkannt, dass die Wertvorstellung eines Gutes mit zunehmen<strong>der</strong><br />

Befriedigung abnimmt und nahm damit die subjektive Wertvorstellung<br />

in <strong>der</strong> Volkswirtschaftslehre vorweg.<br />

Bei Schopenhauer finden wir das ES als die Summe aller unbewussten<br />

Lebenskräfte in Gestalt des Willens. Nach seiner Ansicht<br />

denkt <strong>der</strong> Intellekt immer nur das, was <strong>der</strong> Wille will.<br />

Wir meinen unser Leben zu planen und zu lenken, aber wir<br />

werden von Drängen und Trieben gelebt. Genauere Lebenskenntnis<br />

lehrt, dass man zwar ICH sagt, aber dass es das ES ist, welches<br />

handelt.”<br />

Hier unterbrach Frau Dr. Rifenkoek das Referat:<br />

„Detlef, bevor Sie zum ICH kommen, erscheint es mir wichtig,<br />

einige Verständnisfragen zu stellen.


Was wissen Sie vom 1. Gossen`schen Gesetz? Ja, Michael?”<br />

„Der Nutzwert eines Gutes nimmt mit zunehmendem Verzehr<br />

dieses Gutes ab.<br />

Für einen Verdurstenden hat Wasser einen unschätzbar hohen<br />

Nutzwert. Ist sein Durst gestillt, sinkt <strong>der</strong> Nutzwert des Wassers<br />

als Durststillmittel gegen Null.”<br />

„Was Gossen vorweg erkannt hat”, fasste Frau Dr. Rifenkoek<br />

zusammen, „ist <strong>der</strong> Tatbestand, dass nicht befriedigte Triebe eine<br />

hohe Reizschwelle haben, die mit <strong>der</strong> Befriedigung abgebaut wird.<br />

Wenn aber die Triebbefriedigung die Reizschwellen sinken lassen,<br />

wie kommt es dann, dass die Reizschwellen beim König, beim<br />

Eitlen und beim Geschäftsmann nicht sinken, son<strong>der</strong>n, wie Spranger<br />

es nennt, versteinerte Lebensformen sind.?”<br />

„Es handelt sich meines Erachtens nach um Suchtphänomene”,<br />

meinte Karin.<br />

„Gut, über die Ursachen werden wir uns später unterhalten.<br />

Lassen wir nun aber Detlef über das ICH referieren.”<br />

„Das ICH ist die allgemeine Bezeichnung für den Kern o<strong>der</strong> die<br />

Struktur <strong>der</strong> Persönlichkeit.<br />

Das ICH steuert bewusst o<strong>der</strong> unbewusst die Erlebnisse und<br />

Handlungen einer Person.<br />

<strong>Die</strong> bewussten Ich-Funktionen sind die Wahrnehmung, die Erinnerung,<br />

das Denken, Planen und Lernen. <strong>Die</strong> unbewussten Ich-<br />

Funktionen sind die Abwehr gegenüber dem ES, die Abwehr gegenüber<br />

dem ÜBER-ICH und die Bewältigung <strong>der</strong> Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

in <strong>der</strong> Außenwelt.<br />

<strong>Die</strong> Ich-Funktionen sind teilweise angeboren, teilweise bilden sie<br />

sich erst im Laufe <strong>der</strong> Entwicklung heraus.”<br />

„<strong>Die</strong> unbewussten Ich-Funktionen sind die Abwehr gegenüber<br />

dem ES …”, zitierte Frau Dr. Rifenkoek aus dem Referat.<br />

„Klaus, Sie haben in <strong>der</strong> letzten Stunde zitiert, welche Gefahren<br />

die Affenbrotbäume, das Suchtphänomen, für den Menschen dar-


stellen. Suchen Sie doch bitte diese Stelle in <strong>der</strong> Lektüre auf und<br />

lesen Sie uns den darauf folgenden Absatz vor.”<br />

„‚Es ist eine Frage <strong>der</strong> Disziplin’, sagte mir später <strong>der</strong> kleine Prinz.<br />

‚Wenn man seine Morgentoilette beendet hat,<br />

muss man sich ebenso sorgfältig an die Toilette des Planeten<br />

machen.<br />

Man muss sich regelmäßig dazu zwingen,<br />

die Sprösslinge <strong>der</strong> Affenbrotbäume auszureißen,<br />

sobald man sie von den Rosensträuchern unterscheiden kann,<br />

denen sie in <strong>der</strong> Jugend sehr ähnlich sehen.<br />

Das ist eine zwar langweilige, aber leichte Arbeit.’” 74<br />

„Noch ist das eine bewusste Ich-Funktion”, deutete Frau Dr.<br />

Rifenkoek den letzten Satz des Zitates.<br />

„Wann werden Bewegungsabläufe unbewusst?”<br />

„Wenn wir sie oft wie<strong>der</strong>holen, wenn sie uns zur Gewohnheit<br />

werden”, meinte Sarah.<br />

Frau Dr. Rifenkoek nahm die Lektüre zur Hand und rezitierte:<br />

‚Zeichne mir ein Schaf!’ …<br />

Also habe ich gezeichnet …<br />

‚Nein, das ist schon sehr krank. Mach ein an<strong>der</strong>es!’<br />

Ich zeichnete.<br />

‚Du siehst wohl, das ist kein Schaf, das ist ein Wid<strong>der</strong>. Es hat<br />

Hörner.’<br />

Mir ging die Geduld aus.<br />

‚Das ist die Kiste. Das Schaf, das du willst, steckt da drin.’<br />

‚Das ist ganz so, wie ich es mir gewünscht habe.<br />

Meinst du, dass dieses Schaf viel Gras braucht?’” 75<br />

„Sarah, was meinen Sie, verkörpert das Schaf?”<br />

„Unsere Gewohnheiten.”<br />

„Und solche, wie das virtuelle Schaf zeigt, keine von außen anerzogene<br />

Gewohnheiten, son<strong>der</strong>n solche, die wir selbst entwickelt<br />

haben”, ergänzte Frau Dr. Rifenkoek.<br />

74 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 22ff.<br />

75 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 9ff.


Sie nahm die Lektüre wie<strong>der</strong> zur Hand und las:<br />

„‚Wenn ein Schaf Sträucher frisst, so frisst es doch auch die<br />

Blumen?’<br />

‚Ein Schaf frisst alles, was ihm vors Maul kommt.’<br />

‚Auch die Blumen, die Dornen haben?’<br />

‚Ja. Auch die Blumen, die Dornen haben.’<br />

‚Wozu haben sie dann die Dornen?’<br />

‚Wie du siehst, beschäftige ich mich mit wichtigeren Dingen.’<br />

‚Mit wichtigeren Dingen! …<br />

Du verwechselst alles, du bringst alles durcheinan<strong>der</strong>. …<br />

Wenn einer eine Blume liebt, die es nur ein einziges Mal gibt auf<br />

allen Millionen und Millionen Sternen, dann genügt es ihm völlig,<br />

dass er zu ihnen hinaufschaut, um glücklich zu sein.<br />

Er sagt sich: Meine Blume ist da oben, irgendwo. …<br />

Wenn aber das Schaf die Blume frisst, so ist es für ihn,<br />

als wären plötzlich alle Sterne ausgelöscht!<br />

Und das soll nicht wichtig sein?’ 76 ”<br />

„Wenn ich das richtig verstanden habe”, meldete sich Karla<br />

zu Wort, „besteht also die Gefahr, dass unsere unbewussten<br />

Ich-Funktionen, die Gewohnheiten, keimhafte bewusste Ich-<br />

Funktionen unterbinden können.”<br />

„Richtig Karla. Lesen Sie uns unter diesem Aspekt mal die<br />

Dialoge des kleinen Prinzen mit dem Laternenanzün<strong>der</strong> vor.”<br />

„‚Guten Tag. Warum hast du deine Laterne eben ausgelöscht?’<br />

‚Ich habe die Weisung’, antwortete <strong>der</strong> Laternenanzün<strong>der</strong>.<br />

‚Guten Tag.’<br />

‚Was ist das, die Weisung?’<br />

‚<strong>Die</strong> Weisung, meine Laterne auszulöschen. Guten Abend.’<br />

Und er zündete sie wie<strong>der</strong> an.<br />

‚Aber warum hast du sie soeben wie<strong>der</strong> angezündet?’<br />

‚Das ist die Weisung’, antwortete <strong>der</strong> Anzün<strong>der</strong>.<br />

76 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 25ff.


‚Ich verstehe nicht’, sagte <strong>der</strong> kleine Prinz.<br />

‚Da ist nichts zu verstehen’, sagte <strong>der</strong> Anzün<strong>der</strong>.<br />

‚<strong>Die</strong> Weisung ist eben die Weisung, Guten Tag.’<br />

Und er löschte seine Laterne wie<strong>der</strong> aus …<br />

‚Weißt du, ich kenne ein Mittel, wie du dich ausruhen könntest,<br />

wenn du wolltest …’<br />

‚Ich will immer’, sagte <strong>der</strong> Anzün<strong>der</strong>.<br />

Denn man kann treu und faul zugleich sein. 77 ”<br />

Maria versuchte sich an einer Deutung.<br />

„Es wird gesagt, seine Welt ist die kleinste. Er befolgt einen Befehl,<br />

ohne zu fragen, wie sinnvoll dieser Befehl noch ist.<br />

Das erinnert mich an eine Anekdote, die ich einmal gelesen habe.<br />

Danach trifft zu Anfang dieses Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>der</strong> Zar Nikolaus<br />

an einer entfernten Stelle seines Schlossparks einen dort Wache<br />

stehenden Soldaten. We<strong>der</strong> <strong>der</strong> Soldat selbst noch ein Vorgesetzter<br />

konnte ihm sagen, warum dort Wache geschoben wurde.<br />

Nachforschungen ergaben, dass 150 Jahre vorher Katharina die<br />

Große dort zu Beginn des Frühlings die ersten Schneeglöckchen<br />

gesehen hat und einen Wachsoldaten dorthin beor<strong>der</strong>t hat, damit<br />

keiner diese Blümchen abpflückt.<br />

Der Laternenanzün<strong>der</strong> tut seine Arbeit nicht aus Überzeugung.<br />

Er übt stur seine einmal angeeignete Tätigkeit aus.<br />

Übertragen auf heutige Verhältnisse sind das Menschen, die genormte;<br />

übernommene Vorstellungen haben und in einer Welt leben,<br />

die klein wie ein Schrebergarten ist. Bei gesellschaftlichen<br />

Verän<strong>der</strong>ungen werden sie die Verlierer sein, weil sie sich nicht<br />

anpassen können.”<br />

„Gut, noch Bemerkungen? Nicht?” Frau Dr. Rifenkoek schaute<br />

auf die Uhr.<br />

„Mit den bewussten Ich-Funktionen werden wir uns in <strong>der</strong><br />

nächsten Stunde beschäftigen.<br />

77 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 48ff.


„Detlef, zitieren Sie uns bitte den letzten Satz aus Ihrem Referat<br />

über das ICH”, for<strong>der</strong>te die Kursleiterin zu Beginn <strong>der</strong> nächsten<br />

Philosophiestunde ihren Referenten auf.<br />

„<strong>Die</strong> Ich-Funktionen sind teilweise angeboren, teilweise bilden<br />

sie sich erst im Laufe <strong>der</strong> Entwicklung heraus.”<br />

„Wie entwickelt sich eigentlich ein Kleinkind? Für die eigene<br />

Entwicklung fehlt einem in diesem frühen Stadium das Bewusstsein.<br />

Aber hat einer von Ihnen eine jüngere Schwester o<strong>der</strong> einen<br />

Bru<strong>der</strong>?”<br />

Nach einem Augenblick des Schweigens in <strong>der</strong> Gruppe meldete<br />

sich Karin:<br />

„Als ich acht Jahre alt war, kam meine Schwester Sofie zur<br />

Welt. Ich weiß noch, dass ich furchtbar eifersüchtig war, denn alle<br />

Liebe und Fürsorge, die bisher mir, dem einzigen Kind, gegolten<br />

hatte, wandten sich nun dem Neuankömmling zu.<br />

Als meine Eltern mein verän<strong>der</strong>tes Verhalten bemerkten, haben<br />

sie mir keine moralische Standpauke gehalten, was, aus meiner<br />

heutigen Sicht, meine innere Ablehnung noch verstärkt hätte, son<strong>der</strong>n<br />

sie haben mich behutsam in die Fürsorge meiner Schwester<br />

eingebunden.<br />

Ich war stolz, dass ich die nassen Windeln wechseln durfte, dass<br />

ich die Kleine füttern und sie im Kin<strong>der</strong>wagen spazieren führen<br />

durfte. Und ich lernte, dass dieses schreiende, nässende Etwas<br />

nicht nur Nahrung und saubere Windeln, son<strong>der</strong>n auch viel Geduld<br />

und Liebe brauchte.<br />

Beson<strong>der</strong>s Geduld. Ich weiß noch, als sie laufen konnte, habe<br />

ich sie stets an <strong>der</strong> Hand festgehalten, auch wenn sie sich losreißen<br />

wollte, aus Angst sie könnte fallen. Bis mich mein Vater darauf<br />

aufmerksam machte, man müsse auch loslassen können. Das Kind<br />

müsse schließlich die Erfahrung machen, dass man auch fallen<br />

kann. Was ich mache, sei Dressur und führe nur zur Unsicherheit<br />

bei meiner Schwester.<br />

Es gab eine Zeit, da war sie vier o<strong>der</strong> fünf Jahre alt, da wollte sie<br />

nichts mehr von mir wissen, da hatte sie sich auch innerlich von


mir losgerissen. Als ich mich darüber bei meiner Mutter beklagte,<br />

sagte sie mir, auch ich habe in dem Alter allein sein wollen. Das sei<br />

die Märchenphase, in <strong>der</strong> die Kin<strong>der</strong> in einer Traumwelt lebten.<br />

<strong>Die</strong> müsse man sie ausleben lassen, das sei für ihre spätere Kreativität<br />

und Spontaneität sehr wichtig.<br />

Heute ist meine Schwester eine selbstbewusste Zehnjährige, die<br />

weiß, was sie will. Rückblickend muss ich sagen, dass auch ich in<br />

dieser Zeit viel für mich selbst dazu gelernt habe.”<br />

„Ich danke Ihnen, Karin. Besser konnte man die Entwicklung<br />

gelungener Ich-Funktionen nicht schil<strong>der</strong>n.<br />

Aber was ist, wenn dieser Prozess nicht so reibungslos verläuft?”<br />

Frau Dr. Rifenkoek wandte sich Detlef zu.<br />

„Ich glaube, Detlef, jetzt ist es an <strong>der</strong> Zeit, Ihr Referat mit dem<br />

Bericht über das ÜBER-ICH abzuschließen.”<br />

„Das ÜBER-ICH vertritt die moralischen Maßstäbe, Werte<br />

und Einstellungen in <strong>der</strong> Persönlichkeit, die aus <strong>der</strong> Familie und<br />

Gesellschaft übernommen werden.<br />

Gegenüber dem ICH hat das ÜBER-ICH die Rolle des Richters,<br />

gegenüber dem ES wehrt es wie ein Zensor alle Triebregungen<br />

ab. Aus Konflikten zwischen dem ÜBER-ICH, ICH und ES<br />

entstehen Verdrängungen, Depressionen, Phobien, Neurosen usw.<br />

„Das ÜBER-ICH vertritt die moralischen Maßstäbe <strong>der</strong> Familie”,<br />

rezitierte die Kursleiterin.<br />

„Erinnern Sie sich, was Karins Vater sagte, als sie ihre kleine<br />

Schwester bei <strong>der</strong>en Laufversuchen nicht loslassen wollte?<br />

Irgendein ein Philosoph hat einmal gesagt:<br />

Gewalt maskiert sich als Liebe und schleicht sich in die Erziehung<br />

ein, so dass Kin<strong>der</strong> liebevoll ihrer eigenen Welterfahrung beraubt<br />

werden an <strong>der</strong>en Stelle wird die Erfahrung von erlebnisunfähigen<br />

Eltern eingesetzt.<br />

Sartre hat daraus geschlossen:<br />

Kin<strong>der</strong> werden frühzeitig zu ihren eigenen Großvätern gemacht.


Alexan<strong>der</strong> Mitscherlich, <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitige Direktor des Sigmund-<br />

Freud-Instituts in Frankfurt, erklärt es so:<br />

Werden Kin<strong>der</strong> in kurzen, gewaltsamen Lernprozessen gezwungen,<br />

sich bestimmten For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Erwachsenenwelt anzupassen,<br />

so endet an dieser Stelle Bildung, als eine Suchbewegung nach<br />

Wissen und nach den Methoden, Erfahrung zu prüfen.<br />

An ihre Stelle tritt sozialer Gehorsam.<br />

<strong>Die</strong> Intensität des Erkenntniswunsches wird durch das Suchverbot<br />

des Vorurteils ins Unbewusste verdrängt und bejaht dort<br />

als terroristisches Gewissen das übernommene Vorurteil als<br />

etwas Eigenes.<br />

<strong>Die</strong> verdrängten Triebwünsche überspringen jedoch manchmal<br />

das terroristische Gewissen. Und dann tritt das ein, was Nietzsche<br />

so umschreibt:<br />

‚Das hab ich getan’, sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht<br />

getan haben,’ sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich<br />

gibt das Gedächtnis nach.<br />

Neben den Lernprozessen gibt es aber noch etwas, was die Psychologen<br />

Prägung nennen.<br />

Christine hat in <strong>der</strong> ersten Stunde die These aufgestellt, Vorstellungen<br />

seien Erinnerungen früherer Erlebnisse. Folgen wir dieser<br />

These, dann stellt sich die Frage, wie intensiv waren diese Erlebnisse<br />

und wie waren die Begleitumstände dieser Erlebnisse.<br />

Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat gerade aus dem Ei<br />

geschlüpfte Graugänse aufgezogen, mit <strong>der</strong> Wirkung, dass diese<br />

jungen Graugänse ihn als ihre Mutter ansahen und ihm überallhin<br />

nachfolgten. <strong>Die</strong>se Vorstellung, dass <strong>der</strong> Verhaltensforscher ihre<br />

Mutter sei, hat sich bei den Jungen gebildet, weil er die erste Bezugsperson<br />

ihres Lebens war.<br />

<strong>Die</strong> Entwicklungspsychologen nennen diesen Vorgang Prägung.<br />

So wie in eine Münze durch einen Stempel Zahl o<strong>der</strong> Krone eingeprägt<br />

werden, so entsteht auch hier schlagartig das Gesamtbild<br />

<strong>der</strong> Mutter. <strong>Die</strong> entstehende Beziehung des Babys zu seiner Mutter<br />

ist auch ein Prägungsvorgang.


Wir halten also fest, Prägung ist eine schlagartige intensive Erinnerung<br />

von Erlebnissen. Glauben Sie, dass auch in späteren Lebensaltern<br />

noch solche Prägungsvorgänge stattfinden können? Und<br />

können Sie mir Beispiele nennen?”<br />

„Wenn man einmal in Todesgefahr geschwebt hat, dann bleibt<br />

das Erlebnis auch später noch bildhaft haften”, meinte Maria.<br />

„Ich glaube, auch die erste große Liebe ist ein solcher Prägungsvorgang”,<br />

war Klaus überzeugt. „Seit <strong>der</strong> ersten Begegnung hat<br />

man ständig das Erscheinungsbild <strong>der</strong> geliebten Person vor Augen.”<br />

„Frau Doktor, sind eigentlich auch die studentischen Maoisten<br />

und radikalen Fanatiker unserer Tage durch ihre Heilslehre geprägt?<br />

Soweit ich das erlebe, sind sie keiner Argumentation zugänglich”,<br />

fragte Peter.<br />

„Ja Peter, auch das ist ein Prägungsvorgang. So wie bei <strong>der</strong> ersten<br />

großen Liebe jede Kritik an <strong>der</strong> geliebten Person bei dem Liebenden<br />

abprallt, so sind Fanatiker einer Heilslehre immun gegen<br />

rationale Einwände.<br />

Wichtig ist festzuhalten, Prägungen sind Vorurteile, denn sie<br />

treffen den Menschen, ohne dass <strong>der</strong> Verstand vorher eingeschaltet<br />

wird. Sie treffen beson<strong>der</strong>s Menschen, <strong>der</strong>en persönlicher Reifegrad<br />

nicht ihrem Alter entspricht, bei denen die Entwicklung <strong>der</strong><br />

Ich-Funktionen irgendwie gestört wurde.<br />

Nur wenn Kin<strong>der</strong> nicht gezwungen werden, in kurzen gewaltsamen<br />

Lernprozessen sich bestimmten For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Erwachsenenwelt<br />

zu beugen, kann es dem ICH gelingen, die Warum-Frage<br />

zu stellen, ohne dass die Antwort schon vorher feststeht.<br />

Damit kann das Gewissen, als Teil des ICHs, und nicht des<br />

ÜBER-ICHs, sich zunehmend seiner eigenen Geschichte und <strong>der</strong><br />

Fragwürdigkeit eigenen Verhaltens erinnern.<br />

Nur dadurch gewinnt <strong>der</strong> Mensch die Sicherheit, sich selbst<br />

verzeihend zu begegnen und an<strong>der</strong>en verzeihen zu können.<br />

‚Jet jeck sin mer all, maar jede Jeck is an<strong>der</strong>s!’<br />

formuliert es Professor Lützeler in seiner Psychologie des Kölner<br />

Humors.


