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Schularchitektur für Kinder : Drei Waldorfschulen

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<strong>Schularchitektur</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong> :<br />

<strong>Drei</strong> <strong>Waldorfschulen</strong><br />

Peter Hübner und Olaf Hübner<br />

<strong>Waldorfschulen</strong> zeichnen sich durch eine außerordentlich moderne Pädagogik<br />

auf der Grundlage der Menschenkunde Rudolf Steiners aus, bei der Herz,<br />

Kopf und Hand gleichermaßen gefördert und dem einzelnen Schüler große<br />

Freiheiten in der eigenen Entwicklung zugebilligt werden.<br />

Für die <strong>Waldorfschulen</strong> 1 sind zwei Forderungen von zentraler Bedeutung,<br />

die nach unserer Überzeugung auch Grundlage einer Erneuerung des gesamten<br />

Erziehungswesens sein könnten : Die Unterrichtsform sowie das Spektrum<br />

der Unterrichtsinhalte und Fächer muss sich an der Entwicklung der<br />

Heranwachsenden orientieren und in ihnen gleichgewichtig das Denken,<br />

Fühlen und Wollen ansprechen und ausbilden. Erziehung muss, weil sie die<br />

<strong>Kinder</strong> und Jugendlichen zur Freiheit und Mündigkeit führen will, von freien<br />

und mündigen Erziehern verantwortet werden. Dies ist aber nur möglich,<br />

wenn die Schule von den unmittelbar Beteiligten selbst verwaltet wird. Konsequenzen<br />

aus diesen beiden Prinzipien sind :<br />

• <strong>Waldorfschulen</strong> organisieren sich in freier Trägerschaft aus der Zusammenarbeit<br />

von Lehrerinnen und Lehrern, Eltern, Schülerinnen und Schülern.<br />

Das Lehrerkollegium verwaltet sich selbst. Es gibt keinen Direktor.<br />

Für alle, Lehrerinnen und Mitarbeiter, gilt die gleiche Gehaltsordnung.<br />

In wöchentlichen Konferenzen werden die Entwicklungen der <strong>Kinder</strong> von<br />

den Lehrerinnen und Lehrern, unterstützt durch Schularzt, Therapeutinnen<br />

und Therapeuten, begleitet und pädagogische Probleme bearbeitet.<br />

Entwicklungsorientierte Erziehung erfordert von Pädagogen ein intensives<br />

Studieren der Entwicklungsgesetze des heranwachsenden Menschen.<br />

1 Der folgende Abschnitt zu den Wesenmerkmalen der <strong>Waldorfschulen</strong> stammt von Werner Ehringfeld<br />

(Lehrer an der FWS Kirchhein/Teck) unter Verwendung einer Informationschrift der FWS-Chiemgau.


210<br />

<strong>Schularchitektur</strong> und neue Lernkultur<br />

Der Waldorfpädagogik liegen Erkenntnisse zugrunde, die Rudolf Steiner<br />

durch geisteswissenschaftliche Forschung gewonnen hat ; sie geben Anregungen<br />

<strong>für</strong> das ständige Bemühen um eine dem Wesen und Entwicklungsstand<br />

der <strong>Kinder</strong> entsprechende Erziehungspraxis. Die Schüler und Schülerinnen<br />

leben und lernen in einer Klassengemeinschaft, die im<br />

Wesentlichen von der ersten bis zur zwölften Klasse bestehen bleibt.<br />

Dadurch lernen die <strong>Kinder</strong> sich in ihren individuellen Schwächen und<br />

Stärken gut kennen, lernen auch, rücksichtsvoll miteinander umzugehen<br />

und sich gegenseitig Hilfestellung zu geben. Derartig gestalteter Unterricht<br />

ist ein ständiges Übungsfeld <strong>für</strong> ein – in unserer heutigen Zeit verloren<br />

