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Tiras Rapkeve Der Träumler - BookRix

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Februar 2004<br />

© 2004 <strong>Tiras</strong> <strong>Rapkeve</strong><br />

Alle Rechte liegen beim Autor<br />

<strong>Tiras</strong> <strong>Rapkeve</strong><br />

<strong>Der</strong> <strong>Träumler</strong><br />

Roy Rapperpotz im Land der Träume


tiras-rapkeve@gmx.net<br />

www.traeumeschenken.com<br />

„Nenn mir den Ort, zu dem die Menschen täglich ziehn.<br />

Nenn mir das Land, in das sie jede Nacht entfliehn,<br />

in dem sich jeder Wunsch erfüllt,<br />

in dem man sich mit Phantasie umhüllt.<br />

Es bringt in alle Kinderaugen Sand.<br />

Sag mir, was ist das für ein Land?“<br />

„Kennst du die Antwort? Sag sie schnell, und ich öffne dir mein Tor.“<br />

„Ich weiß es“, antwortete Roy dem Wächter. „Es ist ...“<br />

Es ist die Heimat des jungen Prinz Rapperpotz.<br />

Seine Eltern brachten ihn in unsere Welt, als der schwarze Regen begann ihr Land zu<br />

zerstören. Doch nun muss Roy zurückkehren und mit seinen Freunden in der letzten<br />

verbleibenden Schule das Träumeln lernen.<br />

DAS TRÄUMELN? So nennt man es, den Menschen ihre Träume zu bringen.<br />

Nach zahlreichen Abenteuern werden sie die besten Schüler, da wird das große Buch der<br />

verbotenen Träume aus der Schule gestohlen.<br />

Greg Haport und seine Kumpanen haben es entführt und vollenden damit das Werk des<br />

schwarzen Regen. Sie bringen Unheil und Chaos in die Träume der Menschheit.<br />

Die unzertrennlichen drei R's: Roy, Racket und Romi jagen ihnen hinterher, gemeinsam<br />

mit dem ewig nörgelnden Wölkchen Schössel und der schüchternen Traumlinse Lars. Sie<br />

treffen den quirligen Quirlax, der als Erwachsener fast noch mehr Kind ist als sie selbst.<br />

Immer weiter jagen sie den schwarzen Regen und bringen wieder Richtigkeit und Ordnung in<br />

all die falschen Träume. Sie träumeln für König Artus und Nikolaus A. Otto, für Gutenberg,<br />

Böttger und Einstein, für viele berühmte Menschen und natürlich auch für<br />

EUCH.<br />

Und letzten Endes bleibt noch ein großes Geheimnis.<br />

Woher kommt der schwarze Regen?


1. Roy und das verbotene Tor<br />

Roy war ein kleiner schüchterner Junge mit blonden strubbeligen Haaren und einer<br />

seltsamen schwarzen Strähne darin, die jeden Morgen nach dem Aufstehen dermaßen zerzaust<br />

war, dass er immer länger als alle anderen Jungen im Badezimmer brauchte. Doch so sehr er<br />

sich auch anstrengte, so oft er auch hindurchkämmte, er konnte diese Strähne nicht bändigen.<br />

Sie stand von seinen Haaren ab wie ein störrisches Eselsohr, das nicht hören will. Alle<br />

anderen Kinder – besonders Greg, der größte Junge im Waisenhaus St. Jones – lachten ihn aus<br />

deswegen. Und gerade heute war die Strähne noch widerspenstiger als sonst. So sehr er sich<br />

auch mühte, so oft er auch versuchte, sie flach an seinen Kopf anzuschmiegen, immer wieder<br />

stellte sie sich auf und trotzte jeder Anstrengung seines Kammes, so, als ob sie sich heute<br />

ganz besonders hervortun wollte, als ob es heute einen ganz besonderen Grund dafür gäbe.<br />

Von außen pochte bereits Greg an die Tür. »He, Rapperpotz! Roy Rapperpotz! Wenn du<br />

nicht gleich rauskommst, dann kannst du für immer drinbleiben.« Um seine Worte zu<br />

betonen, stieß er noch einmal kräftig mit dem Fuß gegen die Tür. »Hast du mich verstanden,<br />

Rapperpotz?«<br />

Roy packte hastig seine Sachen zusammen. Er hasste es, Rapperpotz genannt zu werden.<br />

Immer wieder hänselten ihn die Kinder wegen seines Namens. Rapperpotz – Roy Rapperpotz.<br />

Dies war wirklich ein sehr seltsamer Name. Roy Rapperpotz. Doch solange er denken konnte,<br />

hieß er schon so. Und ebenso lange lebte er schon in diesem Waisenhaus, weit außerhalb der<br />

Stadt, zusammen mit vielen anderen Kindern, die kein Zuhause mehr hatten. Er wusste weder<br />

wer seine Eltern waren, noch wo er hingehörte. Keiner hier konnte ihm dies sagen, und keiner<br />

wusste, wie er eigentlich hierher gekommen war, nicht einmal Direktor Finlox.<br />

Roy öffnete die Tür und schaute vorsichtig hinaus. Von der Seite packte ihn Greg und zog<br />

ihn aus dem Bad.<br />

»Rapperpotz, du siehst aus wie ein Struwwelpeter. Was hast du eigentlich die ganze Zeit<br />

da drin getrieben? Wegen dir werden wir noch alle zu spät zum Frühstück kommen!«<br />

Grob schob er Roy zur Seite und ging lauthals brüllend ins Bad.<br />

Im Frühstücksraum waren bereits alle Kinder in Reih und Glied versammelt. <strong>Der</strong><br />

Direktor, Herr Finlox, ein finster dreinblickender knorriger Mann, schritt an den Kindern<br />

vorüber. An jedem hatte er etwas auszusetzen.<br />

»Steck dein Hemd richtig rein, Peter. Kopf hoch, Martin. Michael, putz deine Schuhe.«<br />

Kurz vor Roy stoppte er seinen langsamen und schleppenden Gang und schüttelte den<br />

Kopf.<br />

»Rapperpotz, Rapperpotz. Du wirst es wohl nie lernen. Schau dich an. Weißt du, wie du<br />

aussiehst? Wie ein Kind von der Straße. Was soll nur aus dir werden?«<br />

»Aber …«, versuchte Roy sich zu verteidigen.<br />

»Kein Aber«, unterbrach ihn Finlox. »Jeden Morgen hast du die gleiche Ausrede. Du<br />

gehst sofort in den Keller zu Morella und lässt dir deine Haare schneiden. Ist das klar?«<br />

Die Kinder im Saal verstummten. Jeder fürchtete sich vor Morella. Sie war eine seltsame<br />

alte Frau, die im Keller von St. Jones hauste und nur selten ins Haus, geschweige denn in den<br />

Garten kam. Einige behaupteten sogar, sie wäre eine Hexe und hätte schon etliche kleine<br />

Kinder verschlungen. Alle Waisenkinder, sogar Greg, hatten Angst vor ihr, und jeder im Saal<br />

war froh, nicht an Roys Stelle zu sein.<br />

Finlox stand wartend vor Roy und musterte ihn scharf. Roy drehte sich um und verließ<br />

den Frühstückssaal. Was sollte er tun? Was sollte er sagen? So hungrig er auch war, er musste<br />

sich fügen. Und da er zwar klein und schüchtern, doch keinesfalls feige war, schritt er die<br />

kalten Stufen hinunter in den Keller zu Morella. Aber eigenartig – je tiefer er kam, desto


weniger Angst hatte er. Obwohl er im Halbdunkel nicht viel sah, kam ihm die Umgebung<br />

sogar irgendwie vertraut vor. Nur ein- oder zweimal war er in diesem Keller gewesen und so<br />

richtig konnte er sich gar nicht mehr daran erinnern, auch nicht an Morella, doch er spürte das<br />

eigenartige Gefühl, schon sehr oft hier gewesen zu sein. Er konnte es sich nicht erklären.<br />

Roy kam in einen Raum, der durch ein Kaminfeuer hell erleuchtet war, so dass er an den<br />

Wänden Regale mit seltsam anmutenden Gläsern sehen konnte. In der Mitte stand ein großer<br />

Holztisch mit vier Stühlen, und als Roy zu dem Kamin blickte, sah er dort eine gebückte Frau<br />

mit grauem, wallendem Haar Holz hineinwerfen.<br />

»Komm ruhig näher, Roy Rapperpotz«, sagte die Frau ohne sich umzublicken. »Ich habe<br />

schon auf dich gewartet. Du solltest eigentlich schon längst hier unten sein, schon seit<br />

Wochen. Was hat dich aufgehalten?«<br />

Roy wusste nicht so recht, was er erwidern sollte.<br />

»Direktor Finlox hat mich eben erst heruntergeschickt. Sie sollen mir die Haare<br />

schneiden«, sagte er schüchtern.<br />

»Finlox, dieser Trottel«, erwiderte Morella empört. »Haare schneiden. Ist das sein<br />

einziges Problem? Haare schneiden? <strong>Der</strong> hat keine Ahnung von dem, was hier wirklich vor<br />

sich geht. Setz dich.«<br />

Neugierig schaute sich Roy im Raum um. Als er sich langsam setzte und wieder zum<br />

Kamin blickte, war Morella plötzlich verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Er sah<br />

in jede Ecke, doch er konnte sie nicht mehr sehen. Er war jetzt ganz allein.<br />

Da saß er nun und wartete und wusste nicht, was er tun sollte. Die Stunden vergingen,<br />

doch es geschah nichts. Morella war verschwunden und kam nicht wieder zurück. Da Direktor<br />

Finlox ihm eingeschärft hatte, sich nicht ohne einen neuen Haarschnitt aus dem Keller zu<br />

wagen, wartete Roy den ganzen Tag, bis es schon fast dunkel war. Zum Glück fand er in<br />

einem Regal ein paar Äpfel und einen Kanten Brot. Damit stillte er seinen Hunger, gegen<br />

seinen Durst half ein Krug Wasser, der auf dem Tisch stand.<br />

Als in Roy allmählich die Sorge wuchs, dass Morella gar nicht mehr zurückkommen<br />

würde, erklang plötzlich eine leise, schnurrende Stimme.<br />

»Königliche Hoheit! Ein Glück, dass ich Euch gefunden habe.«<br />

Erstaunt sah sich Roy um. Da war aber niemand. In der Ecke saß nur ein kleiner<br />

schwarzer Kater mit einigen weißen Haaren an der Kehle. Sonst war niemand da. Aber woher<br />

kam dann diese Stimme, die ihn mit »Königlicher Hoheit« ansprach?<br />

»Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie lange ich Euch gesucht habe, Königliche Hoheit.<br />

Endlich habe ich Euch gefunden! Miau.«<br />

Tatsächlich – es war dieser Kater, der zu ihm sprach. Roy konnte seinen Ohren und<br />

Augen kaum trauen. War dies hier etwa eine Hexenküche mit sprechenden Tieren?<br />

»Ihr müsst mir helfen. Ihr seid meine letzte Hoffnung. Ihr seid unsere letzte Hoffnung«,<br />

sprach der Kater weiter aus der Ecke.<br />

»Bist du das, der zu mir spricht?«, fragte Roy ungläubig.<br />

»Ja, natürlich bin ich es«, erwiderte der Kater und stellte sich dabei auf die Hinterpfoten.<br />

»Erkennt Ihr mich denn nicht?«<br />

»Nein. Wer bist du denn?«, fragte Roy neugierig.<br />

»Ich bin’s, Racket. Euer treuer Freund Racket. Ach ja, das hätte ich mir denken können.<br />

Ihr erkennt mich ja nicht in dieser Tiergestalt. Ich vergesse immer wieder, dass ich ein Kater<br />

bin«, sprach Racket und sprang über einen Stuhl auf den Tisch.<br />

»Sollte ich dich kennen?«, fragte Roy immer erstaunter.<br />

»Oh ja. Natürlich. Wir sind die besten Freunde. Erinnert Ihr Euch nicht? Ihr müsst Euch<br />

doch erinnern. Wir waren jeden Tag zusammen. Ihr wisst schon, damals in Traumania. Bis<br />

dieser Regen kam und unsere Welt zu zerfallen begann.«<br />

»Wovon sprichst du? Ich kann mich an keinen Regen erinnern.«


»Ihr wisst wirklich nichts davon? Ihr habt alles vergessen! Oh, wir müssen uns beeilen.<br />

Wir müssen zurück in unsere Welt, bevor es zu spät ist, wenn es nicht jetzt schon zu spät ist.«<br />

Nun wurde Roy furchtbar aufgeregt. »In unsere Welt? Du weißt, woher ich komme?«<br />

»Ja, natürlich weiß ich es«, schnurrte Racket und griff mit seiner Pfote nach einem Apfel,<br />

der achtlos auf dem Tisch lag, und biss genussvoll hinein. »Ihr seid Roy Rapperpotz, der<br />

jüngste Spross der königlichen Familie Rapperpotz aus dem Land Traumania.«<br />

Racket, auf den Hinterbeinen stehend, verneigte sich tief, lief dann mit dem Rest des<br />

Apfels in der einen Pfote zu Roy und zeigte mit der anderen auf die strubbeligen Haare des<br />

Jungen.<br />

»Und seit dem Regen habt Ihr auch diese schwarze Strähne, die Euch übrigens sehr gut<br />

steht – meint zumindest Romi. Naja. Darüber kann man wohl geteilter Meinung sein.«<br />

»Romi?«, fragte Roy sehr aufgeregt, denn nun schien er sich doch an etwas zu erinnern.<br />

»Sagt bloß, Ihr habt auch Romi vergessen? Oh, wir müssen uns wirklich<br />

beeilen. Folgt mir!«<br />

Racket ließ den Apfelrest auf den Tisch fallen und lief zu einer Seitentür in der hintersten<br />

und dunkelsten Ecke des Raumes. Roy hatte sie vorher gar nicht bemerkt, doch als sie nun<br />

hindurchtraten, standen sie plötzlich mitten im Garten hinter dem Waisenhaus. Racket lief bis<br />

zu einer Hecke aus buschigen Hainbuchen am anderen Ende des Gartens. Als er unter ihr<br />

hindurchschlüpfen wollte, zögerte Roy.<br />

»Wir dürfen nicht hinter die Hecke. Direktor Finlox hat es uns streng verboten.«<br />

»Vergesst Direktor Finlox, Roy. Wir werden bald zu Hause sein. Kommt schon!«<br />

Aus irgendeinem Grunde – auch, wenn sie sonst überall durch das Gelände stromerten –<br />

hielten sich doch alle Kinder aus dem Waisenhaus fern von dieser Hecke. Es kam ihnen nie in<br />

den Sinn, dieses Verbot zu missachten. Auch jetzt beschlich Roy ein unangenehmes Gefühl,<br />

das er nicht so recht deuten konnte. Doch mutig folgte er dem Kater, der sich Racket nannte,<br />

und das seltsame Gefühl wich schnell einem neuen, wunderbaren, einem, das er noch nie<br />

zuvor erlebt hatte. Doch er meinte es aus Büchern zu kennen, die er gelesen hatte. Es war das<br />

Gefühl der Geborgenheit, das Gefühl, nach Hause zu kommen. Mit pochendem Herzen lief er<br />

deshalb Racket nach und zwängte sich durch die Hecke.<br />

Dahinter, neben großen Haselnuss-Sträuchern verborgen, lag ein kleiner runder Pavillon,<br />

der zur Hälfte aus einer vergilbten Mauer und zur anderen Hälfte aus Säulen bestand, von<br />

denen bereits der Putz bröckelte. Roy sah, wie der Kater in dem Pavillon verschwand und<br />

folgte ihm vorsichtig, aber ebenso neugierig zwischen den Säulen hindurch. Dort<br />

angekommen sah er Racket direkt vor der Mauer ungeduldig auf ihn warten. <strong>Der</strong> Kater konnte<br />

vor Aufregung kaum still halten, und sobald Roy neben ihm stand, tippte er auch schon mit<br />

der Pfote gegen einen Stein in der Wand, auf dem ein Symbol mit zwei sich kreuzenden<br />

Strichen eingeritzt war. Im selben Augenblick erstrahlte von diesem Stein ein seltsames Licht<br />

und erhellte den gesamten Pavillon, und direkt vor ihnen erklang eine tiefe Stimme.<br />

»Wer stört die Ruhe des Wächters des verbotenen Tores?«<br />

»Miau. Ich bin es, Racket«, hauchte der Kater sanft und ehrerbietig.<br />

»Ach, du bist es schon wieder. Du wirst es wohl nie aufgeben. Hast du das Rätsel<br />

gelöst?«<br />

»Nein«, antwortete Racket etwas verlegen. »Aber ich habe einen Freund mitgebracht, ein<br />

Mitglied der königlichen Familie, siehst du? Es ist Roy Rapperpotz.«<br />

»Hm. Ja. Ich sehe. Es ist wirklich Roy Rapperpotz. Er trägt die schwarze Strähne im<br />

goldenen Haar. Hm. Dennoch muss auch er das Rätsel lösen, um durch das Tor zu gelangen.«<br />

»Jaja«, erwiderte Racket eifrig. »Stell ihm die Frage. Er wird sie beantworten. Er wird es<br />

wissen. Ganz bestimmt.«<br />

»Also gut«, ertönte die Stimme, jetzt sogar noch tiefer als vorher. »Höre mir aufmerksam<br />

zu, mein junger Freund:


Es ist ein Ort, den alle Menschen kennen.<br />

Ob gut, ob böse, sie alle ihn ihr Eigen nennen.<br />

Es ist ein Ort, an dem sich jeder Wunsch erfüllt,<br />

ein Mantel, in den man sich des nächtens hüllt,<br />

dort wo Erwachs’ne wie die Kinder tollen,<br />

und nie mehr von dort gehen wollen.<br />

Ein Ort, an dem es keine Grenzen gibt,<br />

an dem nur eins, der eigne Wille siegt,<br />

zu dem man geht mit Freuden fort.<br />

Sag mir, was ist das für ein Ort?<br />

Kennst du die Antwort, Roy Rapperpotz? Sag sie schnell, und ich öffne dir mein Tor.«<br />

Roy dachte angestrengt nach. Ein Ort, den alle Menschen kennen? Ein Mantel, in den<br />

man sich nachts hüllt und wo sich jeder Wunsch erfüllt? Was könnte das nur sein?<br />

Ungeduldig störte ihn Racket beim Nachdenken. »Wisst Ihr es, Roy? Ihr wisst es doch,<br />

nicht wahr? Sagt es dem Wächter. Ihr müsst es doch wi …«<br />

Doch plötzlich erlosch das Licht des Wächters, und Racket sprang blitzartig aus dem<br />

Pavillon heraus, gerade noch rechtzeitig, bevor Direktor Finlox von der anderen Seite<br />

hereingepoltert kam.<br />

»Rapperpotz, Roy Rapperpotz. Was machst du hier? Du solltest dir doch deine Haare<br />

schneiden lassen, du Lümmel. Wo hast du den ganzen Tag gesteckt?«<br />

Er packte Roy am rechten Ohr und zerrte ihn aus dem Pavillon. »Ihr werdet es wohl nie<br />

lernen. Ihr solltet doch nicht hinter diese Hecke gehen. Habe ich euch das nicht tausendmal<br />

gesagt? He?«<br />

Finlox hielt Roy so fest am Ohr, dass der arme Junge vor Schmerz das Gesicht verzog,<br />

und zerrte ihn zurück ins Haus.<br />

»Wir werden morgen weiter darüber reden. Jetzt aber ab ins Bett! Los!«<br />

Im Waisenhaus angekommen, schubste er Roy in sein Zimmer, wo Greg schon<br />

hemmungslos schnarchte, und schloss sachte die Tür hinter ihm. Roy stieg leise in sein Bett.<br />

Immer wieder musste er an Racket und an diese geheimnisvolle Welt denken, von der ihm der<br />

Kater erzählte hatte. Und an das Rätsel, dessen Lösung ihnen das verbotene Tor zu dieser<br />

Welt öffnen sollte, zu einer Welt, die angeblich seine eigene war. Und plötzlich wusste Roy<br />

die Lösung des Rätsels. Todmüde, aber zufrieden und voller Erwartungen an den nächsten<br />

Tag schlief Roy unter seiner warmen und kuscheligen Decke ein.<br />

2. Roy und das Orakel Guckifix<br />

Am nächsten Morgen gab sich Roy weniger Mühe, seine Strähne glatt zu kämmen. Er<br />

wusste nun, dass es eine Ursache dafür gab, und er wusste nun auch, dass er ein Mitglied<br />

einer königlichen Familie war. Nun ja. Aber welcher königlichen Familie eigentlich, und was<br />

für ein Königreich sollte das sein? Voller Ungeduld wartete er den ganzen Tag darauf, dass<br />

Racket sich bei ihm melden würde, doch dieser ließ sich nicht blicken. Als ob gestern nichts<br />

geschehen wäre, verlief der Tag wie alle anderen. Selbst Direktor Finlox erwähnte mit keinem<br />

Wort den gestrigen Abend im Pavillon, auch Roys zerzauste Haare kümmerten ihn nicht. Roy<br />

wunderte sich sehr darüber, und langsam begann er schon daran zu zweifeln, den gestrigen<br />

Tag überhaupt erlebt zu haben.<br />

Doch als es zu dämmern begann und alle Kinder aus dem Garten ins Haus zurückkehrten,<br />

hörte er von der Seite ein leises Miauen, und er meinte zu hören, wie jemand seinen Namen<br />

rief. Erwartungsvoll blieb er stehen und drehte sich um. Außer ihm schien niemand diese


Stimme gehört zu haben, denn alle anderen Kinder liefen weiter und verschwanden bald im<br />

Haus. Roy stand ganz alleine im Garten.<br />

»Racket? Bist du das?«, fragte er vorsichtig ins Dunkel.<br />

Wie aus dem Nichts kam der Kater auf Roy zugesprungen. »Roy! Eure königliche<br />

Hoheit! Wir müssen uns beeilen.« Dann schaute er den Jungen mit großen Augen an. »Wisst<br />

Ihr die Lösung des Rätsels?«<br />

»Ja, ich denke schon.«<br />

»Jaja, bestimmt. Ihr werdet es schon wissen. Schließlich seid Ihr ein Mitglied der<br />

königlichen Familie. Ihr seid Roy Rapperpotz«, antwortete Racket, seiner Sache völlig sicher.<br />