„Welche Rolle spielt eigentlich die Schlange in <strong>der</strong> Lektüre<br />

vom kleinen Prinzen?”<br />

Mit dieser Frage eröffnete Frau Dr. Rifenkoek die nächste Philosophiestunde.<br />

„Direkt im ersten Kapitel tritt die Schlange als etwas auf, das in<br />

sich etwas Verborgenes enthält, so dass oberflächliche Betrachter<br />

die Zeichnung als einen Hut deuten”, analysiert Frank.<br />

„Im siebzehnten Kapitel trifft <strong>der</strong> kleine Prinz eine Schlange in<br />

<strong>der</strong> Wüste, die zu ihm sagt:<br />

Ich kann dich weiter wegbringen als ein Schiff …<br />

Und<br />

Ich kann dir eines Tages helfen,<br />

wenn du dich zu sehr nach deinem Planeten sehnst, 78<br />

was sie gegen Ende des sechsundzwanzigsten Kapitels denn<br />

auch tut.<br />

Das erinnert mich an die Schöpfungsgeschichte in <strong>der</strong> Bibel, wo<br />

Adam und Eva, nachdem sie, von <strong>der</strong> Schlange verführt, die Frucht<br />

vom Baum <strong>der</strong> Erkenntnis essen, aus dem Paradies vertrieben werden.<br />

Wenn du dich zu sehr nach deinem Planeten sehnst, meint<br />

wohl, wenn du zu dir selbst kommen willst, muss das Kindhafte in<br />

dir sterben.”<br />

Maria meldete sich:<br />

„Den Klostergarten des Klosters Marienthal bei Wesel verschließt<br />

ein Tor, dessen Griff einen Drachen darstellt und dessen<br />

schmiedeeisernes Gitter den Spruch bildet:<br />

MORS PORTA VITAE<br />

Der Tod ist das Tor zum Leben<br />

Ich habe das bisher so gedeutet, dass <strong>der</strong> irdische Tod uns zum<br />

ewigen Leben führt. Aber, nachdem was Frank sagt, kann das ja<br />

auch das Sterben früherer Vorstellungen sein, um zu reiferen Erkenntnissen<br />

zu gelangen.”<br />

78 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 58


Frau Dr. Rifenkoek nickte zustimmend.<br />

„Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Ausspruch des englischen<br />

Kardinals Newman aus dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t zitieren:<br />

Hier auf Erden leben<br />

heißt sich wandeln,<br />

… und vollkommen sein,<br />

heißt, sich oft gewandelt haben.<br />

Sie stehen mittendrin in solchen Wandlungsprozessen. Ob sie<br />

zu vollkommenerem Dasein führen, wird die Zukunft zeigen. O<strong>der</strong><br />

um es mit den Worten Saint-Exupérys zu sagen:<br />

Ich habe vergessen,<br />

an den Maulkorb, den ich für den kleinen Prinzen gezeichnet habe,<br />

einen Le<strong>der</strong>riemen zu machen!<br />

Es wird ihm nie gelungen sein, ihn dem Schaf anzulegen.<br />

So frage ich mich:<br />

Was hat sich auf dem Planeten wohl ereignet?<br />

Vielleicht hat das Schaf doch die Blume gefressen …<br />

Das eine Mal sage ich mir: Bestimmt nicht!<br />

Der kleine Prinz deckt seine Blume jede Nacht mit seinem<br />

Glassturz zu und er gibt auf sein Schaf gut Acht.<br />

Dann bin ich glücklich. Und alle Sterne lachen leise.<br />

Dann wie<strong>der</strong> sage ich mir:<br />

Man ist das eine o<strong>der</strong> das an<strong>der</strong>e Mal zerstreut, und das genügt!<br />

Er hat eines Abends die Glasglocke vergessen o<strong>der</strong><br />

das Schaf ist eines Nachts lautlos entwichen.<br />

Dann verwandeln sich die Schellen alle in Tränen! 79 .<br />

Damit sind wir zum Ende <strong>der</strong> philosophischen Frage ‚Wer sind<br />

wir?’ gekommen, bei <strong>der</strong> uns Antoine de Saint-Exupéry mit seinem<br />

kleinen Prinzen begleitet hat.<br />

In <strong>der</strong> nächsten Stunde wollen wir uns <strong>der</strong> philosophischen<br />

Frage ‚Woher kommen wir?’ zuwenden.<br />

79 Antoine de Saint-Exupéry, ebd. S. 89ff.


) Weltanschauungen<br />

„Nach Karl Jaspers, dem vor kurzem verstorbenen Baseler Philosophen,<br />

ist die Menschheit viermal von neuen Grundlagen ausgegangen:<br />

1. in <strong>der</strong> Vorgeschichte, dem uns kaum mehr zugänglichen<br />

prometheischen Zeitalter, mit <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong> Sprache, <strong>der</strong><br />

Entwicklung <strong>der</strong> Werkzeuge und dem Gebrauch des Feuers;<br />

2. mit <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> Hochkulturen seit ca. 5 000 vor Christi<br />

in Mesopotamien, Indien, Ägypten und China;<br />

3. in <strong>der</strong> sogenannten Achsenzeit, ca. 800 bis 200 vor Christi, in<br />

<strong>der</strong> <strong>der</strong> Menschengeist erst voll zu sich selbst kam.<br />

4. Vom Abendland aus erfolgte dann <strong>der</strong> wissenschaftlichtechnische<br />

Impuls, <strong>der</strong> nicht weniger umwälzend war und nun ausstrahlt<br />

über die ganze Welt. In diesem Geist schließt sich jetzt die<br />

Erde zusammen, und nun erst gibt es wirkliche Weltgeschichte.<br />

<strong>Die</strong> Punkte 1 und 2 interessieren uns hier als geschichtliche<br />

Sachverhalte nicht, <strong>der</strong> erste ist Gegenstand vornehmlich <strong>der</strong><br />

Archäologie, den zweiten haben Sie im Fachunterricht kennen<br />

gelernt.<br />

<strong>Die</strong> Achsenzeit wird uns später bei <strong>der</strong> Frage nach den Gottesvorstellungen<br />

interessieren. Beginnen wir daher mit dem wissenschaftlich-technischen<br />

Impuls.”<br />

Mit diesen Worten legte Frau Dr. Rifenkoek die Schwerpunkte<br />

<strong>der</strong> nächsten Philosophiestunden fest.<br />

„Warum”, so provozierte Frau Dr. Rifenkoek ihre Schüler,<br />

„fand die Neuzeit nur im Abendland statt?”


Bis ins späte Mittelalter hinein wiesen sowohl <strong>der</strong> Orient als<br />

auch China kulturell und technisch den gleichen Standard wenn<br />

nicht verfeinerte Zivilisationsausprägungen auf. Denken Sie an die<br />

Erfindung des Schießpulvers und des Buchdrucks in China o<strong>der</strong><br />

den Gebrauch von Gewürzen im Orient.”<br />

„Ich glaube”, so meinte Detlef, „es hängt mit <strong>der</strong> Befreiung des<br />

abendländischen Menschen aus seiner geistigen Unmündigkeit und<br />

seinen ständischen Fesseln zusammen.”<br />

„Können Sie mir das verdeutlichen?”<br />

„Ich weiß aus einer Exkursion nach Köln, dass die alten Römer<br />

Trinkwasserleitungen von <strong>der</strong> Eifel bis nach Köln verlegt haben”,<br />

sprang Michael seinem Mitschüler bei, „und davon streng getrennt<br />

Abwasserleitungen zum Rhein angelegt haben. <strong>Die</strong> Kölner des<br />

Mittelalters hielten diese Leitungen für Weinleitungen des Bischofs<br />

von Trier an den Erzbischof von Köln 80 . Ihr Trinkwasser<br />

bezogen sie aus Brunnen, die dicht neben den Fäkaliengruben lagen.<br />

<strong>Die</strong> dadurch verursachten Seuchen hielten sie für eine Strafe<br />

Gottes.”<br />

Frank ergänzte:<br />

„Noch in <strong>der</strong> Mitte des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts musste Galilei vor<br />

dem Inquisitionsgericht zurücknehmen, dass sich die Erde um die<br />

Sonne drehe, weil das <strong>der</strong> kirchlichen Anschauung von <strong>der</strong> Erde als<br />

dem Mittelpunkt <strong>der</strong> Welt wi<strong>der</strong>sprach.”<br />

„Wir haben im Religionsunterricht über Descartes gesprochen”,<br />

erinnerte sich Maria, „und darüber diskutiert, welche Folgen es<br />

gehabt hat, dass Descartes neben <strong>der</strong> unendlichen Substanz, nämlich<br />

Gott, eine endliche Substanz mit den zwei Klassen, Geist und<br />

Körper unterschied. Das Ergebnis war, dass es seitdem neben <strong>der</strong><br />

Geisteswissenschaft eine unabhängige Naturwissenschaft gibt.”<br />

„Wir dürfen nicht vergessen”, gab Karl zu bedenken, „dass<br />

80 Waldemar Haberey, <strong>Die</strong> römischen Wasserleitungen nach Köln, S.106ff, Bonn 1971


durch die Reformation die wirtschaftliche Selbständigkeit des Einzelnen<br />

geför<strong>der</strong>t wurde. Beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Calvinismus sah im wirtschaftlichen<br />

Erfolg ein Zeichen <strong>der</strong> Gottwohlgefälligkeit.”<br />

„Damit wären die philosophischen <strong>Wurzel</strong>n für die Befreiung<br />

aus <strong>der</strong> geistigen Unmündigkeit, von <strong>der</strong> Detlef sprach, hinreichend<br />

verdeutlicht”,<br />

fasste die Kursleiterin die Diskussionsbeiträge zusammen.<br />

Sie hielt inne. Der Gedanke, <strong>der</strong> durch ihren Kopf schoss, erzeugte<br />

ein verschmitztes Lächeln.<br />

„Man stelle sich einmal vor, die von Thales, Demokrit, Archimedes<br />

und an<strong>der</strong>en Naturphilosophen so erfolgreich begonnenen<br />

Forschungen seien nicht durch die Vorstellungen vom Gottesstaat<br />

fast eineinhalb Jahrtausende unterbrochen worden.<br />

Karl <strong>der</strong> Große hätte Heizung und elektrisches Licht gehabt,<br />

die deutschen Kaiser hätten sich telephonisch mit dem Papst über<br />

den Krönungstermin in Rom abgestimmt, ehe sie mit dem Zug<br />

o<strong>der</strong> dem Flugzeug nach Rom gekommen wären.<br />

Ernsthaft, wenn man sich das vorstellt, kann man den Ausspruch<br />

von Nietzsche verstehen, dass dieser säkulare Prozess <strong>der</strong><br />

Menschheit unsäglichen Schaden zugefügt hat.<br />

Nietzsche warf dem Christentum vor, dass es ein ‚Sklavenaufstand’<br />

gegen die Werte des Lebens sei. Im Sinne einer Ressentimentreaktion<br />

entwerteten die Armen und Unterdrückten <strong>der</strong> Antike<br />

alle echte Daseinsexpansion. Sie proklamierten die<br />

Gegenwerte <strong>der</strong> Armut, <strong>der</strong> Keuschheit, des Gehorsams, <strong>der</strong> Lebensabwendung,<br />

<strong>der</strong> Lebensverneinung. Daraus wurden die christliche<br />

Ethik und Moral konstruiert.<br />

Europa war im Mittelalter ein loser Verbund unter <strong>der</strong> Oberherrschaft<br />

<strong>der</strong> katholischen Kirche; in <strong>der</strong> sich Könige, Prinzen<br />

und Lords um die Macht stritten.<br />

<strong>Die</strong> Gesellschaft galt als Abbild <strong>der</strong> göttlichen Schöpfung. <strong>Die</strong><br />

Stufen des Seins reichten vom Himmel mit Gott an <strong>der</strong> Spitze, un-


ter ihm seine Stellvertreter auf Erden, <strong>der</strong> Papst, die Kardinäle und<br />

an<strong>der</strong>e Vertreter des Priesterstandes, über Könige, Fürsten und<br />

Ritter bis hinunter zum Bauer, Pächter und Leibeigenen und noch<br />

tiefer hinab zu allem, was da über die Erde kreucht und fleucht.<br />

Jede Sprosse auf <strong>der</strong> Himmelsleiter gehörte, wie Thomas von<br />

Aquin lehrte, einem Geschöpf Gottes, alle Stufen waren besetzt.<br />

Für Neuerungen, Entwicklungen o<strong>der</strong> Überraschungen war kein<br />

Platz in Gottes vollendetem Plan.<br />

<strong>Die</strong> Welt <strong>der</strong> Kirche war eine straff organisierte Rangfolge. Ihre<br />

Lehren regelten den Umgang untereinan<strong>der</strong> bis ins Kleinste.<br />

‚Befreiung aus den ständischen Fesseln’ hat Detlef als zweites<br />

Argument seiner These genannt. Was können Sie mir dazu sagen?”<br />

„Dazu fällt mir spontan die Französische Revolution ein”, meinte<br />

Peter, „mit ihren Parolen Freiheit, Gleichheit, Brü<strong>der</strong>lichkeit.”<br />

„Aber <strong>der</strong> geistige Boden für diese Revolution muss doch vorher<br />

irgendwie bereitet worden sein. Wo liegen die <strong>Wurzel</strong>n <strong>der</strong> Unzufriedenheit<br />

mit den gesellschaftlichen Verhältnissen?”, bohrte die<br />

Philosophielehrerin weiter.<br />

„Ich habe im Geschichtsunterricht ein Referat über die französische<br />

Aufklärung gehalten”, begründete Erika ihre Kenntnisse,<br />

„und daher weiß ich, dass Montesquieu und Rousseau die geistigen<br />

Väter <strong>der</strong> Revolution gewesen sind, wobei beide zum Zeitpunkt<br />

<strong>der</strong> Revolution schon tot waren.<br />

Montesquieu entwickelt in seinem in <strong>der</strong> Mitte des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

erschienenen Werk Esprit des lois die These <strong>der</strong> Gewaltenteilung<br />

in eine gesetzgebende, vollziehende und richterliche<br />

Gewalt.<br />

Rousseau for<strong>der</strong>t in seinem „Contrat social ou principes du droit<br />

politique”, die Menschheit solle zur Einfachheit <strong>der</strong> Natur zurückkehren,<br />

zur schlichten Bürgertugend, zur Versenkung in das Glück<br />

des Hauses und <strong>der</strong> Familie. Hier sind alle Menschen gleich und<br />

frei und sind nur Menschen, sind darum gute Menschen und sind<br />

Brü<strong>der</strong>.”


„Erika, wenn man Ihren letzten Satz ‚Hier sind alle Menschen<br />

gleich und frei …und sind Brü<strong>der</strong>’ überdenkt, dann scheint Rousseau<br />

<strong>der</strong> geistige Vater <strong>der</strong> Parole Freiheit, Gleichheit, Brü<strong>der</strong>lichkeit<br />

gewesen zu sein.<br />

Aber Erika, Sie scheinen mir durch Ihr Referat mit <strong>der</strong> Materie<br />

vertraut zu sein, deshalb direkt die Frage an Sie. Waren die beiden<br />

französischen Aufklärer geistig autark o<strong>der</strong> haben auch sie Vorgefundenes<br />

geistig weiter verarbeitet?”<br />

„Sowohl Montesquieu als auch Rousseau waren in England und<br />

von den Vorstellungen John Lockes beeindruckt.<br />

Locke for<strong>der</strong>t die staatliche Gewalt in eine gesetzgebende und<br />

eine ausführende Gewalt zu teilen, Montesquieu ergänzt diese<br />

For<strong>der</strong>ung um die richterliche Gewalt.<br />

Rousseau verarbeitet die Vorstellung von John Locke über die<br />

Erziehung in seinem Roman Émile ou de l’éducation (1762).”<br />

„Das Verdienst <strong>der</strong> beiden französischen Aufklärer liegt darin,<br />

die Ideen von Locke mit durchschlagendem Erfolg auf dem europäischen<br />

Festland verbreitet zu haben”, ergänzte die Kursleiterin.<br />

„Locke ging nicht wie vor ihm seit Platon alle Philosophen von<br />

<strong>der</strong> Vernunft aus, son<strong>der</strong>n von den Sinneserfahrungen. Er sagte:<br />

Lasst uns annehmen, das Bewusstsein sei sozusagen ein weißes<br />

Blatt Papier, frei von irgendwelchen Schriftzügen, ohne alle<br />

Vorstellungen; wie wird es damit versehen?<br />

Ausschließlich durch die Erfahrung.<br />

<strong>Die</strong>se Erfahrung ist eine doppelte, die des äußeren und die<br />

des inneren Sinnes.<br />

<strong>Die</strong> äußere geht über die Sinnesorgane des Körpers und<br />

heißt ‚sensation’ (Sinnesempfindung); die innere ist<br />

Selbstwahrnehmung und heißt ‚reflection’.<br />

<strong>Die</strong> reflection setzt die sensation voraus, wodurch nochmals<br />

gesagt wird, dass, was immer im Geist ist, zuerst ihm durch<br />

die Sinne zukommen müssen.


Für den Empirismus, so nennt man diese philosophische Richtung,<br />

ist die Sinneserfahrung alles, ist die Vollendung und das Ganze.<br />

Ein ganz fortschrittlicher Geist weht in <strong>der</strong> Erziehungslehre<br />

Lockes.<br />

Man soll dem Zögling kein Schema aufpressen, son<strong>der</strong>n ihm<br />

helfen, sich selbst zu entfalten; soll ihn nicht schulmeistern, son<strong>der</strong>n<br />

anleiten zum eigenen Schauen und Denken; soll ihn nicht<br />

vergewaltigen, son<strong>der</strong>n ihm beistehen, die eigene Initiative zu entwickeln,<br />

um zur freien, mündigen Individualität zu kommen. Das<br />

Ideal wäre, dass <strong>der</strong> Zögling spielend lernt.<br />

Wenn man das liest, kann man verstehen, dass Rousseau überwältigt<br />

war, werden doch diese Ansichten auch heute noch sehr<br />

selten beherzigt.<br />

Doch schon eine Generation früher hatte ein an<strong>der</strong>er Englän<strong>der</strong>,<br />

Thomas Hobbes, erklärt:<br />

Das Denken des Geistes geschieht durch das Addieren und<br />

Subtrahieren von Vorstellungen<br />

und<br />

Das Handeln des Menschen ist ein Spiel von Kräften <strong>der</strong> Sinnesreize<br />

und Sinnesreaktionen<br />

<strong>Die</strong>ser erste Vertreter des Empirismus hat sich auch über den<br />

Staat geäußert. Den Staatsvertrag schließen die Menschen bei ihm,<br />

um die unmöglichen Verhältnisse des Naturzustandes zu beenden,<br />

in dem die Menschen zueinan<strong>der</strong> waren wie Tiere. Man gibt persönliche<br />

Naturrechte preis und schafft durch freie Konvention <strong>der</strong><br />

Individuen Ordnung, Recht, Sitte und Sittlichkeit.<br />

Der Staat ist bei ihm nichts an<strong>der</strong>es als die Machtballung des<br />

kollektiven Egoismus. Für die Staaten herrscht immer noch <strong>der</strong><br />

Naturzustand; nur heißt er jetzt Souveränität. Für diese souveränen<br />

Staaten geht <strong>der</strong> Krieg aller gegen alle weiter, denn für das<br />

Verhältnis <strong>der</strong> Staaten untereinan<strong>der</strong> gelte immer das Wort: Homo<br />

homini lupus.<br />

Vergleichen Sie bitte die Vorstellungen Hobbes über die Menschen,<br />

die den Staatsvertrag schließen, mit den Vorstellungen über


die Menschen bei Rousseau. Welch ein Unterschied zwischen dem<br />

Empiriker und dem Aufklärer.<br />

Selbst die Interessenten, die bei Aristoteles den Staat gründen,<br />

zeigen menschlichere Züge auf 81 .<br />

Zweifellos kannte Hobbes die Staatslehre des Aristoteles.<br />

Nachdem das Wissen über Aristoteles durch den islamischen<br />

Philosophen Averroës um 1200 dem christlichen Europa wie<strong>der</strong><br />

bekannt wurde, vertieften die geistigen Eliten des oströmischen<br />

Kaiserreiches, die mit <strong>der</strong> Eroberung von Konstantinopel 1453<br />

nach Italien flüchteten, das Wissen um die Antike. <strong>Die</strong> Erfindung<br />

des Buchdruckes sorgte für seine Verbreitung.<br />

<strong>Die</strong>se Erste Aufklärung durch die Renaissance <strong>der</strong> Antike ließ<br />

den Wunsch nach weltlichen, aber auch nach kirchlichen Reformen<br />

wach werden.<br />

<strong>Die</strong> Ergebnisse sind Ihnen aus dem Geschichtsunterricht bekannt.<br />

Erst <strong>der</strong> Westfälische Frieden kodifizierte diese Reformen:<br />

Begriff des Staates, seine Souveränität und damit Nichteinmischung<br />

in seine inneren Angelegenheiten (cuius regio, eius religio)<br />

sowie das Gleichgewicht <strong>der</strong> Kräfte.<br />

Jetzt können Sie auch die Vorstellungen Hobbes über den Staat<br />

verstehen, <strong>der</strong> ja in dieser Zeit lebte.”<br />

„Mir ist klar geworden, dass die Befreiung <strong>der</strong> Fürsten aus <strong>der</strong><br />

Oberhoheit <strong>der</strong> Kirche mit dem Westfälischen Frieden gesetzlich<br />

verankert worden ist”, meldete sich Frank zu Wort.<br />

„Aber warum ist es den an<strong>der</strong>en Ständen in dieser Zeit nicht gelungen,<br />

ihre ständischen Fesseln abzustreifen? Dass sie vergeblich<br />

den Versuch unternommen haben, beweisen die Bauernaufstände<br />

im ersten Viertel des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts.”<br />

81 Aristoteles betonte, dass für Gleiche gleiches Recht gelten müsse und dass nur <strong>der</strong><br />

befehlen kann, <strong>der</strong> vorher gelernt habe zu gehorchen. Staat ist für ihn eine Gemeinschaft,<br />

von Bürgern, und Bürger sind die Freien, die an Gericht und Regierung beteiligt<br />

sind. Da die Individuen, die Familien, die Sippen, die Dorfgemeinschaften nicht<br />

stark genug sind, sich gegen ihre Feinde zur Wehr zu setzen, schließen sie sich zu einer<br />

Interessengemeinschaft zusammen, zum Staat.


„Ich glaube, die Zeit war noch nicht reif”, meinte Konrad<br />

Detlef ergänzte: „Wir haben gehört, dass Jaspers vom wissenschaftlich-technischen<br />

Impuls sprach. Meines Erachtens meint er<br />

damit die Fortschritte in den Naturwissenschaften und ihre technische<br />

Umsetzung. Und beides beginnt erst mit dem 18. Jahrhun<strong>der</strong>t.”<br />

„Wir haben bis jetzt Ursachenforschung für die Befreiung des<br />

Menschen aus seinen ständischen Fesseln betrieben”, fasste Frau<br />

Dr. Rifenkoek die Diskussion zusammen.<br />

Ab <strong>der</strong> nächsten Stunde werden wir uns damit beschäftigen, was<br />

<strong>der</strong> Mensch mit <strong>der</strong> gewonnenen Freiheit angefangen hat. <strong>Die</strong> Fakten<br />

müssten Ihnen aus dem Geschichtsunterricht sowie <strong>der</strong> Wirtschafts-<br />

und Sozialkunde bekannt sein.<br />

Um das Wissen darüber wie<strong>der</strong> aufzufrischen, suche ich Referenten,<br />

die uns in Exkursen die technischen Entwicklungslinien,<br />

die demographischen Verän<strong>der</strong>ungen sowie die gesellschaftlichen<br />

Strömungen aufzeigen.”<br />

„Klaus, ich hatte Sie gebeten, uns zunächst einmal Brennpunkte<br />

<strong>der</strong> technischen Entwicklung aufzuzeigen.”<br />

„<strong>Die</strong> technische Entwicklung während <strong>der</strong> letzten 200 Jahre<br />

war und ist so vielfältig”, begann Klaus sein Referat, „dass es<br />

schwer ist, darin einen roten Faden zu finden. Ich habe als Leitfaden<br />

die Energieumwandlung und –anwendung gewählt.<br />

Angefangen hat es mit <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Dampfmaschine<br />

durch James Watt in <strong>der</strong> Mitte des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Hier wird<br />

erstmals Wärmeenergie in Bewegungsenergie umgewandelt. Bis zu<br />

dem Zeitpunkt musste man durch menschliche o<strong>der</strong> tierische<br />

Muskelkraft die Energie erzeugen, o<strong>der</strong> man nutzte die durch<br />

Wind und Wasser zur Verfügung gestellte kinetische Energie.<br />

Der durch Kohle erzeugte Dampf trieb über Kolben Schwungrä<strong>der</strong><br />

an, die diese Bewegungsenergie durch Transmissionsriemen<br />

auf Arbeitsmaschinen übertrugen. Deshalb musste die Energieerzeugung<br />

unmittelbar neben <strong>der</strong> Energieverwendung platziert sein.