gegangenes und vermisstes – praktisches Sozialverhalten.<br />

• Schülerinnen und Schüler unterschiedlichster Begabungen und sozialer<br />

Herkunft werden gemeinsam unterrichtet. Erst gegen Ende der Mittelstufe<br />

kann eine innere Differenzierung durchgeführt werden, die den<br />

Klassenverband aber nicht sprengt.<br />

• Es gibt kein Sitzenbleiben und keinen mit Zensuren verbundenen äußeren<br />

Leistungsdruck. Dennoch wird leistungsorientiert gearbeitet ; Leistungen,<br />

die in den handwerklichen und künstlerischen Fächern – wie Schmieden,<br />

Töpfern, Buchbinden, Gartenbau, Handarbeit, Holzwerken, Eurythmie,<br />

Musik, Theater – und in den sportlichen Fächern erbracht werden, stehen<br />

gleichwertig neben den Leistungen in intellektuellen Fächern.<br />

• Der Fremdsprachenunterricht ( Englisch, Französisch ) beginnt bereits in<br />

der ersten Klasse, weil die <strong>Kinder</strong> da fremde Sprachen noch unmittelbar<br />

nachahmend aufnehmen können. Es wird epochenweise ( täglich etwa<br />

zwei Stunden über ca. drei Wochen ) unterrichtet. Diese Form der Unterrichtsökonomie<br />

ermöglicht eine besonders intensive und konzentrierte<br />

Verbindung mit dem Stoff.<br />

Entgegen der landläufigen Meinung haben wir keine orthodoxen anthroposophischen<br />

Lehrmeinungen kennengelernt und waren immer wieder überrascht<br />

von der Modernität des Unterrichts und der Schnelligkeit im Umsetzen<br />

neuer, teilweise sogar radikaler Ideen. <strong>Waldorfschulen</strong> werden ohne Hierarchie<br />

von einem Kollegium geführt, erwarten von den Eltern rege Teilnahme<br />

am Schulgeschehen und bilden zusammen mit den <strong>Kinder</strong>n eine echte<br />

Gemeinschaft, die wir unsere jeweilige Baufamilie nennen. Selbstverständlich<br />

ist, dass sich jede Schulgemeinschaft sehr sorgfältig in einem oft langwierigen<br />

Prozess ihren Architekten sucht und diesen dann über den Bauausschuss in<br />

einen langen und intensiven Partizipationsprozess einbindet. Wenn man sich<br />

vorurteilsfrei auf diese Beteiligung einlässt, ergeben sich als Resultate Häuser<br />

von einer ganz eigenen Ausstrahlung und Wärme, die einen gleichsam umarmen.<br />

Den einzelnen Räumen wird eine große Individualität gegeben, die den<br />

spezifischen Anforderungen der verschiedenen Altersstufen und Nutzungen<br />

entsprechen sollten. Eine Waldorfschule versteht sich als ein lebendiger<br />

Organismus, bei dem das Schulgebäude eine wesentliche Rolle spielt.<br />

Wir haben bisher acht <strong>Waldorfschulen</strong> geplant und wollen hier drei Bauten<br />

vorstellen, die jeweils von einem anderen Partner unseres Büros verantwortet<br />

wurden :


1<br />

Die Freie Waldorfschule Köln<br />

Peter Hübner war der Projektarchitekt <strong>für</strong> die Freie Waldorfschule in Köln.<br />

Sie wurde im Jahr 1980 gegründet und zog 1982 in ein Gebäude der ehemaligen<br />

Hauptschule in Esch ein. Seit 1987 suchte die Schule intensiv nach<br />

einem Grundstück <strong>für</strong> einen eigenen Neubau. Nach mehreren Rückschlägen<br />

fand man im Jahre 1992 ein Grundstück in Köln-Chorweiler. Wie bei allen<br />

<strong>Waldorfschulen</strong> musste <strong>für</strong> ein außerordentlich knappes Budget eine Schulanlage<br />

entworfen werden, die maßgeschneidert <strong>für</strong> die spezielle Schulgemeinschaft<br />

und den Ort war und, so die Herausforderung der Baufamilie, die<br />

«schönste Waldorfschule» der Welt werden sollte !<br />

Es folgte eine zweieinhalbjährige Planungsphase, an der alle Schülerinnen<br />

und Schüler, das gesamte Lehrerkollegium und viele Eltern stark beteiligt<br />

waren. In vielen gemeinsamen, meist zweitägigen Planungssitzungen wurde<br />

das Besondere der Kölner Schule diskutiert, wurden viele alternative Ansätze<br />

