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Der Regisseur Jan-Christoph Gockel im Interview: Unterschiedliche

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ZUSATZMATERIAL "DIE RÄUBER"<br />

<strong>Regisseur</strong> <strong>Jan</strong>-<strong>Christoph</strong> <strong>Gockel</strong> <strong>im</strong> <strong>Interview</strong><br />

Foto©Bettina Müller, Montage: Alina Reznik.<br />

Mit 19 Jahren schrieb Friedrich Schiller "Die Räuber". Es ist sein erstes Drama und<br />

begründete schlagartig seinen bis heute anhaltenden Ruhm. Es ist in der Zeit des<br />

Sturm und Drang geschrieben und hat bis heute nicht an Kraft verloren. Schiller<br />

getrennt von den Eltern, als Schüler den strengen Regularien der Militärakademie, in<br />

die er mit 14 Jahren einzogen wurde, unterworfen, erfand sich mit "Räuber" die<br />

Geschichte eines jungen Mannes, der vom Vater verstoßen und dennoch voll Sehnsucht<br />

nach seinem Zuhause, eine Räuberbande gründet, die in die Böhmischen Wälder zieht.<br />

Von dort aus will der verstoßene Karl voller Wut auf die Obrigkeit gemeinsam mit seinen<br />

Räubern die Welt vernichten.<br />

Jungregisseur <strong>Jan</strong>-<strong>Christoph</strong> <strong>Gockel</strong>, der bereits die Kultkomödie „Kunst“ von Yasmina<br />

Reza und die Uraufführung von Daniel Mezgers „Balkanmusik“ in Mainz auf die Bühne<br />

brachte, hat sich eingehend mit dem Erstlingsdrama des jungen Schillers beschäftigt<br />

und es am Staatstheater Mainz inszeniert. Dramaturg David Schliesing hat ihn dazu<br />

befragt.<br />

DAVID SCHLIESING: Was interessiert Dich an „Die Räuber“?<br />

JAN-CHRISTOPH GOCKEL: Die Energie des Textes. Es gibt für mich kaum ein anderes<br />

Stück, das auf so vielen verschiedenen Ebenen so eine Energie hat: Die utopischdestruktive<br />

Karl Moors und der Räuber, wenn sie sich als Bande zusammenrotten. Franz<br />

Moor, der versucht Herr über das väterliche He<strong>im</strong> zu werden. Überhaupt die destruktive


Energie der Moorschen Familie. <strong>Unterschiedliche</strong> Träume, die am Schluss zu einer<br />

gewaltigen Explosion führen, wo sich alles gegeneinander wendet und die Welt in<br />

Schutt und Asche liegt. Diese Haltung: „Ich muss etwas ändern. Ich muss etwas<br />

zerstören!“ Utopie und Zerstörung liegen in dem Stück nah beieinander.<br />

D. S.: Woher, meinst du, kommt diese Energie? Wie würdest du sie beschreiben?<br />

J.-Ch. G.: Bei den werdenden Räubern ist es die Unzufriedenheit mit dem eigenen<br />

Leben, eine Befreiung von best<strong>im</strong>mten Umständen: Raus aus dem Eingesperrtsein. Bei<br />

Franz ist es das auch, aber er geht damit anders um, er geht einen viel<br />

individualistischeren Weg. Er ist allein. Oder bei Amalia, die große Energie aufwendet,<br />

den alten Zustand - ein Leben mit Karl - wieder herzustellen. So lange auf Karl zu<br />

warten, es <strong>im</strong> Haus, mit aller Macht, gemeinsam mit dem alten Moor und Franz<br />

auszuhalten. Alle Figuren vertreten ihre Ziele mit absolutem Drang. Die<br />

unterschiedlichen Affekte liegen in dem Stück so nah beieinander. Da muss es einfach<br />

knallen: Ein Auslöser wie der inszenierte Verstoß des Vaters, auf den Karl so heftig<br />

reagiert, dass er sofort mit der ganzen Gesellschaft bricht - also mit dem ganzen System<br />

- ohne das vermeintliche Verhalten des Vaters zu hinterfragen und zu überprüfen.<br />

D. S.: Es gibt heutzutage z.B. in Gestalt von Occupy Wall Street neue politische<br />

Bewegungen, lässt sich das mit der Rebellion der Räuber vergleichen?<br />

J.-Ch. G.: Ich kann die Räuber nicht einfach mit politischen Gruppierungen<br />

gleichsetzen. Dazu ist mir der Gedanke des Traums und der Vision in dem Stück viel zu<br />

groß. Eine heute konkret politische Bewegung, die irgendwo <strong>im</strong> Wald sitzt, würde es<br />

mit dem Förster zu tun bekommen. Mich interessiert mehr der Gedanke der Flucht in<br />

die Fantasie, so wie sich Schiller ins Schreiben geflüchtet hat. Für mich sind die Räuber<br />

Träumer und Modellbauer. Sie schaffen es, durch ihre visionäre Energie, sich selbst eine<br />

Welt zu kreieren: die Böhmischen Wälder, die bei uns eine Modellwelt sind, eine<br />

virtuelle Welt. Bewegungen wie Occupy protestieren, äußern sich, aber an den großen<br />

