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Prioritäten in der medizinischen Versorgung im System der ...

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7. International ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> letzten Dekade<br />

deutlich geworden, dass die Erarbeitung,<br />

Feststellung und Umsetzung von<br />

<strong>Versorgung</strong>sprioritäten e<strong>in</strong> komplexer,<br />

anspruchsvoller, zeitaufwendiger und<br />

konfliktreicher Vorgang ist. Er könnte<br />

durch die Berücksichtigung pr<strong>in</strong>zipieller<br />

<strong>in</strong>haltlicher und methodischer H<strong>in</strong>weise<br />

erleichtert werden:<br />

❃ Frühzeitig sollte die Klärung ethischer,<br />

(sozial)rechtlicher und (sozial)politischer<br />

Grundpositionen angestrebt werden.<br />

Unterschiedliche Positionen führen<br />

zu unterschiedlichen Verfahren und Ergebnissen.<br />

❃ Die Diskussion bedarf e<strong>in</strong>er genauen<br />

epidemiologischen bzw. gesundheitswissenschaftlichen<br />

Analyse <strong>der</strong> Morbidität,<br />

Mortalität und <strong>Versorgung</strong>swirklichkeit.<br />

Dabei s<strong>in</strong>d qualitative und quantitative<br />

Merkmale <strong>der</strong> Krankheitslast<br />

herauszuarbeiten und <strong>in</strong> Beziehung zu<br />

setzen zu den Möglichkeiten ihrer<br />

Prävention, Heilung und L<strong>in</strong><strong>der</strong>ung – unter<br />

Berücksichtigung aller direkten, <strong>in</strong>direkten<br />

und weiteren Kosten sowie ihrer<br />

für die GKV kostengünstigen o<strong>der</strong> sogar<br />

kostenlosen Alternativen. Hier besteht<br />

e<strong>in</strong>e Beziehung zwischen Priorisierung<br />

und den Konzepten und Methoden <strong>der</strong><br />

evidenzbasierten Mediz<strong>in</strong>/gesundheitlichen<br />

<strong>Versorgung</strong>.<br />

❃ <strong>Prioritäten</strong> s<strong>in</strong>d bedarfsbezogen zu<br />

entwickeln. Mediz<strong>in</strong>ischer <strong>Versorgung</strong>sbedarf<br />

ist nicht zu verwechseln mit <strong>der</strong> jeweils<br />

aktuellen <strong>Versorgung</strong>, ihrer Nachfrage<br />

o<strong>der</strong> ihrem Angebot. Bedarf ist<br />

dort gegeben, wo beides, e<strong>in</strong>e aktuelle<br />

o<strong>der</strong> drohende gesundheitliche E<strong>in</strong>schränkung<br />

und e<strong>in</strong> verfügbares präventives<br />

o<strong>der</strong> therapeutisches Verfahren vorliegen.<br />

Es muss die Chance bieten, e<strong>in</strong> als<br />

relevant akzeptiertes Ziel zu erreichen.<br />

Bedarf setzt – <strong>im</strong> Kontext <strong>der</strong> GKV – e<strong>in</strong><br />

Nutzenpotenzial („ability to benefit“) für<br />

die Kranken und Gefährdeten voraus.<br />

❃ <strong>Prioritäten</strong> können nur multi- und<br />

<strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>är erarbeitet werden. Der<br />

kl<strong>in</strong>ischen Expertise von Ärzten und an<strong>der</strong>en<br />

Therapeuten ist ausreichend Raum<br />

zu geben, ohne dabei auf den Sachverstand<br />

aus den Bereichen Ethik, Recht,<br />

kl<strong>in</strong>ische und bevölkerungsbezogene<br />

Epidemiologie und Gesundheitsökonomie<br />

zu verzichten.<br />

❃ Solche Vorschläge bedürfen e<strong>in</strong>er<br />

weiteren fachlichen, beson<strong>der</strong>s aber e<strong>in</strong>er<br />

öffentlichen Diskussion, unter Beteiligung<br />

aller betroffenen Gruppen (bzw. <strong>der</strong>en<br />

Repräsentanten). Hierfür s<strong>in</strong>d beson<strong>der</strong>e<br />

Verfahren zu entwickeln. Die durch<br />

Priorisierung erzwungene Bedarfsnormierung<br />

bedarf des Konsenses und <strong>der</strong><br />

demokratischen Legit<strong>im</strong>ation beson<strong>der</strong>s<br />

dort, wo sie <strong>in</strong>dividuelle Präferenzen <strong>in</strong><br />

größerem Umfang begrenzt o<strong>der</strong> ersetzt.<br />

A-1018<br />

B E K A N N T G A B E N D E R H E R A U S G E B E R<br />

❃ Priorisierung setzt abgrenzbare<br />

Adressaten voraus. In Deutschland handelt<br />

es sich – neben politischen Instanzen<br />

(z. B. Bundesm<strong>in</strong>isterium für Gesundheit,<br />

Parlamente) – typischerweise um Institutionen<br />

<strong>der</strong> (z. T. geme<strong>in</strong>samen) Selbstverwaltung<br />

(wie Bundesausschuss Ärzte und<br />

Krankenkassen, Kassenärztliche Vere<strong>in</strong>igungen,<br />

Krankenkassen, Rentenversicherungsträger).<br />

Sie verfügen <strong>in</strong> aller Regel<br />

über e<strong>in</strong>e sozialrechtlich normierte Strukturverantwortung<br />

(manifestiert u. a. <strong>in</strong><br />

Sicherstellungsaufträgen, Entscheidungsmacht,<br />

Kostenträgerschaft) und das<br />

Recht wie die Pflicht, e<strong>in</strong>mal festgestellte<br />

<strong>Prioritäten</strong> umzusetzen.<br />

❃ <strong>Prioritäten</strong> können sich rasch verän<strong>der</strong>n;<br />