entwickelt und verworfen und letztlich die Lösung gefunden.<br />

Das Bild der Rose erwies sich als tragfähiges Traummodell. Die Klassen<br />

sind gleichsam die Blütenblätter, die zentrale Baumstütze ist der Stängel. Wie<br />

bei der Rose entwickelt jedes Blütenblatt und damit auch jede Klasse ihre<br />

eigene Freiheit, folgt einer eigenen inneren Ordnung und behauptet sich<br />

gegen das Diktat des Zentralbaus mit seiner radialen fünf-, zehn-, zwanzigeckigen<br />

Geometrie.<br />

<strong>Schularchitektur</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>: <strong>Drei</strong> <strong>Waldorfschulen</strong><br />

1 Peter Hübner, Freie Waldorfschule<br />

Köln, Gesamtansicht von Norden.<br />

Bild: Suhan Su<br />

211


212<br />

<strong>Schularchitektur</strong> und neue Lernkultur<br />

Der dreigeschossige Klassenbau entwickelt sich um eine zentrale Oase, die<br />

gleichzeitig Marktplatz und überdeckte Pausenhalle ist. Der Saal schiebt sich<br />

über zwei Geschosse in das Zentralgebäude hinein und nimmt im zweiten<br />

Obergeschoss den Hörsaal mit ansteigendem Gestühl auf. Das Schulgebäude<br />

entwickelt sich von innen nach außen und erzeugt so eine lebendige Fassade,<br />

die nichts von der Monotonie eines Zentralgebäudes hat.<br />

Die Stahlbetonwände und Decken sind teilweise sichtbar belassen und<br />

farbig lasiert, die gemauerten Wände sind verputzt und ebenfalls lasurtechnisch<br />

behandelt. Die Bodenbeläge der Halle sind aus naturgebrannten Tonfliesen,<br />

die sich aus der Geometrie ergebenden dreieckigen Zwischenräume<br />

wurden mit Marmorbruch mosaikartig gefüllt und durch wenige farbige Quadratfliesen<br />

aufgelockert.<br />

Die Außenfassaden sind da, wo sie aus Mauerwerk bestehen, verputzt und<br />

blau-grau gestrichen. Die Holzleichtbaufassaden der Klassen sind mit farbigen<br />

Faserzementtafeln verkleidet, die Holzfenster grau lasiert. Die Dächer<br />

sämtlicher Anbauten sind begrünt, das Dach über dem Zentralbau ist mit<br />

Bitumenbahnen eingedeckt.<br />

Das Bauprogramm wird vervollständigt durch eine zweiteilbare Sporthalle.<br />

Sämtliche Werkstätten sowie die Hausmeisterwohnung sind direkt an<br />

Außenmauern der Sporthalle angebaut. Dadurch konnten die Kosten <strong>für</strong> zwei<br />

Außenwände eingespart und außerdem der gewünschte Selbsthilfeanteil beim<br />

Bau der Werkstätten auf einfache Art und Weise erfüllt werden. Die intensive<br />

Beteiligung an der Planung und am Bau durch viele der späteren Nutzer<br />

führte zu einer <strong>für</strong> alle erlebbaren Ausstrahlung des gesamten Gebäudes und<br />

zu einer sofortigen Inbesitznahme durch Schüler und Lehrer. Die Schule hat<br />

<strong>für</strong> jeden spürbar eine ganz besondere Aura, die durch die lange anhaltenden<br />

Selbsthilfeaktivitäten ständig intensiver wurde. Die liebevolle Teilnahme und<br />

Pflege ist allenthalben spürbar. Die Schule lebt.<br />

Bauherr : Verein zur Förderung der Waldorfpädagogik Köln<br />

Architekt : plus+ Prof. Dipl.-Ing. Peter Hübner, Mitarbeit Dipl.-Ing. Klaus Eggler<br />

Planung : 1994–1995, Bauzeit :1995 –1997


2<br />

<strong>Schularchitektur</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>: <strong>Drei</strong> <strong>Waldorfschulen</strong><br />

