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oktober 2011 - freie musikschule zuerich

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12<br />

Die Violine – Vier Saiten<br />

und unendlich viele Seiten...<br />

von Beatrice Ruckstuhl<br />

Musizieren mit der Violine ist ein Spiel der<br />

Balance zwischen links und rechts, sowie<br />

horizontalen und vertikalen Kräften: Ein<br />

hin und her „Schwingen“ an die äusserste<br />

Peripherie und wieder zurück zu mir in die<br />

Mitte der inneren Ruhe. Finde ich diese<br />

Balance, um daraus schöpferisch gestaltend<br />

zu musizieren, dann entstehen Momente<br />

der Leichtigkeit. Manchmal scheint es<br />

fast unerreichbar, dahin zu kommen und<br />

manchmal geschieht es einfach. Oder es ist<br />

ein „Durchringen-Müssen“ und manchmal<br />

wieder ein „Geschehen-Lassen“. Die Violine<br />

ist ein Instrument mit sehr feinen, zarten<br />

Saiten und unendlich vielen Seiten!<br />

Die Violine<br />

in der geschichtlichen Entwicklung<br />

Nikolaus Harnoncourt schreibt im Buch:<br />

„Musik als Klangrede“: „Die Violine verkörpert<br />

wie kein anderes Musikinstrument den<br />

Geist des Barock. Ihre Entstehung im Laufe<br />

des 16. Jahrhunderts ist wie die allmähliche<br />

Konkretisierung einer Idee. Aus der Vielfalt<br />

der Streichinstrumente der Renaissance<br />

mit ihren Fideln, Rebecs, Liren und deren<br />

zahllosen Varianten wurde von den genialen<br />

Instrumentenbauern Cremonas und Brescias<br />

die Violine herauskristallisiert. Dieser<br />

Prozess ging natürlich Hand in Hand mit der<br />

Entwicklung der Musik selbst: Die Musik der<br />

vorangegangenen Jahrhunderte entfaltete<br />

all ihre Kräfte im kunstvollen Gewebe der<br />

Polyphonie, das einzelne Instrument, der<br />

einzelne Musiker war anonymer Teil des<br />

Ganzen. Jedes Instrument musste seine Linie<br />

so klar wie möglich zeichnen und zugleich<br />

dem gesamten Klangbild eine besondere<br />

Farbnuance einmischen. Nun aber, gegen<br />

1600, kamen neue Kräfte ins Spiel. Die<br />

musikalisch-deklamatorische Interpretation<br />

der Werke der Dichtkunst führte zur Monodie,<br />

zum begleiteten Sologesang. Dabei<br />

bildeten sich Recitar cantando, dem singenden<br />

Sprechen, und im „Stile concitato“<br />

musikalische Ausdrucksformen, die Wort und<br />

Ton zu einer erregenden Einheit verbanden.<br />

Auch die reine Instrumentalmusik wurde von<br />

dieser Woge mitgerissen, der Solist löste sich<br />

aus der Anonymität des Ensemblespielers. Er<br />

übernahm die neue Tonsprache der Monodie<br />

ohne Worte und „sprach“ nunmehr ausschliesslich<br />

in Tönen. Dieses solistische Musizieren<br />

wurde buchstäblich als eine Art von<br />

Rede empfunden, so entstand die Lehre von<br />

der musikalischen Rhetorik, die Musik bekam<br />

dialogartigen Charakter und „sprechendes“<br />

Spiel wurde zur höchsten Forderung aller<br />

musikalischen Lehrmeister der Barockzeit.“<br />

Klangfarben<br />

Mit dem Bogen können unendlich viele<br />

Klangfarben-Geheimnisse der Violine<br />

entdeckt und hervorgezaubert werden.<br />

Der Bogen malt wie ein Pinsel mit differenziert<br />

abgestuften Farbtönen verschiedene<br />

Bilder: Er artikuliert, setzt klare, scharfe<br />

Akzente, überwindet die Schwere, beginnt<br />

zu springen oder dehnt den scheinbar begrenzten<br />

Raum in die Weite oder „sinkt“ mit<br />

schwerem Gewicht in die Klangtiefe. Schon<br />

in und mit dem allerersten Bogenstrich ist ein<br />

individueller, sehr persönlicher „Grundklang“<br />

einer Geigenspielerin, eines Geigenspielers<br />

herauszuhören und wahrnehmbar als z.B.<br />

ein sehr schneller oder eher langsamerer<br />

Bogenzug, als ein luftiger, „hauchiger“ oder<br />

sehr schwerer, in die Saitentiefe gehender,<br />

klangvoller Strich...<br />

Rhythmisches Wechselspiel<br />

„Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:<br />

Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;<br />

Jenes bedrängt, dieses erfrischt;<br />