1. Lösung des Problems:<br />

Man setzt die Dampfmaschine auf Rä<strong>der</strong> bzw. baut sie in Schiffe<br />

ein und nutzt die Bewegungsenergie zu Transportzwecken.<br />

Ende 1835 wird zwischen Nürnberg und Fürth die erste Eisenbahnlinie<br />

in Betrieb genommen. Gegen Ende des Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

kann man per Bahn fast jeden größeren Ort in Europa erreichen.<br />

<strong>Die</strong> Dampfschifffahrt hatte es schwerer mit den schnellen Seglern<br />

zu konkurrieren. Doch zu Beginn dieses Jahrhun<strong>der</strong>ts erfolgte<br />

<strong>der</strong> Durchbruch. Bezeichnend ist <strong>der</strong> Bau immer größerer Schiffe<br />

und <strong>der</strong> Kampf <strong>der</strong> Ree<strong>der</strong>eien um die schnellste Überquerung des<br />

Atlantiks, <strong>der</strong> bekanntlich 1912 die Titanic zum Opfer fiel, weil<br />

sie eine kürzere nördlichere Route wählte und deshalb mit einem<br />

Eisberg kollidierte.<br />

2. Lösung des Problems:<br />

Man nutzt die von <strong>der</strong> Dampfmaschine erzeugte Bewegungsenergie,<br />

um sie mit Hilfe eines Generators in elektrische Energie umzuwandeln.<br />

In dieser Form kann Energie durch Stromleitungen mit Lichtgeschwindigkeit<br />

transportiert werden. Energieerzeugung und Energieverbrauch<br />

sind räumlich voneinan<strong>der</strong> unabhängig.<br />

Werner von Siemens erfand 1866 die Dynamomaschine und<br />

legte damit die Grundlage für die Elektrizitätswirtschaft. Sie erlaubt<br />

uns heute mit Hilfe des Stroms aus <strong>der</strong> Steckdose je<strong>der</strong>zeit<br />

elektrische Energie in Bewegungsenergie (z.B. Elektrorasierer, Küchenmaschinen)<br />

o<strong>der</strong> Wärmeenergie (z. B. Küchenherd, Lampen)<br />

umzuwandeln.<br />

<strong>Die</strong> zweite bahnbrechende Erfindung scheint mir die Entwicklung<br />

des Verbrennungsmotors zu sein. Auch hier wird Kohlenstoff<br />

als Energieträger benutzt, allerdings in flüssiger Form. Heute ist<br />

<strong>der</strong> eigene PKW das Symbol von persönlicher mobiler Freiheit.<br />

Durch immer leistungsfähigere Motoren wurde <strong>der</strong> Traum vom<br />

Fliegen realisiert. Heute kann man mit Verkehrsflugzeugen in weniger<br />

als 24 Stunden die entferntesten Orte <strong>der</strong> Erde erreichen.


Das Zeitalter <strong>der</strong> Raddampfer auf dem Rhein ist ebenso zu Ende<br />

wie das <strong>der</strong> Dampflokomotiven bei <strong>der</strong> Eisenbahn. Motorschiffe<br />

bzw. <strong>Die</strong>selloks und Elektroloks sind an ihre Stelle getreten.<br />

<strong>Die</strong> Entdeckung, dass Elektroenergie Wellencharakter hat und<br />

sich diese Wellen auch drahtlos durch den Raum bewegen, hat<br />

ähnlich einschneidend auf die Menschheit gewirkt, wie die Erfindung<br />

des Buchdrucks.<br />

Dadurch, dass man diesen Wellen Informationen zuwies, wurde<br />

das Informationszeitalter eingeläutet.<br />

Dem Funkverkehr folgt <strong>der</strong> Rundfunkverkehr mit dem Radio<br />

und diesem vor 25 Jahren das Fernsehen. Unser Planet schrumpft<br />

zum globalen Dorf. Ereignisse auf an<strong>der</strong>en Kontinenten können via<br />

Fernsehen zeitgleich miterlebt werden.”<br />

„Ich finde, Klaus hat die technische Entwicklung <strong>der</strong> letzten<br />

200 Jahre anschaulich geschil<strong>der</strong>t.<br />

Ich danke Ihnen, Klaus.<br />

Christine, Sie wollen in Ihrem Referat über die demographische<br />

Entwicklung während dieser Zeit berichten.<br />

Bitte, Sie haben das Wort.”<br />

„Der englische Landpfarrer Thomas Robert Malthus schrieb<br />

1798 ein Buch, das er An Essay on the Principle of Population as it<br />

Affects the Future improvement of Society nannte und worin er die<br />

Auswirkungen <strong>der</strong> damaligen Bevölkerungsexplosion auf die Entwicklung<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft beschrieb.<br />

Londons Bevölkerungszahl hatte sich zwischen 1750 und 1800<br />

von 575 000 auf 900 000 fast verdoppelt. <strong>Die</strong> Straßen waren<br />

durch Spitzbuben, Straßenjungen und Taschendiebe unsicher geworden.<br />

Am Vorabend <strong>der</strong> französischen Revolution lebten in Paris<br />

600 000 bis 700 000 Einwohner, darunter 100 000 Obdachlose.<br />

Malthus unterstellte nun, dass sich in Großbritannien, wie auch<br />

in Frankreich, die Bevölkerungszahl alle 25 Jahre verdoppele, dass


sich aber die Nahrungsmittelproduktion nicht mit <strong>der</strong>selben Zuwachsrate<br />

erhöhen ließe.<br />

<strong>Die</strong> Folgen wären Hunger, Verelendung, Massensterben durch<br />

Unterernährung und das Zerreißen aller Gesellschaftsstrukturen.<br />

<strong>Die</strong> Entwicklungen im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t entschärften den Bevölkerungsdruck<br />

und die von Malthus befürchteten Auswirkungen.<br />

20 Millionen Briten wan<strong>der</strong>ten zwischen 1815 und 1914 nach<br />

Amerika, nach Australien, Neuseeland und Südafrika aus. Entscheidende<br />

Verbesserungen in <strong>der</strong> Landwirtschaft revolutionierten<br />

die Nahrungsmittelproduktion.<br />

Das Wirtschaftswachstum war um den Faktor 10 höher als das<br />

Bevölkerungswachstum und führte gegen Ende des Jahrhun<strong>der</strong>ts zu<br />

einem Absinken <strong>der</strong> Geburtenrate.<br />

Ursache <strong>der</strong> Bevölkerungsexplosion war einmal die Industrialisierung,<br />

die zur Landflucht, Auflösung <strong>der</strong> Großfamilien und zu<br />

mehr Eheschließungen führte. Zum an<strong>der</strong>en sorgten die besseren<br />

medizinischen Erkenntnisse für einen Rückgang des Kindbettfiebers<br />

und damit <strong>der</strong> Mütter- und Säuglingssterblichkeit sowie für<br />

eine erfolgreichere Seuchenbekämpfung. Beides führte dazu, dass<br />

die Sterblichkeitsrate unter die Geburtenrate sank.<br />

Jahrtausende lang hielten sich beide auf einem hohen Stand die<br />

Waage. Um die Erdbevölkerung von 300 Millionen auf 600 Millionen,<br />

dem Stand um 1700 n. Chr., anwachsen zu lassen, bedurfte<br />

es 800 Jahre. 150 Jahre später hatte sich die Erdbevölkerung auf<br />

1200 Millionen verdoppelt.<br />

In Deutschland hat sich die Bevölkerung von 16 Millionen zu<br />

Beginn des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts auf 48 Millionen gegen Ende des<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts verdreifacht.<br />

Altersversorgung war Sache <strong>der</strong> Großfamilie. Nur bei einer großen<br />

Kin<strong>der</strong>zahl war die Chance gegeben, dass <strong>der</strong> überlebende Teil<br />

<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> diese Aufgabe übernehmen konnte.<br />

Durch die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung wurde <strong>der</strong> Generationenvertrag<br />

<strong>der</strong> Altersversorgung von <strong>der</strong> Familie auf die Gesellschaft<br />

übertragen.


Daher geht seit dem Beginn dieses Jahrhun<strong>der</strong>ts die Geburtenrate<br />

zurück. Sie liegt in den westlichen Industrielän<strong>der</strong>n zur Zeit<br />

unter <strong>der</strong> Sterblichkeitsrate. Das heißt die Bevölkerung schrumpft.<br />

Das gilt jedoch nicht für die Erdbevölkerung insgesamt. 95 Prozent<br />

<strong>der</strong> Zuwächse finden heute in den Entwicklungslän<strong>der</strong>n statt.<br />

Wir erleben in globalem Ausmaße das, was Europa im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

durchgemacht hat. Nur es gibt keine freien Räume mehr.<br />

<strong>Die</strong> Erde ist aufgeteilt in Nationalstaaten mit festen Staatsgrenzen.<br />

Jede Einwan<strong>der</strong>ung bedarf <strong>der</strong> Zustimmung dieser Staaten.<br />

<strong>Die</strong> Zahl, bei <strong>der</strong> sich die Erdbevölkerung von jetzt im Jahre<br />

1974 mit 3,6 Mrd. Menschen stabilisiert haben wird, wird von<br />

Experten gegen Ende des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts mit 10 bis 12 Mrd.<br />

angenommen.”<br />

„Hat jemand noch Fragen zu den Sachverhalten, Problemen<br />

o<strong>der</strong> Zahlen, die Christine in ihrem Referat angesprochen hat?”<br />

„Christine“, meldete sich Silvia zu Wort, „kannst Du mir mal<br />

erläutern, welche medizinischen Erkenntnisse es waren, die im<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>t die Sterberate gesenkt haben?”<br />

„Der in Budapest als Geburtshelfer lebende Ignaz Semmelweis<br />

erkannte die Kontaktinfektion als Ursache des Wochenbettfiebers<br />

und setzte sich dafür ein, dass sich Geburtshelfer die Hände in einer<br />

Desinfektionslösung waschen, bevor sie eine Gebärende untersuchten.<br />

Er bekam dafür den Ehrentitel Retter <strong>der</strong> Mütter.<br />

<strong>Die</strong> Seuchen, die medizinisch erfolgreich bekämpft wurden, waren<br />

vor allem die Cholera, als Trinkwasserverseuchung in den<br />

Großstädten an Flussmündungen auftretend, die Diphtherie, die in<br />

den 90er Jahren des vorigen Jahrhun<strong>der</strong>ts für die hohe Kin<strong>der</strong>sterblichkeit<br />

verantwortlich war, und die Schwindsucht, die Lungentuberkulose.<br />

Der Ausbreitung <strong>der</strong> Tuberkelbazillen versucht<br />

man, wie wir alle schon mitgemacht haben, durch Röntgenreihenuntersuchungen<br />

an den Schulen und Isolierung <strong>der</strong> Angesteckten<br />

Herr zu werden.”<br />

„Christine, nach Deinem Referat sind die Auswirkungen, die


Malthus befürchtete, deshalb nicht eingetreten, weil die Entwicklungen<br />

im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t den Bevölkerungsdruck und die von<br />

Malthus befürchteten Auswirkungen entschärften. Gleichzeitig hat<br />

sich nach Deinen Aussagen in Deutschland die Bevölkerung von 16<br />

Millionen zu Beginn des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts auf 48 Millionen gegen<br />

Ende des Jahrhun<strong>der</strong>ts verdreifacht,<br />

Liegt da nicht ein Wi<strong>der</strong>spruch drin?”, wollte Frank wissen.<br />

„Zum einen sind im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t auch zahlreiche Deutsche<br />

nach Amerika ausgewan<strong>der</strong>t. Bekannt ist, dass damals in den USA<br />

nur eine geringe Mehrzahl für Englisch statt Deutsch als Nationalsprache<br />

votiert hat.<br />

Zum an<strong>der</strong>en – und das bezieht sich auf die Aussagen von<br />

Malthus, dass die Nahrungsmittelproduktion mit dem Bevölkerungswachstum<br />

nicht Schritt halten könne, – führten die Untersuchungen<br />

über den Pflanzenstoffwechsel, vor allem durch den deutschen<br />

Chemiker Justus von Liebig, zur Einführung <strong>der</strong><br />

Mineraldüngung und damit zu einer wesentlichen Ertragssteigerung<br />

<strong>der</strong> landwirtschaftlichen Produktion.”<br />

Frau Dr. Rifenkoek blickte in die Runde. „Noch Fragen an<br />

Christine?.<br />

Gut, dann Konrad berichten Sie uns über die gesellschaftlichen<br />

Probleme, die die technischen und demographischen Entwicklungen<br />

ausgelöst haben.”<br />

„Kapitalismus und Sozialismus sind die zwei Schlagwörter, die<br />

die Menschen weltanschaulich in den letzten hun<strong>der</strong>t Jahren gespalten<br />

haben.<br />

Kapitalismus ist zunächst mal die Auswirkung des Liberalismus.<br />

Im Mittelpunkt <strong>der</strong> liberalen Geisteshaltung steht, wie bei<br />

Locke, das Individuum, <strong>der</strong> homo oeconomicus. Der Liberalismus<br />

ist universal ausgerichtet. Er will, dass seine Regeln und Ergebnisse<br />

in <strong>der</strong> ganzen Welt gelten bzw. wirksam werden und nicht relativ<br />

für ein Volk.


Da jedoch <strong>der</strong> Kapitalismus nicht in allen Län<strong>der</strong> gleich weit<br />

entwickelt war, for<strong>der</strong>te Friedrich List (1789 bis1846) Schutzzölle<br />

für die unterentwickelten Staaten solange, bis diese Staaten die<br />

gleichen Chancen im Wettbewerb haben.<br />

List will, dass jede Volkswirtschaft selber dafür sorgt, zu<br />

Wohlstand zu gelangen.<br />

Mit <strong>der</strong> Wohlstandsför<strong>der</strong>ung im List’schen Sinne verbindet<br />

sich <strong>der</strong> wirtschaftliche Egoismus des Einzelnen mit dem Raubtieregoismus<br />

á la Hobbes des Staates.<br />

Das Ergebnis ist ein übersteigertes Nationalgefühl <strong>der</strong> Bürger<br />

und ein staatlicher Imperialismus, <strong>der</strong> das Gleichgewicht <strong>der</strong> Kräfte<br />

durch wirtschaftliche Überlegenheit auszuhebeln versucht.<br />

Das Ergebnis, <strong>der</strong> 1. Weltkrieg, war die Folge.<br />

Der Sozialismus, die an<strong>der</strong>e Weltanschauung, hat die Menschen<br />

im Blick, die im Kapitalismus zu den Verlierern zählen.<br />

Karl Marx (1818 bis 1883) hatte das Elend <strong>der</strong> Menschen in<br />

den Industriestädten Frankreichs und Englands kennen gelernt.<br />

Für ihn sind die Kapitalisten eine Besitzerklasse, die in <strong>der</strong> Lage<br />

ist, mit dem ihr gehörenden Produktivkapital die Arbeiterklasse<br />

auszubeuten.<br />

<strong>Die</strong> Kapitalisten zahlen dem Arbeiter nur soviel Lohn, wie zur<br />

Erhaltung seiner Arbeitskraft notwendig ist (Tauschwert). Der auf<br />

dem freien Markt erzielte Nutzwert des Arbeitsproduktes ist aber<br />

größer. <strong>Die</strong>sen Mehrwert steckt <strong>der</strong> Kapitalist ein. Er erhöht damit<br />

das Produktivkapital in seiner Unternehmung. Dadurch sinkt<br />

die Menge <strong>der</strong> benötigten Arbeit.<br />

Es entsteht eine industrielle Reservearmee, die dafür sorgt, dass<br />

<strong>der</strong> Preis <strong>der</strong> Arbeit sich nicht allzu weit von den Reproduktionskosten<br />

<strong>der</strong> Arbeit entfernt.<br />

Marx unterstellt, dass steigende Löhne ein Wachstum <strong>der</strong> Arbeitskräfte<br />

(Bevölkerungswachstum) zur Folge hat.<br />

Marx erkennt sehr wohl, dass <strong>der</strong> Lohn nicht nur Kosten für<br />

den Unternehmer, son<strong>der</strong>n auch Einkommen für die Arbeiter darstellt.<br />

Er folgert daher aus dem ungleichen Wachstum von Gütern


und Einkommen und damit dem zunehmenden Fehlen <strong>der</strong> Nachfrage<br />

den Zusammenbruch des kapitalistischen Systems.<br />

Am Ende, wenn <strong>der</strong> Kapitalismus und sein Gegensatz, das Proletariat,<br />

verschwunden sind, steht <strong>der</strong> neue Mensch. Was uns eigentlich<br />

interessieren würde, <strong>der</strong> konkrete Inhalt des neuen Menschenbildes,<br />

bleibt ungesagt.<br />

Immerhin das hören wir von Marx, dass im Kommunismus, <strong>der</strong><br />

Gesellschaftsform des neuen Menschen, Gemeinschaft und Individualität<br />

zusammenfallen. In <strong>der</strong> Gemeinschaft erst sei man frei,<br />

und nur hier könne man zu sich selbst finden.<br />

Wie das praktisch vor sich geht, dafür haben wir im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

Anschauungsunterricht genug erhalten.<br />

Da <strong>der</strong> Kapitalismus in den europäischen Industriestaaten<br />

nicht, wie Marx prophezeit hatte, zusammenbrach, musste das imperiale,<br />

aber industriell unterentwickelte Russland als Experimentierfeld<br />

für einen Arbeiter- und Bauernstaat herhalten.<br />

Lenin und in seiner Nachfolge Stalin errichteten keinen kommunistischen,<br />

son<strong>der</strong>n einen sozialistischen Staat, da die Zeit für<br />

den Neuen Menschen noch nicht gekommen sei. Sie forcierten die<br />

Industrialisierung und fassten die Landwirtschaft zu Kolchosen<br />

und Sowchosen zusammen, um durch Mechanisierung auch die<br />

landwirtschaftlichen Erträge zu steigern.<br />

Sie scheinen mir, im Gegensatz zu Marx, erkannt zu haben,<br />

dass nicht nur <strong>der</strong> Produktionsfaktor Arbeit, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong><br />

Produktionsfaktor Kapital an <strong>der</strong> Ertragsentstehung beteiligt ist.<br />

Statt zwischen kapitalistischen und sozialistischen Län<strong>der</strong>n zu unterscheiden,<br />

sollte man besser von privatkapitalistischen und<br />

staatskapitalistischen Län<strong>der</strong>n sprechen.<br />

In Italien und Deutschland verband sich <strong>der</strong> nationale Imperialismus<br />

mit sozialen Ideen.<br />

Der italienische Imperialismus tobte sich in Albanien, Libyen<br />

und Abessinien aus; <strong>der</strong> deutsche Revanchismus führte in den 2.<br />

Weltkrieg. <strong>Die</strong> nord- und westeuropäischen Staaten versuchten<br />

nach dem 1. Weltkrieg und vermehrt nach dem 2. Weltkrieg einen


Kapitalismus mit menschlichem Antlitz, genannt Wohlfahrtsstaat,<br />

zu etablieren. <strong>Die</strong> Bundesrepublik Deutschland führte nach 1948<br />

erfolgreich die soziale Marktwirtschaft ein.<br />

<strong>Die</strong> nach dem 2. Weltkrieg unter russischem Einfluss geratenen<br />

osteuropäischen Staaten mussten das Konzept des russischen<br />

Staatskapitalismus übernehmen.<br />

Entscheidend für die Zukunft scheint mir zu sein, ob <strong>der</strong> Staat<br />

als alleiniger Kapitalist o<strong>der</strong> die vielen privaten Kapitalisten erfolgreicher<br />

wirtschaften werden.”<br />

„Zwischen den 1914 begeistert in den Krieg ziehenden Freiwilligen<br />

und den nur unter Druck kämpfenden Söldnern <strong>der</strong> Heere<br />

des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts klaffen Welten.”<br />

Mit dieser Behauptung eröffnete Frau Dr. Rifenkoek die nächste<br />

Unterrichtsstunde.<br />

„Wo sehen Sie die Ursache für diesen Wandel <strong>der</strong> inneren Einstellung?”<br />

„In <strong>der</strong> Ausformung <strong>der</strong> Idee eines Nationalbewusstseins”,<br />

vermutete Detlef.<br />

„Sie entsinnen sich, nach den Vorstellungen des englischen Empirismus<br />

entwickelt sich das Bewusstsein nur durch Erfahrung:<br />

<strong>Die</strong> reflection setzt die sensation voraus, wodurch nochmals gesagt<br />

wird, dass, was immer im Geist ist, zuerst ihm durch die Sinne<br />

zukommen müssen.<br />

Ist die Idee etwas, was dem Geist durch die Sinne zukommt?<br />

Wenn nicht, was ist die Idee dann?<br />

Mit diesem Problem hat sich auch Immanuel Kant auseinan<strong>der</strong>gesetzt,<br />

für den, im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t lebend, <strong>der</strong> Empirismus <strong>der</strong><br />

neueste Stand <strong>der</strong> Philosophie war.<br />

‚<strong>Die</strong> Hauptfrage bleibt, was und wie viel kann Verstand und Vernunft<br />

frei von aller Erfahrung erkennen?’<br />

Verstand ist für Kant das Vermögen des Erkennens; erkennen<br />

heißt, Vorstellungen im Hinblick auf ein Objekt bilden. Vorstel-


lungen sinnvoll bilden aber setzt voraus, dass es eine höchste Einheit<br />

des Bewusstseins gibt, das „Ich denke”, das cogito des Descartes.<br />

Es ist die Vernunft und das ihr eigentümliche Tun, nämlich das<br />

Schließen, was nach Kant die Ideen mit sich bringt. Vernunft steht<br />

über dem denkenden Verstand, <strong>der</strong>, siehe Locke, durch Anschauung<br />

und Denken zur Erkenntnis kommt.<br />

Für die Vernunfttätigkeit gibt es nichts mehr zum Anschauen.<br />

<strong>Die</strong> Vernunft hat nur eine formale o<strong>der</strong> methodische Aufgabe. Sie<br />

regelt die Verstandestätigkeit, besitzt aber keine materiellen Gegenstände<br />

mehr.<br />

Ideen sind darum nur Auffor<strong>der</strong>ungen zum Suchen, „heuristische<br />

Regeln”, sind nicht konstitutive, d.h. Anschauungen zu Begriffen<br />

aufbauende Prinzipien, son<strong>der</strong>n nur regulative, d.h. den<br />

Verstandesgebrauch auf ein problematisches Ziel hin ausrichtende<br />

Prinzipien.<br />

Wie aber kommt das Nationale in die Blickrichtung <strong>der</strong> Ideen?”<br />

„Das erscheint mir einleuchtend”, meinte Peter. „Durch die<br />

napoleonischen Kriege wurde den Deutschen bewusst, dass sie in<br />

viele Kleinstaaten zersplittert waren, <strong>der</strong>en Bürger alle Deutsch<br />

sprachen, während Englän<strong>der</strong>, Franzosen und Russen jeweils einer<br />

Nation angehörten.”<br />

„Es findet ja dann in <strong>der</strong> Romantik mit <strong>der</strong> Mystifizierung des<br />

Germanischen und des Deutschen Mittelalters eine wahre Hochkonjunktur<br />

des Nationalen statt”, ergänzte Klaus.<br />

„Ich erinnere an Hebbel, <strong>Die</strong> Nibelungen und an Richard Wagner<br />

mit Tristan und Isolde und Der Ring <strong>der</strong> Nibelungen.<br />

„Kein Wun<strong>der</strong>”, fügte Frank hinzu, „dass mit <strong>der</strong> Proklamierung<br />

des Deutschen Kaiserreiches in Versailles das Vaterländische überall<br />

in Deutschland hohe Wellen schlug und Denkmäler schuf wie<br />

das Hermanndenkmal im Teutoburger Wald, das Nie<strong>der</strong>walddenkmal<br />

bei Rüdesheim o<strong>der</strong> das Deutsche Eck an <strong>der</strong> Moselmündung.”