2 Peter Hübner, Freie Waldorfschule<br />

Köln: Oase mit Wasserbecken (oben<br />

links), Stützenfuß mit Lufteinlässen<br />

(oben rechts); Hausmeisterwohnung<br />

und Sporthalle (unten)<br />

213


214<br />

<strong>Schularchitektur</strong> und neue Lernkultur<br />

3


<strong>Schularchitektur</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>: <strong>Drei</strong> <strong>Waldorfschulen</strong><br />

3 Peter Hübner, Freie Waldorfschule<br />

Köln.<br />

Seite 214: Pausenhalle (oben), Oase<br />

mit Glasdach «Die Rose von Köln<br />

Chorweiler» als Sinnbild der Schule<br />

(Mitte links; Bild: W. Janzer), «Hier<br />

wird die 6. Klasse ‹wohnen›»<br />

(unten)<br />

Seite 215: Von Schülern gebautes<br />

Modell der Freien Waldorfschule<br />

Köln im Maßstab 1:20 (oben); Oase<br />

mit Baustütze, «Himmelsauge»,<br />

Computersimulation<br />

215


216<br />

<strong>Schularchitektur</strong> und neue Lernkultur<br />

4


<strong>Schularchitektur</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>: <strong>Drei</strong> <strong>Waldorfschulen</strong><br />

4 Peter Hübner, Freie Waldorfschule<br />

Köln.<br />

Seite 217: Grundriss Erdgeschoss<br />

(oben), Grundriss 2. Obergeschoss<br />

Seite 218: Maulwurfsperspektive<br />

(oben), Werkplan mit digitaler<br />

Koordinatenvermaßung<br />

217


218<br />

<strong>Schularchitektur</strong> und neue Lernkultur<br />

5 Peter Hübner, Freie Waldorfschule<br />

Köln: Schnittisometrie (oben),<br />

Querschnitt 1:200 (unten)<br />

5


Die Freie Waldorfschule Kirchheim<br />

Die Freie Waldorfschule in Kirchheim unter Teck wurde im ersten Bauabschnitt<br />

von Olaf Hübner über zwei Jahre und im zweiten Bauabschnitt über drei Jahre<br />

von Christoph Forster betreut. Die zeitintensive Beteiligung des Bauausschusses<br />

ist oft mühsam, bringt aber das besondere Ergebnis, das man selbst nicht<br />

hätte finden können. Der Architekt ist gleichsam der Katalysator, der mit<br />

seinem Talent und seinem Fachwissen das Bauwerk generiert. Niemand in<br />

unserem Büro möchte auf den Prozess einer echten Partizipation verzichten.<br />

Für uns Architekten, die wir schon viele Bauten mit ungewöhnlich niedrigem<br />

Etat und unter großen Selbsthilfeanteilen realisiert haben, ist es immer wieder<br />

verblüffend, dass jedes dieser Projekte seine eigene Geschichte hat.<br />

Im Januar 1997 wurden wir seitens der Waldorfschule Kirchheim / Teck<br />

gefragt, ob wir bei der Aufstellung einer gebrauchten Baracke planend helfen<br />

könnten, um aus dieser einen dringend benötigten weiteren Klassenraum in<br />

Eigenleistung zu realisieren. Wir spürten den vitalen Bauwillen und willigten<br />

in ein Gespräch mit Eltern und dem Kollegium ein. Anhand von Dias wurde<br />

gezeigt, wohin uns unsere Erfahrung bei unseren bisherigen Projekten geführt<br />

hatte. Es gab eine übermütige euphorische Forderung seitens meiner Person,<br />

die Mithilfe davon abhängig zu machen, dass man die gebrauchte Baracke<br />

auf keinen Fall nehmen solle. Stattdessen solle <strong>für</strong> das gleiche Geld in Selbsthilfe<br />

ein schöner Klassenraum in Holzbauweise errichtet werden, dem dann<br />

sukzessive Jahr <strong>für</strong> Jahr ein weiterer Klassenraum hinzugefügt werden soll.<br />