»Was ist das für eine Familie?«, fragte Roy wissbegierig. »Sind es meine Eltern? Leben<br />

meine Eltern noch?«<br />

»Hm. Naja. Das ist so eine Sache«, antwortete Racket verlegen.<br />

Doch Roy wollte nun endlich mehr wissen. »Was ist das für ein Königreich? Du musst<br />

das doch wissen.«<br />

»Naja. Das ist so eine Sache. Ich weiß es nicht.«<br />

»Wie meinst du das, du weißt es nicht? Du weißt doch auch, dass ich ein Mitglied dieser<br />

königlichen Familie bin.«<br />

»Ja, das schon. Aber in dieser Welt hier ist alles anders. Ich weiß nur, was ich wissen<br />

muss, nicht mehr.«<br />

»Das verstehe ich nicht.«<br />

»Kommt mit durch das Tor und Ihr werdet alles verstehen.«<br />

Racket verschwand wieder hinter der Hecke, und Roy beeilte sich, ihm zu den Haselnuss-<br />

Sträuchern zu folgen. Im Pavillon legte der Kater wieder seine Pfote auf den Stein mit dem<br />

Kreuz und schaute Roy mit erwartungsvollen Augen an. »Seid Ihr bereit, Königliche<br />

Hoheit?«<br />

»Ja«, erwiderte Roy, fest entschlossen, durch das Tor in diese geheimnisvolle Welt zu<br />

gehen.<br />

Wie am Tag zuvor ertönte die tiefe Stimme des Wächters. »Wer stört die Ruhe des<br />

Wächters des verbotenen Tores?«<br />

»Wir sind es, Racket und Roy Rapperpotz.«<br />

»Ach, ihr seid es schon wieder«, antwortete der Wächter sichtlich verärgert, erneut in<br />

seiner Ruhe gestört zu sein. »Habt ihr das Rätsel gelöst?«<br />

»Ich denke schon«, erwiderte Roy, nun doch etwas unsicher.<br />

»Nun gut«, erhob der Wächter seine Stimme:<br />

»Nenn mir den Ort, zu dem die Menschen täglich ziehn.<br />

Nenn mir das Land, in das sie jede Nacht entfliehn,<br />

in dem sich jeder Wunsch erfüllt,<br />

in dem man sich mit Phantasie umhüllt.<br />

Es bringt in alle Kinderaugen Sand.<br />

Sag mir, was ist das für ein Land?«<br />

Mit fester Stimme antwortete Roy dem Wächter des verbotenen Tores: »Ich weiß,<br />

welches Land es ist. Es ist das Land der Träume.«<br />

»Potz Blitz!«, ertönte die Stimme des Wächters. »Ja, das ist es! Genau! Das Land der<br />

Träume.«<br />

Racket schaute mit großen Augen zum Wächter. »Wie? Ist es so einfach? Das Land der<br />

Träume? Das hätte ich auch gewusst.«<br />

»Ich habe nie gesagt, dass es schwierig ist. Doch nun hinweg mit euch. Ich habe noch<br />

andere Dinge zu tun. Aber denkt stets daran:<br />

Wer das Land der Träume hier betrat,


wird brauchen einst des Wächters Rat …«<br />

Die Stimme des Wächters wurde immer leiser, Roy konnte ihn kaum noch verstehen.<br />

Auch begannen die Fugen der Mauer vor ihnen allmählich zu verschwimmen.<br />

»… denk gut an des Rätsels Lösung hier,<br />

die stets in Not wird Hilfe bringen dir …«<br />

Dann hörte Roy nichts mehr. Die Mauer vor ihm verschwand, und wie durch einen<br />

Schleier hindurch sah er die Umrisse eines Weges, auf den Racket bereits gesprungen war.<br />

Schnell folgte er dem Kater in diese neue phantastische Welt, die er schon so oft in seinen<br />

Träumen gesehen, aber nie zuvor verstanden hatte.<br />

Kaum waren sie durch das Tor gegangen, da verwandelte sich Racket in einen Jungen,<br />

etwas kleiner noch als Roy, mit schwarzen Haaren und lustigen runden braunen Augen, die<br />

vor Freude strahlten, endlich wieder zu Hause zu sein. Er sprang lauthals singend in die Luft<br />

und ruderte mit seinen Armen, als ob er gleich abheben und in die Wolken fliegen wollte.<br />

Neugierig schaute sich Roy um. Sie standen auf einem steinernen Weg mit herrlich<br />

blühenden Ebereschen zu beiden Seiten. Die Luft duftete nach Frühling und Sonne. Weite<br />

Wiesen mit wunderschönen Blumen, die lustig in einer sanften Brise hin- und herschwankten<br />

und miteinander spielten, erstreckten sich bis zum Horizont.<br />

Racket ruderte noch immer mit den Armen, doch sprang er jetzt immer höher in die Luft,<br />

so, als ob er die kleinen tanzenden Wolken über ihm einfangen wollte. Roy konnte es kaum<br />

glauben – eine der Wolken kam tatsächlich zu ihm herunter, so dass Racket sie sogar<br />

berühren konnte. Sobald diese kleine Wolke seine Finger spürte, kam sie ganz zu ihm herab<br />

und begann sich zu strecken und zu recken und verformte sich schließlich in eine<br />

wunderschöne Kutsche, mit Rädern aus plauschigen Wolken und wohlig weich aussehenden<br />

breiten Sitzen. Diese Kutsche – nun ja, diese verwandelte Wolke in Gestalt einer Kutsche –<br />

schwebte vor ihnen auf dem Weg und wartete nur darauf, sie durch dieses Meer der Phantasie,<br />

durch diese wunderbare Traumwelt zu tragen. Es war ein wunderschöner Tag, und Roy<br />

konnte gar nicht genug von dieser neuen Welt sehen.<br />

Nur hinten, weit weg in der Ferne, war eine Wolke, die anders als all die anderen war, die<br />

dunkel und finster erschien, jedoch so weit weg war, dass keiner der beiden Jungen sie<br />

beachtete.<br />

Racket war noch immer völlig außer sich. »Roy, wir haben es geschafft! Wir sind wieder<br />

zu Hause. Jetzt wird alles gut.«<br />

»Wo sind wir hier?«, fragte Roy verwirrt. »Irgendwie kommt es mir bekannt vor. Doch<br />

ich kann mich nicht erinnern.«<br />

»Wie? Ihr wisst immer noch nicht, wo wir sind?«, fragte Racket erstaunt.<br />

»Nein.«<br />

»Wie kann das sein? Wir sind doch zu Hause. Roy, das ist unser Land, das ist Traumania.<br />

Erkennt Ihr es denn nicht?«<br />

Roy schüttelte traurig den Kopf. »Ich weiß es nicht mehr.«<br />

Racket fasste Roy am Ärmel und zog ihn zu der Kutsche. »Es ist noch schlimmer<br />

geworden als zuvor. Selbst jetzt erinnert Ihr Euch nicht. Wir müssen sofort zu Guckifix.«<br />

»Guckifix?«<br />

»Ja, Guckifix, unser Orakel. Den kennt Ihr auch nicht?«<br />

»Nein«, antwortete Roy traurig.<br />

»Aber den kennt doch jeder hier. Er ist unser Orakel. Ihr müsst ihn doch kennen!«<br />

Racket konnte nicht glauben, dass Roy alles vergessen haben sollte.<br />

»Tut mir Leid, Racket. Ich kenne ihn nicht.«<br />

Nachdenklich schüttelte Racket seinen Kopf. »Also gut. Kommt mit!«<br />

Er machte sich nun ernsthaft Sorgen. Roy hatte wirklich alles vergessen. Er konnte sich<br />

an nichts mehr erinnern. Schnell stiegen sie in die Kutsche, der Racket befahl, sie zu Guckifix<br />

zu bringen. Sie flogen den steinigen Weg entlang, vorbei an den zahlreichen Ebereschen, über


iesige wunderschöne Wiesen, mit Blumen, die Roy noch nie zuvor in seinem Leben gesehen<br />

hatte. Und die Blumen lächelten ihnen freundlich zu und tanzten in der Sonne, die ihre<br />

herrlichen Farben zum Leuchten brachte, und Roy meinte zu hören, wie sie tuschelten, wenn<br />

ihre Kutsche ab und zu in ihre Nähe kam.<br />

»Sieh nur, das ist Roy Rapperpotz. Siehst du diese schwarze Strähne?«<br />

»Ja, er ist es.«<br />

»Wirklich?«<br />

»Ja, er ist es wirklich.«<br />

»Ah. Roy Rapperpotz.«<br />

»Er wird den Regen besiegen.«<br />

»Meinst du? Ob er es schaffen wird?«<br />

»Ja, er wird es schaffen, ganz sicher.«<br />

Roy verstand nicht, was die Blumen meinten, noch nicht, und so sah er gebannt nach<br />

unten, als die Kutsche nun auf ein riesiges Meer hinausflog und vor ihnen plötzlich eine Insel<br />

auftauchte. Auf dieser Insel spie ein einsamer Drachen Feuer, obwohl weit und breit niemand<br />

zu sehen war.<br />

»Ah, da ist ja Dragon, unser guter alter Dragon«, rief Racket erfreut, den Drachen zu<br />

sehen. »Was ist denn mit ihm?«, fragte er dann mehr sich selbst als Roy. »Er ist ja ganz<br />

aufgeregt. Was hat er denn nur? Sonst ist er ganz friedlich, glaubt mir, Eure Königliche<br />

Hoheit.«<br />

Roy nickte, und sie flogen weiter über das Wasser, bis sie ein großes Segelschiff, einen<br />

Dreimaster, erblickten. Auf dem Bug stand ein Mann, der nachdenklich in die Ferne schaute.<br />

»Wer ist das?«, wollte Roy wissen.<br />

»Das ist Kolumbus«, antwortete ihm Racket bereitwillig.<br />

Obwohl sich Roy ganz genau an die Geschichtsstunden in St. Jones und auch an den<br />

Namen Christopher Kolumbus erinnern konnte, fi el ihm doch jetzt einfach nichts weiter dazu<br />

ein.<br />

»Wer ist Kolumbus?«, fragte er deshalb Racket.<br />

»Kolumbus ist ein Mann mit großen, wunderbaren Träumen. Er fährt über das weite<br />

Meer, um einen neuen Seeweg nach Indien zu finden. Nur die besten Schüler dürfen ihm<br />

seine Träume bringen.«<br />

Fasziniert blickte Roy dem Schiff und dem Mann hinterher, bis sie langsam am Horizont<br />

verschwanden. »Aber wie kommt er denn hierher, auf dieses Meer? Führt dieser Weg denn<br />

nach Indien?«, fragte er dann sehr verwundert.<br />

»Nein«, schmunzelte Racket. »Er träumt es nur. In der richtigen Welt dort draußen schläft<br />

er gerade, so dass er in unserer Welt träumen kann.«<br />

»Aha«, sagte Roy beeindruckt. »Dann ist das nur ein Traum.«<br />

Und schon flogen sie weiter über die Küste dieses riesigen Meeres ins Landesinnere, zu<br />

einem weiten Wald mit mächtigen Buchen und Eichen, und Roy konnte zwischen all diesen<br />

majestätischen Bäumen sogar einige besonders große Haselnuss-Sträucher erkennen, solche,<br />

wie er sie auch hinter der Hecke des Waisenhauses St. Jones gesehen hatte. Die Blätter der<br />

alten Buchen und Eichen waren eben noch grün, im nächsten Augenblick erstrahlten sie<br />

jedoch in den prächtigsten Farben des Herbstes, bis schließlich die Bäume alle ihre Blätter<br />

abwarfen, um wenige Augenblicke später erneut zu grünen.<br />

Roy beobachtete fasziniert, wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter sich in<br />

atemberaubender Weise binnen Sekunden ablösten, als durch die kahlen Bäume direkt vor<br />

ihnen plötzlich ein mächtiger Kopf emporragte und in die Ferne schaute.<br />

»<strong>Der</strong> Riese Arba!«, rief Racket bestürzt, und Roy konnte sich kaum noch festhalten, als<br />

die Kutsche auch schon in die Höhe schoss, um nicht mit dem Riesen zusammenzustoßen.<br />

Schnell erholten sich die Jungen aber wieder von dem Schreck und schwebten nun langsam<br />

über dem Kopf des Riesen Arba, so dass sie ihn aus sicherer Entfernung beobachten konnten.


»Da haben wir ja noch mal Glück gehabt, Eure Königliche Hoheit«, sagte Racket<br />

stöhnend. »<strong>Der</strong> Riese Arba ist ein ziemlich schrecklicher Geselle, wisst Ihr. Schaut nur diese<br />

Narbe auf seiner Wange, wie entsetzlich sie aussieht. Er hat uns Gott sei Dank nicht<br />

bemerkt«, fügte er erleichtert hinzu. »Wisst Ihr, er ist der größte Riese aller Anakiter.«<br />

In der Tat sah dieser Riese namens Arba sehr furchteinflößend und kriegerisch aus. Seine<br />

starken Arme schienen all die Bäume um ihn herum mit Leichtigkeit ausreißen zu können,<br />

und auf seinem kräftigen Hals saß ein riesenhafter Kopf mit zerzausten, tiefschwarzen Haaren<br />

und einem Mund, in dem Racket und Roy ganz sicher hineingepasst hätten. Wenn alle Riesen,<br />

die Racket Anakiter nannte, so aussahen, dann hatte Roy nicht die geringste Lust, auch nur<br />

einen von ihnen näher kennen zu lernen. Doch Arba war jetzt ganz und gar nicht böse. Er<br />

stand einfach nur so da, mit müden und traurigen Augen, und beachtete die Wolkenkutsche<br />

über sich eigentlich gar nicht.<br />

»Die anderen sind ja auch alle da!«, rief Racket bestürzt, nachdem die Kutsche langsam<br />

an dem Riesen Arba vorbeiflog. »Da sind ja auch Arbas Sohn Anak und all die anderen<br />

Riesen.«<br />

Nur mühsam konnte Roy seinen Blick von dem gewaltigen Arba losreißen und sah nun<br />

vor sich noch weitere riesenhafte Geschöpfe auf dem Waldboden sitzen, die wie Arba<br />

irgendwo ins Nichts starrten.<br />

»Normalerweise sitzen die Riesen nicht so ruhig und friedlich da«, grübelte Racket.<br />

»Normalerweise darf man ihnen kein Stück zu nahe kommen. Irgendetwas scheint nicht ganz<br />

in Ordnung zu sein mit diesen Anakiten. Hm … oh, mein Gott. Ich sehe es. Das gibt’s doch<br />

nicht. Jetzt hat es auch schon die Riesen erwischt.«<br />

»Was?«, fragte Roy sofort. »Was hat die Riesen erwischt?«<br />

»Oh mein Gott! Er ist es wirklich.«<br />

»Wer ist es?«, fragte Roy noch einmal ungeduldig.<br />

»<strong>Der</strong> schwarze Regen!«, rief Racket entsetzt. »Schaut nur. Ihre Kleider sind ganz<br />

schwarz, und auch die Haare sind wie mit Pech beschmiert.«<br />

»<strong>Der</strong> schwarze Regen? Was für ein schwarzer Regen?«, fragte Roy aufgeregt und<br />

betrachtete die Riesen noch genauer. Und tatsächlich. All ihre Körperteile waren mit einer<br />

eigenartigen schwarzen Masse benetzt. An einigen Stellen hatte dieser schwarze Regen sogar<br />

tiefe Löcher eingebrannt, und auch die Haare der Riesen waren völlig durch ihn verklebt.<br />

»Was ist das für ein Regen?«, fragte Roy entsetzt.<br />

Racket blickte ihm nun direkt in die Augen. »Er ist schrecklich, Eure Hoheit. Er kommt<br />

blitzschnell und bringt nur Unheil. Und nachdem er ebenso schnell wieder verschwunden ist,<br />

bleibt nur noch Chaos, nichts Gutes lässt er übrig.«<br />

Traurig schaute Racket wieder aus der Kutsche zu den Riesen hinunter und schüttelte<br />

nachdenklich den Kopf, so dass er Roys nächste Worte gar nicht richtig wahrnahm.<br />

»Was meint Ihr?«, fragte er deshalb nach.<br />

»Woher kommt denn dieser Regen, Racket? Bist du ihm schon einmal begegnet?«,<br />

wiederholte Roy seine Frage.<br />

»Ehhh«, begann Racket zu stottern. »Eigentlich nicht so richtig. Ich habe nur meine<br />

Eltern davon reden hören. Er war auch nicht so häufig bisher, wisst Ihr. Er ist erst vor ein paar<br />

Jahren ganz am Rande unseres Landes erschienen. Aber jetzt scheint er ja überall zu sein. Ich<br />

verstehe das nicht.« Wieder schüttelte er seinen Kopf und schaute nach unten.<br />

»Weißt du denn, woher dieser Regen kommt?«, fragte Roy weiter.<br />

»Eh. Nein. Niemand weiß es. Vielleicht weiß es ja unser Orakel Guuu …«<br />

Doch noch bevor Racket zu Ende reden konnte, flog die Kutsche mitten auf einen Berg<br />

zu, und Roy und Racket fingen vor Schreck sofort an laut zu schreien. Jeder von ihnen<br />

glaubte bereits an der Felsenwand zu zerschellen, als sich im letzten Moment der Fels öffnete<br />

und ein langer Tunnel sichtbar wurde. Sobald sie in ihn hineinflogen, wurde es stockfinster,<br />

und Roy spürte die Kälte des Felsens um sich herum. Er konnte nichts mehr sehen. Die beiden


asten durch den Felsen und schrien dabei immer noch lauthals ins Dunkle. Genauso plötzlich<br />

erschien jedoch ein gleißendes Licht am Ende des Tunnels, und die Kutsche schoss wieder<br />

aus dem Berg heraus, mitten auf eine Lichtung. Dort, zwischen all den Gipfeln, war es ruhig<br />

und friedlich. Die Kutsche hielt auf einem Weg, der zu einem seltsamen Gebilde führte, und<br />

begann sich wieder in lauter kleine Wölkchen aufzulösen. Roy und Racket mussten schnell<br />

hinausspringen, um nicht auf den Hosenboden zu fallen.<br />

Racket schien nun genau zu wissen, wo es hinging und lief munter den Weg entlang.<br />

»Kommt schon, Roy! Wir müssen dort hinauf.«<br />

Roy folgte ihm schnell, und zusammen gingen sie mit vielen kleinen Wolken zwischen<br />

ihren Füßen zu jenem eigenartigen Gebilde, das, je näher sie kamen, einer riesigen Uhr immer<br />

ähnlicher wurde. Doch konnte Roy keine Zeit ablesen, denn seltsamerweise war nirgendwo<br />

ein Zeiger zu entdecken.<br />

»Was ist das für eine seltsame Uhr, an der man keine Zeit ablesen kann?«, fragte er<br />

deshalb Racket.<br />

»Das ist die Uhr des Guckifix«, lautete die Antwort. »Die einzige Uhr im ganzen Land<br />

der Träume. Sie zeigt keine Zeit an, weil für jeden in seinen Träumen die Zeit anders verläuft.<br />

Für den einen schneller, für den anderen langsamer. Hattet Ihr noch nie dieses Gefühl beim<br />

Träumen?«<br />

»Doch, irgendwie schon«, musste Roy zugeben. »Aber wozu nützt eine Uhr, wenn man<br />

keine Zeit darauf ablesen kann?«<br />

»Nur Guckifix kann an dieser Uhr die Zeit lesen. Er ist unser Orakel. Nur er kann es«,<br />

antwortete Racket ernst.<br />

Sie waren schon fast an der großen Uhr angekommen, als plötzlich eine leise, quiekende<br />

Stimme ertönte. »Au! Du Tollpatsch! Pass doch auf, wo du hintrittst!«<br />

Roy sprang erschrocken zur Seite.<br />

»Könnt ihr denn nicht aufpassen, wo ihr langgeht mit euren großen Latschen!«<br />

Es war eine dieser kleinen Wolken, durch die Roy nichts ahnend hindurchgetreten war, so<br />

wie vorher auch durch all die anderen, in die sich ihre Kutsche aufgelöst hatte. Aber dieses<br />

kleine Wölkchen hier war anders.<br />

»Entschuldige bitte, ich wusste nicht, dass ich dir wehtue«, bat Roy um Verzeihung.<br />

»Papperlapapp, Entschuldigung«, entrüstete sich das Wölkchen. »Ist das vielleicht eine<br />

Art, durchs Leben zu gehen? Mach doch deine Augen auf! Was wollt ihr eigentlich hier?«<br />

»Wir suchen Guckifix. Weißt du, wo er ist?«<br />

»Was wollt ihr denn von ihm? Ihr Dreikäsehochs.«<br />

»Das geht dich gar nichts an«, antwortete Racket dem seltsamen Wölkchen nun auch<br />

frech.<br />

»Oh, ihr wollt mir nicht sagen, was ihr von ihm wollt? Bitte sehr. Ihr Geheimniskrämer.<br />

Dann könnt ihr lange suchen. Von mir jedenfalls werdet ihr nichts erfahren.«<br />

Aus dem Inneren der Uhr ertönte eine freundliche, jedoch auch strenge Stimme.<br />

»Schluss jetzt, Schössel. Lass die Jungen rein.«<br />

Widerwillig öffnete das Wölkchen mit dem Namen Schössel die Tür zur Uhr und<br />

babbelte dabei missgelaunt vor sich hin.<br />

»Diese Lümmel wollen mir nicht sagen, was sie wollen. Diese Dreikäsehochs. Denen<br />

werde ich’s noch zeigen.«<br />

Als Roy die Uhr betrat, wurde der Innenraum größer und größer, und bald standen sie in<br />

einem gemütlichen und geräumigen Zimmer. Von jeder Seite kamen Geräusche tickender<br />

Instrumente und sich drehender Zahnräder. Ganz hinten in dem Zimmer stand eine große<br />

Waage, an der ein alter schlanker Mann eifrig bemüht war, glitzernde Sterne von einer Schale<br />

auf die andere zu schütten. Er stand mit dem Rücken zu den beiden Jungs, und dennoch<br />

konnten sie seinen langen weißen Bart sehen, der fast bis zum Boden reichte.