„Frank, den von Ihnen gebrauchten Ausdruck Vaterland möchte<br />

ich gerne zur Diskussion stellen”, hakte Frau Dr. Rifenkoek ein.<br />

„War das Reich, das Bismarck 1871 aus <strong>der</strong> Taufe hob, ein<br />

Staat im Sinne von Locke und Rousseau o<strong>der</strong> von Hegel?<br />

Hegel, <strong>der</strong> letzte große Philosoph des deutschen Idealismus, hat<br />

in seinen Grundlinien <strong>der</strong> Philosophie des Rechts von 1821 von <strong>der</strong><br />

Dialektik <strong>der</strong> Sittlichkeit gesprochen und behauptet, die Sittlichkeit<br />

hebt die Position des abstrakten Rechtes und ihre Negation<br />

<strong>der</strong> Moralität, also Römisches Recht und Kantsche Philosophie in<br />

sich zu höherer Einheit auf.<br />

Übersetzt man diese dunklen Worte Hegels in Klartext, dann<br />

meint er:<br />

<strong>Die</strong> Sittlichkeit erscheint zunächst in <strong>der</strong> Familie. <strong>Die</strong> Familie<br />

ist eine Welt <strong>der</strong> Gemeinschaft, nicht <strong>der</strong> Gesellschaft, eine Welt<br />

<strong>der</strong> Liebe, nicht des Rechts.<br />

Der zweite Schritt im Prozess <strong>der</strong> Sittlichkeit ist die bürgerliche<br />

Gesellschaft. Sie ist ein System <strong>der</strong> Bedürfnisbefriedigung, mit einer<br />

als formale Spielregeln entwickelten Rechtspflege und einer<br />

schiedsrichterlich neutralen Verwaltung.<br />

Der dritte Schritt, die Synthese, ist die Wirklichkeit <strong>der</strong> sittlichen<br />

Idee: <strong>der</strong> Staat. Im Staat wird die bürgerliche Gesellschaft<br />

mit ihrem Recht <strong>der</strong> Einzelinteressen, ihren Klassen und Parteien<br />

aufgehoben. Aufbewahrt wird, wie bei <strong>der</strong> Familie, dass <strong>der</strong> Einzelne<br />

in ihm in erster Linie Mitglied ist und nicht als Individuum fungiert.<br />

Hinterfragt man die Aussage:<br />

Wer o<strong>der</strong> was ist die Wirklichkeit <strong>der</strong> sittlichen Idee?<br />

Von wem wird hier eigentlich etwas ausgesagt?<br />

Und was wird ausgesagt?<br />

Wer also ist <strong>der</strong> Staat?<br />

dann merkt man, dass Hegelsche Metapher, durch Übersetzung zu<br />

präzisieren, im Sinne des Kantschen Grundgesetzes Unsinn ergibt 82 .<br />

82 gemeint ist hier das Kant’sche Prinzip, dass <strong>der</strong> Mensch niemals als Mittel benutzt,<br />

d.h. irgendeinem fremden Zweck untergeordnet werden darf.


Das hat Heinrich von Treitschke, den preußisch-nationalen Historiker,<br />

nicht daran gehin<strong>der</strong>t, den Staat auf seine Weise zu präzisieren.<br />

Recht und Friede und Ordnung kann bei <strong>der</strong> Vielfalt sozialer<br />

Interessen in ihrem ewigen Kampf nicht von innen herauskommen,<br />

son<strong>der</strong>n nur von <strong>der</strong>jenigen Macht, die über <strong>der</strong> Gesellschaft steht,<br />

ausgerüstet mit einer Gewalt, welche die wilde soziale Leidenschaft<br />

zu bändigen vermag.<br />

Der Staat ist eine unabhängige Macht, die über den sozialen<br />

Gegensätzen steht, gerecht und unparteilich ist, einen Charakter hat,<br />

eine Persönlichkeit ist. Er fragt grundsätzlich nicht nach<br />

<strong>der</strong> Gesinnung, er verlangt Gehorsam.<br />

Fazit: <strong>Die</strong> Verfassung des Kaiserreiches ist angewandter Hegel.<br />

Der Reichstag, die Schwatzbude, symbolisiert die bürgerliche Gesellschaft<br />

<strong>der</strong> Interessen und Kämpfe, die soziale Realität unter<br />

ihm ist eine Welt <strong>der</strong> Unmündigkeit <strong>der</strong> Familien und über ihm<br />

erst beginnt <strong>der</strong> Staat in seiner Majestät.<br />

Der Staat hat vor allem Rechte gegenüber dem Individuum;<br />

sein Mitglied hat Pflichten, darunter vornehmlich die, wortlos zu<br />

gehorchen.<br />

Um dieses Vaterland zu schützen zogen die Freiwilligen 1914<br />

begeistert in den Krieg.<br />

Vater Staat! Das Freud’sche Über-Ich wird sichtbar.”<br />

„Frau Dr. Rifenkoek”, meldete sich Konrad zu Wort, „bei <strong>der</strong><br />

Ausarbeitung des von mir gehaltenen Referates habe ich gelesen,<br />

dass Marx Hegel vom Kopf wie<strong>der</strong> auf die Füße gestellt habe, also<br />

nicht von <strong>der</strong> Idee, son<strong>der</strong>n von den Nöten <strong>der</strong> Menschen her ausgegangen<br />

sei. <strong>Die</strong> Realität bei Lenin und Stalin ist aber auch <strong>der</strong><br />

allmächtige Staat und das unmündige Individuum?”<br />

„<strong>Die</strong> Hegelsche Dialektik bleibt unangetastet. Nur ist nicht <strong>der</strong><br />

Staat die Wirklichkeit <strong>der</strong> sittlichen Idee, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> neue<br />

Mensch die Wirklichkeit <strong>der</strong> Realität. Aber auf dem Weg zum<br />

neuen Menschen bedarf es eines mächtigen Staates, das haben Lenin<br />

und Stalin klar erkannt.”


Frau Dr. Rifenkoek fuhr erbarmungslos fort:<br />

„<strong>Die</strong> Hitlerjugend hatte wie die heutigen Jugendorganisationen<br />

<strong>der</strong> sozialistischen Staaten den Zweck, unmündige Individuen auf<br />

die jeweilige Staatsform zu prägen.<br />

<strong>Die</strong>se Manipulierung bewusst zu machen, hat sich nach dem<br />

2. Weltkrieg die Frankfurter Schule, ein Kreis von Sozial- und<br />

Kulturwissenschaftlern, die eine von Karl Marx und Sigmund<br />

Freud bestimmte kritische Gesellschaftsanalyse betreiben, zum<br />

Ziel gesetzt.<br />

Ihre so genannte kritische Theorie zielt auf die Aufdeckung und<br />

Überwindung emanzipationsfeindlicher Tendenzen in den kapitalistischen<br />

und sozialistischen Industriegesellschaften.<br />

Ihre Kritik richtet sich gegen die Leistungs- und Konsumzwänge<br />

des Spätkapitalismus sowie die erkenntnisleitenden Interessen<br />

<strong>der</strong> Wissenschaft. Ihre Aufklärungsabsicht ist subtiler als das<br />

Sichtbarmachen indoktrinärer Jugendprägung für eine<br />

Weltanschauung.<br />

Wenn die Gesellschaft im Bereiche <strong>der</strong> Freizeit, des Konsums<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Sexualität den Einzelnen in seiner Entfaltung offen o<strong>der</strong><br />

verschleiert behin<strong>der</strong>t, so sei das repressive Toleranz, Unterdrückung<br />

menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten, so Herbert Marcuse.<br />

Und wenn Wissenschaft sich von Erkenntnissen leiten lasse,<br />

die, scheinbar objektiv, realiter aber humanitätsfremden Zwecken<br />

diene, so Jürgen Habermas, dann verstoße auch das gegen den<br />

Kant’schen Grundsatz, dass <strong>der</strong> Mensch niemals als Mittel benutzt,<br />

d. h. irgendeinem fremden Zweck untergeordnet werden darf.<br />

Beson<strong>der</strong>s Herbert Marcuses Aufruf zur großen Weigerung hat<br />

den Protest unter <strong>der</strong> akademischen Jugend Ende <strong>der</strong> 60er Jahre<br />

ausgelöst.<br />

<strong>Die</strong> Ergebnisse kennen Sie: Studentische Sit-ins, Go-ins,<br />

Teach-ins, Kommunen u.a.”<br />

„Ist auch <strong>der</strong> Feminismus Ergebnis dieser studentischen<br />

Revolution?”, fragte Erika interessiert.


Frau Dr. Rifenkoek lächelte.<br />

„In <strong>der</strong> Tat. Aber eine Wirkung, die so von den männlichen<br />

Studenten nicht beabsichtigt war. Wenn jede menschliche Unterdrückung<br />

inhuman ist, dann ist es auch die fehlende Gleichberechtigung<br />

zwischen den Geschlechtern, so argumentierten ihre weiblichen<br />

Partnerinnen.<br />

Seitdem ist das Jahrtausende alte Patriarchat in Frage gestellt.<br />

Wie es zum Patriarchat gekommen ist, wird uns später noch beschäftigen.<br />

Damit sind wir in <strong>der</strong> Gegenwart angekommen.<br />

Ich finde, meine Damen und Herren, wir leben in einem<br />

spannenden Zeitalter.<br />

Aber noch steht die Frage im Raum:<br />

Warum haben <strong>der</strong> Orient und China an dieser Entwicklung<br />

nicht teilgenommen?<br />

„Was wissen Sie aus Ihrem Geschichtsunterricht vom Islam”,<br />

wollte die Dozentin zu Beginn <strong>der</strong> nächsten Unterrichtsstunde<br />

wissen.<br />

„Als die Kreuzritter im 12. Jahrhun<strong>der</strong>t Palästina eroberten, sahen<br />

sie sich in ihrem Weltverständnis erschüttert”, begann Peter.<br />

„Wie konnte Gott es zulassen, dass sie, die Gläubigen, den Ungläubigen<br />

geistig unterlegen waren?”<br />

„Nicht nur die mathematischen Kenntnisse <strong>der</strong> Moslems, – sie<br />

bedienten sich des Dezimalsystems – son<strong>der</strong>n auch ihre naturwissenschaftlichen<br />

und medizinischen Kenntnisse waren denen <strong>der</strong> europäischen<br />

Eroberer weit überlegen”, ergänzte Silvia.<br />

„Auch ihre Lebensgenüsse waren verfeinerter als die <strong>der</strong> europäischen<br />

Barbaren. Ich denke dabei beson<strong>der</strong>s an die Verwendung<br />

indischer Gewürze, die ja später <strong>der</strong> Antrieb war bei <strong>der</strong> Suche des<br />

Seeweges nach Indien”, fügte Michael hinzu.<br />

„Wir haben im Sommerurlaub Cordoba besucht. <strong>Die</strong>se spanische<br />

Stadt hat heute etwa 300 000 Einwohner. Dort sollen im Mittelalter<br />

zur Zeit <strong>der</strong> Mauren etwa 800 000 Menschen gelebt


haben. In 80 öffentlichen Schulen, <strong>der</strong>en Besuch kostenlos war,<br />

konnte man Lesen und Schreiben lernen”, meldete sich Karin zu<br />

Wort.<br />

„Wie kam es zu dieser kulturellen Blüte des Islams im Mittelalter?”<br />

Frau Dr. Rifenkoek blickte fragend in die Runde.<br />

„Ihnen ist bekannt, dass dieses halbzivilisierte Nomadenvolk<br />

sich in weniger als hun<strong>der</strong>t Jahren ein Weltreich von Persien bis<br />

Spanien erobert hat. Hätte <strong>der</strong> Franke Karl Martell nicht 732 n.<br />

Chr. die Araber in einer Schlacht in Südfrankreich besiegt, vielleicht<br />

wären wir heute auch Mohammedaner.<br />

Weil <strong>der</strong> frühe Islam es seinen Gläubigen gestattete, sich mit<br />

fremden Kulturen zu beschäftigen, sofern diese Völker nur an den<br />

einen Gott glaubten, saugten die islamischen Eroberer alles bedeutsame<br />

Wissen <strong>der</strong> militärisch besiegten Völker wie ein<br />

Schwamm auf. Dabei half ihnen die Elite <strong>der</strong> eroberten Völker, <strong>der</strong><br />

sie, getreu dem Toleranzgebots ihres Propheten, gestattete, ihrer<br />

ursprünglichen Religion treu zu bleiben. Das galt für Christen und<br />

Juden wie auch für Perser.<br />

Innerhalb eines Jahrhun<strong>der</strong>ts machten sich islamische Gelehrte<br />

mit dem griechischen und römischen Wissen vertraut. Mit den<br />

Schätzen altpersischer, babylonischer und indischer Kenntnisse,<br />

die ihnen die persischen Gelehrten vermittelten, erlangten sie eine<br />

Vielfalt an Bildung, die sie allen an<strong>der</strong>en Völkern <strong>der</strong> Welt überlegen<br />

machten.<br />

Sechs Jahrhun<strong>der</strong>te lang galt das Arabische vom Industal bis<br />

nach Spanien als die maßgebende Sprache für Philosophen und<br />

Naturwissenschaftler.<br />

Es blieb nicht aus, dass arabische Philosophen sich mit den Wi<strong>der</strong>sprüchen<br />

im Koran beschäftigten.<br />

Karin, haben Sie in Cordoba das Denkmal des Muhammed Ibn<br />

Ahamad Ibn Rushd, den die Christen Averroës nannten und <strong>der</strong><br />

von 1126 bis 1198 lebte, gesehen?”


„Ja, weil Averroës für die Bürger von Cordoba einer <strong>der</strong> bedeutendsten<br />

Söhne ihrer Stadt war, er galt als <strong>der</strong> Kommentator des<br />

Aristoteles, haben sie ihm ein Denkmal errichtet. Soviel ich weiß<br />

haben islamische Fanatiker seine Schriften verbrannt und den Kalifen<br />

gezwungen, ihn zu verdammen.”<br />

„Averroës hatte behauptet, die Vielfalt <strong>der</strong> Arten sei als Form,<br />

als Seele, vorgegeben. Das einzelne Individuum sei sterblich. Wenn<br />

aber nur die Art eine Seele hat, nicht das einzelne Individuum, was<br />

wird dann aus <strong>der</strong> Verheißung des Paradieses?<br />

Überdies enthalte die Philosophie die reinere und höhere<br />

Wahrheit. In <strong>der</strong> Religion erscheinen diese Wahrheiten in bildlicher<br />

Einkleidung, dem schwachen Verständnis <strong>der</strong> Menge angepasst.<br />

Das führte zum offenen Ausbruch des Jahrhun<strong>der</strong>te langen<br />

Streites zwischen den konservativen Korananhängern und den mo<strong>der</strong>nen<br />

Reformern.<br />

Das Ergebnis war, Wahrheit sei allein, was Gott im Koran den<br />

Menschen offenbart habe. In diesem Sinne sei auch Wissenschaft<br />

nur wünschenswert, soweit sie nicht dieser göttlichen Offenbarung<br />

wi<strong>der</strong>spreche.<br />

<strong>Die</strong> Sieger nannten diese dogmatische Auslegung des Islams die<br />

Schließung <strong>der</strong> Pforte.<br />

Ich finde, treffen<strong>der</strong> kann man dieses Abspalten von <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

nicht nennen.”<br />

„Wenden wir uns nun China zu. Chinas Oberschicht hatte,<br />

entsprechend den Lehren von Konfuzius, über den wir später noch<br />

sprechen werden, vorwiegend Interesse an Wissen gezeigt, das sich<br />

praktisch anwenden ließ.<br />

Das Reich <strong>der</strong> Mitte entwickelte sich zum bestorganisierten<br />

Verwaltungsstaat und brachte in seiner Glanzzeit eine Fülle wegweisen<strong>der</strong><br />

Erfindungen hervor.<br />

Wissen Sie darüber etwa?”<br />

„Buchdruck, Schießpulver, Papiergeld, Kompass”, zählte Konrad<br />

auf.


„Sie haben schon tausend Jahre, bevor man in Deutschland<br />

Porzellan herstellen konnte, ihrem Porzellan jene Feinheit gegeben,<br />

die bis heute bewun<strong>der</strong>t wird”, wusste Silvia zu berichten.<br />

„Und sie haben schon vor fast 2 000 Jahren das Papier erfunden”,<br />

ergänzte Klaus.<br />

„Warum verlor aber China seine Schöpferkraft und wann ist das<br />

geschehen?”<br />

„Vielleicht sind die Beamten schuld”, unkte Michael.<br />

„Michael, Sie haben mit Ihrer vermutlich scherzhaften Bemerkung<br />

tatsächlich den Kern getroffen.<br />

<strong>Die</strong> künftigen Mandarine mussten in kürzester Zeit sich viel<br />

theoretisches Wissen aneignen, konnten es aber nach den Prüfungen<br />

wie<strong>der</strong> vergessen, weil sie es für ihre künftigen Amtspflichten<br />

nicht brauchten. <strong>Die</strong> in <strong>der</strong> Prüfung nachgewiesenen Verstandesqualitäten<br />

und Konformität zum Staat wurden mit <strong>der</strong> Ernennung<br />

zum Beamten belohnt.<br />

Ob seine Tätigkeit danach sinnvoll o<strong>der</strong> nutzlos und unproduktiv<br />

war, wurde nicht nachgeprüft.”<br />

„Ich weiß von einer Unternehmung, die ihre Produktion von<br />

Dampflokomotiven auf <strong>Die</strong>selloks umgestellt hat, dass es dort<br />

noch eine Abteilung gab, die damit beschäftigt war, Material zu<br />

verwalten, das nur für den Bau von Dampflokomotiven benötigt<br />

wurde”, meldete sich Peter zu Worte.<br />

„Das ist das Problem von großen Verwaltungen in aller Welt.<br />

Von einem bestimmten Zeitpunkt an verlieren ihre hochdifferenzierten<br />

Abläufe jeglichen Kontakt zur Realität und erhalten sich<br />

nur noch zum Zwecke <strong>der</strong> eigenen Macht.<br />

In China, diesem durch und durch bürokratisierten Riesenreich<br />

überlebte dieses System in seiner zunehmenden Versteinerung<br />

noch bis zu Anfang dieses Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />

Dabei war den Machtinhabern die Schwäche ihres Systems<br />

durchaus bewusst. Warum sonst drohte noch Anfang des 19. Jahr-


hun<strong>der</strong>ts Einheimischen die Todesstrafe, falls sie es wagten, Auslän<strong>der</strong>n<br />

die Landessprache beizubringen?<br />

In Japan waren die Herrschenden noch rigoroser. Japaner, die<br />

das Land verlassen hatten und später wie<strong>der</strong>kehrten, wurden hingerichtet,<br />

bevor sie über ihre Eindrücke im Ausland berichten<br />

konnten.”


c) Gottesvorstellungen<br />

„Wir haben bisher die Fragen zu klären versucht, wer wir sind<br />

und woher wir kommen. Es bleibt die Frage: Wohin gehen wir?<br />

O<strong>der</strong> um es an<strong>der</strong>s zu formulieren, welche Aussagen macht die<br />

Philosophie zum Leben nach dem Tode.”<br />

Dr. Rifenkoek zog aus ihrer Tasche ein etwa handspannengroßes<br />

steinernes Gebilde, zeigte es in die Runde und fragte:<br />

„Für was halten Sie das?”<br />

Das Gebilde wan<strong>der</strong>te von Hand zu Hand, wurde begutachtet<br />

und dann zurückgegeben.<br />

„Es hat etwas Figürliches. Darf ich fragen, woher Sie es haben?”,<br />

wandte sich Detlef an die Kursleiterin.<br />

„Ich muss Sie enttäuschen. Ich habe meinen Großvater danach<br />

gefragt. Doch <strong>der</strong> hat mir gesagt, auch sein Großvater habe ihm<br />

diese Frage nicht beantworten können. Wir nennen es das Zaubermännchen.<br />

Keiner weiß, woher es kommt und wann es in den<br />

Besitz eines meiner Vorfahren gelangt ist. Es ist gewissermaßen <strong>der</strong><br />

Talisman <strong>der</strong> Familie.<br />

Was ein Talisman ist, wissen Sie. Das Wort kommt aus dem<br />

Arabischen und bedeutet dort Magisches Bild, zauberkräftiger<br />

Schutz, den man am Körper trägt.<br />

Ich möchte wetten, dass auch mancher von Ihnen einen solchen<br />

Talisman als Glücksbringer besitzt und ihn bei Klassenarbeiten<br />

z.B. bei sich trägt.<br />

Wie alt schätzen Sie die Vorstellung eines solchen Zauberschutzes<br />

in <strong>der</strong> Menschheit?”<br />

„Ich glaube, dieser Wunsch nach einem Zauberschutz ist schon<br />

sehr alt”, meinte Christine.