Diesem Vorschlag wurde zugestimmt. Es ergab sich auf wunderbare Weise,<br />

dass, gefördert durch den Wunsch nach mehr und nach ersten vorsichtigen<br />

Kostenkalkulationen, sich die Idee herauskristallisierte, doch lieber gleich<br />

drei oder gar sechs Klassenräume zu bauen. Es wurde ein zweigeschossiger<br />

Bau entworfen, bei dem auf einem nackten Erdgeschoss aus Stahlbeton ein<br />

Holzbau errichtet werden sollte, der wenigstens <strong>für</strong> drei Klassen ausreicht.<br />

Zur Verwirklichung der Entwurfsidee wollten wir die späteren Nutzer,<br />

wie bei uns üblich, beteiligen, und es gab einen Projekttag mit den Sechst-<br />

und Siebtklässlern, der zu einem <strong>für</strong> uns alle überraschenden Ergebnis führte :<br />

Die Schüler hatten die Aufgabe, sich selbst auszumessen und im Maßstab<br />

eins zu zehn eine Puppe aus Ton zu formen. Es folgten noch am gleichen<br />

Vormittag Tische, Stühle, Tafeln und alles, was man glaubte in der Klasse<br />

nötig zu haben. Am Nachmittag wurde der Klassenraum entwickelt, er sollte<br />

ungefähr 8 ~ 8 m groß sein und abgestumpfte Ecken haben, brauchte neben<br />

Wänden natürlich auch ein Dach. Aber die von uns mitgebrachten Modellbauhölzer<br />

waren, bedingt durch die Lieferabmessung der späteren Balken,<br />

nur maximal 65 cm lang. Unsere gerunzelten Stirnen und die Frage, was zu<br />

tun wäre, beantworteten die <strong>Kinder</strong> frei von den Ängsten der Erwachsenenwelt,<br />

ganz sinnfällig und einfach mit der Aussage : «Man kann ja Säulen oder<br />

Pfeiler in den Klassenraum stellen – das würde diesen ja nur lustiger und<br />

schöner machen.» So entstand als Entwurfskonzept die sicher einmalige Idee,<br />

jeweils vier Holzstützen in jedem achteckigen Klassenraum aufzustellen und<br />

darüber ein polygonal gefaltetes Dach zu errichten.<br />

<strong>Schularchitektur</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>: <strong>Drei</strong> <strong>Waldorfschulen</strong><br />

219


220<br />

<strong>Schularchitektur</strong> und neue Lernkultur<br />

Dieser Entwurfsansatz wurde der Elternschaft vorgestellt und von dieser<br />

begeistert aufgenommen und führte in einer gemeinsamen Eltern-Lehrer-<br />

Architekten-Bauaktion noch am gleichen Abend zu einem Eins-zu-zweihundert-Modell<br />

einer möglichen Gesamtanlage <strong>für</strong> den Endausbau, die alle<br />

Klassen- und Fachräume, einen Saal und alle Werkstätten beinhaltete.<br />

Der zweite Bauabschnitt erfolgte wenige Jahre später unter Leitung von<br />

Christoph Forster. Die «kleine Schule» des ersten Bauabschnittes ergibt auf<br />

der dreieckigen Grundstücksfläche als Solitär den Auftakt <strong>für</strong> das gesamte<br />

Ensemble und bildet den nördlichen Abschluss eines großzügigen Eingangs-<br />

und Pausenhofes, der durch die «große Schule» mit seinen beiden Flügeln<br />

gefasst wird.<br />

Die große Schule besteht aus dem inneren Marktplatz mit Bühne und<br />

Theater, um die sich wie Häuser alle Räume reihen. Auch hier wurden die<br />

Grundrisse aus den spezifischen Funktionen entwickelt und bewusst als Individuen<br />

ausgebildet, so dass jeder Raum ein ganz besonderer Ort – ein<br />

Lebensort –geworden ist.<br />

Ein Unikat stellt die Bühne dar, die aus der langen Diskussion mit der<br />

Baufamilie entstand : Die einen wollten ein griechisches Theatron mit ansteigendem<br />

Halbrund, die anderen ein Marktplatztheater. Die Architekten zerschlugen<br />

den gordischen Knoten, indem sie als Kompromiss beiden Parteien<br />

recht gaben und die Bühne zwischen beiden anordneten und mit einer umlaufenden<br />