»Komm herein, Roy Rapperpotz«, befahl er, ohne sich dabei umzudrehen. »Ich habe<br />

schon auf dich gewartet. Morella sagte mir, dass du bald kommen würdest.«<br />

»Sie kennen Morella?«, fragte Roy erstaunt.<br />

»Oh ja, natürlich kenne ich sie. Und du wirst sie auch bald wieder sehen. Aber setz dich<br />

doch. Dein Freund Racket soll sich auch hinsetzen. Ich komme gleich zu euch.«<br />

Racket und Roy setzten sich auf eine Bank, doch Racket blieb nicht ruhig sitzen, sondern<br />

rutschte verlegen hin und her. Schließlich konnte er nicht länger an sich halten.<br />

»Meister Guckifix, ich habe Roy Rapperpotz hierher geholt, zurück nach Traumania, so<br />

wie Ihr es mir aufgetragen habt. Aber wir haben ein Problem. Er kann sich an nichts<br />

erinnern.«<br />

Ohne von seiner Arbeit abzulassen, beruhigte ihn Guckifix wieder.<br />

»Ich weiß, mein junger Freund. Es ist nicht deine Schuld, dass er sich an nichts erinnern<br />

kann. Es ist dieser Regen.«<br />

Guckifix hatte nun wohl genug Sterne auf die Waage gelegt, denn sie bewegte sich nicht<br />

mehr. Zufrieden drehte er sich zu den beiden Jungen um und kniete vor Roy nieder.<br />

»Weißt du, wer du bist?«, fragte er mit sanfter Stimme.<br />

Roy antwortete traurig. »Nein. Ich wohne im Waisenhaus St. Jones, weil meine Eltern tot<br />

sind. Ich weiß nicht, wer sie waren. Ich weiß nicht, wer ich bin.«<br />

»Weißt du, wo du bist?«, fragte Guckifix weiter.<br />

»Im Land der Träume?«, meinte Roy vorsichtig.<br />

»Ja, im großen Land der Träume, in Traumania«, erwiderte Guckifix. »In unserem Land,<br />

das viele Königreiche und unzählige Landteile besitzt. Und eines davon, ein ganz besonderes<br />

Königreich, ist dein Zuhause, ist das Königreich der Familie Rapperpotz, deiner Familie.«<br />

»Aber warum weiß ich dann nichts davon? Nichts von meiner Familie, nichts von meinen<br />

Eltern«, fragte Roy sehr aufgeregt.<br />

»Es begann vor einiger Zeit, mein Junge. Im Grunde ist es noch gar nicht so lange her, da<br />

kam ein fürchterlicher schwarzer Regen über die Grenzen unseres Landes. Seit jener Zeit<br />

zerstört er die Träume, die wir den Menschen schicken. Niemand weiß, woher er kommt, und<br />

niemand weiß warum.«<br />

Guckifix sah Roy mit ernsten Augen an.<br />

»Auch dein Vater schickte seine besten Männer gegen diesen Regen, doch alle, die ihn<br />

erreichten, vergaßen, was sie tun sollten, vergaßen alles um sich herum und vergaßen<br />

schließlich sogar sich selbst. <strong>Der</strong> Regen kommt blitzschnell und geht auch genauso schnell<br />

wieder. Eines Tages kam dieser schreckliche Regen auch in dein Königreich, in das<br />

Königreich Rapperpotz. Er kam über die Mauern in den königlichen Garten, und du, mein<br />

Junge, bist hineingeraten, und alle deine Erinnerungen begannen zu schwinden. Fast wärst du<br />

verloren gewesen wie all die anderen. Weißt du Roy …«<br />

Guckifix berührte sanft das Haar des Jungen.<br />

»… diese Strähne in deinem Haar hast du seit jenem Tag. <strong>Der</strong> Regen hat die Farbe und<br />

alle Erinnerungen herausgewaschen. Doch deine Eltern haben dich gefunden, bevor es zu spät<br />

war und brachten dich in jene Welt dort draußen. Sie wollten dich vor dem schwarzen Regen<br />

verstecken, bis die Zeit gekommen ist, sich ihm entgegenzustellen. Und diese Zeit ist jetzt<br />

gekommen, mein Junge.«<br />

»Wo sind meine Eltern jetzt? Leben sie noch?«, fragte Roy, begierig, mehr über seine<br />

Familie zu erfahren.<br />

Guckifix nickte mit seinem weißen Haupt. »Ja, sie leben.«<br />

Roys Augen begannen zu strahlen vor Glück. »Wo sind sie?«, fragte er begierig nach.<br />

»Sie sind noch immer in der anderen Welt. Doch je länger sie weg sind aus unserem<br />

Land, umso mehr vergessen sie, und umso leichter hat es der Regen, alle verbleibenden<br />

Erinnerungen zu verwischen. Du musst dich beeilen, um sie zu retten.«<br />

»Aber wie soll ich das tun?«


»Du musst den heiligen Somnel finden. Nur dann kannst du den Regen besiegen. Nur<br />

dann kannst du deine Eltern retten.«<br />

»Was ist denn der heilige Somnel?«<br />

Roy hatte noch nie etwas davon gehört und Racket anscheinend auch nicht, denn er<br />

zuckte nur mit den Schultern, als Roy ihn anschaute. Gespannt hörten sie Guckifix weiter zu.<br />

»<strong>Der</strong> heilige Somnel ist der glitzerndste und schillerndste Traum, den es in unserem Land<br />

gibt. Er ist es, wonach sich alle Menschen sehnen. Seine Macht kann alles und jeden<br />

besiegen.«<br />

»Aber wo finde ich denn diesen Somnel?«, fragte Roy aufgeregt.<br />

»Ich weiß es nicht, mein Junge. Satolex ist der Hüter des heiligen Somnel. Zu ihm musst<br />

du in deinen Träumen finden, ihn wirst du sehen, wenn dein Herz rein ist und dein Geist klar,<br />

wenn du den Menschen ihre Träume wieder zurückbringen kannst. Nur so wirst du Satolex<br />

und den heiligen Somnel finden.«<br />

»Aber wie soll ich den Menschen ihre Träume zurückbringen? Ich weiß nicht, wie das<br />

geht.«<br />

Guckifix schüttelte nachdenklich sein weißes Haupt. »Dann musst du es lernen. Und du<br />

musst dich beeilen, Roy.«<br />

»Aber wie soll ich es lernen und wo? Ich verstehe doch nichts davon.«<br />

»Es gibt noch eine einzige Schule. Nur sie wurde verschont. Bis zu ihr konnte der<br />

schwarze Regen noch nicht vordringen. Es ist eine ganz besondere Schule. Es ist die Schule<br />

Rapperpotz.«<br />

»Aber das ist ja …«, fi el Roy dem Alten ins Wort.<br />

»Ja, Roy. Du trägst den gleichen Namen wie diese Schule. Dort musst du hin und lernen.<br />

Du musst dich beeilen. Du hast nicht mehr viel Zeit.«<br />

»Wie soll ich dorthin finden? Ich weiß doch nicht, wo diese Schule ist.«<br />

»Schössel wird euch begleiten. Sie wird euch zeigen, wo sie ist, und sie wird euch helfen,<br />

den Somnel zu finden.«<br />

»Was, ich? Wieso ich?«, empörte sich Schössel von der Seite. »Wieso muss ich denn mit,<br />

mit diesen zwei halben Portionen?«<br />

»Sie werden deine Hilfe brauchen, Schössel. Also benimm dich.«<br />

»Die werden es doch nie schaffen. Ich will nicht mit. Ich will lieber hier bleiben.«<br />

»Du gehst mit. Keine Widerrede.« Guckifix wandte sich an Roy und Racket. »Jetzt legt<br />

euch hin und schlaft. Ihr habt morgen einen weiten Weg vor euch.«<br />

Widerwillig flog Schössel hinter eines der großen Zahnräder und schloss die Augen.<br />

»Immer muss ich den Karren aus dem Dreck ziehen. Warum nur immer ich?«<br />

Doch Roy hörte sie schon gar nicht mehr. Zu aufregend war dieser Tag, und zu müde war<br />

er jetzt. Doch nun hatte er endlich etwas über seine Eltern und über sich selbst erfahren. Und<br />

voller Erwartungen an den nächsten Tag schlief Roy neben Racket in dem großen Himmelbett<br />

ein, das Guckifix auf dem Boden der Uhr für sie aufgestellt hatte.<br />

3. Roy und der Traum des Spartakus<br />

Roy musste plötzlich niesen. Irgendetwas stieg ihm in die Nase.<br />

»Hatschi!«, nieste er. »Hatschi! Hatschi!«<br />

Doch Schössel gab nicht auf. Sie schwebte über seinem Gesicht und kitzelte dabei<br />

unaufhörlich seine Nase.<br />

»Los, los! Raus aus den Federn, ihr Schlafmützen. Die Sonne steht schon weit oben am<br />

Himmel.«<br />

Racket drehte sich noch einmal um und gab nur undeutliche Wortfetzen von sich.<br />

»Hm? Aufstehen? Mitten in der Nacht? Noch eine halbe Stunde.«


Mit diesen Worten vergrub er sich wieder unter seiner Decke. Doch er hatte nicht mit<br />

Schössels Hartnäckigkeit gerechnet. Sie schwebte über den beiden und presste sich so fest<br />

zusammen, dass sich eine ordentliche Portion Wasser auf die Jungen entleerte. Völlig<br />

durchnässt sprangen die beiden erschrocken aus ihren Betten.<br />

»Was soll das, Schössel? Wir kommen doch schon!«<br />

»Wir müssen uns beeilen«, erwiderte die Wolke missgelaunt. »Wir haben einen weiten<br />

Weg vor uns. Also los, ihr Langschläfer. Meister Guckifix ist schon in den Bergen, um neue<br />

Sterne einzusammeln, und ihr verschlaft den ganzen Tag.«<br />

Schnell aßen die beiden Jungen etwas Obst, das für sie auf dem Tisch lag, sprangen dann<br />

eilig auf und folgten Schössel nach draußen, wo bereits ihre wundersame Kutsche zur Abfahrt<br />

bereitstand. Als sie eingestiegen waren, erhob sich die Kutsche und flog dem fernen Ziel<br />

entgegen, das eigenartigerweise den selben Namen trug wie Roy.<br />

So viel hatte Roy in den letzten beiden Tagen erlebt, das Tor im Garten des Waisenhauses<br />

St. Jones, welches ihm nun schon so weit weg vorkam, diese wunderbare Welt hier mit<br />

Riesen in seltsamen Wäldern, mit Drachen und kleinen Wölkchen, die sprechen konnten,<br />

einem Orakel namens Guckifix, der die Zeit an einer Uhr ohne Zeiger ablas und der ihm von<br />

seinen Eltern erzählte und von einem heiligen Somnel, den er finden sollte, um seine Welt zu<br />

retten, von der er bis vor ein paar Tagen noch nicht einmal wusste, dass sie existiert. So viel<br />

Neues hatte er erlebt, dass ihn nun gar nichts mehr zu überraschen schien, nicht einmal die<br />

Heerscharen von Soldaten in römischen Gewändern, die plötzlich unter ihnen auftauchten. So<br />

weit das Auge reichte, standen sie in Haufen zum Kampf bereit. Es waren bestimmt weit über<br />

hunderttausend Mann.<br />

Ihnen gegenüber sah Roy viele zerlumpte Gestalten mit zersprengten eisernen Fesseln an<br />

ihren Händen und Füßen. Geschunden sahen sie aus mit ihren in Fetzen gehüllten Körpern.<br />

Und obwohl einige wenige auch recht gut gekleidet waren, so sah Roy in allen Gesichtern das<br />

Leid und den Schmerz der Gefangenschaft. Aber er sah auch Stolz in ihnen und<br />

Entschlossenheit, für ihre Freiheit und Würde zu kämpfen und auch für sie zu sterben. Vor<br />

dieser zerlumpten Menge stand ein Mann, nicht größer oder kräftiger, aber doch noch stolzer<br />

und noch entschlossener als all die anderen. Als sich die Kutsche den zerlumpten Menschen<br />

näherte, verstand Roy den Namen, den die Männer ununterbrochen riefen.<br />

»Spartakus, Spartakus!« Es hallte weit über das Land. »Spartakus, Spartakus!«<br />

Die römischen Soldaten schienen bei diesem Namen zu erzittern, denn sie sahen nun<br />

klein und erbärmlich aus, und Angst stand ihnen ins Gesicht geschrieben, als sich die Menge<br />

vor ihnen in Bewegung setzte.<br />

Roy sah, wie von Spartakus ein Licht ausging. Ein seltsames und wunderbar leuchtendes<br />

Licht, so wie das Leuchten der Sterne auf der Waage des Guckifix. Es erstreckte sich weit<br />

über das gesamte Feld und tauchte alles um sich herum in ein gleißendes Feuer. Und dann –<br />

wie von einem Blitz getroffen – leuchtete Spartakus noch heller und noch intensiver. Er<br />

strahlte weit über das Feld. Und – ja, tatsächlich – da kam noch ein Blitz von weit oben auf<br />

ihn herabgeschossen. Direkt aus dem Himmel, wie Roy zunächst glaubte. Doch als er<br />

hinaufblickte und die Augen fest zusammenkniff, sah er dort einen Jungen durch die Luft<br />

schweben, der immer näher kam und unheimlich schnell zwischen all den Menschen<br />

umherflog. Dabei schoss eben dieser Junge mit einem seltsamen Gerät diese Blitze ab. Es war<br />

eine Art Kugel, die im Licht der Sonne funkelte. Doch so genau konnte Roy es gar nicht<br />

sehen, denn der Junge trug einen silbernen Mantel, welcher ihn fast vollständig verhüllte und<br />

aus dem Staub wie Sterne auf alle die Menschen herabrieselte.<br />

Aufgeregt schaute Roy diesem Treiben zu. So etwas hatte er noch nie zuvor gesehen.<br />

Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er so etwas Eigenartiges erlebt. Was tat dieser Junge<br />

dort nur, inmitten dieser vielen Menschen? Niemand schien ihn zu bemerken, niemand schien<br />

ihn wahrzunehmen. Er flog durch sie hindurch, verstreute seinen Zaubersand und feuerte<br />

seine Blitze ab, die jedoch nur Spartakus trafen. Doch irgendwie schien etwas nicht zu


stimmen, denn Roy sah, wie die Soldaten und Sklaven noch wütender und zorniger wurden<br />

und wild aufeinander losstürmten.<br />

»Was ist dort los?«, rief Roy aufgeregt.<br />

Ohne die Augen von dem Spektakel zu lassen, antwortete Racket: »Das ist Spartakus, der<br />

Führer der Sklaven. Er führt sie gegen die römischen Legionen.«<br />

»Jaja, ich kenne Spartakus aus der Schule«, erwiderte Roy schnell. »Er kämpft für die<br />

Freiheit, für die Freiheit der Sklaven. Aber wer ist dieser Junge, der zwischen ihnen<br />

herumfliegt und diese Blitze abfeuert?«<br />

»Ich weiß nicht, wer das ist, aber es muss jemand aus der Schule sein. So wie der durch<br />

die Luft fliegt, das lernt man nur in einer Schule«, sagte Racket und wurde dann sehr<br />

nachdenklich. »Hm! Soviel ich weiß, darf normalerweise kein Schüler in diesem Landesteil<br />

ohne die Erlaubnis der Lehrer träumeln.«<br />

»Träumeln?«<br />

Roy riss neugierig die Augen auf, da er dieses Wort noch nie gehört hatte.<br />

»Ja, träumeln. Ihr wisst nicht, was träumeln ist?«, fragte Racket verwundert.<br />

»Nein.«<br />

»Oh, entschuldigt bitte. Ich habe vergessen, dass Ihr Euch noch nicht erinnern könnt. So<br />

nennen wir es, den Menschen ihre Träume zu bringen.«<br />

»So werden den Menschen ihre Träume gebracht?« Roy war sehr beeindruckt.<br />

»Nun ja. Irgendwie schon«, antwortete Racket unsicher.<br />

Roy merkte, dass sein Begleiter sehr nervös wurde.<br />

»Ich weiß auch nicht genau. Ehrlich gesagt habe ich so etwas auch noch nie gesehen.«<br />

Racket hatte schon oft versucht, in eine der einst so zahlreichen Schulen Traumanias<br />

aufgenommen zu werden. Liebend gern würde er das Träumeln lernen. Liebend gern würde er<br />

mehr über sein eigenes Land Traumania mit all seinen Geheimnissen und Rätseln erfahren.<br />

Doch bisher hatte er nie die Aufnahmeprüfungen bestanden. So sehr er sich auch bemühte, so<br />

sehr er sich auch endlich zu träumeln wünschte – in jeder Schule war er durchgefallen. Immer<br />

wieder musste er erfolglos nach Hause zurückkehren, ohne seinem großen Ziel auch nur ein<br />

kleines Stückchen näher gekommen zu sein. Und da die Aufnahmeprüfung in der Schule<br />

Rapperpotz besonders schwierig war und nur die Besten der Besten dort das Träumeln lernen<br />

durften, war es ihm nie in den Sinn gekommen, sich in dieser geheimnisvollen Schule zu<br />

bewerben. Doch nun, nun war alles ganz anders. Nun hatte er die Gelegenheit bekommen, mit<br />

Roy Rapperpotz, dem berühmten Roy Rapperpotz, diese Schule zu besuchen, und er freute<br />

sich riesig darauf. Auch wenn er jetzt schon wieder Angst vor dieser ganz besonderen<br />

Aufnahmeprüfung in Rapperpotz spürte, so wusste er doch, diesmal hatte er eine gute Chance.<br />

Diesmal hatte er den besten <strong>Träumler</strong> an seiner Seite. Diesmal würde alles ganz anders<br />

werden. Und dieses Selbstvertrauen verleitete ihn nun dazu, so zu tun, als ob er bereits ein<br />

Experte im Träumeln wäre, was Roy natürlich sofort durchschaute. Doch es störte ihn nicht<br />

weiter, und Racket dachte nun auch nicht mehr an die Aufnahmeprüfung, sondern schaute<br />

dem Treiben vor ihnen zu.<br />

Spartakus stürmte mit seinen Sklaven auf die Römer zu, und das Licht, welches immer<br />

intensiver von ihm ausstrahlte, verwandelte das gesamte Schlachtfeld in ein riesiges<br />

Feuermeer. Schössel hatte sich ganz klein gemacht und war hinter Roys Rücken<br />

verschwunden. Von dort schaute sie vorsichtig mit einem Auge hervor.<br />

»Irgendetwas stimmt hier nicht«, flüsterte sie leise.<br />

»Wie meinst du das, Schössel?«<br />

»So wird nicht geträumelt.«<br />

Roy sah Racket fragend an, doch der zuckte nur mit den Schultern. Dann fragte Roy<br />

wieder Schössel hinter sich.<br />

»Woher weißt du das?«<br />

»Ich weiß es eben.«


Und obwohl Roy noch keine Ahnung vom Träumeln hatte, so fühlte er doch, dass hier<br />

tatsächlich irgendetwas nicht stimmte. Er konnte es nicht beschreiben. Etwas in seinem<br />

Inneren, etwas, das er noch nicht verstand, gab ihm dieses Gefühl. Roy sah, wie Spartakus mit<br />

jedem Blitz, den er erhielt, sein Gesicht seltsam verzog und wütend und voller Hass nach vorn<br />

stürmte.<br />

Kurz entschlossen steuerte Roy die Kutsche zwischen den seltsamen Jungen und<br />

Spartakus und fi ng mit ihr den nächsten Blitz ab. Nichts passierte. Die Kutsche vibrierte kurz<br />

und wurde dann wieder ruhig. Schössel hatte sich nun ganz hinter Roys Rücken versteckt.<br />

Noch einmal schoss der Junge einen Blitz von sehr weit oben ab. Doch auch dieser verpuffte<br />

in der Wolkenkutsche und erreichte Spartakus nicht mehr.<br />

<strong>Der</strong> Junge mit dem silbernen Mantel kam nun selber wie ein Blitz vom Himmel<br />

geschossen und stoppte scharf vor der Kutsche. Racket fi el vor Schreck nach hinten. Roy<br />

stand fest und spürte, wie der Wind ihm scharf ins Gesicht wehte. Er stand fest und hatte<br />

keine Angst, auch wenn der Junge ihn mit stechenden und bösen Augen ansah.<br />

»Was fällt dir ein, mein Träumeln zu stören?«, brüllte er dann los.<br />

»Es ist nicht richtig, was du da machst«, antwortete Roy mutig.<br />

»Wer bist du, dass du mir sagst, was richtig ist?«<br />

»Ich weiß zwar nicht, was du da machst, aber ich spüre, dass es falsch ist. Wozu lässt du<br />

diese Menschen so wütend gegeneinander kämpfen?«<br />

»Es ist ihre Bestimmung, zu kämpfen«, antwortete der Junge grimmig und fügte scharf<br />

hinzu. »Ich frage dich noch einmal. Wer bist du, dass du unsere Regeln brichst und mich beim<br />

Träumeln störst?«<br />

Mit diesen Worten holte er aus und wollte schon einen fürchterlichen Blitz aus seiner<br />

Kugel abfeuern. Doch als er Schössel vorsichtig hinter Roys Rücken hervorschauen sah,<br />

beherrschte er sich, auch wenn es ihm sehr schwer fiel.<br />

»Du hast Glück, du Wicht, dass Guckifix’ Schoßhündchen bei dir ist, sonst würde ich dir<br />

zeigen, was es heißt, mein Träumeln zu stören. Sieh zu, dass sich unsere Wege nicht noch<br />

einmal kreuzen.«<br />

Er schwang sich in die Lüfte und verschwand in Richtung Berge.<br />

Racket hatte sich wieder aufgerappelt und stand nun neben Roy. »Was war das denn?«<br />

»Ich weiß nicht. Er ist verschwunden.«<br />

»Was hat er gesagt?«<br />

»Er war sauer, weil ich ihn beim Träumeln gestört habe, und er meinte, ich hätte eine<br />

wichtige Regel gebrochen.«<br />

»Ja, ich glaube, das stimmt. Ich habe davon gehört. Man darf sich nie in das Träumeln<br />

eines anderen einmischen. Man kann einem Menschen andere Träume schicken, aber man<br />

darf sich nie bei einem anderen <strong>Träumler</strong> einmischen.«<br />

»Aber sein Träumeln war falsch! Hast du nicht gesehen, wie wütend die Menschen<br />

waren?«<br />

»Ja, habe ich. Aber aus irgendeinem Grunde darf man es nun mal nicht. Wenn Ihr aber<br />

selber träumeln könntet, dann hättet Ihr Spartakus einen anderen Traum bringen können.«<br />