So wunderbar ist das Leben gemischt...“<br />

(J. W. Goethe)<br />

Stosse ich den Bogen von der Spitze zu<br />

mir, so hole ich den „Umraum“ hinein. Die<br />

Bewegung ist ein Schliessen des Unterarms.<br />

Ziehe ich den Bogen von der unteren Bogenhälfte,<br />

dem Frosch, von mir wieder weg und<br />

öffne den Unterarm, be<strong>freie</strong> ich mich von<br />

der Nähe, der Enge und breite mich in der<br />

Raumesweite aus, wie beim Schwimmen auf<br />

einer ruhigen Wasseroberfläche! Stossen und<br />

Ziehen, Auf- und Abstrich, ein Schliessen<br />

und Öffnen, ein- und ausatmen.<br />

Harmonie und Melodie<br />

Höre ich – während die vier Saiten im<br />

Quintintervall zueinander paarweise schwingen<br />

– vertiefter in den Klang hinein, bis eine<br />

harmonisch gleich schwebend ruhende Stimmung<br />

erreicht ist, dann erlebe ich ähnliche<br />

Qualitäten wie in der vorher charakterisierten<br />

Streichbewegung. Mit den Fingern der linken<br />

Hand „umspiele“ und erweitere ich diesen<br />

harmonisch klingenden Quint-Klangraum mit<br />

verschiedensten Tönen zu einer klingenden<br />

Melodie...<br />

„Harmonie“ und „Melodie“ finden sich!<br />

Hör- und Tastsinn<br />

Das Spiel erfordert nicht nur einen scharfen,<br />

hoch aufmerksamen, ständig prüfenden<br />

Hörsinn sondern auch einen sehr feinen,<br />

sensiblen Tastsinn, um ohne jegliche Anhaltspunkte<br />

und ohne irgendwelche Bünde auf<br />

dem Griffbrett, die richtigen Töne punktgenau<br />

zu treffen, ein ständig prüfendes, waches<br />

Voraus- und Nachhören sowie auch ein Vorfühlen<br />

im Greifen – jedes Mal ein Abenteuer<br />

und Wagnis!<br />

Gefühlsstimmungen<br />

Die Violine ruht während des Spielens auf<br />

dem Schlüsselbein. Durch die physische<br />

Nähe des Violinkörpers werden sehr feine<br />

Vibrationen und Schwingungen unmittelbar<br />

erlebt. Die Violine ist mit ihrer sehr grossen<br />

Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeit eine<br />

sehr sensible und direkte Vermittlerin innerer<br />

Gefühlsstimmungen des Musizierenden.<br />

Äusseres lässt Inneres mitschwingen und<br />

umgekehrt! Die Violine ist der menschlichen<br />

Stimme am ähnlichsten und nächsten. Im<br />

Singen so zu „sprechen“ wie mit dem Bogen<br />

auf der Violinsaite oder mit dem Bogen so zu<br />

„singen“ wie im Fliessen und Atmen einer<br />

gesungenen Melodie, sind wunderbare, sich<br />

ergänzende Verwandtschaften. Subjektiver<br />

erlebbar im Gesang, objektiver im Violinspiel.<br />

Balance<br />

Unsere Herz- und Lungenorgane bilden<br />

einen mittleren Bereich, den Bereich des<br />

Lebendigen, des Fühlens. Die Violine liegt<br />

inmitten dieser Region. Durch ihre horizontale,<br />

leichte „Schwebelage“ liegt sie auch<br />

in der Nähe des oberen Bereichs, im Bereich<br />

des Denkens. In dieser „Schwebelage“ wird<br />

sie von dem leicht nach der Seite gedrehten,<br />

an den Instrumentenkörper angelehnten<br />

Kopf und dem linken Daumen- und Zeigfingergelenk<br />

möglichst sanft fühlend getragen<br />

wie auch gehalten. Im Vergleich zur Violine<br />

liegt z.B. das Cello zwischen den beiden<br />

Beinen und ruht – vertikal von einem Stachel<br />

getragen – auf dem Boden. Die Tonskala<br />

des Cellos geht deutlich nach unten in die<br />

Tiefe, in die etwas stärker hervortretenden<br />

physischen, aktiveren Kräfte. Durch den<br />

immer grösser werdenden Tonumfang und<br />

die gestiegene Lautstärke, bedingt auch<br />

durch die grösser werdenden Räume und<br />

Konzertsäle sowie durch die erweiterten<br />

technischen Möglichkeiten, veränderte sich<br />

im Laufe der Jahrhunderte auch die Lage der<br />

Violine. So wurde die Violine mehr und mehr<br />

von der Brusthöhe und der etwas vor dem<br />

Körper gehaltenen Lage, in die Höhe und auf<br />

die Schulter gehoben und verschoben! In der<br />

Volksmusik verschiedenster Länder sehen wir<br />

weitere Varianten in der Haltung und dazu<br />

noch hochvirtuos gespielt!

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