Trennwand versahen, so dass beide Theaterformen möglich sind, aber<br />

auch experimentelle Aufführungen mit einer Mittelbühne sowie große Feste<br />

und Basare. Der Bau ist im Bereich der Eurythmie wegen der größeren Raumhöhe<br />

ein-, sonst aber zweigeschossig und hat lediglich über der Bühne mit<br />

dem Zeichensaal ein drittes Obergeschoss. Viele Herzen und Hände waren<br />

nötig, um dem Schulbau seine endgültige Gestalt zu geben, auch und gerade<br />

die der Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler.<br />

Etwas Einmaliges ist entstanden, das von dieser ganz besonderen Hingabe<br />

an das neue Haus kündet, die scheinbar toten Dinge sind lebendig und jeder<br />

spürt das Besondere dieses Gebäudes, seine Ausstrahlung, ja seine Aura. Es<br />

ist ein Ort entstanden, der weit mehr ist als eine normale Schule, nämlich ein<br />

Lebensort, in dem man gerne verweilt und der von innen nach außen<br />

strahlt.<br />

Auf der südlichen Grundstücksfläche ist ein dritter Bauabschnitt mit einer<br />

Sporthalle und weiteren Werkstätten vorgesehen.<br />

Bauherr : Verein Eingetragene Genossenschaft Freie Waldorfschule Kirchheim unter<br />

Teck e. G.<br />

Architekt : plus + bauplanung GmbH Hübner-Forster-Hübner<br />

1. BA Olaf Hübner, Planung : 1997. Bau : 1998<br />

Projektarchitekt : 2. BA Christoph Forster. Planung : 2000. Bau : 2001–2002


6<br />

<strong>Schularchitektur</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>: <strong>Drei</strong> <strong>Waldorfschulen</strong><br />

6 Olaf Hübner/Christoph Forster,<br />

plus+bauplanung GmbH, Freie<br />

Waldorfschule Kirchheim, kleine<br />

Schule (oder 1. Bauabschnitt):<br />

Grundriss Erdgeschoss (oben),<br />

Blick von Nordwesten (unten links)<br />

und von Norden (rechts). Bilder:<br />

Peter Blundell-Jones<br />

221


222<br />

<strong>Schularchitektur</strong> und neue Lernkultur<br />

7


<strong>Schularchitektur</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>: <strong>Drei</strong> <strong>Waldorfschulen</strong><br />

7 Olaf Hübner, plus+bauplanung<br />

GmbH, Freie Waldorfschule Kirchheim,<br />

kleine Schule (oder 1. Bauabschnitt).<br />

Seite 222: Dachaufsicht (oben),<br />

Galerie der Eingangshalle (unten<br />

links, beide Bilder: Peter Blundell-<br />

Jones), Oberlicht der Eingangshalle<br />

mit Galerie (rechts)<br />

Seite 223: Lehrer mit <strong>Kinder</strong>n beim<br />

Bäumepflanzen (oben), Klasse,<br />

zweiseitig belichtet (Bild: Peter<br />

Blundell-Jones)<br />

223


224<br />

<strong>Schularchitektur</strong> und neue Lernkultur<br />

8


<strong>Schularchitektur</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>: <strong>Drei</strong> <strong>Waldorfschulen</strong><br />

8 Christoph Forster, plus+bauplanung<br />

GmbH, Freie Waldorfschule Kirchheim,<br />

große Schule (oder 2. Bauabschnitt).<br />

Seite 224: Plan Erstes Obergeschoss<br />

(oben), Eingangshof. Beide Bilder:<br />

Suhan Su<br />

Seite 225: Zweigeschossige Halle<br />

(oben rechts, Bild: W. Janzer, und<br />

oben links, Bild: Suhan Su), Galerie<br />

im ersten Geschoss (Mitte, Bild:<br />

Suhan Su), Kunstraum (unten)<br />

225


226<br />

<strong>Schularchitektur</strong> und neue Lernkultur<br />

9 Olaf Hübner/Christoph Forster,<br />

plus+bauplanung GmbH, Freie<br />

Waldorfschule Kirchheim.<br />

Bibliothek mit Blick auf kleine Schule<br />

(oben links), Bibliotheksraum (oben<br />

rechts, Bild: Peter Blundell-Jones),<br />

Bühne, vorder- und rückseitig geöffnet,<br />

mit Blick auf Halle (Mitte), Saal<br />

(unten, Bild: Peter Blundell-Jones)<br />

9


Die Freie Waldorfschule Frankfurt<br />

Die Freie Waldorfschule in Frankfurt ist durchgängig zweizügig. Sie sollte auf<br />