»Wir müssen das Träumeln lernen, Racket. Unbedingt.«<br />

»Ja, wenn wir eines Tages ankommen würden. Aber ich fürchte fast, Schössel kennt den<br />

Weg auch nicht.«<br />

Schössel, nun wieder mutig, hörte diese Bemerkung natürlich und empörte sich sofort.<br />

»Ihr werdet noch früh genug ankommen, ihr Dreikäsehochs. Dann werdet ihr zeigen<br />

können, was für Kerle ihr seid.«<br />

Sie schwebte beleidigt nach ganz vorn, und die Kutsche setzte sich wieder in Bewegung.<br />

Auf dem Feld unter ihnen war es friedlich und ruhig. Ganz plötzlich waren alle römischen<br />

Soldaten und auch Spartakus’ Männer verschwunden. Nur eine saftige grüne Wiese war zu<br />

sehen, so als ob soeben nichts geschehen wäre. Roy ahnte: Spartakus war aufgewacht. Racket


nickte ihm bedeutungsvoll zu und lächelte ihn freundlich an. Irgendwie kam Roy dieses<br />

Lächeln sehr vertraut vor, und so reichte er Racket die Hand.<br />

»Lass von jetzt an dieses ›Euch‹ und ›Ihr‹, wir wollen ›du‹ zueinander sagen.«<br />

Mit strahlenden Augen nahm Racket dieses Angebot an.<br />

Die Kutsche flog nun weiter einem fernen Ziel entgegen, über endlose Wiesen, über<br />

Stock und Stein, über Wälder und über schier uferlose Meere. Sie waren so lange unterwegs,<br />

dass Roy nun auch zu zweifeln begann, ob Schössel wirklich den richtigen Weg kannte. Aber<br />

als sie wieder eine dieser wunderschönen Wiesen überflogen, schrie Schössel plötzlich auf.<br />

»Dort ist er! Dort unten!«<br />

Roy schaute hinunter und sah nichts außergewöhnliches, nun ja zumindest kein<br />

besonderes Gebäude oder etwas in der Art, welches die Schule Rapperpotz sein könnte. Auf<br />

der saftigen grünen Wiese graste friedlich ein prächtiger Schimmel. Dieser Schimmel war<br />

allerdings doch außergewöhnlich. In seinem ganzen Leben hatte Roy noch nie ein so schönes<br />

Pferd gesehen. Sein wunderschönes weißes Fell glänzte in der Sonne, und seine Mähne schien<br />

majestätisch bis in den Himmel zu wehen. Stolz trabte der Schimmel über das Gras und blieb<br />

stehen, als er die Kutsche bemerkte. Roy und Racket sprangen heraus und folgten Schössel,<br />

die bereits aufgeregt vor dem Schimmel schwebte und mit ihm redete.<br />

»Ehrwürdiger Tarkan! Endlich haben wir Euch gefunden.«<br />

»Ich grüße auch dich, seltsam anmutendes Wölkchen. Was ist dein Begehren?«<br />

»Meister Guckifix schickt mich, um Euch diese beiden Schüler zu bringen.«<br />

»Sind sie es würdig, die Schule Rapperpotz zu besuchen?«<br />

»Es sind Roy Rapperpotz und sein Freund Racket, die Einlass erbitten.«<br />

Tarkan musterte einen Augenblick die beiden Jungen, dann verschränkte er seine<br />

Vorderbeine und öffnete seinen Mund, der seltsamerweise immer größer und größer wurde,<br />

bis bequem ein Mensch hindurchgehen konnte. Schössel schwebte sogleich hinein, die beiden<br />

Jungs aber standen noch staunend vor Tarkan und konnten sich gar nicht rühren.<br />

»Kommt schon, ihr Schlafmützen. Tarkan kann nicht ewig seinen Mund aufhalten.«<br />

Roy tat ungläubig einen Schritt auf den Schimmel zu. Er sah in seine feurigen<br />

Pferdeaugen, die ihm freundlich zuzwinkerten. Dann fasste er all seinen Mut zusammen und<br />

sprang hinein. Racket folgte ihm zögernd. Sobald sie in Tarkan verschwunden waren, schloss<br />

dieser seinen Mund wieder, und das Tor hinter ihnen verschwand. Sie befanden sich im<br />

Inneren eines Pferdes, doch es war nicht dunkel. Ein sanftes, weiches Licht umgab sie. Aber<br />

sonst konnte Roy nichts weiter sehen. Schössel war schon in der Ferne verschwunden, so dass<br />

Roy sie kaum noch hörte.<br />

»Kommt schon und trödelt nicht so. Wir müssen weiter.«<br />

»Aber wohin?«, schrie Roy in die Leere.<br />

»Was denn? Du weißt immer noch nicht, wohin?«<br />

»Ich kann nichts sehen.«<br />

Schössel kam zurück und hielt direkt vor Roy.<br />

»Oh, ja. Ich weiß schon, warum. Ihr müsst an euch selbst glauben und an die Schule<br />

Rapperpotz. Ihr müsst daran glauben, dass sie hier ist, nur dann kann es funktionieren. Öffnet<br />

eure Herzen.«<br />

Roy gab sich alle Mühe und versuchte daran zu glauben. Und plötzlich sah er den<br />

Schimmer einer Brüstung und hörte ferne Stimmen. Und als er all seinen Zweifel ablegte,<br />

erschien die Schule Rapperpotz in ihrer ganzen Pracht vor ihm.<br />

Es war ein Schloss, umgeben von einem See, auf dem lustige Wasserrosen tanzten. Eine<br />

Brücke schwebte über der Wasseroberfläche und wies den Weg zur Schule.<br />

»Wohin gehst du?«, fragte Racket, als Roy die Brücke betreten wollte. Er konnte noch<br />

immer nichts sehen.<br />

»Schließe deine Augen und höre auf dein Herz, Racket! Glaube an das Unmögliche!«


Und als er dies tat, hörte auch Racket die Stimmen vor ihm, und als er die Augen wieder<br />

öffnete, sah auch er, was vor ihnen lag. Ein riesiges Schloss mit großen Türmen und breiten<br />

Flügeln. Die Mauern bestanden nicht aus gewöhnlichen Steinen, sondern waren aus einem<br />

gläsernen, durchscheinenden Stoff. Man konnte bereits von weitem in den Innenhof schauen.<br />

Roy und Racket liefen voller Staunen hinter Schössel über die Brücke, denn in dem See<br />

war kein Wasser, sondern ein glitzernder Zauberstaub, der funkelte und leuchtete. Roy meinte<br />

zu hören, wie die Wasserrosen auf der Oberfläche ständig etwas murmelten. »Rapperpotz.<br />

Roy Rapperpotz. Sieh nur. Da kommt er endlich. Roy Rapperpotz. Er ist da.«<br />

Jetzt verstand Roy, warum diese Schule vor dem Regen sicher war. Tarkan war ihr<br />

Beschützer, ihr wachsames Auge. Er war pfeilschnell, schneller als der Wind und schneller<br />

als jeder Regen. Und da sich die Schule Rapperpotz in seinem Inneren befand, war auch sie<br />

sicher. Das dachte Roy damals zumindest.<br />

Die beiden Jungen standen nun vor dem Tor, das sich wie von Geisterhand öffnete und<br />

hinter ihnen wieder zufiel. Schössel hatte sich klein gemacht und war in Roys rechter<br />

Hosentasche verschwunden. <strong>Der</strong> Hof des Schlosses war mit hektisch umherlaufenden Kindern<br />

übersät. Überall wurde laut und aufgeregt gesprochen. Alle schienen sehr beschäftigt zu sein,<br />

und keiner nahm wirklich Notiz von den beiden Neuankömmlingen. Roy merkte schnell, dass<br />

etwas nicht stimmte. Irgendetwas musste passiert sein. Mitten unter den wild durcheinander<br />

redenden Kindern stand eine Frau mit grauem wallendem Haar.<br />

»Da ist sie ja!«, rief Roy überrascht. Er erkannte sie sofort. Es war Morella, welche nun<br />

auch auf die beiden Jungs aufmerksam wurde. Freudig winkte sie Roy zu.<br />

»Komm ruhig näher, Roy. Wir haben dich schon erwartet, wenn auch nicht gerade<br />

heute.«<br />

Dann wandte sie sich an alle Schüler im Hof. »Ruhe Kinder! Hört zu!«<br />

Allmählich wurde es etwas leiser, und Morella ging langsam auf Roy zu. »Ich freue mich,<br />

euch einen ganz besonderen Schüler vorstellen zu dürfen. Komm her, Roy!«<br />

Ein Raunen ging durch die Reihen der Schüler, und Morella hatte alle Mühe, wieder Ruhe<br />

herzustellen. »Das ist Roy Rapperpotz. Er und sein Freund werden bei uns das Träumeln<br />

lernen.«<br />

Jetzt drehten sich auch die letzten der Schüler nach Roy um, und einige winkten ihm<br />

sogar freundlich zu. Undeutlich konnte Roy ihr Getuschel verstehen:<br />

»Ja, er ist es wirklich.«<br />

»Siehst du die Strähne in seinen Haaren?«<br />

»Es ist Roy. Roy Rapperpotz.«<br />

Aber es gab nicht nur freundliche Gesichter. Ein paar der Schüler schauten sehr finster<br />

drein, und unter ihnen erkannte Roy auch den Jungen von heute Morgen. Als Morella Roys<br />

ernsten Blick bemerkte, schaute sie in die gleiche Richtung und wand sich in scharfem Ton an<br />

den Jungen.<br />

»Greg Haport. Wir werden uns morgen weiter unterhalten. Um acht Uhr in meinem<br />

Zimmer.«<br />

Dann wandte sie sich wieder an Roy. »Es tut mir Leid, Roy, aber ich muss mich jetzt um<br />

andere Dinge kümmern. Irgendjemand hat einen falschen Traum an Spartakus geschickt,<br />

einen sehr beunruhigenden Traum. Irgendjemand – ich kann mir schon denken, wer es war –<br />

hat falsch geträumelt, obwohl es verboten ist. Ich werde jetzt selber den Schaden beheben<br />

müssen.«<br />

Sie winkte einem Mädchen zu, das nicht weit entfernt von ihnen stand und Roy schon die<br />

ganze Zeit seltsam anlächelte.<br />

»Romi wird euch zeigen, wo ihr heute Nacht schlafen werdet, und morgen lernt ihr die<br />

Schule Rapperpotz kennen.«<br />

Mit diesen Worten warf sich Morella einen goldenen Mantel über, murmelte ein paar<br />

unverständliche Worte und verschwand.


Neugierig begann sich Roy umzuschauen. Als er dabei noch einmal zur Seite schaute, sah<br />

er zufällig, wie Greg ihn mit grimmigem Blick musterte, sich dann umdrehte und mit zwei<br />

anderen Jungen im Haus verschwand. Im selben Augenblick zog ihn jemand am Ärmel.<br />

»Lass dich bloß nicht mit dem ein, Roy!«, sagte das Mädchen Romi.<br />

»Was?«<br />

»Greg Haport. Lass dich ja nicht mit dem ein. Wie ich hörte, hat er die Schule Rapperpotz<br />

schon oft in Schwierigkeiten gebracht.« Sie lächelte und zog Roy noch stärker am Arm. »Ich<br />

freue mich so, dass du wieder da bist. Kennst du mich denn noch?«<br />

Roy kannte dieses nette und wunderschöne Mädchen zwar nicht, doch spürte er sofort<br />

eine enge Vertrautheit, die ihm sehr gefiel. Deshalb antwortete er ihr freundlich: »Ja,<br />

irgendwie schon. Es ist nur …«<br />

Racket half ihm. »Er kann sich an nichts erinnern, Romi. Lass ihm noch ein bisschen<br />

Zeit.«<br />

»Hm«, stöhnte Romi enttäuscht, doch fand sie ihre gute Laune gleich wieder. »Dann lass<br />

uns zusammen ins Schloss gehen. Du wirst dich sicher bald wieder an mich erinnern.«<br />

Romi führte die beiden ins Schlossinnere und zeigte ihnen ihre Zimmer. »Hier werden<br />

wir schlafen. Ich hoffe, für längere Zeit. Wir müssen gut aufpassen in den nächsten drei<br />

Tagen. Am vierten Tag ist die Aufnahmeprüfung, und wie ich hörte, ist die ganz besonders<br />

schwer hier in Rapperpotz«.<br />

»Erinnere mich bloß nicht daran!«, stöhnte Racket.<br />

Roy war zu müde, um sich genauer in dem Zimmer umzusehen. Sobald er sich die Zähne<br />

geputzt und sich gewaschen hatte, fi el er ins Bett, zog sich seine Decke weit über den Kopf<br />

und schlief sofort ein.<br />

4. Roy und die Schule Rapperpotz<br />

Als Roy am nächsten Morgen erwachte, musste er sich zunächst umschauen, um sich zu<br />

erinnern, wo er überhaupt war. Er hatte so tief und fest geschlafen, dass er es wirklich nicht<br />

mehr wusste. Er lag in einem Bett aus purpurnem Samt, und als er seine Bettdecke zur Seite<br />

schlagen wollte, gab sie eigenartige Töne von sich.<br />

»Hm, jetzt schon aufstehen, Roy Rapperpotz? Vielleicht noch ein halbes Stündchen?«<br />

Und da wusste Roy plötzlich wieder, wo er war. Er war in der Schule Rapperpotz. Und<br />

schnell kamen die Erinnerungen an den gestrigen Tag zurück. Racket musste schon unterwegs<br />

sein, denn sein Bett war leer. Aufgeregt stand Roy auf, wusch sich in Windeseile und wollte<br />

sich gerade anziehen, als die Tür krachend aufflog.<br />

»Roy, schnell, du musst mitkommen.«<br />

Romi stürzte ins Zimmer, drehte sich aber sofort verlegen zur Seite.<br />

»Oh, entschuldige. Ich dachte, du wärst schon angezogen.«<br />

»Schon gut. Ich bin gleich fertig.«, antwortete Roy ebenso verlegen und zog sich hastig<br />

an. Dann folgte er Romi nach draußen, wo bereits mehrere Kinder aufgeregt wie Hühner hin-<br />

und herliefen. Einige von ihnen schrien dabei sogar.<br />

Morella war zurückgekehrt und irrte nun völlig verwirrt zwischen all den Kindern im Hof<br />

herum. In ihren Haaren sah Roy überall schwarze Strähnen, solche, wie auch er eine hatte,<br />

und ihr Mantel war mit tiefen schwarzen Löchern übersät. Roy ahnte schon, was geschehen<br />

war. Morella war zu Spartakus geflogen, um seinen Traum zu berichtigen. Sie war dabei so<br />

vertieft in ihre Arbeit gewesen, dass sie den schwarzen Regen nicht bemerkt hatte, der<br />

langsam und schleichend immer näher kam. Eigentlich war sie eine Meisterin des Träumelns<br />

und eine der Klügsten und Weisesten in Traumania. Aber am Tag zuvor hatte sie sich<br />

dermaßen über Greg Haport geärgert, dass sie all ihre Vorsicht und Weisheit vergaß. Als sie<br />

den Regen sah, war es fast schon zu spät. Mit letzter Kraft konnte sie sich befreien und zur


Schule zurückschleppen. Niemand von den Kindern konnte ihr helfen, bis von der Seite ein<br />

knochiger Mann herbeisprang und sie stützte.<br />

»Mein Gott, Morella! Wie konntest du nur so unvorsichtig sein? Wir werden sie<br />

behandeln müssen!«, rief er zwei anderen Männern zu, die aus dem Keller gerannt kamen. Zu<br />

dritt schafften sie Morella in den Keller des Schlosses.<br />

»Wohin bringen sie Morella?«, fragte Roy.<br />

»In dem Keller werden alle behandelt, die vom Regen getroffen wurden«, antwortete<br />

Romi.<br />

»Im Keller? Aber wie?«<br />

»Ich weiß nicht. Ich war noch nie dort unten.«<br />

Aus dem Obergeschoss erklang eine Stimme, und Roy hörte die Aufregung in dieser<br />

Stimme vibrieren.<br />

»Alle Schüler sofort in die Klassenzimmer. <strong>Der</strong> Unterricht beginnt in zehn Minuten. Alle<br />

Erstklässler melden sich bei Mrs. Wedding im ersten Stock.«<br />

Erst jetzt fand Roy Zeit, sich umzublicken. Die weiten Flügel zu beiden Seiten des<br />

Schlosses waren ihm gestern schon aufgefallen. Sie umschlossen einen großen Innenhof. Die<br />

Türme konnte Roy nur sehr schlecht erkennen, so hoch waren sie. Es schien fast, als ob sie<br />

überhaupt kein Ende hätten. Die Fenster hatten etwas Magisches an sich. Sobald er<br />

hineinschaute, sah er zwar ein Spiegelbild, doch es war nicht seines. Auch wenn es seinen<br />

Bewegungen folgte, so sah er doch eindeutig einen ganz anderen Jungen. Roy konnte sich<br />

nicht erklären, wer dieser Junge war und warum er ständig seinen Bewegungen folgte.<br />

Doch jetzt hatte er keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Er ging mit den anderen<br />

Kindern in den ersten Stock, wo bereits Mrs. Wedding wartete. Mrs. Wedding war eine relativ<br />

junge, hübsche und sehr nette Frau. Aber eigenartigerweise hatte auch sie schon graue Haare,<br />

wie scheinbar alle erwachsenen Menschen hier. Sie begrüßte jedes Kind mit einem<br />

freundlichen Händedruck und ein paar persönlichen Worten. Als Roy an der Reihe war, nahm<br />

sie sich besonders viel Zeit.<br />

»Schau her. Da ist er ja. <strong>Der</strong> berühmte Roy Rapperpotz. Ich hoffe, es wird dir gut gefallen<br />

bei uns.«<br />

»Ja. Ich denke schon«, erwiderte Roy verlegen.<br />

»Gut. Setzt dich.«<br />

Roy setzte sich neben Racket auf einen der Stühle, welche im Kreis angeordnet waren.<br />

Einige der Kinder hatte er draußen schon gesehen. Da war der kleine schüchterne Rothaarige<br />

namens Sem, der sich kaum traute, den Mund aufzumachen. Und auch einer der beiden<br />

Jungen, die mit Greg Haport zusammen waren – sein Name war Ed Fischer – betrat jetzt mit<br />

forschem Schritt das Zimmer. Als alle Schüler sich gesetzt hatten, schloss Mrs. Wedding die<br />

Tür und nahm auf einem Stuhl in der Mitte Platz. Dann begann sie die erste Stunde.<br />

»Wisst ihr, warum ihr hier seid, Kinder?«<br />

»Wir wollen lernen, den Menschen ihre Träume zu bringen«, antwortete ein Mädchen.<br />

»Ja, richtig, Marie. Und weißt du auch, wie wir das nennen?«<br />

Noch bevor Marie antworten konnte, polterte es aus Racket heraus. »Träumeln, wir<br />

nennen es Träumeln.«<br />

»Ja, genau, Racket. Träumeln ist das richtige Wort dafür. Und wie träumelt man richtig,<br />

Racket? Kannst du uns das sagen?«<br />

»Ja … eh … ich …« Verlegen schaute Racket zu Boden. »Nein. Ich weiß es nicht.«<br />

»Weiß es jemand?«, fragte Mrs. Wedding in die Runde.<br />

Niemand meldete sich. »Roy. Kannst du uns sagen, wie man träumelt?«<br />

Was sollte Roy ihr antworten? Er war den ersten Tag in dieser Schule und den dritten Tag<br />

in diesem merkwürdigen Land. Woher sollte er wissen, wie man träumelt? Aber er hatte es ja<br />

schon einmal gesehen! Also antwortete er mutig.