„Schon die Höhlenmalereien <strong>der</strong> altsteinzeitlichen Jäger sollen<br />

meines Erachtens die fehlenden Jagdtiere herbeizaubern. Wenn es<br />

aber einen Jagdzauber gegeben hat, dann gab es auch einen Zauberschutz.”<br />

„Sie haben richtig vermutet, Christine. Nach dem, was wir über<br />

die Sitten und Bräuche <strong>der</strong> Aborigines in Australien und <strong>der</strong><br />

Buschmännern in Afrika in Erfahrung gebracht haben, muss die<br />

Umwelt <strong>der</strong> Altsteinzeitmenschen als beseelt empfunden worden<br />

sein. Irgendein Tier o<strong>der</strong> eine Pflanze, von <strong>der</strong> sie glaubten, in einer<br />

Notsituation beschützt worden zu sein, wurde seitdem als<br />

Zauberschutz <strong>der</strong> Sippe betrachtet. Es durfte fortan nicht mehr gejagt<br />

bzw. verzehrt werden.”<br />

„Ist das Totem <strong>der</strong> Indianer nicht auch so ein Zauberschutz?”,<br />

wollte Karl wissen.<br />

„Richtig. Von den Indianern haben wir den Ausdruck Totem<br />

für diesen Zauberschutz übernommen.<br />

Bemerkenswert ist, dass bei den Aborigines Australiens Mitglie<strong>der</strong><br />

desselben Totems nicht in geschlechtliche Beziehung zueinan<strong>der</strong><br />

treten dürfen. Heiratet z. B. ein Mann des Clans mit dem Totem<br />

Känguru eine Frau aus dem Clan mit dem Totem Emu, so sind<br />

die Kin<strong>der</strong> alle Emu. Einem Sohn dieser Ehe wird also durch die<br />

Totemregel <strong>der</strong> inzestuöse Verkehr mit seiner Mutter und seinen<br />

Schwestern, die Emu sind wie er, unmöglich gemacht. Dem Vater,<br />

<strong>der</strong> Känguru ist, bleibt aber nach dieser Regel <strong>der</strong> Inzest mit seinen<br />

Töchtern, die Emu sind, erlaubt.<br />

Bei väterlicher Vererbung des Totems wären die Kin<strong>der</strong> Känguru<br />

wie <strong>der</strong> Vater. Den Söhnen wäre <strong>der</strong> Geschlechtsverkehr mit ihrer<br />

Mutter, die Emu ist, erlaubt.<br />

<strong>Die</strong> Familienoberhäupter dürften daher dafür gesorgt haben,<br />

dass die mütterliche Vererbung die Regel wurde.”<br />

„Frau Dr. Rifenkoek, Sie haben gesagt, unsere altsteinzeitlichen<br />

Vorfahren haben ihre Umwelt als beseelt empfunden”, meldete


sich Maria zu Wort, „dann müssen sie sich selbst doch auch als beseelt<br />

empfunden haben. Was geschieht mit den Seelen ihrer Verstorbenen?”<br />

„Maria, Sie sprechen da einen wichtigen Gesichtspunkt an. <strong>Die</strong><br />

Seelen verlassen nach <strong>der</strong> Vorstellung unserer Vorfahren die<br />

Leiber, können als Geist frei schweben, aber auch in die Leiber<br />

an<strong>der</strong>er Menschen wie<strong>der</strong> ihren Wohnsitz nehmen.<br />

Mit dem Animismus, so nennt man die Vorstellung von <strong>der</strong> allgemeinen<br />

Beseelung <strong>der</strong> Natur, ist eng verbunden, dass die Seelen<br />

von Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen als Geister allgegenwärtig<br />

sind. Der Totem ist ein persönlicher Schutz vor dämonischen<br />

Geistern.<br />

Darüber hinaus hat man versucht, gegen die Zauberkraft <strong>der</strong><br />

dämonischen Geister einen Gegenzauber zu entwickeln. Er soll die<br />

Geister beschwichtigen, versöhnen, sie evtl. ihrer Macht berauben<br />

und sie dem Willen des Gegenzaubers unterwerfen.<br />

Eine <strong>der</strong> verbreitetsten Prozeduren dieser Magie besteht darin,<br />

sich von dem verhassten Dämon ein Ebenbild aus irgendeinem beliebigen<br />

Material zu machen. Was man dann dem Ebenbild antut,<br />

das stößt dann auch dem gehassten Urbild zu.”<br />

„Zu dem, was hier über die Vorstellungswelt unserer altsteinzeitlichen<br />

Vorfahren gesagt wird, fallen mir immer Parallelen im<br />

Verhalten meiner kleinen Schwester in den ersten Lebensjahren<br />

ein”, platzte es aus Karin heraus. „Gibt es da wirklich Parallelen?”<br />

„Sicher Karin. Sie haben im Biologieunterricht gelernt, dass <strong>der</strong><br />

menschliche Embryo im Mutterleib die Phasen <strong>der</strong> Evolution wie<strong>der</strong>holt.<br />

Warum sollte es bei <strong>der</strong> seelischen Entwicklung, <strong>der</strong> Ontogenese,<br />

wie die Fachleute sagen, an<strong>der</strong>s sein. Auch sie wie<strong>der</strong>holt<br />

die seelische Stammesentwicklung, die Phylogenese <strong>der</strong> Menschheit.<br />

Den tiefgreifenden Unterschied zwischen belebter und unbelebter<br />

Materie erfährt das Kleinkind erst nach und nach. Tieren, aber<br />

auch toten Gegenständen traut es ohne weiteres ähnliche Gefühle<br />

<strong>der</strong> Freude, des Schmerzes zu, wie es sie selbst empfindet.


Beginnt ein Kind sich im Dunkeln zu fürchten, sind ihm <strong>der</strong> finstere<br />

Keller o<strong>der</strong> ein dunkler Wald unheimlich und üben Skelette<br />

o<strong>der</strong> Totenköpfe eine beson<strong>der</strong>e Faszination aus, so hat es entwicklungsgeschichtlich<br />

gesehen die altsteinzeitliche Phase <strong>der</strong><br />

Animation überwunden und tritt in die manische Phase des Geisterglaubens<br />

ein, wie sie etwa die frühe Jungsteinzeit beherrschte.<br />

Auf dieser geistigen Entwicklungsstufe glaubt ein Kind ohne<br />

weiteres an die Existenz von Geistern und kann sich maßlos davor<br />

fürchten. An<strong>der</strong>erseits fühlt es sich von Gespenstergeschichten magisch<br />

angezogen, obwohl es genau weiß, dass seine Angst hierdurch<br />

noch gesteigert wird. Es ist die Zeit, in welcher Märchen und<br />

Sagen gerne gehört werden. Da Manismus und Magie vielfach eng<br />

miteinan<strong>der</strong> verbunden sind, könnte man diese manische Phase<br />

auch die eigentlich magische Zeit <strong>der</strong> Individualentwicklung nennen.<br />

Doch kehren wir zu den frei schwebenden Seelen <strong>der</strong> Verstorbenen<br />

zurück. Damit sie als böse Dämonen den Lebenden keinen<br />

Schaden zufügen konnten, begrub man sie fernab von den Lebenden.<br />

Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Leben bedeuten<strong>der</strong><br />

Verstorbener schwindet die Furcht vor <strong>der</strong>en dämonischem Geist<br />

und man erinnert sich ihrer Leistungen im Leben. Sie will man nun<br />

durch magische Beschwörungen für die Lebenden nutzbar machen.<br />

Es beginnt <strong>der</strong> Ahnenkult. Je länger <strong>der</strong> zeitliche Abstand und je<br />

ungebrochener <strong>der</strong> Kult um diesen bedeutenden Ahnen, umso gewisser<br />

die Erhebung des Ahnen in den Götterhimmel.<br />

Doch sind die Übergänge nicht abrupt, son<strong>der</strong>n fließend. Vom<br />

Animismus, <strong>der</strong> allgemeinen Beseelung <strong>der</strong> Natur, über den Totemismus<br />

und Manismus bis hin zum Götterglauben bleiben stets<br />

Formen <strong>der</strong> vorangegangenen Vorstellungswelt auch weiterhin lebendig.<br />

So bleiben die Totemtiere gleichsam animistisch beseelt,<br />

werden die Ahnen noch lange Zeit in totemistischer Tiergestalt<br />

verehrt, erhalten die Götter noch vielfach bis heute Ahnengestalt,<br />

wenn sie auf ihrem Himmelsthron wie Königsmumien auf Totenstühlen<br />

wie<strong>der</strong>gegeben werden.


Das gnaden- o<strong>der</strong> schadenreiche Wirken mächtiger Toter aus<br />

dem Grab heraus in das Leben <strong>der</strong> Menschen hinein ist ein Glaube<br />

<strong>der</strong> Steinzeit, <strong>der</strong> stark geblieben ist bis in unsere Tage.<br />

Und jetzt Erika, kommen wir zu <strong>der</strong> Frage: Warum beten wir<br />

das Vaterunser und nicht das Mutterunser. Sie waren es doch, die<br />

mit <strong>der</strong> Frage nach dem Feminismus das Patriarchat zur Diskussion<br />

stellte.<br />

Was wissen Sie”, und damit wandte die Lehrerin sich an die gesamte<br />

Gruppe, „vom Neolithikum?”<br />

„Wir finden zu Beginn <strong>der</strong> Jungsteinzeit erstmals Siedlungen an<br />

den Mündungen <strong>der</strong> großen Flüsse. <strong>Die</strong> Archäologen haben am Indus,<br />

am Euphrat und im Nildelta Siedlungsspuren ausgegraben”,<br />

wusste Klaus.<br />

„Ich habe gelesen, dass die Rastplätze dort den Nomaden<br />

reichhaltigere Früchte boten, weil die verlorenen Samen <strong>der</strong> letzten<br />

Rast durch zwischenzeitliche Überschwemmung und Verschlammung<br />

gekeimt sind”, trug Michael zur Erklärung bei.<br />

„Wenn die Großwildtiere durch die immer perfektere Jagdtechnik<br />

abnahmen und die Jäger weniger Beute zum Lager brachten,<br />

dann wurde das, was die Frauen zum Lebensunterhalt beisteuerten,<br />

immer wichtiger”, vermutete Christine.<br />

„Sie haben Recht, Christine. <strong>Die</strong> geernteten Früchte, seien es<br />

Feldfrüchte, seien es Jungtiere <strong>der</strong> inzwischen gezähmten Ziegen,<br />

Schafe und Rin<strong>der</strong>, seien es Kin<strong>der</strong> als willkommene Arbeitskräfte,<br />

werden entscheidend im Daseinskampf.<br />

Es ist die Große Mutter, <strong>der</strong> sie, so glauben die sesshaft gewordenen<br />

Nomaden, das alles zu verdanken haben.<br />

Der Ahnenkult gilt also den großen Müttern, die in diesen Bauernkulturen<br />

zur zentralen Gottheit aufsteigen.<br />

Für die matriarchalische Gesellschaftsordnung ist beson<strong>der</strong>s<br />

charakteristisch, dass die männlichen Totemtiere – neben dem<br />

Wildstier, <strong>der</strong> wilde Eber und Wid<strong>der</strong> – von <strong>der</strong> Großen Mutter<br />

geboren werden; das männliche Geschlecht wird also schon in


seinen totemistischen Ahnen dem weiblichen untergeordnet. Das<br />

hin<strong>der</strong>t nicht, Stiere als Sinnbild <strong>der</strong> männlichen Zeugungskraft in<br />

beträchtlicher Größe abzubilden, frühe Vorformen für den einige<br />

tausend Jahre jüngeren altkretischen Stierkult.<br />

Doch wie konnten die männlichen Götter ihren Platz im Götterhimmel<br />

zurückerobern und, denken Sie in <strong>der</strong> griechischen Mythologie<br />

an Zeus, die Majorität erlangen?”<br />

„Als ich mit meinen Eltern in den Ferien in Ägypten war”, meldete<br />

sich Frank zu Wort, „machte uns unser Reiseleiter im ägyptischen<br />

Museum in Kairo darauf aufmerksam, dass die Hauptgöttin<br />

Unterägyptens Hathor mit einem Stierhaupt, während <strong>der</strong> Hauptgott<br />

Oberägyptens Osiris mit einem Falkenkopf dargestellt war.<br />

Das sei, so erklärte er uns, ein Hinweis darauf, dass es in Unterägypten<br />

eine bäuerliche Kultur mit einem Matriarchat und in<br />

Oberägypten ursprünglich eine nomadische Hirtenkultur mit einem<br />

Patriarchat gegeben habe.<br />

<strong>Die</strong> zunehmende Austrocknung <strong>der</strong> ursprünglichen Steppenlandschaft<br />

Sahara habe, so erzählte er uns weiter, diese Menschen<br />

an den Nil getrieben wo sie durch die jährlichen Nilüberschwemmungen<br />

und den an sich schmalen Fruchtbarkeitsstreifen entlang<br />

des Nils zu einer Bewässerungstechnik gezwungen wurden, die<br />

Gemeinschaftsbildung verlangte.<br />

Es muss dann etwa um 3 000 vor Christi zum Krieg gekommen<br />

sein. Der erste Versuch, Unterägypten zu erobern, scheint aber gescheitert<br />

zu sein, denn Osiris wurde getötet und galt seitdem bei<br />

den Ägyptern als Gott des Totenreiches. Erst seinem Sohn Horus<br />

gelang es, die beiden Län<strong>der</strong> zu vereinen.<br />

Seitdem, so schloss unser Reiseleiter seine Erklärung, seien seine<br />

Nachfolger als Pharaonen Verkörperung des Sonnengottes Re<br />

geworden. <strong>Die</strong> zahlreichen Götter bei<strong>der</strong> Kulturen wurden von<br />

den Menschen des vereinigten Ägyptens angefleht, wenn sie <strong>der</strong>en<br />

Funktion bedurften.”


„Das müsste im ägäischen Raum ähnlich abgelaufen sein”, folgerte<br />

Klaus.<br />

„Wir wissen, dass die mykenische, patriarchalisch ausgerichtete<br />

Kultur die minoische, die matriarchalisch orientiert war, verdrängt<br />

hat. Bei Homer, das muss etwa 600 bis700 Jahre später sein, gibt<br />

es den voll ausgeprägten polytheistischen Götterhimmel mit Zeus<br />

an <strong>der</strong> Spitze.”<br />

„Etwas ist bemerkenswert am Polytheismus”, ergänzte Frau Dr.<br />

Rifenkoek.<br />

„<strong>Die</strong> Götter hatten zwar in jedem Land an<strong>der</strong>e Namen. Aber<br />

mo<strong>der</strong>n ausgesprochen, die Funktionen waren international identisch.<br />

Wenn etwa in den römischen Legionen ein germanischer<br />

Söldner seine Aussage bei Thor beschwor, dann wusste sein italienischer<br />

Kollege, dass damit Mars gemeint war.”<br />

Frank, hat Ihnen Ihr ägyptischer Reiseleiter auch etwas über<br />

den Totenkult <strong>der</strong> Ägypter erzählt?” Mit dieser Frage eröffnete<br />

Frau Dr. Rifenkoek die nächste Unterrichtsstunde.<br />

„Ja. Für die Ägypter war die Erde eine Scheibe. An ihrem östlichen<br />

Lichtpunkt ging morgens die Sonne auf und abends am westlichen<br />

Lichtpunkt, so nannten sie den Horizont, wie<strong>der</strong> unter. Des<br />

Nachts wan<strong>der</strong>te sie durch die Unterwelt wie<strong>der</strong> zum östlichen<br />

Lichtpunkt.<br />

War es tagsüber <strong>der</strong> Sonnengott Rê, verkörpert in dem lebendem<br />

Pharao, <strong>der</strong> Gericht hielt über die Lebenden, so war es nachts<br />

Osiris, <strong>der</strong> über die Gestorbenen Gericht hielt.<br />

Das Sterben war nach altägyptischer Vorstellung, so unser Reiseleiter,<br />

ein Übergang zu einem Zwischendasein, in welchem <strong>der</strong><br />

Mensch als unsterbliche Seele weiterlebte und auf das Gericht<br />

wartete, vor dem er über alle seine früheren Gedanken und Taten<br />

Rechenschaft ablegen musste. Ob diese Verstorbenen zu Höllenstrafen<br />

verurteilt wurden, ob sie durch ein läuterndes Fegefeuer gehen<br />

mussten o<strong>der</strong> ob sie die ewige Seligkeit erlangten, darüber entschied<br />

ihr Verhalten auf Erden.”


„Wie <strong>der</strong> Gedanke <strong>der</strong> unsterblichen Seele nach Indien gelangte,<br />

ob über Handelsbeziehungen mit <strong>der</strong> uns unbekannten Induskultur<br />

o<strong>der</strong> ob originär aus <strong>der</strong> animistischen Vergangenheit <strong>der</strong><br />

Indoarier entwickelt”, sinnierte die Kursleiterin, „darüber wissen<br />

wir nichts.<br />

Jedenfalls entwickelten die Brahmanen, die indische Priesterkaste,<br />

eine Lehre, nach <strong>der</strong> zwischen <strong>der</strong> Seele und dem Körper ein<br />

loses, leicht und schmerzlos aufzulösendes Verhältnis besteht. Der<br />

Körper vergeht, die unsterbliche Seele schlüpft in einen an<strong>der</strong>en<br />

Körper.<br />

Ob sie in ein höheres o<strong>der</strong> nie<strong>der</strong>es Lebewesen schlüpft, hängt<br />

von dem Verhalten ihres früheren Gastwirtes ab. <strong>Die</strong>se Seelenwan<strong>der</strong>ung<br />

zu beenden und <strong>der</strong> Seele die ewige Ruhe zu geben, ist<br />

daher das vordringliche Streben <strong>der</strong> Gläubigen.”<br />

„Das erklärt auch, dass es in dieser Weltregion keine naturwissenschaftlichen<br />

Entdeckungen wie in China gegeben hat”, meinte<br />

Konrad.<br />

„Richtig gesehen, Konrad. Aber auch im ägäischen Raum, zur<br />

Zeit <strong>der</strong> Naturphilosophen, hat die Seelenwan<strong>der</strong>ung ihre Anhänger.<br />

Nach Pythagoras, sie kennen ihn aus <strong>der</strong> Geometrie, entstammt<br />

die Seele einer an<strong>der</strong>en Welt. Da sie sündig geworden ist, wurde<br />

sie an einen Leib gekettet und muss von Leib zu Leib ein Buß- und<br />

Wan<strong>der</strong>leben führen, bis es ihr gelingt vom Leib und seiner Sinnlichkeit<br />

frei zu kommen und wie<strong>der</strong> ganz Geist zu werden.<br />

In Unteritalien gründete er eine Bru<strong>der</strong>schaft, <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong><br />

sich jeglichen Fleischgenusses enthielten, aus Angst, sie könnten<br />

Lebewesen verzehren, in denen die Seelen ihrer Angehörigen eingezogen<br />

sind.<br />

Von Xenophanes, Zeitgenosse des Pythagoras und erster Vertreter<br />

eines Pantheismus, für den Gott in Allem ist, stammt folgen<strong>der</strong><br />

Spottvers:<br />

Als er vorbeigehend sah, wie ein Hündchen wurde misshandelt,<br />

sprach er, von Mitleid erfasst, so ein begütigend Wort:


‚Lass und schlag ihn nicht mehr; denn eines befreundeten Mannes<br />

Seele erkannt’ ich am Klang, als ich die Stimme vernahm.’’<br />

Auch Platon war noch Anhänger dieser magischen Gottesvorstellung.<br />

Für ihn ist <strong>der</strong> Leib eine Art Fahrzeug <strong>der</strong> Seele. Wird die<br />

Seele im Totengericht nicht freigesprochen, erfolgt ihre Wie<strong>der</strong>geburt<br />

erst nach 1 000 Jahren. Dabei kann sie sich den neuen Leib<br />

wählen, wobei die Erfahrungen <strong>der</strong> vorigen Lebenszeit eine Rolle<br />

spielen. Das führt bei späteren Inkarnationen zu höheren o<strong>der</strong> nie<strong>der</strong>en<br />

Stufen, je nach den ewigen Ideen und Wahrheiten, die die<br />

Seele in ihrer vergleichsweise kurzen Lebensphase erschaut hat.<br />

„War das wie in Indien auch bei Platon ein ewiger Kreislauf?”,<br />

wollte Maria wissen.<br />

„Nein, die Seelenwan<strong>der</strong>ung dauert maximal 10 000 Jahre.<br />

Dann kehrt die Seele zum Demiurgen, so nennt Platon den Schöpfer,<br />

<strong>der</strong> sie auf die Werkzeuge <strong>der</strong> Zeit verpflanzt hat, zurück.<br />

Bei Aristoteles wird aus <strong>der</strong> Seele die Entelechie, wie er den<br />

Bauplan des Lebens nennt. Weil diese Entelechie bei je<strong>der</strong> Art<br />

gleich ist, hat Averroës, wie wir schon besprochen haben, daraus<br />

die theologischen Konsequenzen gezogen.”<br />

„In <strong>der</strong> Achsenzeit (800 bis 200 vor Christi), so haben wir von<br />

Karl Jaspers gehört, beginnt die Menschheit sich vom Aberglauben<br />

zu lösen. Für die Erklärung <strong>der</strong> Phänomene <strong>der</strong> Natur stehen dafür<br />

Thales, Anaximan<strong>der</strong> und Anaximenes, die Naturphilosophen des<br />

6. vorchristlichen Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />

Welche Namen fallen Ihnen ein, wenn es um religiöse Erklärungsversuche<br />

jenseits des Götterglaubens geht?”<br />

„Ich glaube <strong>der</strong> schon erwähnte Konfuzius spielt hierbei eine<br />

Rolle”, meinte Peter.<br />

„Auch Buddha und Zarathustra gehören hierher”, ist Frank<br />

überzeugt.<br />

„Aber müssen wir nicht Moses an erster Stelle nennen, <strong>der</strong> doch<br />

schon 700 Jahre vor <strong>der</strong> Achsenzeit einen Monotheismus predigte”,<br />

wollte Maria wissen.