Mechanismen der Welt können sie wenig ändern. Meine Räuber versuchen es <strong>im</strong><br />

Kleinen, schaffen sich <strong>im</strong> Modell-Hobby-Keller eine Ersatzrealität, in der sie sich<br />

ausleben können. Wenn man Schiller liest, denke ich schon: Was ist das für ein<br />

Fantasiekonstrukt? Dieses Konstrukt noch einmal zu bespielen, noch einmal zu denken,<br />

hat für mich sehr viel mit Heute zu tun. Ich glaube, die große gesellschaftliche<br />

Entwicklung äußert sich weniger in politischen Bewegungen, sondern in der<br />

Spezialisierung des Einzelnen, die Nerdisierung, wie ich es nennen würde. Jeder ist<br />

Spezialist seines Faches. Jeder bastelt an seinem eigenen Plan, an seinem System, ob<br />

es Karl, Spiegelberg, Franz oder Amalia ist. Das Nerdige ist etwas total Narzisstisches<br />

und stört das Gemeinwesen.<br />

D. S.: In einer virtuellen Welt kann man nicht ewig existieren?<br />

J.-Ch. G.: <strong>Der</strong> Tod von Roller, einem der Räuber, wirft das ganze Gefüge um. Dass man<br />

der Realität nicht entfliehen kann, manifestiert sich am konkreten Tod. Dieser<br />

Wendepunkt spielt bei Schiller wie auch in meiner Konzeption eine wesentliche Rolle.<br />

Das bricht die ganze Räuberunternehmung auf etwas Grundsätzliches runter, und das<br />

will ich erzählen. Man kann überall hin flüchten, in ein anderes Land gehen, auf eine<br />

Insel, oder Theater machen: man kann fantasieren und sich auf eine Art ausleben, aber<br />

wenn jemand reinkommt und sagt: "Jemand ist tot", verändert es die Situation total.<br />

D. S.: Also überfällt die Realität auch Karl und die Räuber?<br />

J.-Ch. G.: Karl kann seiner Familie nicht entkommen. Er wird erwachsen, kreiert sich<br />

mit der Gründung der Räuberbande ein eigenes Leben, einen eigenen Kreis, eine<br />

Familie - auch wenn das nur virtuell stattfindet - und das wird gestört durch Rollers Tod.


Und schon ist er da: der Ruf nach dem elterlichen Zuhause. <strong>Der</strong> Glaube ist groß, dass<br />

man sich etwas Eigenes geschaffen hat, bei Karl ist es so. Er verdrängt die eigene<br />

Herkunft, sie existiert gar nicht mehr für ihn, dann kommt die Krise und das System<br />

Familie, dem man eigentlich entkommen wollte, steht bereit. Es wird fast konservativ.<br />

D. S.: Diese Unmöglichkeit zu Entkommen hat ja etwas Fatales. Gibt es für dich eine<br />

Möglichkeit dieses fatale Schicksal zu überwinden?<br />

J.-Ch. G.: In Schillers DIE RÄUBER wird es überwunden, indem alle umgebracht<br />

werden. Niemand geht weg, sondern alles wird ausgelöscht. Es ist ein sehr egoistisches<br />

Stück. Die Menschen zerstören sich hier alle durch ihren Egoismus. Allein Karl schafft<br />

es zu einem neuen Dasein, schafft es, sich von seinen Taten zu reinigen. Dafür müssen<br />

allerdings alle um ihn herum sterben. Alle müssen dran glauben - ob sie umgebracht<br />

werden oder anders sterben. Aber sie müssen dran glauben. Das finde ich schon sehr<br />

modern. Es ist zynisch und egoistisch: Alle müssen sterben, damit ich mein Leben neu<br />

anfangen kann.<br />

<strong>Jan</strong>-<strong>Christoph</strong> <strong>Gockel</strong> (*1982) studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft in<br />

Frankfurt sowie Regie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin.<br />

2007 / 2008 inszenierte er die halbjährige Uraufführungswerkstatt „Deutschlandsaga“ an<br />

der Schaubühne Berlin. Seit 2009 arbeitet er als freischaffender <strong>Regisseur</strong> in Berlin,<br />

Wien, Osnabrück, Oldenburg, Jena und Heidelberg. Seine „PSYCHIATRIE!-<br />

Performance", die er in Wien inszenierte, wurde für den Nestroy-Spezialpreis 2010 am<br />

Burgtheater nominiert und zum Heidelberger Stückmarkt eingeladen. Am Staatstheater<br />

Mainz stellte er sich erstmals mit der Komödie „Kunst“ von Yasmina Reza vor und<br />

inszenierte in der letzten Spielzeit die Uraufführung von Daniel Mezgers „Balkanmusik",<br />

welche auch zu den Autorentheatertagen ans Deutsche Theater in Berlin eingeladen<br />

wurde.<br />

IMPRESSUM Spielzeit 2011/2012<br />

Herausgeber Staatstheater Mainz GmbH; www.staatstheater-mainz.de<br />

Intendant Matthias Fonthe<strong>im</strong>; Kaufmännischer Geschäftsführer Volker Bierwirth<br />

Redaktion David Schliesing

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