»Man fliegt mit einem Zaubermantel durch die Luft und zerstreut Traumsand und feuert<br />

aus einer Kugel Blitze ab.«<br />

Mrs. Wedding sah ihn erstaunt und zugleich erschrocken an. »Woher weißt du das, Roy?<br />

So werden nur verbotene Träume geträumelt.«<br />

Roy sah, wie Ed Fischer ihn durchdringend anstarrte und dabei drohende Worte mit den<br />

Lippen formte.<br />

»Ich habe davon gehört«, log Roy, obwohl ihm dabei sehr unbehaglich zumute war. Aber<br />

er wollte nicht schon am ersten Tag Ärger bekommen.<br />

»Vergiss ganz schnell, was du da gehört hast, Roy. So etwas ist streng verboten hier in<br />

Rapperpotz.« Dann fuhr Mrs. Wedding wieder in freundlichem Ton fort. »Aber es stimmt,<br />

dass man zum Träumeln einen Traummantel, Traumsand und eine Kugel, eine Traumkugel,<br />

benötigt. Weiß jemand, wie diese Kugel heißt?« Fragend schaute sie zu Ed Fischer. »Ed?«<br />

»Das ist ein Konkel.«<br />

»Ja, richtig. Und was macht man mit dem Konkel, Ed?«<br />

»Ich weiß nicht«, antwortete Ed in einer Art, die Roy merken ließ, dass Ed schon<br />

ziemlich gut Bescheid wusste, was das Träumeln anging – mehr als er zuzugeben bereit war.<br />

Da es sonst niemand wusste, erklärte es Mrs. Wedding selbst. »Mit dem Konkel kann<br />

man die Träume zu den Menschen bringen. Ihr werdet später lernen, wie man ihn benutzt.<br />

Aber etwas fehlt uns noch. Wir haben den Traummantel, mit dem wir durch den Traum<br />

fliegen und der uns vor den Träumenden verbirgt, wir haben den Traumsand und den Konkel,<br />

der die Träume weiterschickt. Was fehlt uns noch? Etwas, das all diese Dinge verbindet. Wer<br />

weiß es?« Sie schaute in die Runde. »Sem? Weißt du es?«<br />

»Ich … ich … nein«, sagte er schüchtern und blickte zu Boden.<br />

»Das ist nicht schlimm, Sem. Du bist hier, um es zu lernen. Es sind die Traumsprüche in<br />

unserer eigenen Sprache, in Hunduisch. Es ist die Sprache, die alle Dinge miteinander<br />

verbindet. Erst sie bringt die Menschen in unser Land, wo sie träumen. Die Traumsprüche<br />

verbinden die Träume mit dem Konkel, und dieser schickt sie zu den Menschen.«<br />

Aufmerksam lauschten alle Kinder Mrs. Wedding. »Hunduisch wird das Erste sein, das<br />

ihr lernen werdet. Wir werden gleich morgen damit anfangen. Doch jetzt werde ich euch die<br />

Schule zeigen.«<br />

Sie murmelte etwas, und auf einmal begann der Boden nach rechts und dann nach links<br />

zu rucken, so dass sich Roy erschrocken umblickte. Im selben Moment bewegte sich dieses<br />

seltsame Zimmer aber auch schon langsam nach oben. Roy sah, wie die stehen gebliebenen<br />

Wände dabei nach unten zu wandern schienen, während das gesamte Zimmer mit all den<br />

Schülern darin schließlich durch das Dach glitt und plötzlich über der Schule Rapperpotz<br />

schwebte. Und obwohl sie nun ganz oben waren, konnte Roy noch immer nicht die Türme des<br />

Schlosses sehen, die wahrhaftig irgendwo im Himmel zu stehen schienen.<br />

»So, Kinder. Von hier aus seht ihr die ganze Schule. Sie wurde von einem der größten<br />

Meister unseres Landes erbaut, von Meister Satolex.«<br />

Roy horchte auf. Dies war der Name des Mannes, den Roy suchen sollte. Wie Guckifix<br />

ihm prophezeit hatte, würde er von Satolex den heiligen Somnel erhalten. Und dieser Satolex<br />

hatte die Schule Rapperpotz erbaut? Roy nahm sich vor, mehr darüber herauszufinden. Doch<br />

nun hörte er aufmerksam weiter den Worten von Mrs. Wedding zu.<br />

»Hinter der Schule befindet sich ein großes Träumelfeld. Dort üben sonst vor allem die<br />

jüngeren Schüler das Träumeln. Aber unser Fluglehrer ist gerade in Traumania unterwegs.«<br />

Trotzdem blickten Mrs. Wedding und all die Kinder zum hinteren Teil des Feldes, das<br />

etwa so groß war wie ein Fußballplatz. Doch es war nicht mit grünem Rasen bedeckt, sondern<br />

ganz und gar gelb, wie ein riesig großer Sandkasten.<br />

»Ah, wie ich sehe, ist Mr. Finley gerade mit seiner Klasse dort. Naja. Viel scheinen sie<br />

bei ihm ja nicht gelernt zu haben.«


Roy sah mehrere Gestalten in der Luft hin- und herfliegen. Einige stießen unbeholfen<br />

zusammen und krachten mit lautem Geschrei auf den Boden. Doch kurz darauf flogen sie<br />

schon wieder durch die Luft. Anscheinend war nichts Ernstes passiert.<br />

»So, Kinder, jetzt werden wir noch durch einige Klassenzimmer gehen.«<br />

Schon während Mrs. Wedding dies aussprach, bewegte sich das Zimmer wieder nach<br />

unten, stoppte und gab den Blick in einen der anderen Räume frei.<br />

»Dies ist die Klasse, in der der richtige Umgang mit Traumsand gelehrt wird, und hier<br />

hinten …« Sie drehte sich um, und alle Schüler taten es ihr nach. »Hier hinten seht ihr die<br />

Klasse für Tierträume, daneben die für Kinderträume, und direkt darunter ist die für<br />

Erwachsenenträume, aber dorthin werdet ihr erst viel später kommen.«<br />

So zogen sie durchs ganze Haus. Mrs. Wedding zeigte ihnen noch die Zimmer für<br />

Träume der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, sie zeigte ihnen Klassenräume,<br />

in denen Hunduisch gelehrt wurde, und wie man den Konkel und den Zaubermantel richtig<br />

benutzt, sie zeigte ihnen die Klasse für Traumgeschichte und für die Geschichte der<br />

Menschheit, was ein besonders schweres und wichtiges Fach sei, wie sie betonte.<br />

Roy konnte sich das alles kaum merken. Diese Schule musste unzählige Klassenzimmer<br />

und Schulfächer haben! Roy zweifelte schon daran, dies jemals alles zu erlernen. Aber dann<br />

kamen sie schließlich doch im letzten Zimmer an, und Mrs. Wedding verkündete feierlich.<br />

»In diesem Zimmer, meine Lieben, wird übermorgen die Aufnahmeprüfung stattfinden.«<br />

Ein Raunen ging durch die Schar der Schüler. Racket wurde käseweiß.<br />

»Übermorgen schon? Oh Gott. Ich werde bestimmt wieder durchfallen.«<br />

Das Zimmer war winzig klein und hatte keine Fenster. Roy musste sich sehr anstrengen,<br />

um überhaupt etwas zu erkennen. An der hinteren Wand hing ein großer Spiegel, sonst war<br />

nichts weiter zu sehen, keine Stühle, keine Tische, gar nichts. <strong>Der</strong> Raum war völlig leer.<br />

Seltsam. Das konnte doch unmöglich ein Klassenzimmer sein, oder? Was sollte dies für eine<br />

Aufnahmeprüfung sein? Doch noch bevor er sich weiter den Kopf darüber zerbrechen konnte,<br />

bewegten sie sich schon wieder, und im Nu war das Zimmer wieder an seinem alten<br />

Platz, wo die Reise durch die Schule Rapperpotz begonnen hatte.<br />

»So«, beendete Mrs. Wedding ihre Rundreise. »Jetzt kennt ihr die Schule Rapperpotz. Ich<br />

denke, sie wird euch gefallen, vorausgesetzt natürlich, ihr besteht die Aufnahmeprüfung<br />

übermorgen.«<br />

Racket fi ng schon wieder an zu schnauben. Er konnte das Wort »Aufnahmeprüfung«<br />

nicht mehr hören<br />

»Habt ihr noch irgendwelche Fragen?«<br />

Mrs. Wedding schaute in die Runde. Roy hatte heute so viel gesehen, dass ihm ganz<br />

schwindlig zumute war. Obwohl er natürlich tausend Fragen hatte, fi el ihm in diesem<br />

Augenblick partout nichts ein. Und bevor er seine Gedanken ordnen konnte, sprang Marie<br />

neben ihm auch schon auf und polterte los.<br />

»Warum sind in allen Fenstern so seltsame Gestalten, die sich bewegen, wenn man daran<br />

vorbeigeht?«<br />

Roy horchte auf. Auch Marie hatte diese merkwürdigen Bilder in den Fenstern bemerkt!<br />

Also ging es nicht nur ihm so.<br />

»Ich habe schon auf diese Frage gewartet, Marie«, sagte Mrs. Wedding geheimnisvoll.<br />

»Nein, das sind keine seltsamen Gestalten. Das seid ihr. Habt ihr vergessen, Kinder? Ihr seid<br />

im Land der Träume, und in jedem Traum kommt der wahre Mensch zum Vorschein,<br />

offenbart sich der eigene Charakter und das wahre Wesen eines Menschen. Denjenigen, den<br />

ihr in diesen Fenstern seht, das seid ihr selbst, ihr seht euer wahres Ich.«<br />

»Das bin ich in diesem Fenster?«, fragte Marie erstaunt. »Aber sie sieht mir doch gar<br />

nicht ähnlich.«<br />

»Das ist erstaunlich, nicht wahr?«, Mrs. Wedding lächelte Marie an. »Sie spiegelt ja auch<br />

nicht dein Äußeres, sondern dein Inneres wider. Verstehst du?«


»Aber die Spiegelbilder der anderen sehen doch alle ganz normal aus?«<br />

»Ja, das stimmt. Für dich sehen sie normal aus, weil du sie nicht sehen kannst, Marie. Da<br />

jeder seinen eigenen Traum hat, kann auch nur jeder sein eigenes Spiegelbild sehen und nicht<br />

das der anderen.«<br />

Marie setzte sich etwas verdutzt wieder hin. »Ich soll das sein? Mein Inneres? Dieses<br />

hässliche Ding?«<br />

»Schau sie dir ganz genau an, Marie. Du wirst überrascht sein, was du sehen wirst.«<br />

Roy hörte fasziniert zu.<br />

»So, liebe Kinder. Morgen werdet ihr den ersten Träumelspruch lernen. Für heute ist es<br />

genug. Also los, hurtig hinaus.«<br />

Mrs. Wedding stand auf und wollte das Zimmer verlassen. Als sie schon fast aus der Tür<br />

war, hatte Roy doch noch eine Frage.<br />

»Woher kommt der schwarze Regen, Mrs. Wedding?«<br />

Roy sah Mrs. Weddings nettes Gesicht plötzlich sehr ernst werden. Sie überlegte einen<br />

Moment, was sie erwidern sollte.<br />

»Niemand in Traumania weiß, woher der Regen eigentlich kommt, Roy. Aber ich hoffe –<br />

wir alle hoffen –, dass du uns eines Tages die Antwort darauf geben wirst.«<br />

Schnell drehte sie sich um und verließ den Raum. Roy, Racket und Romi gingen zurück<br />

in ihr Zimmer, wo sie noch lange über diese seltsame Schule sprachen, über die vielen<br />

Unterrichtsfächer und Klassen, in denen sie das Träumeln lernen würden und über dieses<br />

kleine Zimmer, in dem in ein paar Tagen ihre Aufnahmeprüfung stattfinden sollte. Dabei<br />

wurde Racket wieder furchtbar schlecht. Roy war mit seinen Gedanken wieder ganz<br />

woanders. Was hatte Mrs. Wedding ihm gesagt? Er würde eines Tages wissen, woher dieser<br />

furchtbare Regen kam? Er? Ausgerechnet er? Roy Rapperpotz? Aber woher sollte gerade er<br />

das wissen? Spät löschten sie das Licht und legten sich schlafen. Roy zog seine Decke weit<br />

über den Kopf.<br />

5. Roy und der erste Träumelspruch<br />

Roy stand vor dem Fenster und betrachtete sein Spiegelbild. <strong>Der</strong> Junge, den er da sah,<br />

war ihm eigentlich gar nicht so unähnlich. Auch er hatte strubbeliges Haar, auch er hatte dort<br />

eine Strähne, wo die seine war, nur reichte sie viel tiefer. Nicht nur seine Haare, sondern auch<br />

Teile seines Gesichtes waren mit diesen Flecken übersät. Roy wusste nun, woher sie<br />

stammten. Es war dieser Regen, der Teile seines Inneren zerstört hatte, der ihn vergessen ließ,<br />

woher er stammte und wohin er gehörte. Doch er würde wieder alles lernen, und bald – davon<br />

war er überzeugt – würden diese Flecken verschwunden sein. Roy wollte schon weiterlaufen,<br />

als plötzlich ein anderes Spiegelbild im Fenster erschien. Greg Haport lief direkt hinter ihm<br />

vorbei. Erschrocken wich Roy zurück. Er sah ein überaus hässliches Gesicht, überall mit<br />

dicken und eitrigen Warzen überzogen. Mitten darin hing eine lange krumme Nase, und an<br />

den Seiten hatte er große, weit abstehende Ohren. Seine Augen waren dunkel und funkelten<br />

böse, und er zeigte ein abstoßendes und gemeines Grinsen im Gesicht, das Roy erschaudern<br />

ließ. Wie konnte das sein? Hatte Mrs. Wedding nicht gesagt, dass man nur sein eigenes<br />

Spiegelbild in den Fenstern erkennen konnte? Wie kam es dann, dass Roy das von Greg sah?<br />

Erschrocken und nachdenklich lief er ins Haus, wo die anderen Schüler bereits aufgeregt ihr<br />

erstes Klassenzimmer betraten. Noch immer tief beeindruckt über das soeben Erlebte, traf er<br />

Romi auf dem Flur.<br />

»Ich habe Gregs Spiegelbild gesehen. Es war potthässlich.«<br />

»Das ist unmöglich, Roy. Dort kann sich nur jeder selber sehen, so, wie Mrs. Wedding es<br />

gesagt hat, es sei denn …«<br />

»Es sei denn was? Sag es mir, Romi!«


»Es sei denn, du hast die besondere Gabe.«<br />

»Welche besondere Gabe?«<br />

»Ich habe meinen Vater einige Mal davon reden hören. Es soll in unserem Land <strong>Träumler</strong><br />

mit ganz besonderen Fähigkeiten geben, mit Fähigkeiten, die weit über das Normale<br />

hinausgehen.«<br />

»Was für Fähigkeiten?«<br />

»Nur sehr wenige besitzen die Gabe, das Innere eines anderen Menschen zu erkennen,<br />

ihren wahren Charakter zu verstehen. Vielleicht bist du ja so ein besonderer <strong>Träumler</strong>,<br />

vielleicht aber auch nicht«, lachte sie.<br />

»Ha ha. Lach nur, Romi. Ich weiß, was ich gesehen habe.«<br />

Roy war verärgert. Warum machte sich Romi über ihn lustig? Sie wollte ihm nicht<br />

glauben, aber Roy wusste, was er gesehen hatte. Vielleicht war er ja doch so ein ganz<br />

besonderer <strong>Träumler</strong>? Schnell ergriff er Romis Hand und zerrte sie vor eines der Fenster.<br />

»Was siehst du?«, fragte er sie neugierig.<br />

Romi sah in das Fenster und erkannte Roy, der mit seinen blonden Harren und der<br />

schwarzen Strähne neben einem wunderschönen Mädchen stand, das nur einen kleinen<br />

Schönheitsfehler hatte. Dieses Mädchen, das natürlich Romi war, hatte ein unförmiges, viel<br />

zu weit hervorstehendes Kinn.<br />

Auch Roy sah dieses Kinn und wunderte sich sehr darüber.<br />

»Was siehst du?«, fragte er Romi noch einmal.<br />

»Ich sehe mich, und ich sehe dich«, erwiderte Romi gereizt, da ihr dieses Kinn in dem<br />

sonst so wunderschönen Gesicht überhaupt nicht gefiel.<br />

»Seltsam«, erwiderte Roy nachdenklich. »Ich sehe dich sogar noch viel schöner vor mir<br />

als sonst.<br />

»Ach ja?«, meinte Romi, beruhigt, dass Roy nicht dieses unförmige Kinn sah, welches<br />

einen kleinen Makel in ihrem Charakter, nämlich ihre Eitelkeit, widerspiegelte.<br />

»Ja«, sagte Roy und fügte dann noch hinzu: »Aber dieses Kinn da, das ist wirklich so was<br />

von riesig. Also ich habe noch nie in meinem Leben so ein großes Kinn gesehen.«<br />

»Oh! Oh! Oh, du …«, suchte Romi nach den passenden Worten und ließ Roy dann<br />

einfach stehen, um zutiefst beleidigt ins Klassenzimmer zu verschwinden.<br />

Also hatte Romi recht. Roy hatte diese besondere Gabe. Er konnte in diesen zauberhaften<br />

Fenstern das Innere anderer Menschen erkennen. Und obwohl Roy zwar noch kein <strong>Träumler</strong><br />

war, so spürte er doch, dass er anders war als die anderen Kinder in dieser Schule.<br />

Nachdenklich betrat auch er das Klassenzimmer. Statt der Tische und Stühle, wie es Roy<br />

aus dem Waisenhaus gewöhnt war, stand an jedem Platz nur eine Truhe aus edlem Holz. Sie<br />

war fest verschlossen. So sehr sich Roy auch bemühte, er konnte sie nicht öffnen.<br />

»Gib dir keine Mühe«, hörte er Romi von der Seite sagen. »Sie öffnet sich erst nach der<br />

Aufnahmeprüfung.« Und leise fügte sie hinzu: »Das heißt, wenn wir sie bestehen.«<br />

Racket hörte die Bemerkung und wurde schon wieder unruhig. Er stieß aufgeregt mit<br />

seinen Füßen gegen die Truhe, so dass der Kristall, der oben auf der Truhe lag, fast zu Boden<br />

fiel. Roy fing ihn rechtzeitig auf und setzte sich auf die Truhe neben ihm. Mrs. Wedding kam<br />

ins Zimmer und begrüßte ihre Schüler.<br />

»Guten Morgen, meine lieben Kinder. Heute werden wir den ersten Träumelspruch<br />

lernen. Doch bevor wir anfangen, möchte ich euch noch euer Schulbuch geben.«<br />

»Ich habe es geahnt«, stöhnte Racket. »Wieder ellenlange Bücher, in denen man tagelang<br />

lernen muss.«<br />

Doch er hatte sich geirrt, denn es war ein ganz besonderes Schulbuch, wie Mrs. Wedding<br />

ihnen jetzt erklärte.<br />

»Schaut neben euch. Auf jeder Truhe liegt ein Kristall. Das ist ein ganz besonderer<br />

Kristall. Er stammt von dem heiligen Berg Sinah, und er ist euer Lehrbuch. Nehmt ihn in die<br />

Hand.«


Roy nahm den Kristall und spürte, wie Wärme angenehm seine Hand durchströmte. Er<br />

war nicht sehr groß, dieser Kristall. Nicht größer als eine Murmel, und er hatte trotz seiner<br />

vielen Ecken und Kanten keine einzige spitze Stelle. Auch wenn er mit seiner gelblichen<br />

Farbe eher unscheinbar in der Hand lag, so ahnte Roy doch sofort, dass dieser Kristall etwas<br />

ganz Besonderes, etwas Magisches sein musste.<br />

»In diesem Kristall«, fuhr Mrs. Wedding fort, »ist das gesamte Wissen von Traumania.<br />

Dort werdet ihr alle Antworten auf eure Fragen finden. Doch er wird sie euch nicht so ohne<br />

weiteres preisgeben. Erst wenn ihr bereit dafür seid, wenn ihr gelernt habt, mit diesem Wissen<br />

richtig umzugehen, wird er es euch offenbaren. Nehmt ihn und bewahrt ihn gut auf.«<br />

Roy steckte ihn vorsichtig in die Tasche. Er spürte ganz deutlich, wie er sich dort<br />

anschmiegte und wohlige Wärme ausstrahlte. Dann fuhr Mrs. Wedding mit dem Unterricht<br />

fort.<br />

»<strong>Der</strong> erste Träumelspruch ist einer der wichtigsten, liebe Kinder. Er bringt euch zu jedem<br />

beliebigen Ort, den ihr euch aussucht. Aber ihr müsst lernen, ihn richtig zu benutzen. Also<br />

passt gut auf.«<br />

Sie nahm etwas Staub aus ihrem Mantel und warf ihn in die Luft. Kurz danach stand eine<br />

Zeile aus leuchtendem Traumstaub in der Luft:<br />

»Träumel, Traumel, Trimmel drin,<br />

bring den Trimmler, Traumler, <strong>Träumler</strong> hin.«<br />

Roy wiederholte den Spruch, bis er fest in seinem Gedächtnis verankert war. Und auch all<br />

die anderen murmelten ihn mehrmals vor sich hin.<br />

»So, liebe Kinder. Jetzt aber hinaus mit euch und übt fleißig euren ersten Träumelspruch.<br />

Husch, husch. Wir sehen uns morgen wieder, dann lernen wir, wie wir die Menschen zum<br />

Träumen in unser Land holen.«<br />

Mit diesen Worten beendete Mrs. Wedding ihre erste Unterrichtsstunde. Verdutzt saßen<br />

die Kinder auf ihren Truhen. Was nun? Das war alles? Die ganze Unterrichtsstunde hatte<br />

nicht länger als zehn Minuten gedauert! Noch nie hatte Roy eine so kurze Unterrichtsstunde<br />

erlebt. Etwas verunsichert stand er auf und ging hinaus. Die anderen Kinder waren ebenso<br />

verblüfft. Nur Racket freute sich diebisch über diese kurze Stunde.<br />

»Super. Endlich eine Schule, die mir gefällt. Was machen wir jetzt mit dem<br />

angebrochenen Tag?«<br />

»Wir werden den Träumelspruch ausprobieren«, antwortete Roy sofort. »Wer will<br />

zuerst?«<br />

Romi war nicht besonders begeistert.<br />

»Vielleicht sollten wir zunächst unseren Kristall zu Rate ziehen. Vielleicht gibt es noch<br />

etwas Wichtiges, das er uns zu sagen hat.«<br />

Romi hatte recht, aber andererseits hatte Mrs. Wedding sie hinausgeschickt, um den<br />

Spruch auszuprobieren, und wenn es noch etwas Wichtiges zu wissen gäbe, so hätte sie es<br />

ihnen sicher gesagt. Also begann Roy, ohne weiter nachzudenken, den Träumelspruch<br />

aufzusagen.<br />

»Träumel, Traumel, Trimmel drin,<br />

bring den Trimmler, Traumler, <strong>Träumler</strong> hin.«<br />

Kaum hatte er die letzte Silbe ausgesprochen, da fi el ihm plötzlich ein – verflixt, er hatte<br />

doch etwas vergessen. Wohin sollte ihn der Träumelspruch eigentlich bringen? Er hatte in<br />

seinem Spruch kein Ziel angegeben! Doch es war zu spät. Das Schloss war verschwunden,<br />

und Romi und Racket auch. Roy stand mitten in einer riesigen Wolke und konnte nichts außer<br />

Nebel und weißem Dunst sehen. Sonst nichts, gar nichts. Was sollte er jetzt tun? Er war<br />

irgendwo im Nirgendwo gelandet, und er wusste nicht, wie er von dort fortkommen sollte.<br />

Zum Glück hatte er noch seinen Kristall in der Tasche. Schnell fasste er hinein und zog ihn<br />

erleichtert heraus. Es gab nur ein winzig kleines Problem. Wie funktionierte eigentlich dieser<br />

Kristall? Roy hatte keine Ahnung. Er hielt ihn in der Hand und rieb ihn vorsichtig. Nichts


passierte. Dann hauchte er ihn an, aber auch dies erzeugte keine Reaktion. Schließlich hielt er<br />

ihn einfach nur hoch und fragte: »Sag mir, lieber Kristall, wie komme ich zurück ins Schloss<br />