„Mit Moses und dem jüdischen Monotheismus, Maria, werden<br />

wir uns geson<strong>der</strong>t beschäftigen. Versuchen wir zunächst einmal die<br />

drei an<strong>der</strong>en chronologisch zu ordnen.”<br />

„Ich glaube, Zarathustra ist <strong>der</strong> früheste Religionsphilosoph”,<br />

wusste Frank.<br />

„Richtig. Zarathustra wird etwa um 600 vor Christi in Baktrien<br />

geboren. Nach ihm findet ein ewiger Kampf zwischen Gut und Böse<br />

statt, sowohl in <strong>der</strong> Welt als auch in <strong>der</strong> Seele des Menschen.<br />

Der Mensch muss sich zwischen Gut und Böse entscheiden, denn<br />

davon hängt es ab, ob er nach seinem Tode in den Himmel o<strong>der</strong> in<br />

die Hölle kommt, die keine lokalen Orte, son<strong>der</strong>n geistige Zustände<br />

sind.<br />

<strong>Die</strong> alten Götter trifft Zarathustras Fluch:<br />

Doch ihr Götter: alle seid ihr schlechten Geistes Schoß<br />

Auch wer euch geehret: Lüge und des Hochmuts Spross;<br />

Eure Taten mehr noch, rühm sie gleich <strong>der</strong> Erdenkreis.<br />

Weil Dareios, Perserkönig ab 520 vor Christi, die semitischaramäische<br />

Sprache und Buchstabenschrift für das gesamte Weltreich<br />

von Indien bis Äthiopien zur amtlichen Einheitssprache und<br />

Einheitsschrift erkor, waren die nach dem Tode Zarathustras um<br />

die gleiche Zeit schriftlich festgehaltenen Lehren bald überall zugänglich.”<br />

„Wann hat eigentlich Buddha gelebt. Sein Geburtsort in Nordindien<br />

dürfte doch nicht so weit von <strong>der</strong> Wirkungsstätte des Zarathustra<br />

im Ostiran entfernt sein”, wollte Christine wissen.<br />

„Buddha ist vierzig Jahre jünger als Zarathustra. Sein religiöses<br />

Wirken beginnt etwa zur Zeit <strong>der</strong> Veröffentlichung <strong>der</strong> Lehren des<br />

Zarathustras. Wir wissen nicht, ob er sie gekannt hat. Aber zweifellos<br />

gab es Handelsbeziehungen zwischen Baktrien und Nordindien,<br />

<strong>der</strong>en Verträge in aramäischer Schrift festgehalten wurden.<br />

Der Leib ist nicht von Bestand, Reichtümer währen nicht ewig,<br />

<strong>der</strong> Tod ist beständig in <strong>der</strong> Nähe, warum also sammle ich<br />

Verdienst an?”


Buddha hat, so weiß es die Überlieferung, seine Jünger davor<br />

gewarnt, sich auf Fragen nach einer göttlichen Welt und dem Jenseits<br />

einzulassen. Ein Buddha, ein Erleuchteter, wird we<strong>der</strong> als ein<br />

Gott noch als irdische Erscheinung eines Gottes verstanden. Ein<br />

Buddha versteht sich nur als sittlich vollkommener Mensch. Sein<br />

Streben ist rein spirituell. Er will den ewigen Kreislauf <strong>der</strong> Seelenwan<strong>der</strong>ung<br />

durchbrechen und seiner Seele die Ruhe des Nirwanas<br />

gewähren.”<br />

„Konfuzius war doch ein Zeitgenosse Buddhas. Können Zarathustras<br />

Lehren über die Seidenstraße auch bis nach China vorgedrungen<br />

sein?”, erkundigte sich Detlef.<br />

„Auch das wissen wir nicht. Aber Zarathustra hat immer von<br />

Ahura Mazda, dem Weisen Herrn gesprochen, nie von Gott. Das<br />

lässt sowohl die ethische Lösung Buddhas als auch die weltliche<br />

Lösung des Konfuzius zu.<br />

Ihr wisst noch nicht genug über die Lebenden – wie könnt ihr<br />

über die Toten etwas wissen? Ihr seid nicht imstande, Menschen<br />

zu dienen – wie wollt ihr Geistern dienen?<br />

Und<br />

Zu sagen, dass man eine Sache nicht kennt, wenn man sie<br />

tatsächlich nicht kennt, das ist Kenntnis.<br />

Das Maß des Menschen ist <strong>der</strong> Mensch.<br />

Das sind Sätze von Konfuzius.<br />

Durch Menschlichkeit und Sittlichkeit soll eine vollkommene,<br />

rechtschaffene und moralische Gesellschaft geformt werden.<br />

Dass man in China unter dem Einfluss des Konfutse anfing, die<br />

Götter ihres übermenschlichen Zaubers zu entkleiden und sie zu<br />

Menschen mit beson<strong>der</strong>en Fähigkeiten herabzustufen, darüber haben<br />

wir bereits gesprochen. Zunehmend verlagerten so die Chinesen<br />

das Schwergewicht von metaphysischen Deutungsversuchen<br />

auf diesseitsbezogene humanistische Welterklärungen.<br />

Und nun Maria, zum jüdischen Monotheismus.


Das Gelobte Land, in das die Israeliten, Kleinviehnomaden aus<br />

dem Sinaigebiet, ab dem 13. Jahrhun<strong>der</strong>t vor Christi allmählich<br />

einsickerten, ist ein schmaler Küstenstreifen zwischen <strong>der</strong> Ostküste<br />

des Mittelmeeres und <strong>der</strong> syrisch-arabischen Wüste.<br />

<strong>Die</strong> strategische Bedeutung dieses Küstenstreifens als Durchzugsland<br />

sowohl für Ägypten als auch für die Großreiche des<br />

fruchtbaren Halbmondes im Nordosten machte die dort siedelnden<br />

Menschen zu tributpflichtigen Vasallen <strong>der</strong> jeweiligen Vormacht.<br />

<strong>Die</strong> zerklüftete Landschaft, hervorgerufen durch das bis auf 400 m<br />

unter den Meeresspiegel absinkende Jordantal, führte dazu, dass<br />

die we<strong>der</strong> <strong>der</strong> Sprache noch <strong>der</strong> Herkunft nach einheitlichen<br />

Volksgruppen hier nur Zwergstaaten ins Leben riefen.<br />

<strong>Die</strong> aus <strong>der</strong> unfruchtbaren Wüste kommenden Stämme Israels<br />

empfanden den Fruchtbarkeitskult <strong>der</strong> Kanaaniter, <strong>der</strong> auch ins<br />

alltägliche Verhalten ausstrahlte, als unheimlich, schamlos und<br />

pervers. Jahwe, <strong>der</strong> Gott Israels, war ein Gott des Rechts. Wer<br />

ihm dienen wollte, musste seine Gebote und Gesetze gehorsam<br />

aufnehmen und in allen Bereichen des Lebens wirken lassen.<br />

Je<strong>der</strong> Erfolg, so erklärten Propheten und Priester seitdem, sei<br />

ihrem Gott zu verdanken, je<strong>der</strong> Misserfolg Folge <strong>der</strong> Missachtung<br />

seiner Gebote. <strong>Die</strong>se monotheistische Exklusivität inmitten polytheistischer<br />

Nachbarn führte zu ständigen blutigen Auseinan<strong>der</strong>setzungen,<br />

zumal Jahwe ihnen versprochen hatte:<br />

‚Nicht hat euch <strong>der</strong> Herr angenommen und euch erwählt, darum<br />

dass euer mehr wäre als alle Völker – denn du bist das kleinste<br />

unter allen Völkern -; son<strong>der</strong>n darum, dass er euch geliebt hat.’<br />

‚So hüte dich nun, dass du des Herrn, deines Gottes, nicht<br />

vergessest, damit dass du seine Gebote und seine Gesetze und<br />

Rechte, die ich dir heute gebiete, nicht hältst.’<br />

‚Wirst du aber des Herrn, deines Gottes, vergessen und an<strong>der</strong>en<br />

Göttern nachfolgen und ihnen dienen und sie anbeten,<br />

so bezeuge ich heute über euch, dass ihr umkommen werdet.’”


Fragend blickte Frau Dr. Rifenkoek in die Runde.<br />

„Soviel ich aus dem Alten Testament weiß”, meldete sich Maria,<br />

„ist diese letzte Prophezeiung Realität geworden. <strong>Die</strong> Assyrer<br />

haben das Nordreich Israel zerstört, die Babylonier das Reich Judäa.<br />

In beiden Fällen führte man die geistige Führungsschicht nach<br />

Mesopotamien in die Gefangenschaft.“<br />

„Ihre letzte Bemerkung über die Deportation <strong>der</strong> geistigen Führungsschicht,<br />

Maria, ist wichtig, wie wir noch sehen werden”,<br />

kommentierte die Kursleiterin.<br />

„Viele Juden, die nach dem letzten gescheiterten Aufstand gegen<br />

die Babylonier die Rache Nebukadnezars fürchteten, flüchteten<br />

in das verbündete Ägypten.<br />

Bei Ausgrabungen auf <strong>der</strong> Nilinsel Elephantine unterhalb des 1.<br />

Kataraktes fanden Archäologen Papyri einer jüdischen Söldnerkolonie<br />

aus dem 5. vorchristlichen Jahrhun<strong>der</strong>t. <strong>Die</strong>se Söldner standen<br />

in <strong>Die</strong>nsten Ägyptens und später Persiens und bewachten die<br />

Südgrenze des Reiches. <strong>Die</strong>se Papyri enthalten über 120 jüdische<br />

Namen. Unter diesen Namen findet sich kein Abraham, Jakob,<br />

Isaak Moses o<strong>der</strong> David, Namen die in späteren Zeiten bei den<br />

Juden sehr häufig vorkommen. Für die Juden in Elephantine<br />

scheint es die Knechtschaft in Ägypten, den Exodus und die fünf<br />

Bücher Moses nie gegeben zu haben.<br />

Nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen <strong>der</strong> Alttestamentler<br />

ist die erste Fassung des Pentateuchs, <strong>der</strong> fünf Bücher Moses, in<br />

<strong>der</strong> babylonischen Diaspora nach <strong>der</strong> Befreiung durch Kyros entstanden.<br />

Der Jahwist, so nennen sie den unbekannten Verfasser,<br />

weil er am häufigsten von Jahwe spricht, scheint in seine Zentralgestalt<br />

Moses zwei Vorbil<strong>der</strong> verschmolzen zu haben. Für Moses,<br />

den Führer beim Auszug aus Ägypten, scheint <strong>der</strong> Perserkönig Kyros<br />

Pate gestanden zu haben, und <strong>der</strong> Gesetzeslehrer Moses vom<br />

Berge Sinai erinnert an Zarathustra.<br />

Judäa blieb, auch nach <strong>der</strong> Rückkehrmöglichkeit durch die persische<br />

Befreiung ein politischer und sozialer Unruheherd, politisch,


weil <strong>der</strong> persische Gouverneur von Samaria die verwaltungsmäßige<br />

Selbständigkeit Judäas behin<strong>der</strong>te und sozial, weil die Deportation<br />

die Eigentumsverhältnisse durcheinan<strong>der</strong> gebracht hatte und die<br />

For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> aus dem Exil Heimkehrenden nicht befriedigt<br />

wurden.<br />

Das persische Interesse an politischer Ruhe in dieser heißen<br />

Nahtstelle zu Ägypten traf sich mit dem Verantwortungsgefühl <strong>der</strong><br />

babylonischen Diaspora für ihr Mutterland. Nehemia, ein einflussreicher<br />

Exiljude, schuf im Auftrag und mit Vollmacht des persischen<br />

Großkönigs durch seine Reformen politische und soziale<br />

Ordnung in Judäa.<br />

Esra ergänzte diese organisatorischen durch religiöse Reformen.<br />

<strong>Die</strong> Alttestamentler vermuten, dass dabei die zweite Fassung des<br />

Pentateuchs, die so genannten Priesterschriften, dem Alten Testament<br />

hinzugefügt wurden.<br />

Das Verbot <strong>der</strong> Mischehen, die Wie<strong>der</strong>einführung <strong>der</strong> Beschneidung,<br />

die strikte Einhaltung des Sabbats und <strong>der</strong> hohen Feste<br />

des jüdischen Glaubens gehen auf sein Wirken zurück. <strong>Die</strong>se<br />

Reformen dienten <strong>der</strong> Abwehr <strong>der</strong> für die Heiligkeit <strong>der</strong> Gemeinde<br />

gefährlichen religiösen Fremdeinflüsse.“<br />

„Liegt in diesen Reformen nicht auch <strong>der</strong> Keim für die Vorstellung<br />

vom Auserwählten Volk und damit verbunden für spätere antijüdische<br />

Reaktionen?”<br />

„Mit dem Wort ‚Keim’ kann ich mich einverstanden erklären,<br />

Peter, aber zur Ausprägung müssen noch an<strong>der</strong>e Faktoren, wie<br />

christliche Verleumdungen, Sozialneid u.ä. hinzukommen.<br />

In <strong>der</strong> dritten Fassung werden die Bücher <strong>der</strong> Chronik dem Alten<br />

Testament hinzugefügt. Das scheint in hellenistischer Zeit geschehen<br />

zu sein, um Jerusalem als zentrale Opferstätte gegenüber<br />

Samaria hervorzuheben.“<br />

„Hat <strong>der</strong> Tempel in Jerusalem für die Juden <strong>der</strong> Zeitenwende<br />

die Bedeutung gehabt wie heute die Kaaba in Mekka für die Mohammedaner?”


„Ja, Christine, <strong>der</strong> Vergleich ist treffend.<br />

<strong>Die</strong> dritte Fassung, die Hinzufügung des heroischen Zeitalters,<br />

ergänzte die religiöse Verbundenheit des jüdischen Volkes um ein<br />

Nationalbewusstsein.<br />

Erinnern Sie sich bitte an unsere Analyse <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />

Deutschtümelei im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />

Du wirst alle Völker verzehren, die <strong>der</strong> Herr, dein Gott, dir geben<br />

wird.”<br />

„Entschuldigen Sie Frau Dr. Rifenkoek”, unterbrach Maria,<br />

„aber das muss doch, wie wir in den Diskussionen zur Ich-Bildung<br />

erörtert haben, zu Prägungsvorgängen im Sinne eines religiösen<br />

Über-Ichs geführt haben.”<br />

„…und zur endgültigen staatspolitischen Katastrophe zur Römerzeit”,<br />

ergänzte Detlef. „<strong>Die</strong> religiösen Fanatiker haben doch<br />

um 70 n. Chr. und 60 Jahre später versucht, das Joch <strong>der</strong> Römer<br />

abzuwerfen. Das Ergebnis war, dass die Juden in alle Welt zerstreut<br />

wurden und sie erst vor 30 Jahren in Palästina einen Staat<br />

haben bilden können.”<br />

„Aber das historisch Einmalige bleibt, dass die Juden in <strong>der</strong> Diaspora<br />

in all <strong>der</strong> Zeit ihrem Glauben treu geblieben sind”, stellte<br />

Sylvia abschließend fest.<br />

„Halten wir fest”, fasste Frau Dr. Rifenkoek die Erkenntnisse<br />

<strong>der</strong> Stunde zusammen, „ausgehend von Zarathustra lassen sich drei<br />

große ethische Strömungen feststellen:<br />

- für den indischen Buddhismus ist <strong>der</strong> Mystiker die Leitfigur,<br />

- für den chinesischen Konfuzianismus ist es <strong>der</strong> Weise und<br />

- für den nahöstlichen Monotheismus ist es <strong>der</strong> Prophet.<br />

Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen.<br />

Wir aber hielten ihn für den, <strong>der</strong> geplagt und von<br />

Gott geschlagen und gemartert wäre.<br />

Es ist ein Bibelzitat. Wo, glauben Sie, steht dieses Zitat?” Fragend<br />

wandte sich die Kursleiterin an ihre Gruppe.


„Es steht sicher in eines <strong>der</strong> Evangelien.”<br />

„Es könnte aber auch in <strong>der</strong> Offenbarung des Johannes stehen.”<br />

„Sicher stammt es aus einer <strong>der</strong> Briefe des Paulus.”<br />

Zu allen Vermutungen schüttelte die Philosophielehrerin verneinend<br />

den Kopf.<br />

„Es steht bei Jesaja im 53. Kapitel, Vers 4. Aber das Zitat<br />

stammt nicht von dem Propheten Jesaja, <strong>der</strong> im 8. vorchristlichen<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t lebte, zurzeit als die Assyrer das Nordreich Israel auslöschten.<br />

<strong>Die</strong>ser Deuterojesaja genannte Prophet, dessen Namen wir<br />

nicht kennen, lebte zur Zeit Kyros im babylonischen Exil und hat<br />

seine Botschaften als Verse 40-55 an die des älteren Jesaja angehängt.”<br />

„Ist das <strong>der</strong> Jesaja aus dem Weihnachtslied Es ist ein Ros entsprungen?”<br />

„Ich glaube nicht, dass <strong>der</strong> Verfasser dieses schönen alten Weihnachtsliedes<br />

gewusst hat, Erika, dass es sich hierbei um zwei<br />

Propheten handelt, aber sicher hat er sich auf die Verse des Deuterojesaja<br />

bezogen.“<br />

„<strong>Die</strong> Zerstreuung <strong>der</strong> Juden in alle Welt, veranlasst durch Kaiser<br />

Hadrian nach dem zweiten vergeblichen Aufstand in Palästina,<br />

muss doch den Glauben <strong>der</strong> Juden an einen politischen Messias<br />

schwer erschüttert haben und eine Flüchtlingswelle in die Diaspora<br />

ausgelöst haben”, meinte Peter. „Ich stelle mir das in <strong>der</strong> Wirkung<br />

so vor, wie die Vertreibung unserer ostdeutschen Landsleute vor<br />

25 Jahren.”<br />

„Sicher, Peter, kamen unter dem Schock des Tempelverlustes<br />

von Jerusalem bei den gläubigen Juden Zweifel auf, ob sie die Botschaft<br />

vom Herannahen des Messias richtig verstanden hatten.<br />

<strong>Die</strong> treu am Glauben <strong>der</strong> Väter festhaltenden Juden gründeten<br />

unter <strong>der</strong> geistlichen Führung von Rabbinern – die zentrale Priesterhierarchie<br />

seit dem Tempelverlust in Jerusalem bestand nicht<br />

mehr – in <strong>der</strong> Diaspora neue Gemeinden und harrten weiterhin auf<br />

das Herannahen des Messias.


An<strong>der</strong>e fragten sich, ob Jesaja nicht Recht habe und <strong>der</strong> Messias,<br />

arm und politisch ohnmächtig, bereits unter ihnen geweilt habe,<br />

wie es später <strong>der</strong> Evangelist Johannes in Kapitel 18, Vers 36 Jesus<br />

in den Mund gelegt hat:<br />

Mein Reich ist nicht von dieser Welt.<br />

Sie fürchteten, Gott nicht verstanden zu haben, obwohl er ihnen<br />

schon längst ein Zeichen gegeben habe. Jedenfalls entwickelte<br />

sich bei den hellenisierten Juden <strong>der</strong> Diaspora <strong>der</strong> Glaube und die<br />

Hoffnung, Jesus von Nazareth sei <strong>der</strong> versprochene Messias gewesen.<br />

Historisch gesehen haben wir von Jesus, aber auch von Moses,<br />

keine Kenntnisse, die von außerhalb <strong>der</strong> Bibel stammen. Alle<br />

Evangelien stammen aus dem 2. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />

Der Erfolg des Christentums als Religion beruht einmal auf seine<br />

Verbreitung durch Paulus, <strong>der</strong> den christlichen Glauben aus<br />

den Klammern des auserwählten Volkes befreite und für die Heiden<br />

öffnete. Zum an<strong>der</strong>en wurde <strong>der</strong> christliche Glaube bis zur<br />

Einsetzung als Staatsreligion durch Konstantin, wie Nietzsche bemerkte,<br />

zu einer Hoffnung für alle Armen und Unterdrückten, dass<br />

es ihnen im Jenseits besser gehen würde.”<br />

„Wir haben gehört, dass <strong>der</strong> Islam innerhalb von knapp 100<br />

Jahren ganz Nordafrika und Spanien überrollt hat”, meldete sich<br />

Maria zu Wort.<br />

„Sie haben uns auch erklärt, dass die geistige Elite den Arabern<br />

geholfen hat, weil <strong>der</strong>en religiöse Toleranz ihnen gestattete, ihren<br />

alten Glauben beizubehalten. Aber warum ist die breite Masse mit<br />

fliegenden Fahnen zum Islam übergetreten?<br />

Vorher waren ganz Nordafrika und Spanien christlich. Augustinus<br />

war Bischof im heutigen Tunesien. Wenn aber nicht <strong>der</strong> größere<br />

Teil zum Islam konvertiert wäre, hätten die Araber Spanien<br />

nicht über 600 Jahre besetzt halten können und wären heute nicht<br />

alle Staaten Nordafrikas muslimisch.”<br />

„Ich habe in <strong>der</strong> Literatur bisher keine Erklärung für das gefun-


den, was Sie mit fliegenden Fahnen zum Islam übergetreten gekennzeichnet<br />

haben, Maria.<br />

Für mich sind aber zwei kirchliche Auseinan<strong>der</strong>setzungen zur<br />

Zeit des Augustinus mit ursächlich für dieses Phänomen. Das eine<br />

ist <strong>der</strong> Streit um die Frage, wer darf die Sakramente spenden und<br />

das an<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Streit um die Erbsünde.<br />

Der Bischof Donatus von Nordafrika vertrat die Ansicht, nur<br />

<strong>der</strong> dürfe die Sakramente spenden, <strong>der</strong> frei von schweren Sünden<br />

sei und nur die heilige Kirche habe die Spen<strong>der</strong> auszuwählen.<br />

Nachdem das Christentum Staatskirche geworden war, hatte<br />

natürlich auch <strong>der</strong> Staat ein Interesse daran, wer Bischof wurde.<br />

Und um die ging es vornehmlich. Bei <strong>der</strong>en Auswahl spielten Intrigen,<br />

Bestechungen und an<strong>der</strong>e dunkle Machenschaften eine solche<br />

Rolle, dass man an die Reinheit <strong>der</strong> Sakramente Spen<strong>der</strong> berechtigte<br />

Zweifel hegen konnte.<br />

<strong>Die</strong> Anhänger <strong>der</strong> Staatskirche argumentierten, die Sündhaftigkeit<br />

<strong>der</strong> Spen<strong>der</strong> berühre nicht die Heiligkeit <strong>der</strong> Sakramentspende,<br />

da diese losgelöst vom Spen<strong>der</strong> zu betrachten sei.<br />

Ist <strong>der</strong> <strong>Die</strong>ner am evangelischen Wort gut, so Augustinus,<br />

so wird er ein Genosse des Evangeliums; ist er aber böse, so hört<br />

er darum nicht auf, ein Haushalter des Evangeliums zu sein.<br />

<strong>Die</strong> Anhänger des Donatus waren zumeist die besitzlosen Erntearbeiter<br />

Nordafrikas, die als Wan<strong>der</strong>arbeiter die Ernte auf den<br />

riesigen Staatsdomänen und den Fel<strong>der</strong>n <strong>der</strong> reichen Großgrundbesitzer<br />

einbrachten.<br />

Der religiös an sich unerhebliche Streit wurde dadurch sozial<br />

erheblich. Er weitete sich aus, bekam gewaltsame Züge wie <strong>der</strong><br />

über tausend Jahre spätere Bauernaufstand in Deutschland nach<br />

dem Beginn <strong>der</strong> Reformation. Und wie dieser wurde er von <strong>der</strong><br />

Obrigkeit nie<strong>der</strong>geschlagen.<br />

Im zweiten Streit, <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung um die Erbsünde,<br />

hängt nach Augustinus das Heil des Menschen allein von Gottes<br />

Gnade ab, denn wir sind seit Adam verdorben, sein Sündenfall<br />

wird von Generation zu Generation übertragen. <strong>Die</strong> Kindestaufe


zur Vergebung <strong>der</strong> Sünden setzt deshalb die Sündhaftigkeit bereits<br />

des Säuglings voraus.<br />

Dagegen wendet sich Pelagius, ein britischer Laienchrist. Für<br />

ihn gab es keine Erbsünde. Adams Sündenfall war dessen Sache,<br />

aber nicht vererblich. In keinem Fall sei ein unschuldiger Säugling<br />

schon sündig.<br />

Je<strong>der</strong> Mensch besitzt nach Pelagius die Gabe <strong>der</strong> Unterscheidung<br />

von Gut und Böse. Entsprechend seiner Willensfreiheit kann<br />

sich <strong>der</strong> Christ für das Gute entscheiden und in Nachahmung<br />

des jesuanischen Beispiels durch sein irdisches Leben das ewige<br />

verdienen.“<br />

„Nach Zarathustra, so haben wir kennen gelernt, findet ein<br />

ewiger Kampf zwischen Gut und Böse, sowohl zwischen den Menschen<br />

als auch im Menschen selbst, statt, hat das den Jahwisten zu<br />

seinem Bericht vom Sündenfall im Paradies inspiriert?”<br />

„Oh, Karin, das ist eine Kernfrage.”<br />

„Und wie wir aus den Diskussionen im Religionsunterricht<br />

wissen, ist die Erbsünde auch heute noch katholisches Lehrgut”,<br />

ergänzte Maria.<br />

„Übrigens auch nach protestantischer Glaubensauffassung gibt<br />

es die Erbsünde”, bestätigte Erika, „ihre Folge sei die allgemeine<br />

Ver<strong>der</strong>btheit <strong>der</strong> menschlichen Natur.”<br />

„Wenn das Heil des Menschen allein von <strong>der</strong> Gnade Gottes<br />

abhängt, ist <strong>der</strong> Wille des Menschen ohne jede ethische Bedeutung,<br />

wird <strong>der</strong> Mensch zu einer Marionette, die an den Fäden des<br />

Höchsten zappelt. Gott leitet den Menschen, wie er will und wohin<br />

er will, ins Paradies o<strong>der</strong> in die ewige Verdammnis”, folgerte<br />

Detlef.<br />

„Der Calvinismus sah im wirtschaftlichen Erfolg ein Zeichen<br />

<strong>der</strong> Gottwohlgefälligkeit, dass Gott ihn für das Paradies ausersehen<br />

habe”, erinnerte Karl.<br />

„Zurück zu meiner These”, nahm die Philosophielehrerin den<br />

Faden wie<strong>der</strong> auf.