einem beengten Grundstück um ein Gebäude erweitert werden, das hauptsächlich<br />

den ersten drei Jahrgängen eine neue Heimat bieten sollte. Neben<br />

dem Kollegium und den Eltern haben wir die Drittklässler intensiv in die<br />

Planung einbezogen. Betreut wurde dieses Projekt von Olaf Hübner, der<br />

damals noch in Frankfurt wohnte und so den wöchentlichen Bauausschusssitzungen<br />

und den täglichen Bauleitungsaufgaben nachkommen konnte.<br />

Nach dem Abriss eines obsoleten Pavillons entstand in der Nordostecke<br />

des bestehenden Waldorfschulgeländes der zwei- bis dreigeschossige Neubau.<br />

Die <strong>Kinder</strong> erreichen ihre Klasse über den «Marktplatz». Jeder Klassenraum<br />

ist als «Haus» im Haus konzipiert : wie eine eigene Wohnung mit einem<br />

eigenen Eingangsbereich, eigenen Garderoben und Toiletten, außerdem<br />

schließt an jeden Klassenraum ein kleiner Rückzugsbereich zum Lesen,<br />

Unterhalten und zu vielem mehr an, ein kleines Nest oder eine Höhle, die<br />

einen Rückzug aus dem Schulalltag ermöglicht. Es soll so schön und «heimelig»<br />

werden wie zu Hause, Ausgänge aus jeder der Klassen verstärken den<br />

Charakter der eigenen Unabhängigkeit.<br />

Große Fenster machen den Raum hell und einladend. In den «Häusern»<br />

des Obergeschosses erblickt man die kühne Dachkonstruktion aus Holz.<br />

Oberlichter zum Marktplatz sorgen <strong>für</strong> zusätzliche Belichtung.<br />

Verschachtelt wie in einem Bergdorf laufen die Treppen und Vorplätze<br />

der Klassenhäuser auf den «Marktplatz» zu. Sitznischen und Aussichtspunkte<br />

laden zum Verweilen und Beobachten ein. Das Glasdach bringt Sonne und<br />

Licht ins Innere. Die Holzkonstruktion wirft vielfältige Schattenspiele. Große<br />

und kleine, hohe und niedrige Räume finden sich zusammen. Wie eine kleine<br />

Stadt mit ihren vielen unterschiedlichen Elementen, ähnlich den Plätzen eines<br />

Dorfes, entsteht die Schule als Ort des Tätigseins.<br />

Die Handarbeit mit ihren zwei Ebenen lädt zum konzentrierten Arbeiten<br />

ein. Der hohe Teil schafft Platz <strong>für</strong> Zusammenkünfte und Diskussionen. Die<br />

Treppe ist breit genug, so dass auch hier genügend Platz zum Sitzen oder zum<br />

Ablegen von allem möglichen Krimskrams ist.<br />

Die Heileurythmie, am «Marktplatz» gelegen, baut auf einem Sechseck<br />

auf. Das Dachtragwerk bildet sich als Quadrat im Quadrat, ein indianischer<br />

Hogan. Eine Regalwand trennt den kleinen Garderobenbereich ab. Während<br />

der Bauphase haben wir als kleines Geschenk noch zwei Oberlichter eingebaut.<br />

Nun entsteht zu jeder Tageszeit ein anderes Licht- und Farbenspiel auf<br />

den Wänden. Die unterspannten Träger der Dachkonstruktion lassen die<br />

Musikräume zu einem Saiteninstrument werden. Das neuartige Instrument<br />

verlangt noch nach einer eigenen Komposition. Darunter liegt der größte<br />

Raum, der Eurythmiesaal, dessen hölzerne Wandverkleidung sich zum Altarraum<br />

der Handlung des freien christlichen Religionsunterrichtes öffnen lässt.<br />

Er hat eine übergroße Raumhöhe, im Inneren spürt man nicht, dass er eingegraben<br />

ist.<br />

<strong>Schularchitektur</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>: <strong>Drei</strong> <strong>Waldorfschulen</strong><br />