Rapperpotz? Kennst du den richtigen Träumelspruch?«<br />

Zu seiner großen Freude begann der Kristall zu glühen, und eine Schrift erschien über<br />

ihm im Nebel:<br />

»Träumel, Traumel, Trimmel drin,<br />

bring den Trimmler, Traumler, <strong>Träumler</strong> hin<br />

zu diesem Ort: Schloss Rapperpotz.«<br />

Schnell wiederholte Roy die Worte, und die Schule erschien wieder vor ihm, Romi und<br />

Racket ebenso. Sie hatten sich schon fürchterliche Sorgen gemacht.<br />

»Gott sei Dank«, stöhnte Roy und ließ den Kristall wieder in seine Hosentasche gleiten.<br />

»Das war knapp!«<br />

Racket und Romi schrien ihn an. »Wo warst du?«<br />

Kurz nachdem Roy verschwunden war, hatte Romi natürlich auch gleich den Fehler<br />

bemerkt. Auch sie hatte ihren Kristall befragt. Doch der blieb stumm und gab keine Antwort.<br />

Sie war glücklich, Roy wieder wohlbehalten zu sehen.<br />

»Du hast zu sagen vergessen, wohin du willst, stimmt’s?«, fragte sie.<br />

»Ja. Zum Glück hatte ich den Kristall. Er hat mir den richtigen Träumelspruch gezeigt.«<br />

»Meiner hat mir nicht geantwortet. Ich dachte schon, wir würden dich nie wieder sehen«,<br />

sagte Romi erleichtert.<br />

»Beinahe wäre es auch so gekommen. Wir sollten zu Mrs. Wedding gehen und sie fragen,<br />

warum sie uns nur den halben Traumspruch beigebracht hat.«<br />

Also machten sie sich auf den Weg und suchten Mrs. Wedding. Sie liefen durch das<br />

ganze Haus, von oben bis unten. An diesem Tag kam ihnen die Schule noch größer vor als<br />

gestern, doch sie konnten Mrs. Wedding nirgendwo finden. Plötzlich erklang ihre Stimme von<br />

hinten. »Sucht ihr mich, Kinder?«<br />

»Eh … wir … nun ja …«, stotterte Racket.<br />

»Wir haben den Träumelspruch ausprobiert und bemerkt, dass er nicht richtig ist«, sagte<br />

Roy mit fester Stimme.<br />

»Nicht richtig?«, fragte Mrs. Wedding mit einem seltsamen Unterton.<br />

»Nun eigentlich nicht nicht richtig. Nur nicht ganz vollständig. Es fehlte der<br />

Bestimmungsort.«<br />

»Ich weiß.«<br />

»Sie wissen es und lassen uns damit üben?«, fragte Romi vorwurfsvoll.<br />

»Ja, Kinder. Das war eure erste Lektion hier in der Schule Rapperpotz, und ihr habt sie<br />

gut bewältigt. Dies ist keine gewöhnliche Schule, wisst ihr. Ihr müsst lernen, mit eurem<br />

Wissen umzugehen. Es ist nicht immer einfach, sein Wissen einzusetzen, vor allem, wenn es<br />

unvollständig ist. Aber manchmal ist es auch nötig. Niemand wird euch alles sagen können.<br />

Niemand weiß alles. Versteht ihr, Kinder? Vertraut euch selbst, euren eigenen Fähigkeiten.<br />

Lernt damit umzugehen. Dann werdet ihr alle Hürden meistern. Und jetzt geht wieder hinaus.<br />

Wir sehen uns morgen.«<br />

Genauso plötzlich, wie sie aufgetaucht war, war Mrs. Wedding auch wieder<br />

verschwunden. Die drei R’s, wie sie wegen des gleichen Anfangsbuchstabens ihrer Namen<br />

von einigen Schülern bereits genannt wurden, gingen wieder zurück auf den Hof. Die Hälfte<br />

ihrer Mitschüler war verschwunden. Sem, dieser arme Junge, war vollkommen verschollen,<br />

und keiner wusste, mit wem er eigentlich geträumelt hatte. Vielleicht hatte er sich auch nur<br />

irgendwo verkrochen. Auf jeden Fall wurde bis zum Abendbrot auch nicht der kleinste Zipfel<br />

von ihm gesehen. Die anderen Schüler kamen nach und nach wieder zum Vorschein, und<br />

spätestens zum Essen waren alle wieder da, auch Sem.<br />

Als alle Schüler schon im Bett lagen, schlich sich Roy noch einmal mit seinen Sachen ins<br />

Bad. Er wollte es wagen. Er wollte hinaus, hinaus in die Welt der Träume. Er wollte diesen


Träumelspruch noch einmal – und diesmal richtig – ausprobieren. Er wusste, dass es<br />

gefährlich war, doch er vertraute seinen Fähigkeiten. Und vielleicht war er ja wirklich ein<br />

ganz besonderer <strong>Träumler</strong>. Er zog sich an, überprüfte noch einmal, ob er den Kristall auch<br />

dabei hatte und sagte dann den Träumelspruch:<br />

«Träumel, Traumel, Trimmel drin,<br />

bring den Trimmler, Traumler, <strong>Träumler</strong> hin<br />

zu diesem Ort: Tarkan.«<br />

Kaum, dass er die letzten Silben gesprochen hatte, befand er sich auf einer blühenden<br />

Wiese. Nicht weit entfernt stand Tarkan und graste friedlich. Langsam näherte sich Roy ihm.<br />

»Aha! Siehe da. <strong>Der</strong> junge Roy Rapperpotz«, bemerkte ihn Tarkan sofort.<br />

»Es freut mich zu sehen, dass Ihr Fortschritte macht, junger Prinz.«<br />

»Du weißt, wer ich bin?«<br />

Tarkan zupfte sich ein paar Grashalme und kaute genüsslich.<br />

»Du bist ein ganz besonderer <strong>Träumler</strong>, Roy Rapperpotz. Du wirst den Regen aus<br />

unserem Land verjagen, und ich werde nicht mehr alle Zeit auf der Hut sein müssen. Ich<br />

werde wieder in Ruhe grasen können eines Tages. Lerne nur weiter so. Dann wird alles gut.«<br />

Tarkan senkte seinen Kopf und bat Roy, sich auf seinen Rücken zu setzen. Vorsichtig,<br />

ganz vorsichtig stieg Roy hinauf – er wollte niemanden aufwecken in der Schule Rapperpotz<br />

–, und langsam schritten sie über die wundervoll duftende Wiese. Roy streichelte Tarkans<br />

glänzendes weißes Fell und strich durch seine wunderbare Mähne, die sanft im lauen Wind<br />

wehte.<br />

»Aber wie soll ich ihn vertreiben, diesen schwarzen Regen?«, fragte er dann nachdenklich<br />

den stolzen Tarkan. »Ich weiß nicht, ob ich ein so guter <strong>Träumler</strong> werden kann. Ich weiß<br />

nicht, ob ich es schaffe, ob ich all das lernen kann in dieser Schule.«<br />

»Das Wichtigste kannst du nicht lernen, Roy Rapperpotz. Das Wichtigste ist bereits in<br />

dir. Wenn dein Herz rein ist und dein Geist klar, dann wirst du es schaffen.«<br />

Irgendwo hatte Roy das schon einmal gehört, doch er konnte sich nicht mehr daran<br />

erinnern. Er war sehr müde. Tarkan setzte ihn genauso vorsichtig wieder ab, wie er ihn<br />

aufgenommen hatte. Roy sagte den Träumelspruch und kehrte in die Schule zurück, und<br />

sobald er in seinem Bett war, schlief er augenblicklich ein.<br />

6. Roy und das Träumelfeld<br />

Am nächsten Tag wollten die drei R’s vorsichtiger sein. Sie würden den zweiten<br />

Träumelspruch dreimal überprüfen, bevor sie ihn ausprobierten. Doch ihre ganzen guten<br />

Vorsätze waren umsonst, denn noch bevor Mrs. Wedding ihnen den zweiten Träumelspruch<br />

beibrachte, erteilte sie das strikte Verbot, diesen Träumelspruch überhaupt zu benutzen,<br />

solange sie noch keinen Traummantel und den Konkel besaßen.<br />

»Kinder, es ist sehr wichtig, dass ihr auf mich hört. Mit diesem Spruch bringen wir die<br />

Menschen in unser Land, nach Traumania. Erst hier können sie träumen. Aber ihr könnt die<br />

Träume nur mit einem Traummantel und dem Konkel zu ihnen bringen. Also lasst es sein,<br />

bevor ihr diese Dinge nicht besitzt. Habt ihr das verstanden? Du auch, Ed?«<br />

Ed nickte widerwillig.<br />

»Nun gut, eigentlich war ich dagegen, den neuen Schülern diesen Spruch jetzt schon<br />

beizubringen, aber aus irgendeinem Grunde wollte der Schulrat etwas anderes. Naja. Die<br />

werden schon wissen warum. Also gut, Kinder, hier ist er.«<br />

Wieder nahm Mrs. Wedding eine Hand voll Staub und wirbelte ihn in die Luft. Roy<br />

konnte die Buchstaben kaum erkennen:<br />

»Träumelstein und Träumelteer,<br />

bring den Menschen mir ins Traumland her.«


Schnell waren die Wörter auch schon wieder verschwunden. Doch Roy hatte sie sich<br />

gemerkt. Jede einzelne Silbe.<br />

»So, Kinder, das war’s für heute. Aber vergesst nicht, morgen ist die Aufnahmeprüfung.<br />

Dann werden wir sehen, was in euch steckt.«<br />

Mit diesen verheißungsvollen Worten ging Mrs. Wedding zur Tür hinaus.<br />

Während die anderen Schüler schnell aus dem Klassenzimmer verschwanden, saßen die<br />

drei R’s noch immer auf ihren Truhen und rätselten über diesen neuen Träumelspruch.<br />

»Weißt du, was mir aufgefallen ist, Roy?«, fragte Racket.<br />

»Was denn?«<br />

»Es fehlt schon wieder etwas. <strong>Der</strong> Name des Menschen, der ins Traumland kommen soll.<br />

<strong>Der</strong> muss doch auch irgendwo in diesem Träumelspruch stehen.«<br />

Roy sagte den Träumelspruch in Gedanken auf:<br />

Träumelstein und Träumelteer,<br />

bring den Menschen mir ins Traumland her.<br />

»Wahrscheinlich muss man nur den Namen anstelle von ›Menschen‹ einsetzen «, meinte<br />

er dann.<br />

»Ja«, rief Racket begeistert. »Wir sollten den Spruch mit einem Namen ausprobieren!«<br />

»Macht keine Dummheiten«, entgegnete Romi sofort erschrocken. »Habt ihr nicht gehört,<br />

dass Mrs. Wedding es verboten hat, solange wir keinen Traummantel und keinen Konkel<br />

besitzen. Und außerdem wissen wir gar nicht, ob man tatsächlich einen Namen einfügen<br />

muss. Vielleicht ist es ganz anders.«<br />

»Wir sollten unseren Kristall fragen«, schlug Racket schnell vor und holte bereits den<br />

seinen aus der Tasche. »Er muss es ja wissen.«<br />

Racket hielt seinen Kristall hoch und fragte ihn nach dem richtigen Spruch. Doch der<br />

Kristall blieb stumm. Racket versuchte es noch einmal, ohne Erfolg. So sehr er sich auch<br />

anstrengte, er konnte seinem Kristall nicht eine einzige Silbe entlocken.<br />

»Siehst du, es hat keinen Zweck. Wir sind noch nicht so weit«, fuhr Romi ihn an.<br />

Doch Racket ließ sich nicht beirren. »Versuch du es, Roy.«<br />

Roy zögerte einen Augenblick, zog dann seinen Kristall aus der Tasche und fragte ihn mit<br />

wenig Hoffnung auf Erfolg. Doch kurz darauf ließ er ihn vor Staunen fast fallen, denn sein<br />

eigener Kristall begann nun wider Erwarten zu glühen und zeigte ihm die Antwort auf seine<br />

Frage in deutlichen leuchtenden Buchstaben. Und tatsächlich, der Platz, an dem Mrs.<br />

Wedding vorher den Begriff »Menschen« eingesetzt hatte, war nun frei. Dort musste man den<br />

Namen desjenigen einsetzen, den man zu sich ins Traumland holen wollte.<br />

Die drei R’s waren verblüfft, und leise kamen Worte des Staunens über Romis Lippen.<br />

»Du musst doch ein ganz besonderer <strong>Träumler</strong> sein, dass der Kristall bereit ist, dir jede<br />

Auskunft zu geben.«<br />

Racket stand mit offenem Mund da und konnte es erst gar nicht glauben. Doch schnell fi<br />

ng er sich wieder und war nun ganz aus dem Häuschen.<br />

»Probieren wir den Spruch aus!«, rief er ungeduldig.<br />

»Aber Mrs. Wedding hat es uns verboten«, hielt Romi wieder dagegen.<br />

Doch auch Roy konnte nicht länger warten. Er war nun ebenfalls begierig, diesen neuen<br />

Träumelspruch auszuprobieren, auch wenn es verboten war. Vielleicht war es auch diesmal<br />

eine Lektion, und die Schüler sollten selbst die Lösung finden.<br />

»Versuchen wir es doch. Was soll schon passieren? Wir sind im Traumland«, versuchte er<br />

deshalb Romi zu überreden.<br />

»Ich bin dafür!«, rief Racket sofort.<br />

»Ich weiß nicht recht«, meinte Romi zögerlich.<br />

Doch als Roy und Racket ihr versprachen, auch ganz vorsichtig zu sein, gab sie<br />

schließlich nach und war damit einverstanden.


Am Abend wollten die drei auf das Feld hinter die Schule gehen, um dort den zweiten<br />

Träumelspruch auszuprobieren. Zu dieser Zeit würde niemand mehr dort sein. Zuvor hatten<br />

sie sich noch nach einem geeigneten Menschen aus der Außenwelt umgeschaut, den sie nach<br />

Traumania holen wollten. <strong>Der</strong> Kristall hatte ihnen bereitwillig Auskunft über sämtliche<br />

Geschichtsepochen der Menschheit gegeben. So viele Namen! Und all diese Menschen<br />

träumten, und allen mussten die <strong>Träumler</strong> von Traumania Träume bringen. Schließlich<br />

einigten sie sich auf einen alten, sagenumwobenen König aus dem alten England. Weil Romi<br />

sein Name so gut gefiel, und weil Racket seine Abenteuer so sehr bewunderte, und weil er<br />

auch auf der Suche nach etwas Besonderem war wie Roy, entschieden sie sich für König<br />

Artus, aus dem sagenhaften Camelot.<br />

Die drei R’s konnten die Dunkelheit kaum erwarten. Erst lange nach dem Abendbrot war<br />

es endlich soweit, und als es überall ruhig wurde und die Nacht ihre weiten Schwingen über<br />

die Schule Rapperpotz gelegt hatte, stahlen sich unsere Helden vorsichtig aus der Schule. Wie<br />

Diebe schlichen sie um das Haus, so dass sie auch ja keiner sehen konnte, und gingen dann zu<br />

dem Träumelfeld.<br />

Staunend betraten sie das mit Sand übersäte Feld, das kein Grübchen, keine noch so<br />

kleine Vertiefung zeigte. Dieser Sand war ein ganz besonderer Sand. Es war Traumsand.<br />

Kaum, dass sie auf ihn traten, schwebten sie auch schon wenige Zentimeter über dem<br />

Erdboden. Nur hier in dieser Schule fand sich solch ein Traumsandfeld. Überall in Traumania<br />

musste der Sand sonst von den <strong>Träumler</strong>n selbst verstreut werden. Doch hier war ein<br />

Übungsplatz. Also – was sollte schon schief gehen?<br />

Außerdem sollte Schössel Wache stehen, während Roy und die beiden anderen R’s König<br />

Artus hierher holten. Seit langer Zeit hatte sie sich gerade heute wieder blicken lassen. Sie<br />

hatte die letzten Tage mit einigen anderen Wolken vor der Schule verbracht. Roy hatte sich<br />

sehr gefreut, sie wieder zu sehen, obwohl sie ihn schon wieder mit ihrer unfreundlichen Art<br />

ärgerte. Er nahm sie trotzdem mit hinter das Schloss, denn Schössel war wie geschaffen als<br />

Aufpasser. Niemand würde ein so kleines Wölkchen beachten.<br />

»Also gut«, rief Roy nach einem kurzen Blick zu Schössel. »Dann lasst uns beginnen.«<br />

Racket machte vor Freude einen Luftsprung. Romi schaute noch immer etwas<br />

unentschlossen zu Roy, dem nun auch etwas mulmig zumute war. Was, wenn Romi recht<br />

hatte und es mit diesem Spruch anders war als mit dem ersten? Mrs. Wedding hatte<br />

ausdrücklich verboten, ihn jetzt schon zu benutzen. Doch Roy schob die Bedenken beiseite<br />

und sprach den zweiten Träumelspruch aus:<br />

»Träumelstein und Träumelteer,<br />

bring König Artus mir ins Traumland her.«<br />

Aufgeregt schaute er sich um, doch nichts passierte. Gar nichts. <strong>Der</strong> Platz blieb leer, weit<br />

und breit war niemand zu sehen, kein König Artus, gar niemand, nur herrlich leuchtender<br />

Traumsand.<br />

»Was ist los?«, fragte Racket enttäuscht.<br />

»Ich weiß nicht.« Roy sprach den Spruch noch einmal, ganz deutlich und betont langsam.<br />

Doch auch jetzt passierte nichts.<br />

»Vielleicht ist es doch nicht der richtige Spruch«, sagte Racket besorgt.<br />

»Aber der Kristall hat ihn uns doch gezeigt. Es muss der richtige Spruch sein!«<br />

Dann rief Romi plötzlich aus. »Ich weiß warum, ihr Knalltüten. Ich weiß, warum er nicht<br />

hierher kommt!«<br />

»Und warum?« Roy hatte keine Ahnung.<br />

»Ganz einfach. Er schläft noch nicht. König Artus schläft noch nicht. Wir können ihn erst<br />

herholen, wenn er eingeschlafen ist.«<br />

Romi hatte recht. Daran hatten die beiden Jungen in ihrem Eifer gar nicht gedacht. Erst,<br />

wenn die Menschen schlafen, können sie in die Welt der Träume kommen. Was sollten sie<br />

nun tun? Sie hätten sich einen anderen Menschen aussuchen können. Doch sie wollten König


Artus sehen. Also warteten sie eine Weile. Dann versuchte Roy es noch einmal. Langsam<br />

sprach er den Träumelspruch:<br />

»Träumelstein und Träumelteer,<br />

bring König Artus mir ins Traumland her.«<br />

Und dann, nicht weit weg von ihnen, begann an einer Stelle der Sand zu glühen und<br />

wunderbar zu leuchten, und eine Gestalt erschien über jener Stelle. Ein stolzer Mann mit einer<br />

goldenen Rüstung und einem blitzenden Schwert. Er schaute sich um und wunderte sich, wo<br />

er war. Mitten in einem Feld aus Sand. Nicht weit entfernt sah er drei Kinder, die seltsam über<br />

dem Boden schwebten, so wie auch er selbst, wie er bald merkte.<br />

»Was sollen wir jetzt tun, Roy?«, fragte Racket hektisch.<br />

Roy zuckte mit den Schultern.<br />

»Weißt du, was wir tun sollen, Romi?«<br />

»Vielleicht sollten wir mit ihm reden«, überlegte Romi. »Oder wir sollten…«<br />

Mitten im Satz blieben ihr die Worte im Halse stecken, denn König Artus kam nun mit<br />

gezogenem Schwert auf die drei losgestürmt.<br />

»Was jetzt? Was jetzt?«, schrie Racket und wurde bleich vor Angst. Doch kurz vor ihnen<br />

stoppte Artus plötzlich seinen Lauf. Er ließ in erhobener Hand sein Schwert blitzen und schrie<br />

sie an.<br />

»Wer seid ihr? Wo bin ich? Sprecht, ihr seltsamen Gestalten!«<br />

Roy wusste nicht, ob er ihm die Wahrheit sagen sollte, sie ihm sagen durfte und<br />

beschloss, nichts vom Träumeln zu erzählen.<br />

»Ihr seid in einem fernen Land, König Artus.«<br />

»In einem fernen Land? In welchem Land? Wie ist Euer Name, edler Jüngling?«<br />

»Roy Rapperpotz.«<br />

»Roy Rapperpotz? Ich hörte noch nie von einem solch seltsamen Namen. Sagt mir,<br />

Jüngling, wie nennt Ihr dieses Land hier, in das es mich verschlagen hat? War es mein<br />

Zauberer Merlin, der mich hierher führte?«<br />

Als Romi diesen Namen hörte, erinnerte sie sich plötzlich an den großen Zauberer Merlin,<br />

der an König Artus Hof wirkte, und antwortete sofort geistesgegenwärtig.<br />

»Jaja, es war Merlin. <strong>Der</strong> große Zauberer Merlin. Er hat Euch hierher geschickt. Wir<br />

wissen auch nicht, warum.«<br />

»Dieser alte Mann hat seltsame Gepflogenheiten«, murmelte Artus vor sich hin. »Nun<br />

gut. Dann werde ich der Dinge harren, die mich in diesem fremden Lande erwarten. Doch in<br />

Camelot wird er mir Rede und Antwort stehen müssen.«<br />

Halb besänftigt setzte er sich hin und stützte seine mächtigen Hände auf sein Schwert,<br />

dessen Spitze einige Zentimeter über dem Boden schwebte. Als er zum Schloss schaute,<br />

verzog sich sein Gesicht wieder.<br />

»Wem gehört dies seltsame Schloss? Ich kenne weder einen König noch einen Fürsten<br />

mit einer solch eigenartigen Behausung.«<br />

Artus stand auf und wollte schon zum Schloss gehen.<br />

Entsetzt zupfte Romi an Roys Ärmel. »So tu doch etwas. Er kann doch nicht in die Schule<br />

laufen! Wir werden riesigen Ärger bekommen.«<br />

Doch noch bevor Roy etwas tun konnte, hörte er laute Stimmen vom anderen Ende des<br />

Feldes, und er sah, wie der Sand in der Luft zu wirbeln begann.<br />

In der Zwischenzeit, unbemerkt von Schössels und der anderen Augen, waren Greg<br />

Haport und seine Kumpane auf dem Feld erschienen. Schnell hatten sie erraten, was hier<br />

geschah. Greg sah, dass Roy trotz des strikten Verbotes für Erstklässler den zweiten<br />

Träumelspruch benutzt hatte und war so verärgert über diese Unverfrorenheit, die selbst er<br />

sich nicht getraut hatte, dass er Roy eins auswischen wollte und mit einem Träumelspruch<br />

eine Horde wilder Reiter auf das Träumelfeld herbeiholte. Ihnen voran ritt auf dem größten<br />

und stärksten Pferd ein übel aussehender Mongole – Dschingis Khan.