„Im Islam jener Zeit gab es keine kirchliche Hierarchie, die<br />

vermittelnd zwischen Gott und den Gläubigen stand, son<strong>der</strong>n je<strong>der</strong><br />

Muslim konnte unmittelbar zu seinem Gott sprechen.<br />

Und <strong>der</strong> Islam kennt keine Erbsünde. Je<strong>der</strong> ist nur für sein eigenes<br />

Tun und Lassen verantwortlich.<br />

In diesen Unterschieden sehe ich die Ursache für ‚den Übertritt<br />

mit fliegenden Fahnen’ <strong>der</strong> enttäuschten breiten Masse <strong>der</strong> Christen.”<br />

„Was haben Judentum, Christentum und Islam gemeinsam?”<br />

Mit dieser Frage begann Frau Dr. Rifenkoek die nächste Philosophiestunde.<br />

„Es sind monotheistische Religionen, da alle an einen Gott<br />

glauben”, meinte Maria.<br />

„Es sind Offenbarungsreligionen, denn ihre Glaubenssätze wurden<br />

von Gott bei den Juden dem Moses, bei den Christen Jesus<br />

und beim Islam Mohammed offenbart”, stellte Klaus heraus.<br />

„Es sind alle drei patriarchalische Religionen, denn ihr Gott ist<br />

eindeutig ein Vatergott”, analysierte Erika. „Nach dem bisher Gesagten<br />

hängt das mit <strong>der</strong> nomadischen Herkunft <strong>der</strong> Völker zusammen,<br />

in denen diese Religionen entstanden sind. Das Christentum<br />

macht deshalb keine Ausnahme, weil es sich aus dem<br />

Judentum abgespaltet hat.”<br />

„Warum ist das Judentum nicht völlig im Christentum aufgegangen?”,<br />

wollte die Philosophielehrerin wissen.<br />

„Für die Juden war Jesus nicht <strong>der</strong> erwartete Messias. Ja, nicht<br />

einmal ein Prophet”, wusste Detlef.<br />

„Und für die Opferriten <strong>der</strong> Christen, so habe ich gelesen”,<br />

wusste Peter, „empfanden die Rabbiner nur Abscheu. Für sie war<br />

die Abendmahlfeier <strong>der</strong> Christen, wenn <strong>der</strong>en Priester verkündeten,<br />

das genossene Brot sei Christi Fleisch und <strong>der</strong> getrunkene<br />

Wein sei Christi Blut, ritualisiertes Menschenopfer. Und Menschenopfer<br />

zur Versöhnung <strong>der</strong> Götter hat es im Polytheismus ja<br />

tatsächlich gegeben.”


„Und warum hat Mohammed eine eigene Religion begründet,<br />

wenn er als Prophet zu seinen eigenen Vorläufern Abraham, Moses<br />

und auch Jesus zählt, sein Gott also <strong>der</strong> gleiche Gott wie <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Juden und <strong>der</strong> Christen ist?”, bohrte die Dozentin weiter.<br />

„Ich habe einen türkischen Bekannten. Er erklärte mir, die<br />

Moslems hielten das Christentum für eine polytheistische Religion,<br />

weil die Christen neben Gott auch noch Jesus, als Gottes Sohn<br />

und den Heiligen Geist anbeteten.”<br />

Karin fuhr fort: „Im Islam gäbe es nur einen Gott, und das sei<br />

Allah. Mohammed habe im Koran, dem Grundgesetz des Islams,<br />

ausdrücklich betont, er sei nur ein Prophet, zwar <strong>der</strong> letzte in <strong>der</strong><br />

Reihe <strong>der</strong> Propheten, aber nur Allah sei Gott.”<br />

„Erika, Sie haben vorhin festgestellt, alle drei Religionen seien<br />

patriarchalisch. Gott steht im Jenseits als Vater den Gläubigen im<br />

<strong>Die</strong>sseits gegenüber. Philosophisch ist diese Lehre von <strong>der</strong> Jenseitigkeit<br />

(Transzendenz) Gottes von Plotin im 3. Jahrhun<strong>der</strong>t n.Chr.<br />

entwickelt worden.<br />

Wie Sie wissen, gehen die katholischen Jungen und Mädchen<br />

im Alter von zehn Jahren zur Heiligen Kommunion, die protestantischen<br />

Jugendlichen mit 14 Jahren zur Konfirmation. <strong>Die</strong>ses Alter<br />

ist von den christlichen Kirchen bewusst gewählt.<br />

Wir haben bei <strong>der</strong> Ich-Entwicklung von <strong>der</strong> Geisterfurcht und<br />

Lebensangst <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> gesprochen.<br />

In <strong>der</strong> Folgezeit überwinden Kin<strong>der</strong> nicht selten dieses Stadium<br />

<strong>der</strong> Geisterfurcht und Lebensangst durch gesteigerte religiöse Bereitschaft.<br />

Der junge Mensch beginnt sich zu fragen, was vor seiner<br />

Geburt war und was nach seinem Tod mit ihm sein wird. Er ist in<br />

dieser Phase beson<strong>der</strong>s empfänglich für Jenseits-Heilslehren, die<br />

ihm auf diese bange Frage eine gesicherte Antwort versprechen.<br />

Seelische Geborgenheit im religiösen Sinne belohnt er durch<br />

Glaubenseifer, die sich manchmal sogar zu ausgesprochener religiöser<br />

Schwärmerei steigern kann.


Es besteht dann die Gefahr, dass die Aneignung von Jenseits-<br />

Heilslehren eine Über-Ich-Form erhält und nicht im Rahmen <strong>der</strong><br />

Entfaltung des Ichs erfolgt.<br />

<strong>Die</strong>se Entwicklung hat im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t ein junger Jude in<br />

Rotterdam durchgemacht. <strong>Die</strong> Eltern dieses Baruch de Spinoza<br />

waren vor <strong>der</strong> Inquisition aus Portugal in die damals toleranten<br />

Nie<strong>der</strong>lande geflüchtet.<br />

In <strong>der</strong> jüdischen Gemeinde zu Rotterdam wurden, vielleicht als<br />

Reaktion auf die Verfolgung in ihren früheren Heimatlän<strong>der</strong>n, das<br />

jüdische Gesetz und die im Talmud festgesetzten Riten beson<strong>der</strong>s<br />

streng befolgt. Als ein Gemeindemitglied Zweifel an einigen Riten<br />

äußerte, weil sie den Naturgesetzen wi<strong>der</strong>sprachen, stieß man ihn<br />

unter Aussprechung des Banns aus <strong>der</strong> Gemeinde aus.<br />

Als Talmudschüler wurde Baruch de Spinoza Zeuge des erniedrigenden<br />

Rituals, mit dem dieses Gemeindemitglied unter Wi<strong>der</strong>rufung<br />

<strong>der</strong> Naturgesetze von dem Bannfluch <strong>der</strong> Gemeinde gelöst<br />

wurde. Erschüttert hat ihn, dass dieser Mensch an dem Zwiespalt<br />

zwischen religiöser Geborgenheit in <strong>der</strong> Gemeinde und seinem<br />

Wissen um die naturgesetzlichen Wahrheiten zerbrach und<br />

Selbstmord beging.<br />

Später, unter dem Einfluss von Descartes, man müsse die Natur<br />

<strong>der</strong> Dinge erkennen, begann er die Zeitbezogenheit <strong>der</strong> Schriften<br />

des Alten Testamentes zu untersuchen und die Zweckhaftigkeit<br />

religiöser Vorstellungen zu erkennen.<br />

Menschen handeln um des Nutzens willen, den sie begehren.<br />

Alles das, was sie nicht selbst hergestellt haben, ihr eigenes Leben<br />

und die Güter, die die Natur ihnen schenkt, muss daher eine fremde<br />

Macht zum Zwecke ihres Nutzen ihnen zur Verfügung gestellt<br />

haben.<br />

<strong>Die</strong>se fremde Macht gilt es zu verehren, damit die Quelle ihres<br />

Lebenszweckes weiter sprudelt, und es gilt ihr zu opfern, damit <strong>der</strong><br />

Zorn dieser fremden Macht besänftigt wird.<br />

<strong>Die</strong>se Zweckhaftigkeit menschlichen Denkens ist die Ursache


für die Vorstellung einer fremden Macht, die den Menschen<br />

gegenübersteht, ob diese Transzendenz sich in viele Götter aufglie<strong>der</strong>t<br />

o<strong>der</strong> sich in einem Gott konzentriert. Dabei wurde ihm,<br />

zunächst intuitiv, klar:<br />

Nein, Gott ist zweckfrei. Er steht <strong>der</strong> Schöpfung nicht gegenüber.<br />

Er ist immanent in allen Erscheinungen <strong>der</strong> Natur.<br />

Wenn Gott sich in den Erscheinungsweisen <strong>der</strong> Natur manifestiert,<br />

dann ist er kein Individuum. Dann sind Maßstäbe wie Gut<br />

und Böse keine Maßstäbe Gottes.<br />

Individuen sind die mit Geist beseelten Körper. Sie schaffen<br />

sich die Maßstäbe Gut und Böse. Sie haben die Möglichkeit, das<br />

Unvollkommene vom Vollkommenen zu unterscheiden und nach<br />

dem Vollkommenen zu streben.<br />

Seine Intuition <strong>der</strong> Einheit von Gott und <strong>der</strong> Welt hatte er in<br />

seiner ersten Schrift Korte Verhandeling van God, de Mensch en deszelvs<br />

Welstand nie<strong>der</strong>gelegt.<br />

Der auch über ihn ausgesprochene Bannfluch hat ihn nicht berührt,<br />

denn inzwischen hatte er sich geistig von <strong>der</strong> leeren hohlen<br />

Formel des Bannfluches <strong>der</strong> jüdischen Gemeinde unendlich weit<br />

entfernt.<br />

<strong>Die</strong> letzten Jahre seines kurzen Lebens, er wurde nur 44 Jahre<br />

alt, hat er an seiner Ethica gearbeitet, in <strong>der</strong> er, ganz im Sinne des<br />

mechanistischen Weltbildes seiner Zeit, deduktiv seine Vorstellungen<br />

von <strong>der</strong> Immanenz Gottes zu beweisen versuchte.<br />

Welche Auswirkungen Spinoza mit seinem Paradigmenwechsel<br />

von <strong>der</strong> Transzendenz Gottes zur Immanenz Gottes auf die Philosophie<br />

gehabt hat, dazu mehr in <strong>der</strong> nächsten Stunde.”<br />

Ich werde jetzt ein Gedicht rezitieren, ohne Titel und Verfasser<br />

zu nennen.”<br />

Mit diesen Worten eröffnete Frau Dr. Rifenkoek ihre nächste<br />

Philosophiestunde.<br />

„Wer glaubt zu wissen, wie das Gedicht heißt und wer <strong>der</strong> Verfasser<br />

ist, möge sich melden.


Bedecke deinen Himmel, Zeus,<br />

mit Wolkendunst,<br />

und übe, dem Knaben gleich,<br />

<strong>der</strong> Disteln köpft,<br />

an Eichen dich und Bergeshöhn!<br />

Musst mir meine Erde<br />

Doch lassen stehn<br />

Und meine Hütte, die du nicht gebaut,<br />

und meinen Herd,<br />

um dessen Glut<br />

Du mich beneidest!<br />

Ich kenne nichts ärmeres<br />

Unter <strong>der</strong> Sonn’, als euch, Götter!<br />

Ihr nähret kümmerlich<br />

Von Opfersteuern<br />

Und Gebetshauch<br />

Eure Majestät,<br />

und darbet, wären<br />

nicht Kin<strong>der</strong> und Bettler<br />

hoffnungsvolle Thoren.”<br />

<strong>Die</strong> Lehrerin unterbrach ihre Rezitation.<br />

„Ja, Michael?”<br />

„Es heißt Prometheus und ist von Goethe.”<br />

„Wer war Prometheus?”<br />

Nach kurzem Zögern glaubte Klaus zu wissen, dass Prometheus<br />

ein Vetter von Zeus gewesen sei. Er habe den Menschen das Feuer<br />

verschafft, das die Götter den Menschen vorenthalten wollten.<br />

Überhaupt habe er den Menschen zu mehr Unabhängigkeit verholfen.<br />

Hier unterbrach er sein Wissen über Prometheus, wandte sich<br />

an seine Dozentin und fragte:


„War Goethe ein Anhänger von Spinoza? Das Gedicht klingt<br />

wie ein Protest gegen ein fremdbestimmendes Über-Ich.”<br />

„Deshalb habe ich es zitiert”, bestätigte die Philosophielehrerin.<br />

„Von Goethe und Lessing, denken Sie an die Ringparabel aus<br />

Nathan <strong>der</strong> Weise, wissen wir, dass sie den Immanenzvorstellungen<br />

Spinozas aufgeschlossen gegenüberstanden.<br />

Religionen sind, nach Lesing, nie etwas Endgültiges, son<strong>der</strong>n<br />

Stadien auf dem Lebensweg <strong>der</strong> Menschheit. In den großen religiösen<br />

Gestalten erziehe Gott die Menschheit. Richtiger sei, die<br />

Menschheit erzieht sich selbst, denn einzig ihr Geist ist es ja, <strong>der</strong><br />

diesen langen Weg geht, auf dem alles Gewordene sich immer wie<strong>der</strong><br />

überholt.<br />

<strong>Die</strong> großen Philosophen des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts mögen nicht alle<br />

mit dem Deismus 83 in Spinozas Werken übereinstimmen, aber sein<br />

Paradigmenwechsel von <strong>der</strong> Transzendenz zur Immanenz hat doch<br />

viele religiöse Vorstellungen über den Haufen geworfen.<br />

Wir haben bei <strong>der</strong> Diskussion über die Entstehung des Nationalbewusstseins<br />

das Kant’sche Grundgesetz erwähnt, ohne es zu<br />

zitieren. Welche For<strong>der</strong>ung stellt Kant in seiner Kritik <strong>der</strong> praktischen<br />

Vernunft auf?”<br />

Detlef zitierte:<br />

„Handle so, dass die Maxime deines Willens je<strong>der</strong>zeit zugleich<br />

als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.”<br />

„<strong>Die</strong> logische Folgerung für Kant ist daher”, so griff die Lehrerin<br />

das Zitat auf,<br />

„es ist nicht deswegen etwas gut, weil es Gottes Wille ist, son<strong>der</strong>n<br />

weil es gut ist, ist es Gottes Wille.<br />

Und <strong>der</strong> Mensch soll niemals als Mittel benutzt, d. h. irgendeinem<br />

fremden Zweck untergeordnet werde<br />

Ist das nicht die These <strong>der</strong> Kritischen Theorie unserer Tage?”<br />

83 Deismus ist die Anschauung, dass Gott nach <strong>der</strong> Schöpfung keinen Einfluss auf die<br />

Welt mehr nehme und zu ihr auch nicht in Offenbarungen spreche. Gott habe die<br />

Weltmaschine geschaffen, aber seit dem laufe sie von selbst, wie ein Uhrwerk.


Klaus fragte: „Stammt nicht auch folgen<strong>der</strong> Ausspruch von<br />

Kant?<br />

Zwei Dinge erfüllen mein Gemüt mit Bewun<strong>der</strong>ung und<br />

Ehrfurcht,<br />

Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.”<br />

„Richtig, Klaus. Wenn Sie diese drei Zitate im Zusammenhang<br />

lesen”, wandte sich die Lehrerin an die Klasse,<br />

„werden Sie verstehen, dass Kant für kirchliche Institutionen<br />

nicht viel übrig hatte. Zu oft haben sie ihre eigenen unmoralischen<br />

Vorstellungen als Gottes unerklärbaren Willen gedeutet und die<br />

Gläubigen als Mittel für ihre egoistischen Zwecke missbraucht.<br />

Deshalb kann nach <strong>der</strong> Ansicht von Kant auch die Stiftung<br />

Christi, die Kirche, nur in uns sein. Das Reich Gottes auf Erden<br />

befindet sich im Inneren des Menschen. Je<strong>der</strong> Mensch kann Gottes<br />

Sohn werden und sollte es werden.<br />

Christus ist, nach Kant, als Sohn Gottes keine historische Gestalt.<br />

Er ist nur die personifizierte Idee des sittlichen Prinzips.<br />

Max Scheler (1874 bis 1928) greift das Bild vom gestirnten<br />

Himmel über uns auf. Nach ihm werden Werte nicht gefunden<br />

o<strong>der</strong> durch Umwertungen neu geprägt; sie werden entdeckt, und<br />

gleich wie die Sterne am Himmel treten sie nach und nach mit<br />

dem Fortschritt <strong>der</strong> Kultur in den Gesichtskreis des Menschen.<br />

Drang und Geist sind bei ihm Attribute des Göttlichen. In <strong>der</strong><br />

Klärung des Dranges zum Geist klärt sich das Göttliche selbst. Das<br />

Göttliche in Gott west.<br />

Sie merken, als Zeitgenosse von Freud scheinen ihm dessen<br />

Vorstellungen nicht unbekannt zu sein.<br />

Der Mensch – ein kurzes Fest in den gewaltigen Zeitdauern<br />

universaler Lebensentwicklung – bedeutet also etwas für die Werdebestimmung<br />

<strong>der</strong> Gottheit selbst.<br />

Der Mensch ist hineingeflochten in das Werden <strong>der</strong> Gottheit<br />

selbst.<br />

Solange das Weltgöttliche noch unterwegs ist, stehen Licht und<br />

Dunkel in einem tragischen Kampf.”