227


228<br />

<strong>Schularchitektur</strong> und neue Lernkultur<br />

Zur Einweihung im März 2002 schrieb Stephan Sigler, eine der treibenden<br />

Kräfte aus dem Baukreis : «Das Projekt Neubau hat vom ersten Entschluss<br />

bis zur Einweihung fast zwei Jahre gedauert. Sehr viel Arbeit war in dieser<br />

Zeit von allen Beteiligten in die Planung und Ausführung gesteckt worden.<br />

Wir denken, es hat sich gelohnt ! Es ist ein schönes Haus geworden, und es<br />

wird vor allem das Haus der <strong>Kinder</strong> werden, die es beziehen. Angeregt durch<br />

die lebendigen Formen und Farben, sollen sie sich zu Hause und geborgen<br />

fühlen und mit Freude und Begeisterung lernen können, so dass sie sich tief<br />

in die Welt einwurzeln können.»<br />

Heute können wir sagen, dass die Schule lebt und von allen geliebt wird.<br />

Bauherr : Waldorfschulverein Frankfurt<br />

Architekt : plus+bauplanung GmbH<br />

Projektarchitekt Dipl. Ing. Olaf Hübner<br />

Planung : 2000. Bau 1 / 2001–3 / 2002<br />

10


<strong>Schularchitektur</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>: <strong>Drei</strong> <strong>Waldorfschulen</strong><br />

10 Olaf Hübner, plus+bauplanung<br />

GmbH, Freie Waldorfschule<br />

Frankfurt.<br />

Seite 228: Plan Ebene 1 mit<br />

Umgebung<br />

Seite 229: Nordansicht (oben),<br />

Eingang (unten links), Eingangshalle<br />

Canyon (Mitte rechts), Eingangsfront<br />

(unten rechts, Bild: Suhan Su)<br />

229


230<br />

<strong>Schularchitektur</strong> und neue Lernkultur<br />

11


<strong>Schularchitektur</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>: <strong>Drei</strong> <strong>Waldorfschulen</strong><br />

11 Olaf Hübner, plus+bauplanung<br />

GmbH, Freie Waldorfschule<br />

Frankfurt.<br />

Seite 230: Separater Eingangsraum<br />

einer Klasse mit Garderobe und WC<br />

(oben), Handarbeitsraum mit Galerie<br />

(links), Galerie Obergeschoss<br />

(rechts).<br />

Seite 231: Ansicht Nord (oben),<br />

Ansicht Ost.<br />

Alle Bilder: Suhan Su<br />

231


232<br />

<strong>Schularchitektur</strong> und neue Lernkultur<br />

12 Olaf Hübner, plus+bauplanung<br />

GmbH, Freie Waldorfschule Frankfurt:<br />

Ansicht Innenhof/West (oben),<br />

Ansicht Turm/Süd (unten).<br />

Beide Bilder: Suhan Su<br />

Literatur<br />

Blundell Jones, Peter ( 2006 ) : Peter Hübner – Building as a Social Process / Bauen als<br />

ein sozialer Prozess. Stuttgart / London : Edition Axel Menges.<br />

Blundell Jones, Peter ( 2001 ) : Lifelong Learning. In : Architectural Review, Heft 1,<br />

S. 55–59.<br />

Blundell Jones, Peter ( 1999 ) : Social Engagement. In : Architectural Review, Heft 2,<br />

S. 40–44.<br />

Hübner, Peter / Spirandelli, Beatrice ( 2001 ) : Peter Hübner : Una Scuola-Città. In :<br />

L’Architettura Naturale, Heft 2, S. 24–35.<br />

Hübner, Peter ( 2001 ) : Schule mit Wohlfühlfaktor. In : AIT Intelligente Architektur,<br />

Heft 3 ( Sonderdruck ).<br />

12

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