König Artus schrie auf. »Wo ist meine Armee? Ich bin verloren in der Ferne. Ihr Kinder,<br />

versteckt euch in den Büschen.«<br />

Racket sah Roy fragend an. »In welchen Büschen?«<br />

Die drei R’s standen nun mitten im Getümmel. Vom Feldrand kam Schössel auf sie<br />

zugeflogen.<br />

»Warum hast du uns nicht gewarnt, Schössel?«, rief Racket ihr vorwurfsvoll entgegen.<br />

»Es tut mir Leid. Ich wusste nicht, wie. Ich kann nicht pfeifen.«<br />

»Du hättest etwas rufen können.«<br />

»Nein, nein. Das geht auch nicht. Da werde ich immer so heiser.«<br />

Racket schüttelte nur mit dem Kopf, denn auch er hatte jetzt keine Zeit und Lust, sich<br />

weiter mit Schössel zu streiten. Dschingis Khan kam immer näher.<br />

»Wo ist mein treuer Ritter Lanzelot?«, schrie Artus, während er sich in den Kampf<br />

stürzte. »Wenn nur Lanzelot jetzt bei mir wäre! Wir würden die ganze wilde Horde in Stücke<br />

reißen.«<br />

»Wer ist Lanzelot?«, fragte Roy den König.<br />

»Wie, Ihr kennt Lanzelot nicht, edler Jüngling? Er ist der tapferste meiner Ritter. Wenn er<br />

hier wäre, würden wir all diese Halunken zum Teufel jagen.«<br />

»Roy, hol Lanzelot, hol Lanzelot!«, schrie Romi von der Seite.<br />

Schnell sprach Roy den Träumelspruch, und plötzlich stand ein großer Ritter an König<br />

Artus Seite, und kämpfte mit ihm gegen die Krieger des Dschingis Khan. Roy holte noch an<br />

die zwanzig Ritter aus König Artus Tafelrunde, und gemeinsam schlugen all die Ritter ihre<br />

Feinde in die Flucht, auch wenn die Mongolen durch die Blitze, die Greg Haport mit seinem<br />

Konkel abfeuerte, immer böser und aggressiver wurden. Doch bald hatten Artus und seine<br />

Männer Dschingis Kahn und seine Krieger besiegt, die irgendwohin ins Nichts flüchteten. Die<br />

keltischen Ritter jubelten und schrien vor Freude, Roy, Racket und Romi auch, als es plötzlich<br />

mucksmäuschenstill wurde. Alle Krieger und alle Ritter waren verschwunden. Wie vom<br />

Erdboden verschluckt. Die drei R’s standen ganz allein auf dem weiten Feld, und auch Greg<br />

Haport und seine Kumpane waren weg.<br />

Am Feldrand, dem Schloss zugewandt, stand Mr. Finley und funkelte Roy mit erzürnten<br />

Augen an.<br />

»Roy Rapperpotz! Komm sofort hierher! Und ihr anderen beiden auch!«<br />

Als die drei R’s langsam zu ihm herankamen nahm er Roy fest am Arm und zerrte ihn<br />

zurück ins Schloss, zu einem der Türme. Dort führte er ihn mit Racket und Romi im<br />

Schlepptau unzählige Treppen hinauf, bis sie schließlich an eine Tür kamen, die von beiden<br />

Seiten mit Fackeln beleuchtet war. Mr. Finley öffnete die Tür, und sie betraten das Zimmer.<br />

In einem Sessel vor einem großen Kamin saß Morella und sah ihn mit müden Augen an.<br />

Roy war sehr erstaunt, sie hier zu sehen, doch anscheinend hatte die Behandlung in dem<br />

Keller gut gewirkt, denn außer der Müdigkeit in ihren Augen war sie jetzt wieder ganz die<br />

Alte. Mit der Hand bat sie Roy sich hinzusetzen.<br />

»War es dir nicht verboten, diesen zweiten Träumelspruch ohne Konkel und ohne<br />

Traummantel zu benutzen, Roy Rapperpotz?«<br />

Roy wusste nicht, was er sagen sollte. Verlegen schaute er zu Boden.<br />

»Es gibt Regeln hier an unserer Schule, Roy, die alle einhalten müssen. Auch du.<br />

Verstehst du das?«<br />

»Ja«, sagte Roy leise.<br />

»Niemals darf sich jemand aus unserem Lande den Menschen in seinen Träumen zeigen.<br />

<strong>Der</strong> Traummantel ist nicht nur zum Fliegen, sondern auch zur Tarnung da, verstehst du?<br />

Deshalb darf man ohne Traummantel auch keinen Menschen hierher holen. Das ist eine<br />

unserer Regeln, und du hast sie gebrochen.«<br />

»Aber wir dachten, wir sollten unseren eigenen Fähigkeiten vertrauen, auch wenn wir<br />

noch nicht alles wissen.«


»Ja, das stimmt. Aber das heißt nicht, dass ihr Regeln brechen sollt. Regeln gibt es nicht<br />

umsonst. Ihr wisst noch so wenig. Ihr wisst eigentlich noch gar nichts. Und Regeln sollen<br />

euch und uns vor Schaden bewahren, sollen euch helfen, den richtigen Weg zu finden,<br />

solange, bis ihr sie eines Tages nicht mehr braucht. Verstehst du das, Roy?«<br />

»Ja. Ich glaube schon«, sagte Roy wieder sehr leise.<br />

»Mrs. Wedding hat euch doch verboten, diesen Spruch ohne Traummantel aufzusagen,<br />

oder nicht?«<br />

»Ja, das hat sie. Aber sie sagte auch, dass man nie alles wissen kann und dass man sich<br />

selbst vertrauen soll.«<br />

»Ja, Roy«, sagte Morella müde. »Das ist richtig. Du sollst dir selbst vertrauen und deinen<br />

Gefühlen. Und jetzt sag mir, ob es richtig war, diese Regel zu brechen?«<br />

Roy wusste, dass sie recht hatte. Er wusste und er fühlte, dass es falsch war, diese Regel<br />

zu brechen, und irgendwie hatte er es schon vorher gewusst. Nicht umsonst gab es Regeln.<br />

Roy wusste, dass er einen schwerwiegenden Fehler begangen hatte.<br />

Nachdenklich schüttelte Morella ihren Kopf. »Alle Schüler unserer Schule müssen sich<br />

an unsere Regeln halten. Auch du. Aber da du ein Mitglied der königlichen Familie bist,<br />

werden wir dich trotzdem zur Aufnahmeprüfung zulassen. Aber sie wird für dich – und für<br />

euch beide …«, sie schaute dabei zu Racket und Romi, »sie wird für euch drei besonders<br />

schwer werden. Und jetzt geht.«<br />

Sie drehte sich um, und Finley nahm Roy wieder am Arm und zerrte ihn die langen<br />

Treppen hinunter in sein Zimmer.<br />

Mr. Finley war sichtlich unzufrieden mit Morellas Entscheidung.<br />

»Ich weiß nicht, warum ihr trotzdem an der Aufnahmeprüfung teilnehmen dürft.<br />

Normalerweise endet solch ein Regelverstoß mit einem Verweis von der Schule.«<br />

Dann murmelte er noch etwas in seinen Bart. »Licht aus und keinen Mucks mehr.«<br />

Schnell sprangen die drei in ihre Betten. Racket flüsterte andauernd etwas von<br />

»Aufnahmeprüfung« und »sinnlos« und von »Koffer packen«. Romi war vollkommen<br />

verstummt. Roy zog seine Decke weit über den Kopf und schlief mit einem furchtbar<br />

schlechten Gewissen ein.<br />

7. Roy und die Aufnahmeprüfung<br />

Heute war es soweit. Heute sollten alle neuen Schüler geprüft werden. Heute würde sich<br />

erweisen, ob Roy, Romi und Racket würdig waren, die Schule Rapperpotz zu besuchen. Roy<br />

hatte immer noch ein schlechtes Gewissen. Seinetwegen würden sie nun eine besonders<br />

schwere Prüfung haben. Aufgeregt standen die Prüflinge vor der Schule im Hof und warteten.<br />

Jeweils drei Schüler wurden zusammen in einer Gruppe geprüft, und natürlich würden die<br />

drei R’s Roy, Romi und Racket in einer Prüfungsgruppe sein. Auch wenn sie sich dessen<br />

vorher nicht sicher gewesen waren, so bestand wohl seit dem gestrigen Abend kein Zweifel<br />

mehr daran.<br />

Gleich nach dem Frühstück wurden die ersten drei Schüler zur Prüfung ins Haus geholt.<br />

Es dauerte fast zwei Stunden, dann kamen sie freudestrahlend heraus.<br />

»Wir haben es geschafft! Wir sind aufgenommen.«<br />

Und noch bevor Roy sie nach Einzelheiten fragen konnte, waren sie schon verschwunden.<br />

Ihnen stand nun ein wunderschöner Tag bevor, denn sie hatten alles hinter sich.<br />

Schössel kam vorbei und ärgerte die drei, die vor Ungeduld schon ganz krank waren.<br />

»Naja. Wird wohl nicht viel werden mit der Schule Rapperpotz nach dem gestrigen<br />

Abend. Hättet lieber auf mich hören sollen. Aber bitte, ihr müsst ja immer alles besser wissen,<br />

ihr Neunmalklugen.«


Keiner von ihnen mochte darauf antworten. Racket war übel, und Roy hatte keine Lust,<br />

sich mit Schössel zu streiten.<br />

»Werdet wohl eure Koffer packen müssen. Bin gespannt, was Meister Guckifix dazu<br />

sagen wird. Naja, begeistert wird er jedenfalls nicht sein.«<br />

Jetzt hatte Racket doch genug. »Wenn du uns gestern gewarnt hättest, dann wäre das alles<br />

nicht passiert!«<br />

Beleidigt verschwand Schössel wieder zu den anderen Wolken.<br />

»Bin ich vielleicht ein Wachhund? Bin ich vielleicht schuld, wenn ihr ein Verbot<br />

missachtet?«<br />

Sie hatte ja recht. Roy hatte sich die Suppe selber eingebrockt und musste sie jetzt auch<br />

selber auslöffeln. Im Moment hatte er auch andere Sorgen, als sich von Schössel ärgern zu<br />

lassen. Was werden sie wohl wissen wollen in dieser Prüfung? Von älteren Schülern hatte er<br />

gehört, dass sich die Fragen niemals wiederholten und damit keine Frage jemals zweimal<br />

gestellt wurde, zumindest nicht in dem besonderen kleinen Zimmer. Und dann wurden sie alle<br />

unheimlich schweigsam. Keiner von ihnen schien gern darüber zu reden, und mehr konnte<br />

Roy von ihnen auch nicht erfahren.<br />

Wenig später kam Sem freudestrahlend aus der Schultür gelaufen.<br />

»Ich habe es geschafft! Es war ganz einfach. Ich bin in der Schule Rapperpotz.«<br />

Er stürmte hinaus auf den Hof und schlug lauter Purzelbäume vor Glück.<br />

»So schwer kann es doch gar nicht sein«, hoffte Racket.<br />

»Ja, für ihn nicht, aber für uns schon«, raubte Romi ihm seine Illusionen.<br />

Und wieder fühlte Roy dieses unangenehme Gefühl in der Magengrube. Wenn es doch<br />

nur schon vorbei wäre! Als nächste kam Marie heraus. Sie war kreideweiß. Traurig ließ sie<br />

ihren Kopf hängen. Sie war durchgefallen.<br />

»Oh Gott«, stöhnte Racket. »Ich werde das niemals schaffen. Niemals!«<br />

Er steckte seinen Kopf zwischen die Knie, und Roy schien es, als ob er niemals dort<br />

wieder hervorkommen wolle. Auch Ed Fischer kam bleich wie eine Wand aus der Schultür.<br />

Doch er hatte bestanden, und damit würde auch er ein Schüler der Schule Rapperpotz werden.<br />

<strong>Der</strong> Tag verging, und nach und nach verschwanden alle Prüflinge vom Schulhof,<br />

alle bis auf die drei R’s, die voller Sorge an der Hinterwand des Hofes saßen und<br />

warteten. Stehen konnten sie schon lange nicht mehr. Von den anderen Schülern hatte etwa<br />

die Hälfte bestanden, die anderen mussten ihre Koffer packen und wieder nach Hause fahren.<br />

Die drei saßen immer noch wie auf Kohlen in dem Hof, als endlich ihre Namen<br />

aufgerufen wurden. Romi sprang sofort auf, und Roy folgte ihr langsam. Racket war schon<br />

völlig entkräftet vom langen Warten, doch auch froh, dass es nun endlich ein Ende hatte. Mit<br />

weichen Knien lief er Romi und Roy nach.<br />

Obwohl Morella noch ziemlich schwach war, kam sie extra von ihrem Turm herunter, um<br />

auch ganz sicher zu sein, dass die drei eine faire Prüfung erhielten. Einige der Lehrer, allen<br />

voran Mr. Finley, hatten sich über das gestrige Ereignis sehr empört und hätten es lieber<br />

gesehen, wenn die drei R’s von der Schule verwiesen worden wären. Sie konnten nicht<br />

glauben, dass dieser Roy Rapperpotz, dieser kleine ungezogene Junge, ihre Rettung sein<br />

sollte, dass er eines Tages den schwarzen Regen besiegen und aus Traumania vertreiben<br />

würde. Doch auf Morellas Drängen gaben sie schließlich nach und gewährten ihm eine<br />

Ausnahme von den sonst so strengen Regeln der Schule Rapperpotz. Aber dafür sollte nun die<br />

Aufnahmeprüfung für die drei R’s ganz besonders schwer werden.<br />

Roy, Racket und Romi betraten das Prüfungszimmer. Es war jedoch nicht jenes kleine<br />

Zimmer, welches sie auf ihrer Rundreise durch die Schule gesehen hatten. Es war ein ganz<br />

normales Klassenzimmer. Eine Menge Lehrer waren dort versammelt. Mrs. Wedding war<br />

auch da, und ganz rechts sah Roy Mr. Finley, der ihn mit strengen Augen musterte.<br />

»So, meine lieben Kinder«, begann Mrs. Wedding die Prüfung. »Wir haben lange<br />

überlegt, was wir mit euch machen sollen, und es ist uns nicht leicht gefallen, glaubt mir.«


Sie schaute kurz zu Mr. Finley, der ihr zufrieden zunickte und fuhr dann fort: »Aber wir<br />

haben uns entschlossen, euch in drei Abschnitten zu prüfen. Ihr werdet viele Fragen<br />

beantworten müssen, und es gilt ein Rätsel zu lösen, das beweisen wird, ob ihr würdig seid,<br />

hier zu bleiben.«<br />

»Oh nein«, murmelte Racket voller Panik. »Ich kann doch keine Rätsel lösen. Es ist aus.<br />

Genauso gut kann ich jetzt schon meine Koffer packen.«<br />

»Reiß dich zusammen!«, wandte sich Romi kurz an ihn und hörte dann aufmerksam<br />

weiter Mrs. Wedding zu.<br />

»Also gut. Fangen wir an! Wie heißt es, den Menschen Träume zu bringen, Romi?«<br />

»Träumeln«, antwortete diese sofort.<br />

Roy war erleichtert. So schwer waren die Fragen ja gar nicht.<br />

»Womit werden die Träume zu den Menschen gebracht, Roy?«<br />

»Mit dem Konkel.«<br />

»Richtig. Und wie heißt unsere Sprache, mit der das Träumeln erst möglich wird,<br />

Racket?«<br />

»Das Hunduisch«, antwortet er stolz.<br />

Mrs. Wedding schaute die drei lächelnd an. »Sehr gut.«<br />

Dann wandte sie sich wieder an Romi. »Wie heißt der erste Träumelspruch?«<br />

Romi überlegte kurz und antwortete dann.<br />

»Träumel, Traumel, Trimmel drin,<br />

bring den Trimmler, Traumler, <strong>Träumler</strong> hin<br />

zu diesem Ort:«<br />

»Ja, sehr gut, das stimmt.«<br />

Dann wurde ihr Gesicht doch wieder ernster. »Roy, wie lautet die Regel für den zweiten<br />

Träumelspruch?«<br />

Als ob Roy nicht schon selbst genug darunter litt, wurde er nun gezwungen, seine<br />

Schande nochmals öffentlich zur Schau zu stellen. Trotzdem blieb seine Stimme klar und fest.<br />

»Ohne Traummantel und ohne Konkel darf der zweite Traumspruch nicht benutzt<br />

werden.«<br />

»Ja, genauso ist es. Das ist eine feste Regel, die unbedingt befolgt werden muss. Weißt du<br />

auch, warum?«<br />

Sie schaute ihn durchdringend an.<br />

»Weil uns sonst die Menschen sehen können in ihren Träumen.«<br />

Mrs. Wedding lächelte zufrieden und richtete die nächste Frage an Racket.<br />

»Wer hat die Schule Rapperpotz erbaut, Racket?«<br />

»Ich weiß es, ich weiß es!«, schrie Racket lauthals vor Freude. Doch dann wurde er<br />

wieder leise und furchtbar traurig. »Verflixt, ich weiß es doch nicht. Ich weiß es nicht mehr.<br />

Ich habe es gewusst, doch ich habe es vergessen.«<br />

Morella redete ihm zu. »Racket, streng dich an. Denk nach. Du weißt es.«<br />

»Nein. Ich habe es vergessen. Ich weiß es nicht mehr.«<br />

Wie gern würde Roy seinem Freund jetzt helfen! Er selbst wusste natürlich, wer es war.<br />

Doch er durfte keinen Ton von sich geben. Dies war eine Prüfung.<br />

»Es war Meister Satolex!«, kam es plötzlich aus Racket herausgepoltert. »Ja. Meister<br />

Satolex hat die Schule erbaut. Ganz sicher. Meister Satolex.«<br />

Mrs. Wedding schaute ihn zufrieden an. »Ja, du hast recht. Es war Meister Satolex.«<br />

Dann blickte sie nach rechts und links zu all den anderen Prüfern, die ebenfalls zufrieden<br />

mit ihren Köpfen nickten. Nur mit Mr. Finley sprach sie noch einmal kurz, bevor sie sich<br />

wieder an die drei R’s richtete.<br />

»Ihr habt den ersten Abschnitt eurer Prüfung bestanden. <strong>Der</strong> zweite Abschnitt findet im<br />

Nachbarzimmer statt. Bitte geht jetzt dort hinein. Euer Prüfer wird Mr. Finley sein.«


Roy ahnte nichts Gutes. Dieser Finley hatte es auf ihn abgesehen. Das spürte er ganz<br />

deutlich. Doch was blieb ihm übrig, als mit den anderen hinüberzugehen und die nächsten<br />

Fragen abzuwarten?<br />

Das Zimmer war hell erleuchtet, und sie waren mit Mr. Finley ganz allein. Sobald die Tür<br />

hinter ihnen geschlossen war, begann Finley in seiner unfreundlichen Art zu reden.<br />

»Wenn es nach mir gegangen wäre, wärt ihr von der Schule geflogen, allesamt. Auch du,<br />

Roy Rapperpotz. Aber der Schulrat hat etwas anderes beschlossen. Nur einer von euch muss<br />

gehen. Ihr könnt selbst entscheiden, wer das sein soll. Ich werde in einer halben Stunde<br />

wieder hier sein, und dann möchte ich eine Antwort von euch haben. Ist das klar?« Ohne eine<br />

Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verließ das Zimmer.<br />

»Dieser widerliche Mistkerl!«, entfuhr es Racket. »Ich bin sicher, er hat sich das<br />

ausgedacht.«<br />

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Romi traurig.<br />

»Ich werde gehen«, antwortete Racket sofort. »Ich bin schon durch so viele Prüfungen<br />

gefallen. Eine mehr oder weniger macht auch nichts mehr aus, und außerdem würde ich das<br />

Rätsel sowieso nie lösen können.«<br />

Doch Roy war damit ganz und gar nicht einverstanden. »Nein, Racket, du bist jetzt schon<br />

so weit gekommen. Es ist meine Schuld, dass wir in dieser Patsche sitzen. Also werde ich<br />

gehen.«<br />

»Das stimmt doch gar nicht, Roy!«, widersprach Romi. »Wir alle haben mitgemacht. Wir<br />

alle sind daran schuld, nicht du allein.«<br />

»Aber einer von uns muss gehen. Du hast es gehört. Und Regeln sind heilig hier in der<br />

Schule Rapperpotz.«<br />

»Dann gehe ich«, schlug plötzlich Romi vor. »Roy muss hierbleiben und das Träumeln<br />

lernen, und du musst ihm dabei helfen, Racket.«<br />

»Genauso gut kannst du ihm doch helfen«, erwiderte Racket schnell.<br />

Romi setzte sich nachdenklich auf einen Stuhl. »So werden wir keine Lösung finden.«<br />

»Ja. Aber einer von uns muss gehen.« Racket setzte sich neben sie.<br />

So saßen die drei sehr lange da und wussten sich keinen Rat. Jeder von ihnen war bereit,<br />

für den anderen die Schule zu verlassen. Sie konnten sich einfach nicht entscheiden, auch<br />

nicht, als die Tür aufsprang und Mr. Finley sie wieder in das andere Zimmer führte, wo noch<br />

immer alle Prüfer saßen und gespannt auf ihre Antwort warteten.<br />

»Also, Roy Rapperpotz, wer soll eurer Meinung nach die Schule verlassen?«<br />

Da sie keine Lösung gefunden hatten, fasste Roy einen folgenschweren Entschluss und<br />

verkündete die einzige Möglichkeit, die ihm in den Sinn kam: »Wir konnten uns nicht<br />

entscheiden, wer gehen soll, also werden wir alle drei die Schule wieder verlassen.«<br />

Romi und Racket schauten ihn mit großen entsetzten Augen an. Traurig senkte Roy<br />

seinen Kopf. Doch – oh Wunder! – Morella war mit seiner Antwort sehr zufrieden und<br />

antwortete ruhig und freundlich, so als ob sie nichts anderes erwartete hatte.<br />

»Ihr habt auch diese Prüfung bestanden, Roy Rapperpotz. Eure Freundschaft ist euch<br />

mehr wert als euer eigenes Schicksal. Das sind Eigenschaften wahrhaft guter Menschen. Ihr<br />

dürft nun alle drei zum dritten Abschnitt der Prüfung gehen.«<br />

»Wir müssen die Schule nicht verlassen?«, staunte Roy, und Racket brachte vor Freude<br />

keine einzige Silbe über seine Lippen.<br />

»Nein«, sagte Mrs. Wedding und lächelte dabei. »Aber in das nächste Zimmer darf immer<br />

nur einer von euch gehen. Roy Rapperpotz, du bist der Erste.«<br />

Morella nahm ihn bei der Hand, und sie betraten das Zimmer, jenes dunkle Zimmer mit<br />

dem Spiegel an der Wand, der so seltsame Reaktionen unter den Schülern ausgelöst hatte. Nur<br />

selten verspürte Roy Angst, doch in diesem Augenblick packte ihn schreckliche Furcht. Als<br />

Morella die Tür schloss, war es fast vollkommen dunkel, nur von dem Spiegel ging ein<br />

seltsames blaues Licht aus. Vor dieses Licht würde Roy jetzt von Morella geführt.