„Sind diese Philosophen, von Spinoza angefangen, über Lessing,<br />

Kant und Scheler, im Grunde nicht alle Atheisten?”, platzte es aus<br />

Maria heraus.<br />

„Das sehe ich nicht so”, meinte Klaus. „Sie suchen nach dem<br />

Verlust des transzendenten Vatergottes den Gott in sich selbst. Ist<br />

das nicht auch das Ziel <strong>der</strong> Ichwerdung im Freud’schen Sinne. Für<br />

mich sind sie im tiefsten Sinne gläubig.”<br />

„<strong>Die</strong>sen philosophischen Glauben spricht auch Karl Jaspers, <strong>der</strong><br />

Vertreter <strong>der</strong> Existenzphilosophie unserer Tage, an, wenn er sagt:<br />

Glaube ist das Erfüllende und Bewegende im Grunde des<br />

Menschen, in dem <strong>der</strong> Mensch über sich selbst hinaus mit<br />

dem Ursprung des Seins verbunden ist.<br />

Aber nicht <strong>der</strong> o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Glaube, son<strong>der</strong>n das Glauben<br />

ist das Wesentliche.”<br />

„Lassen Sie mich Ihnen in dieser unserer letzten Philosophiestunde<br />

in diesem Schuljahr drei Ratschläge für Ihr weiteres Leben<br />

mit auf den Weg geben.<br />

Den Ratschlag für unser Menschenbild, <strong>der</strong> Ichentfaltung, wie<br />

wir es genannt haben, hat Alexan<strong>der</strong> Mitcherlich so formuliert:<br />

Wir müssen dabei ganz bei uns selbst anfangen, bei <strong>der</strong> Art, unsere<br />

Kin<strong>der</strong> – wenn wir selbst Eltern sind – so zu lieben und auch<br />

zu ertragen, dass diese Kin<strong>der</strong> uns auf glücklichere Weise lieben,<br />

auf weniger verbitterte und achtlose Weise ertragen können, als<br />

vielleicht unsere Eltern uns dies bisher möglich machten.<br />

Das ist ein nicht unbedeuten<strong>der</strong> Spielraum, in welchem wir das<br />

Schicksal korrigieren können.<br />

Zum zweiten, dem Weltbild, stärken Sie Ihr kritisches Bewusstsein<br />

und werden Sie sensibel gegenüber Manipulationen<br />

Dritter, die Sie als Mittel für ihre egoistischen Zwecke ausnutzen<br />

wollen.<br />

Und zum Gottesbild.<br />

Tolerieren Sie den Glauben an<strong>der</strong>er, wie die In<strong>der</strong> es schon als<br />

Kin<strong>der</strong> in dem Vers lernen:


Wie verschiedene Ströme,<br />

die ihre Quellen an verschiedenen Orten haben,<br />

allesamt ihr Wasser in das Meer gießen,<br />

so, o Herr,<br />

führen die verschiedenen Pfade,<br />

welche die Menschen mit ihren verschiedenen Tendenzen<br />

einschlagen,<br />

so unterschiedlich sie auch sind,<br />

gekrümmt o<strong>der</strong> gerade,<br />

allesamt zu dir.<br />

Werden Sie mündige Gläubige.<br />

Und erhalten Sie sich den Glauben an den Sieg <strong>der</strong> Vernunft.“


VI. Epilog<br />

„Sag’ mal, wie lange ist es eigentlich her, dass ich Dein <strong>Wurzel</strong>männchen<br />

habe untersuchen lassen?”<br />

Mit diesen Worten brachte mir mein Freund das Manuskript,<br />

das ich ihm überlassen hatte, zurück.<br />

„Sechs Jahre!”<br />

„Und so lange hast Du an diesem Manuskript gearbeitet?”<br />

„Mit Unterbrechungen ja.”<br />

„Ich wusste gar nicht, dass Deine Tante eine so gute Pädagogin<br />

war? O<strong>der</strong> hast Du Dir das Kapitel mit ihr nur aus den Fingern gesogen,<br />

um ihr einen Heiligenschein zu verpassen?”<br />

„Zum ersten Teil Deiner Frage, ich auch nicht. Ich wusste, dass<br />

sie eine sehr gebildete Frau war; denn zu jedem Thema, über das<br />

wir sprachen, hatte sie fundierte Ansichten. Über Pädagogik sprechen<br />

Lehrer im privaten Raum selten miteinan<strong>der</strong>.”<br />

„Warum eigentlich?”<br />

„Weil je<strong>der</strong> Lehrer seine Methode für die beste hält und daher<br />

Diskussionen darüber mit Kollegen vermeidet.”<br />

Inzwischen hatten wir es uns bequem gemacht und mein<br />

Freund schnüffelte mit Kennermiene an dem Rotspon, den ich ihm<br />

kredenzte.<br />

„Um zum zweiten Teil Deiner Frage zu kommen. Nach dem<br />

Kapitel über Spinoza suchte ich eine Rahmenhandlung, in <strong>der</strong> ich<br />

die Auswirkungen von Descartes’ Cogito, ergo sum und Spinozas<br />

Deus sive natura für die Mo<strong>der</strong>ne unter einen Hut bringen konnte.<br />

Unter den Beileidsbekundungen anlässlich des Todes meiner


Tante war eine von einer früheren Schülerin, in <strong>der</strong> sie hervorhob,<br />

wie viel <strong>der</strong> Philosophieunterricht meiner Tante ihr für ihr späteres<br />

Leben gegeben habe.”<br />

„Der alte lateinische Spruch: Für die Schule und nicht für das<br />

Leben lernen wir war also hier umgekehrt! Darauf lass uns anstoßen!”<br />

Nach entsprechen<strong>der</strong> Würdigung dieses so seltenen Tatbestandes<br />

fuhr ich fort:<br />

„Ich kramte also dieses Beileidsschreiben heraus. Zum Glück<br />

hatte ich es noch nicht weggeworfen, weil ich mich bei einigen, die<br />

meiner Tante früher sehr nahe gestanden haben, beson<strong>der</strong>s bedanken<br />

wollte, es dann aber unterlassen habe.<br />

Ich weiß nicht, wie es Dir geht. Ich tue mich schwer, mir Unbekannten<br />

Dank zu sagen und Worte zu finden, die über Floskeln<br />

hinausgehen.<br />

„Ich setzte mich also mit dieser Schülerin telephonisch in Verbindung.<br />

In dem Café, in dem wir uns trafen, saß dann vor mir eine<br />

sympathische Vierzigjährige, <strong>der</strong>en zwei Kin<strong>der</strong> auf dieselbe Schule<br />

gingen, an <strong>der</strong> auch meine Tante unterrichtet hatte. Von <strong>der</strong>en<br />

Philosophiekurs geriet sie in ihrer Erinnerung sofort wie<strong>der</strong> ins<br />

Schwärmen. <strong>Die</strong> Aufzeichnungen, die sie drüber gemacht habe,<br />

nehme sie immer wie<strong>der</strong> zur Hand.<br />

Das war mein Stichwort. Ich erzählte ihr, dass ich meiner Tante<br />

in meinem Manuskript einen Ehrenplatz einräumen wolle, und bat<br />

sie um die leihweise Überlassung ihrer Aufzeichnungen.<br />

Das Ergebnis hast Du in meinem Manuskript gelesen.”<br />

„Du lässt in diesem Kapitel ein Referat über die demografische<br />

Entwicklung halten. <strong>Die</strong> 1974 mit 3,6 Mrd. angegebene Bevölkerungszahl<br />

hat sich bis heute fast verdoppelt.<br />

Also mir wird angst und bange, wenn ich an das Potential von<br />

Aggressionen denke, das mit dem immer dichter zusammenlebenden<br />

Menschen auf einer gleich bleibenden Globusoberfläche<br />

zwangsläufig steigen muss. Ich habe da immer das Stichlingsbeispiel<br />

aus dem Aquariumstest vor Augen.”


Als ich ihn verständnislos anschaute, erklärte er mir:<br />

„Stichlinge brüten in Wasserpflanzen. Zoologen haben nun in<br />

einem Aquarium zwei Stichlingspärchen in getrennten Pflanzenkulturen<br />

brüten lassen und nach und nach die Kulturen immer enger<br />

zusammengerückt. Ab einer unsichtbaren Grenze hörten die<br />

Stichlingsmännchen mit dem Brutgeschäft auf und gingen aggressiv<br />

aufeinan<strong>der</strong> los.”<br />

„Wenn Offenbarungsreligionsgemeinschaften o<strong>der</strong> politische<br />

Religionen, <strong>der</strong>en Hoffnungen auf Erlösung nicht im Jenseits liegen,<br />

son<strong>der</strong>n die ihre exakte Vorstellung vom Gang <strong>der</strong> Geschichte<br />

politisch durchsetzen wollen, sich wie Deine Stichlinge verhalten,<br />

dann droht uns allerdings Unordnung und Gewalt.”<br />

„Das Schlimme ist, wie Deine Tante bei <strong>der</strong> Behandlung des<br />

ÜBERICHs richtig festgestellt hat, dass sie glauben im Besitz <strong>der</strong><br />

einzig gültigen Wahrheit zu sein. Zwangsläufig weisen daher ihre<br />

zentralen Sicherheitsapparate zur Verteidigung dieser Wahrheit,<br />

ob weltlich o<strong>der</strong> religiös, die gleichen Organisationsstrukturen auf.<br />

Denke nur an den berüchtigten Galilei-Prozess <strong>der</strong> katholischen<br />

Kirche im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> an die Stalin’schen Säuberungsprozesse<br />

Ende <strong>der</strong> 30er Jahren des vorigen Jahrhun<strong>der</strong>ts.”<br />

„Nun ist durch das Fernsehen und durch die Entwicklung des<br />

Internets in den letzten 15 Jahren die Welt zu einem globalen<br />

Dorf geworden. <strong>Die</strong> globale Verbreitung von optischen Informationen<br />

durch die Satellitentechnik hat meine Tante mit <strong>der</strong> Erfindung<br />

des Buchdruckes verglichen. Ihrer Meinung nach würde sie<br />

gesellschaftlich noch revolutionärer wirken als seinerzeit die Vervielfältigung<br />

<strong>der</strong> Bücher durch die Drucktechnik.<br />

Dass durch das Internet <strong>der</strong> Einzelne nicht mehr nur passiv als<br />

Empfänger von Informationen, son<strong>der</strong>n plötzlich auch aktiv als<br />

Sen<strong>der</strong> und Verbreiter von Informationen global auftreten kann,<br />

davon konnte sie nichts ahnen, zumal die Anwendung erst in den<br />

letzten Jahren in den privaten Bereich vorgedrungen ist.”<br />

„Aber glaubst Du, dass nunmehr alles auf <strong>der</strong> Welt in Vernunft<br />

übersetzt werden kann, dass die Humanität als Quelle demokrati-


scher Prinzipien zu Menschenrechten für alle, sogar für Frauen,<br />

und zu Rechten für die Natur führen wird?”<br />

Ich öffnete eine zweite Flasche Rotspon, füllte unsere Gläser<br />

und ließ den Wein prüfend über Zunge und Gaumen gleiten.<br />

„Im Gegensatz zu diesem Wein halte ich das für eine Selbsttäuschung.<br />

Prüfen wir die Realisierung von Menschenrechten und Naturrechten<br />

in unserer eigenen westlichen Welt.<br />

<strong>Die</strong> Menschenrechte sind zwar zunehmend in Konkurrenz zu<br />

den Staatsrechten getreten. Ausgehend von den Nürnberger<br />

Kriegsverbrecherprozessen 1945 über die Verkündung <strong>der</strong> Allgemeinen<br />

Menschenrechte <strong>der</strong> UNO zur Europäischen Konvention<br />

zum Schutz <strong>der</strong> Menschenrechte und Grundfreiheiten mit Errichtung<br />

einer Europäischen Kommission sowie eines Europäischen<br />

Gerichtshofes für Menschenrechte lässt sich eine Entwicklungslinie<br />

aufzeigen, die diese Behauptung bestätigt.<br />

Aber warum lehnen die USA die Anwendung des konstituierten<br />

Weltstrafgerichtshofes auf Straftaten ihrer Bürger ab? Und warum<br />

ratifizieren sie nicht die Abkommen über den Schutz <strong>der</strong> Natur?<br />

Sind das nicht Identitätsprobleme einer Weltmacht, die ihre<br />

Staatsrechte über Menschenrechte und Naturrechte stellt?<br />

Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite kennt <strong>der</strong> Islam keine Gleichberechtigung<br />

zwischen Mann und Frau. Mal abgesehen von dem wirtschaftlichen<br />

Schaden, <strong>der</strong> dadurch entsteht, dass man auf die Kreativität<br />

<strong>der</strong> einen Hälfte <strong>der</strong> Bevölkerung verzichtet, wie schnell lassen sich<br />

Jahrhun<strong>der</strong>te alte kulturelle Vorurteile abbauen? Werden die<br />

Männer friedlich auf ihr Patriarchat verzichten?<br />

Wenn die Amerikaner, auch sie sind Fundamentalisten, nach<br />

dem Attentat auf das World Trade Center als Weltpolizist die von<br />

ihnen deklarierten Schurkenstaaten gewaltsam in Demokratien<br />

verwandeln wollen, treiben sie dann nicht den Teufel mit dem<br />

Beelzebub aus?<br />

Fragen über Fragen! Aber ich fürchte zwischen heute und dem<br />

Zeitpunkt des weltweiten Sieges <strong>der</strong> Vernunft werden genauso


lutige Zuckungen liegen wie in dem Zeitraum zwischen <strong>der</strong> Gutenbergrevolution<br />

und <strong>der</strong> Aufklärung.”<br />

„Du hast Recht. Aber es kommt meines Erachtens noch ein<br />

zweiter Gesichtspunkt hinzu. <strong>Die</strong> Kreativität <strong>der</strong> Anwen<strong>der</strong> entfaltet<br />

sich nicht nur im moralischen Bereich. Verbrechenssyndikate<br />

wenden das Netzwerk ebenso an wie es z.B. als Marktplatz für<br />

Kin<strong>der</strong>pornographie dient.<br />

<strong>Die</strong> Informationen des Internets mit Hilfe staatlicher Server<br />

zensieren, kommt nicht in Frage, dafür ist <strong>der</strong> freie Informationsmarkt<br />

zu wichtig. Man müsste im Sinne von Marx einen neuen<br />

Menschen erfinden.”<br />

„Trinken wir auf den neuen Menschen!”<br />

Nachdem wir ihn gebührend begossen hatten, fuhr ich fort:<br />

„Aber im Ernst, was hältst Du als Chemiker von <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Biotechnologie und ihren Möglichkeiten, den Bauplan des Menschen<br />

zu verän<strong>der</strong>n?”<br />

„Evolutorisch nicht viel. Herauskommen wird eine Reduzierung<br />

von Krankheiten, ein Klonen von Ersatzteilen und eine Lebensverlängerung.”<br />

Sag’ mal, ist Dir Pierre Teilhard de Chardin ein Begriff?”<br />

„Ich weiß nur von ihm, dass er ein Jesuit war und als Paläontologe<br />

in China an <strong>der</strong> Ausgrabung von Vorzeitmenschen beteiligt<br />

war. Er ist doch Mitte <strong>der</strong> fünfziger Jahre gestorben?”<br />

„Er hat sich für die Zukunft des Menschen interessiert, eines<br />

seiner Bücher heißt übrigens so, und dabei die christliche Lehre<br />

mo<strong>der</strong>n umgedeutet. Das ist ihm schlecht bekommen. <strong>Die</strong> Inquisitionsbehörde<br />

<strong>der</strong> katholischen Kirche, die Suprema Congregatio<br />

Sancti Officii, wie sie sich nannte, schlug zu. Sie entzog ihm seinen<br />

Lehrstuhl am Institut Catholique, sie verbot den Druck seiner<br />

theologischen Werke und verbannte ihn schließlich irgendwo aufs<br />

Land im Staate New York, wo er 1955 starb. Soviel zu seiner Vita.<br />

In seinen Werken sieht er die Evolution als einen Verdichtungsprozess.<br />

So verdichten sich im Sonnenplasma Wasserstoff-


atome zu neuen größeren Atomstrukturen. Unter bestimmten<br />

Voraussetzungen formen sich aus Makromolekülen die ersten Einzeller.<br />

<strong>Die</strong> Vielzeller entstehen bei ihm erst, als die Eroberung <strong>der</strong><br />

Erdoberfläche durch die Einzeller abgeschlossen ist. Da die Oberfläche<br />

stets kleiner ist als <strong>der</strong> Inhalt, wird mit <strong>der</strong> Bildung von<br />

Zellstaaten eine Funktionsteilung <strong>der</strong> Zellen erfor<strong>der</strong>lich, um auch<br />

die innen liegenden Zellen zu versorgen. <strong>Die</strong>se Arbeitsteilung führt<br />

zu Zellgeweben, die für den Stoffwechsel, für die Statik, für die<br />

Fortpflanzung, für die Bewegung und für die Leitung von Außenreizen<br />

zu und <strong>der</strong>en Verarbeitung in einem zentralen Steuerungsgewebe<br />

zuständig sind.<br />

Schließlich entsteht ab einer bestimmten Verdichtung dieses<br />

Zentralnervensystems <strong>der</strong> homo sapiens sapiens, <strong>der</strong> sich seiner<br />

selbst bewusst wird.”<br />

„Hör’ mal, was Du mir da erzählst, ist auch ohne Teilhard de<br />

Chardin Stand <strong>der</strong> Evolutionslehre.”<br />

„Richtig. Nur ist das Teilhard’sche Verdichtungskriterium<br />

wichtig für seine Zukunftsvision.<br />

Wie seinerzeit die Einzeller sich als Schicht <strong>der</strong> Biosphäre über<br />

die Erdoberfläche gelegt haben und dann gezwungen wurden, sich<br />

zu Vielzellern zu verdichten, so sieht Teilhard die von den Menschen<br />

geschaffenen Kulturgüter sich als Schicht <strong>der</strong> Noosphäre, so<br />

nennt er die Bewusstseinssphäre, über die Erde ausbreiten. Auch<br />

sie müssen als Auswirkung ihrer zunehmenden Quantität sich rational<br />

verdichten.<br />

Wenn Du diesen Gedanken zu Ende denkst, erfolgt irgendwann<br />

ein Quantensprung zu einem höheren Selbstbewusstsein, diesmal<br />

nicht des einzelnen menschlichen Individuums, son<strong>der</strong>n von Gäa,<br />

<strong>der</strong> Mutter Erde. Für Teilhard de Chardin, als Christ, ist das <strong>der</strong><br />

Tag des jüngsten Gerichts.”<br />

„Ich kann mir vorstellen, dass diese mo<strong>der</strong>nen Anschauungen<br />

des Christentums in <strong>der</strong> Inquisitionsbehörde des Heiligen Offiziums


höchste Alarmstufe auslösten, bedeuteten sie doch in letzter Konsequenz<br />

einen Angriff auf die Machtstrukturen des Vatikans.”<br />

Ich hob mein Glas.<br />

„Trinken wir darauf, dass durch einen mo<strong>der</strong>nen Papst in einem<br />

dritten vatikanischen Konzil demokratische Strukturen in die katholische<br />

Kirche Einzug halten.”<br />

Wir tranken. Dann überzog ein diabolisches Grinsen das Gesicht<br />

meines Freundes. Ich schaute ihn fragend an.<br />

„Es besteht sonst die Gefahr, dass die Amerikaner den Vatikan<br />

in die Reihe <strong>der</strong> diktatorischen Schurkenstaaten aufnehmen, die es<br />

wegen fehlen<strong>der</strong> demokratischer Strukturen zu vernichten gilt”,<br />

prustete es aus ihm heraus.<br />

„Doch im Ernst, ich glaube, wir sind heute im Informationszeitalter<br />

Zeuge <strong>der</strong> Realisierung <strong>der</strong> Teilhard'schen Prophezeiungen.<br />

Wenn ich daran denke, wie weltweit die Menschen über das<br />

Internet kommunizieren, wie sich spontan NGOs bilden, um politischen<br />

Fehlentwicklungen entgegen zu wirken, dann scheinen mir<br />

die Informationen als selbständig wirkende Kraft die Denk- und<br />

Handlungsweise <strong>der</strong> Menschen zunehmend zu beeinflussen. Das<br />

lässt mich hoffen, dass <strong>der</strong> endgültige Sieg <strong>der</strong> Vernunft doch näher<br />

ist als wir meinen.<br />

Wann, sagst Du, hat Teilhard diese Gedanken geäußert?”<br />

„Das muss Anfang <strong>der</strong> zwanziger Jahre des vorigen Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

gewesen sein, denn 1924 hat <strong>der</strong> Vatikan ihn aus dem Verkehr gezogen.<br />

Seine Bücher darüber sind erst nach seinem Tode erschienen.”<br />

„Also zu einer Zeit, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Rundfunk noch in <strong>der</strong> Probierphase<br />

war, von Fernsehen, geschweige von Satellitentechnik und<br />

Internet noch keine Rede sein konnte.”<br />

Nachdenklich schlürfte er an seinem Rotspon.<br />

Dann fragte er mich unvermittelt: „Wie siehst Du denn die weitere<br />

Entwicklung des Informationszeitalters?”<br />

„Fest steht, dass die Halbwertzeiten des Wissens, das heißt die<br />

zeitlichen Abstände, in <strong>der</strong> sich das Wissen verdoppelt, immer kür-


kürzer werden. Der letzte Mensch, <strong>der</strong> noch das gesamte Wissen<br />

<strong>der</strong> Menschheit sich hat aneignen können, lebte im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />

Heute ertrinken die Spezialisten in <strong>der</strong> Datenflut ihrer Fachgebiete.<br />

Zwar können die Datenspeicher die heranbrandende Datenflut<br />

bändigen, doch die Verarbeitungskapazität unserer Prozessoren<br />

hält mit <strong>der</strong> Datenflut nicht Schritt.<br />

Du kannst es mit <strong>der</strong> geistigen Entwicklung eines Menschen<br />

vergleichen. Auch das Kleinkind hat eine Flut von Sinneseindrücken,<br />

doch erst nach und nach ist das Hirn in <strong>der</strong> Lage, immer<br />

mehr dieser Sinneseindrücke zu verarbeiten und zu ordnen.<br />

Unsere Experten sagen, zurzeit haben die Prozessoren die Fähigkeit<br />

eines Fliegenhirns. Da sich diese Fähigkeiten alle eineinhalb<br />

bis zwei Jahre verdoppeln, werden die einzelnen Prozessoren etwa<br />

um 2030 die Fähigkeit eines menschlichen Gehirns erreichen.<br />

Um früher zu höheren Prozessorleistungen zu gelangen, sind<br />

Überlegungen im Schwange, die Einzelprozessoren <strong>der</strong> Menschheit<br />

parallel zu schalten.<br />

Du siehst, die Organisation des Verdichtungsprozesses <strong>der</strong> Informationen<br />

ist wie beim Übergang von <strong>der</strong> Einzelzelle zu den<br />

Vielzellern im vollen Gange.<br />

Teilhard de Chardin lässt grüßen!”<br />

Ich hob mein Glas, und wir tranken auf die prophetische Weitsicht<br />

dieses französischen Jesuiten.<br />

Der Wein tat seine Wirkung. Unsere Fragen an die Zukunft<br />

wurden immer kühner.<br />

Wann wird die Nanotechnik soweit sein, die Software eines<br />

menschlichen Gehirns zu kopieren und diese in einen Computer<br />

einzufügen? Wird die auf Siliziumebene geklonte Software dieselbe<br />

kreative Freiheit des Bewusstseins haben wie die auf Kohlenstoffbasis<br />

entwickelte Software des Originals?<br />

O<strong>der</strong> wird sie wie die Nervenzellen bewusstloses Glied zum<br />

Lob eines höheren Superhirns?


Wie vor sechs Jahren wurde es eine lange Nacht.<br />

Auch diesmal wuchs die Tiefgründigkeit <strong>der</strong> Gespräche mit <strong>der</strong><br />

Zahl <strong>der</strong> geleerten Flaschen.<br />

Später im Bett nahm ich mein <strong>Wurzel</strong>männchen zur Hand und<br />

fragte es:<br />

„Und wer steuert diese evolutorische Entwicklung? Das kann<br />

doch nicht alles nur Zufall und Notwendigkeit sein?<br />

Gehören unsere anthropomorphen Vorstellungen von einem<br />

transzendenten bzw. immanenten Gott genauso in die Mottenkiste<br />

<strong>der</strong> Geistesgeschichte wie die von <strong>der</strong> Erde als Mittelpunkt <strong>der</strong><br />

Welt o<strong>der</strong> die vom Menschen als Krone <strong>der</strong> Schöpfung?<br />

Doch Du bis ja schon Stein und kannst mir darauf keine Antwort<br />

geben!”<br />

Behutsam legte ich mein Zaubermännchen zur Seite und schlief<br />

ein.<br />

<strong>Die</strong>smal traumlos!


ISBN 978-3-83-708305-7

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