»Schau in den Spiegel, Roy. Was siehst du?«<br />

»Ich sehe mich. So, wie ich mich immer in den Fenstern des Schlosses sehe.«<br />

»Ja, aber sieh genauer hin, was siehst du noch?«<br />

Roy betrachtete den Jungen genauer, wie er ihn mit großen Augen verzweifelt anstarrte,<br />

ihn fragend musterte, als ob er etwas Bestimmtes von ihm wissen wollte. Dann sah Roy den<br />

Jungen weinend in die Ferne blicken, wo ein schwarzer Regenguss mit Donner und Blitz<br />

immer näher kam. Was der Junge auch versuchte, er konnte diesem Regenschauer nicht<br />

entfliehen. Und je näher der Regen kam, umso deutlicher konnte Roy darin eine Frau und<br />

einen Mann erkennen. <strong>Der</strong> Mann trug eine Krone auf seinem majestätischen Haupt, und die<br />

Frau war so schön, so wunderschön, wie Roy noch niemals zuvor jemanden erblickt hatte.<br />

Und plötzlich wusste er, dass dies seine Eltern waren, die dort im Regen zu ihm eilen wollten<br />

und doch nicht konnten. Und was Roy auch tat, er konnte den Regen nicht besiegen, er konnte<br />

seinen Eltern nicht helfen. Mit Tränen in den Augen setzte er sich auf den Boden.<br />

»Was hast du gesehen, Roy?«<br />

»Meine Eltern sind dort in dem Regen.«<br />

»Weißt du, was du wirklich gesehen hast?« Morella sah ihn erwartungsvoll an. »Weißt du<br />

es?«<br />

»Ich war dort und habe alles versucht, aber ich konnte ihnen nicht helfen.«<br />

»Ja. Sag mir, was es war. Was hast du gesehen? Warum konntest du ihnen nicht helfen?<br />

Überlege.«<br />

Weinend begann Roy zu überlegen. Er war wie gelähmt, so wie dieser Junge da vor ihm.<br />

Er konnte nichts tun. Er konnte nichts tun vor Furcht.<br />

»Ich habe Angst. Angst, meine Eltern nie wieder zu sehen. Angst vor dem schwarzen<br />

Regen.«<br />

Morella sah ihn zufrieden an.<br />

»Ist es das? Meine Angst?«, schluchzte Roy.<br />

»Ja, das ist es. Dieser Spiegel offenbart deine innersten Ängste. Doch du musst sie selbst<br />

in dir erkennen. Das war die dritte Prüfung, und du hast sie bestanden.«<br />

»Aber wozu soll das gut sein?«, fragte Roy verwirrt. »Ich möchte die Angst nicht sehen.«<br />

»<strong>Der</strong> Mensch muss seine Ängste kennen, Roy, um sie zu bekämpfen. Nur, wenn du deine<br />

Ängste besiegen kannst, wirst du das Träumeln lernen können. Verstehst du das?«<br />

Roy glaubte, ihre Worte zu verstehen, doch war er in Gedanken immer noch bei seinen<br />

Eltern. Wo waren sie jetzt? Ob er sie jemals wieder sehen würde? Er war fest entschlossen,<br />

seine Ängste zu besiegen, und er würde lernen, er würde lernen zu träumeln wie ein Meister,<br />

und er würde den heiligen Somnel finden und den Regen vertreiben, und eines Tages würde<br />

er auch seine Eltern wieder sehen. Er glaubte jetzt ganz fest daran und schon begann ein Stück<br />

dieser Angst, die er eben erkannt hatte, zu weichen.<br />

Roy wartete auf dem Hof auf Romi und Racket. Zuerst kam Romi, freudestrahlend und<br />

glücklich, die Prüfung bestanden zu haben, und kurz danach auch Racket, der zwar<br />

kreideweiß durch die Tür torkelte und kaum ein Wort sagen konnte, doch aus den wenigen<br />

gestammelten Silben konnten seine Freunde überglücklich entnehmen, dass auch er bestanden<br />

hatte.<br />

Noch lange saßen die drei diese Nacht beieinander und feierten ihren endgültigen Einzug<br />

in die Schule Rapperpotz. So viel hatten sie erlebt in den letzten Tagen. Doch all das war<br />

nichts, verglichen mit dem, was sie noch erwarteten sollte. Doch nun war Roy darauf<br />

vorbereitet.


8. Roy und die geheimnisvolle Truhe<br />

<strong>Der</strong> nächste Morgen war irgendwie ganz anders als die vorangegangenen. Nun gehörten<br />

sie wirklich dazu. Nun waren sie offiziell Schüler der Schule Rapperpotz, und Roy schien es,<br />

als ob Racket über Nacht zehn Zentimeter größer geworden wäre, so stolz ging er durch die<br />

Schule. Die älteren Schüler grüßten sie höflich, und Roy sah, wie einige in Traummänteln<br />

durch die Gänge fegten und andere vorsichtig ihren Konkel putzten. Ein paar standen auch in<br />

den Ecken und befragten sorgenvoll ihren Kristall, wie wohl die letzte Hunduisch-Prüfung<br />

ausgefallen sei, worauf sie natürlich keine Antwort erhielten.<br />

Roy betrat gemeinsam mit Racket das Klassenzimmer. Romi saß bereits gut gelaunt auf<br />

ihrer Truhe und winkte den beiden freudestrahlend zu. Als sich die Jungen auch auf ihre<br />

Truhe gesetzt hatten, kam Mrs. Wedding herein. Sie lächelte Roy freundlich zu, bevor sie all<br />

die anderen Schüler begrüßte.<br />

»Herzlich Willkommen in der Schule Rapperpotz, liebe Kinder. Ihr alle habt die<br />

Aufnahmeprüfung bestanden.« Bei diesen Worten strahlte sie besonders Roy, Romi und<br />

Racket an. »Auch wenn es einige von euch nicht ganz einfach hatten, ihr habt es geschafft.«<br />

Nach einer kurzen Pause, in der sie all die glücklichen Gesichter bestaunte, schlug sie<br />

dann demonstrativ ihre Hände zusammen. »Und jetzt beginnt der schwierigste Teil eurer<br />

Ausbildung. Ihr werdet viel lernen müssen, sehr viel. Und es wird euch nicht immer leicht<br />

fallen, das kann ich euch versprechen. Doch wenn ihr euch anstrengt und fleißig seid, dann<br />

werdet ihr eines Tages richtige <strong>Träumler</strong> werden. Auch das kann ich euch versprechen.«<br />

Alle Schüler hörten ihr aufmerksam zu. Natürlich wollten sie <strong>Träumler</strong> werden, große<br />

<strong>Träumler</strong>, und jeder von ihnen war bereit, hart dafür zu arbeiten. Deshalb konzentrierten sie<br />

sich und lauschten gespannt Mrs. Weddings Worten.<br />

»Ihr werdet euch sicher fragen, was in diesen Truhen ist«, sprach Mrs. Wedding weiter.<br />

Sie schaute in die Runde, und alle nickten zustimmend. »Macht sie auf, und dann seht ihr es.«<br />

Roy hatte schon mehrmals versucht die Truhe zu öffnen, immer ohne Erfolg. Aufgeregt<br />

sprang er jetzt herunter und befolgte Mrs. Weddings Anweisung, den Deckel nur leicht mit<br />

dem Finger zu berühren, und schon öffnete sich die Truhe – wie von magischer Hand bewegt.<br />

Darin lag ein wunderschöner Mantel, glänzend, nicht silbern oder golden, wie er es bei Greg<br />

Haport oder Morella gesehen hatte, sondern in den schönsten Farben des Regenbogens.<br />

»Was ihr in den Truhen seht, ist euer Traummantel«, erklärte Mrs. Wedding. »Damit<br />

werdet ihr euch zwischen den Menschen bewegen, während ihr ihnen die Träume bringt.«<br />

Vorsichtig und ehrfürchtig nahm Roy seinen Mantel aus der Truhe. Er war sehr leicht,<br />

eigentlich kaum zu spüren, und der Stoff fühlte sich weich und wunderbar glatt an. Roy<br />

betrachtete ihn von allen möglichen Seiten. Immer, wenn er den Mantel ein wenig drehte,<br />

änderte er seine Farbe, von einem herrlich leuchtenden Grün in ein feuriges Rot und dann in<br />

ein tiefes Blau, das wahrscheinlich schöner und reiner in keinem Ozean zu finden war und<br />

schließlich in ein Gelb, welches direkt von der Sonne zu kommen schien. Roy war unheimlich<br />

stolz auf seinen Traummantel. Er hätte ihn sich nicht schöner vorstellen können. Auch die<br />

anderen Kinder waren von ihren Mänteln begeistert. Zwar waren sie nicht so bunt wie der von<br />

Roy, die meisten waren silbern oder bronzen, doch es war ihr ganz eigener, und das gefiel den<br />

Kindern am besten daran. Als alle ihre Mäntel hervorgeholt hatten, begann Mrs. Wedding<br />

ihnen zu erklären, wie er funktionierte.<br />

»Eigentlich ist es ganz einfach, Kinder. Dem Mantel müsst ihr keine Befehle geben. Er<br />

folgt euren Gedanken. Wenn ihr denkt, dass er nach rechts fliegen soll, dann fliegt er auch<br />

nach rechts. Wenn ihr nach links fliegen wollt, dann denkt einfach: nach links. Es ist ganz<br />

einfach.« Sie lächelte die Kinder an. »Aber Vorsicht! Ihr müsst euch konzentrieren. Denn<br />

wenn ihr aufhört, daran zu denken, dann wird der Mantel auch nicht fliegen, versteht ihr<br />

mich?«


Alle Schüler nickten eifrig, nur Racket hatte seinen Mantel bereits übermütig angezogen<br />

und schwebte plötzlich weit oben im Zimmer.<br />

»Komm herunter, Racket!«, forderte Mrs. Wedding ihn auf. »Ich habe noch nichts vom<br />

Fliegen gesagt.«<br />

Verlegen zuckte Racket mit den Schultern. »Ich weiß nicht wie, Mrs. Wedding.«<br />

»Denk einfach daran.«<br />

Einen Augenblick später krachte Racket auf den Boden. Mit schmerzverzogenem Gesicht<br />

stand er auf und setzte sich zurück auf seine Truhe.<br />

»Ich hätte nie gedacht, dass Fliegen so wehtun kann«, murmelte er vor sich hin.<br />

Mrs. Wedding sah ihn mit scharfen Augen an. »Hier wird auch nicht geflogen, sondern<br />

draußen auf dem Übungsplatz.«<br />

Dann richtete sie sich wieder an all die anderen Schüler und fuhr mit ihrer<br />

Unterrichtsstunde fort. »Schaut auf eure Mäntel. Dort sind mehrere Taschen eingenäht. Weiß<br />

jemand, wofür sie benutzt werden?«<br />

»Sie sind für den Traumsand«, vermutete Roy.<br />

»Ja, richtig. In diesen Taschen wird der Traumsand aufbewahrt und während des Fluges<br />

verteilt. Es gehört eine Menge Übung und Geschick dazu.«<br />

»Woher kommt eigentlich der Traumsand?«, fragte Sem aus der hinteren Reihe.<br />

»<strong>Der</strong> Traumsand kommt vom Meer der Träume.«<br />

»Wo ist das Meer der Träume?«, wollte Sem weiter wissen.<br />

Roy und die anderen Schüler hörten Mrs. Wedding gespannt zu.<br />

»Das Meer der Träume ist die Mitte unseres Landes. In diesem Meer befinden sich alle<br />

Träume aller Lebewesen. Von dort holen wir die Träume in unseren Konkel, um dann<br />

träumeln zu können. In der Mitte dieses Meeres liegt eine Insel, und mitten auf dieser Insel ist<br />

der heiligen Berg Sinah. Eure Kristalle stammen von diesem Berg, und euren Konkel werdet<br />

ihr noch aus dem heiligen See Jovra holen müssen, der auch auf der Insel ist. Aber dazu<br />

kommen wir später. Jedenfalls hat dieses Meer endlose Strände mit dem feinsten und besten<br />

Sand. Das ist der Traumsand.«<br />

Roy glaubte sich an dieses Meer zu erinnern.<br />

»Wir sind dort gewesen«, rief er deshalb aus. »Über diesem Meer haben wir einen<br />

Seefahrer gesehen, der auf seinem Schiff einem fernen Ziel entgegensegelte.«<br />

»Das war sicherlich Kolumbus, den ihr da gesehen habt«, lächelte Mrs. Wedding.<br />

Roy erinnerte sich an den Namen. »Ja, es war Kolumbus.«<br />

Mrs. Wedding nickte. »Das ist ein großer Mann, und er hat große Träume, die mehrere<br />

unserer besten <strong>Träumler</strong> beschäftigen.«<br />

Obwohl Racket dem Unterricht aufmerksam folgte, stöberte er doch weiter in seiner<br />

Truhe herum. Er hatte etwas entdeckt, das seine unbändige Neugier weckte. Etwas sehr<br />

Seltsames. Ganz unten, auf dem Boden der Truhe sah er einen Stern. Einen kleinen<br />

leuchtenden Stern, der ihm lustig zufunkelte. Angestrengt versuchte er, mit den Händen bis<br />

hinunter auf den Boden der Truhe zu reichen, um den Stern herauszuholen.<br />

»Was treibst du dort schon wieder, Racket?«, ermahnte ihn Mrs. Wedding.<br />

Doch noch während ihrer Worte fi el Racket mit lautem Krachen in die Truhe. Langsam<br />

kam er mit einem verschmitzten Lächeln wieder heraus.<br />

»Irgendetwas ist noch in meiner Truhe. Ich glaube, es ist ein Stern.«<br />

»Das hätte ich mir denken können, dass du ihn findest«, rief Mrs. Wedding aus.<br />

Racket hielt den Stern stolz zwischen seinen Fingerspitzen, während Mrs. Wedding ihm<br />

seine Bewandtnis erklärte. Jedes Jahr wurde ein Stern in den Truhen der Erstklässler<br />

versteckt. Wer ihn fand, durfte mit einem Meister der Schule zum Träumeln in die<br />

Traumwelt. Es ist ein hohes Privileg, denn nur die Schüler der höheren Klassen dürfen<br />

normalerweise die Schule verlassen und in Traumania träumeln, denn draußen, außerhalb des<br />

schützenden Körpers von Tarkan, durften keine Fehler mehr geschehen. Dort gab es


niemanden, der auf die jungen <strong>Träumler</strong> aufpasste. Dort konnten die tollsten Abenteuer<br />

geschehen, und gerade darauf freute sich Racket nun. Ihm wurde erlaubt, noch zwei Freunde<br />

mitzunehmen. Es war natürlich klar, dass er Roy und Romi wählte.<br />

»Wann werden wir aufbrechen, Mrs. Wedding?«, fragte er ungeduldig.<br />

»Wenn unsere Stunde beendet ist, wird sich einer der Meister um euch kümmern.«<br />

Roy hoffte nur, dass es nicht Mr. Finley sein würde. Er wusste, dass Finley ihn nicht<br />

leiden konnte, und dies beruhte auf Gegenseitigkeit. Irgendetwas Unangenehmes an ihm<br />

mahnte Roy zur Vorsicht. Er konnte es nicht beschreiben, doch er spürte es ganz genau. Mrs.<br />

Wedding erzählte noch einiges über den Traummantel und worauf sie vor allem zu achten<br />

hatten. Wie sie in die Luft aufsteigen und landen sollten, und wie sie am besten eine Kurve<br />

flogen. Racket und die anderen beiden R’s konnten sich vor Vorfreude kaum noch<br />

konzentrieren. Doch endlich war die Stunde vorbei, und die drei R’s warteten ungeduldig auf<br />

den Meister, der sie zum Träumeln mitnehmen würde. Kurz nachdem alle Schüler den<br />

Klassenraum verlassen hatten, kam Morella in ihr Zimmer.<br />

»So, ihr wollt also mit zum Träumeln?«<br />

»Ja!«, rief Roy erleichtert.<br />

Er freute sich, dass es Morella war, die sie mit nach draußen, in die Welt Traumanias<br />

nahm. Schnell zogen sie ihre Traummäntel an, und schon ging es los. Morella sprach den<br />

Träumelspruch, den unsere Helden eifrig wiederholten, und plötzlich standen sie neben einer<br />

Scheune, mitten auf einem weiten Feld, mitten im Land der Träume.<br />

Unsere drei R’s waren so aufgeregt, dass sie ihre Mäntel falsch zugeknöpft hatten.<br />

Morella zeigte ihnen, wie sie richtig zu schließen waren, damit die Träger von dem<br />

Träumenden nicht erkannt werden konnten.<br />

Dann betraten sie die Scheune, aus der ungewohnte Geräusche kamen, ähnlich dem<br />

Tuckern eines Traktors. Sie standen vor einem seltsamen Gerät, das wie ein riesiger Motor<br />

auf vier Rädern aussah. Morella stieg in die Luft und verstreute ihren Traumsand, bis der<br />

Boden der Scheune über und über mit Sand bestreut war. Nachdem sie auch den zweiten<br />

Träumelspruch ausgesprochen hatte erschien ein Mann mit einem Schnurrbart. Roy meinte<br />

ihn zu kennen. Ja, er glaubte, ihn wirklich von einem Bild, das er früher einmal gesehen hatte,<br />

zu erkennen. Sein Name war Otto. Wahrscheinlich konnte er sich so genau an den Namen<br />

erinnern, weil er so einfach zu merken war. Aber er erinnerte sich auch, dass Otto den besten<br />

Automotor erfunden hatte. Er war ein Wissenschaftler. Und diesem berühmten Erfinder<br />

würde Morella jetzt seine Träume bringen?<br />

Die drei R’s waren furchtbar aufgeregt. Morella hielt ihren Konkel in den Händen, der<br />

wundersam zu leuchten begann und warme und seltsam fließende Strahlen aussandte, völlig<br />

anders als Roy es bei Greg Haport gesehen hatte. Dieses fließende Licht erreichte Otto, und er<br />

begann an seinem Motor zu basteln, zu schrauben und zu feilen. Und das Licht, das von<br />

Morellas Konkel ausging, umhüllte ihn mit einem eigenartigen Schein, der traumhaft schön<br />

war. Plötzlich bewegte sich das seltsame Gebilde mit den vier Rädern, und Otto schwang sich<br />

schnell auf den Fahrersitz. Mit zufriedenem Gesicht und laut singend schoss er aus der<br />

Scheune. Morella flog hinter ihm her und verstreute ihren Traumsand. Dann kam sie zu Roy<br />

und den anderen zurück.<br />

»Wie gefällt euch das, Kinder?«, fragte sie lächelnd.<br />

»Es ist wunderschön«, flüsterte Romi.<br />

»Ich habe noch nie etwas so Wunderbares gesehen«, pflichtete ihr Racket bei.<br />

»Wie glücklich er ist. Er hat etwas erfunden. Er träumt«, kam es staunend aus Roys<br />

Mund.<br />

Morella musste nun nicht mehr hinter Otto herfliegen. Sie hatte genug Traumsand<br />

verstreut, um ihn in seinen Träumen über jedes Hindernis fahren zu lassen. Nur ab und zu ließ<br />

sie ein paar dieser seltsam fließenden Strahlen aus ihrem Konkel, die auf wundersame Weise<br />

ihren Weg zu Otto fanden, und ihn auf seinem Auto über Berge und durch Täler fahren


ließen, und fast schien er vom Boden abzuheben, so schnell war er dabei. Er träumte<br />

wahrscheinlich den schönsten Traum seines Lebens, und die drei Schüler aus Rapperpotz<br />

schauten ihm mit großen Augen dabei zu.<br />

»Weißt du, wer das ist Roy?«, fragte Morella.<br />

»Das ist Otto, Nikolaus August Otto. Er hat einen ganz besonderen Motor erfunden.«<br />

»Sehr gut.« Dann fügte sie in sehr warmem Ton hinzu. »Ich bin sehr froh, dass du die<br />

Aufnahmeprüfung bestanden hast, Junge.«<br />

Roy war glücklich. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich wieder zu Hause, und<br />

bei den Bildern vor sich meinte er seine eigene Bestimmung zu erkennen. Er wollte träumeln<br />

und den Menschen ihre Träume bringen. Er wollte, dass alle Menschen so glücklich waren<br />

wie dieser Otto vor ihm.<br />

Allmählich verblasste das Licht um Otto, und schließlich verschwand auch er selbst aus<br />

dem Land der Träume. Morella sprach mit den Kinder den Träumelspruch, und sie kehrten<br />

nach Rapperpotz zurück. Es war bereits dunkel und spät am Abend. Morella brachte sie in<br />

ihre Zimmer und jeden Einzelnen von ihnen ins Bett.<br />

»Morgen werdet ihr lernen, mit eurem Traummantel zu fliegen. Schlaft gut.«<br />

Dann löschte sie das Licht.

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