sie s<strong>in</strong>d deshalb <strong>in</strong> periodischen<br />

Abständen zu überprüfen. Grundsätzlich<br />

sollte e<strong>in</strong> Verfahren mit Wi<strong>der</strong>spruchsmöglichkeiten<br />

für betroffene Gruppen<br />

und E<strong>in</strong>zelpersonen vorgesehen werden.<br />

Die therapeutische Freiheit des Arztes ist<br />

ebenso zu berücksichtigen wie die Entscheidungsfreiheit<br />

des Kranken.<br />

❃ Im amerikanischen Bundesstaat<br />

Oregon wurden alle möglichen präventiven,<br />

therapeutischen und rehabilitativen<br />

Leistungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Rangreihe gebracht.<br />

Um die Diskussion <strong>in</strong> Deutschland<br />

konkret werden zu lassen, könnte sie<br />

sich anfangs und beispielhaft auf wenige<br />

<strong>Versorgung</strong>s- und Indikationsbereiche<br />

mit übersichtlichen Verantwortlichkeiten<br />

konzentrieren, bei <strong>der</strong>en Auswahl sichergestellt<br />

se<strong>in</strong> muss, dass damit ke<strong>in</strong>e Vorentscheidung<br />

<strong>der</strong> Priorisierung <strong>der</strong> Gesamtheit<br />

mediz<strong>in</strong>ischer Leistungen getroffen<br />

wird.<br />

Um das Verfahren und se<strong>in</strong>e Stufen<br />

festzulegen, ethische Grundpositionen zu<br />

erarbeiten, die Fachgruppen zu begleiten<br />

und ihre Ergebnisse auszuwerten, die öffentlichen<br />

Diskussionen und Anhörungen<br />

zu organisieren und die zahlreichen<br />

offenen Fragen zu klären, könnte die Bildung<br />

e<strong>in</strong>er nationalen Parlamentskommission<br />

erwogen werden.<br />

II. Erläuterungen<br />

Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 15, 14. April 2000<br />

1. Die Krise <strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen<br />

<strong>Versorgung</strong><br />

Die mediz<strong>in</strong>ische <strong>Versorgung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland ist, wie <strong>in</strong><br />

vielen Län<strong>der</strong>n, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er schwierigen Lage.<br />

Richard Smith, <strong>der</strong> Herausgeber des<br />

British Medical Journal, hat sie durch e<strong>in</strong>e<br />

„breiter werdende Kluft zwischen<br />

dem“ charakterisiert, „was bei une<strong>in</strong>geschränkten<br />

Ressourcen möglich wäre,<br />

und dem, was man sich tatsächlich leisten<br />

kann“ (1). An<strong>der</strong>e unserer gesellschaftli-<br />

chen Subsysteme, u. a. Bildung und Erziehung,<br />

Innere Sicherheit, Verkehrswesen,<br />

s<strong>in</strong>d von vergleichbaren Entwicklungen<br />

betroffen. Im Gesundheitsbereich<br />

s<strong>in</strong>d drei Faktoren wichtig:<br />

➀ In vielen Län<strong>der</strong>n werden die für<br />

das öffentlich f<strong>in</strong>anzierte Gesundheitssystem<br />

durch Zwangsbeiträge o<strong>der</strong> Steuern<br />

aufgebrachten Mittel reduziert<br />

und/o<strong>der</strong> <strong>in</strong> ihrem Wachstum begrenzt –<br />

auch <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf alternative Verwendungen.<br />

E<strong>in</strong>seitig wird von e<strong>in</strong>er „Kostenexplosion<br />

<strong>im</strong> Gesundheitswesen“ gesprochen<br />

(2). Es laufen jedoch weniger<br />

die Ausgaben aus dem Ru<strong>der</strong>; maßgebend<br />

s<strong>in</strong>d vielmehr (relative) E<strong>in</strong>nahmedefizite:<br />

Sie ergeben sich <strong>in</strong><br />

Deutschland aus <strong>der</strong> Anb<strong>in</strong>dung wichtiger<br />

Sozialversicherungsbeiträge an die<br />

Arbeitsentgelte. Da die Beiträge zur<br />

Kranken- und Rentenversicherung nach<br />

allen politischen Vorgaben und sozialrechtlichen<br />

Normen nicht weiter steigen<br />

sollen (§ 71 SGB V), müssen Kostenträger<br />

und „Leistungserbr<strong>in</strong>ger“ zunehmend<br />

mit knappen und unelastischen<br />

Budgets rechnen.<br />

➁ Gleichzeitig weiten sich – mit<br />

unterschiedlicher Dynamik – Angebot,<br />

Ansprüche und Nachfrage sowie <strong>der</strong> Bedarf<br />

an mediz<strong>in</strong>ischen Leistungen aus.<br />

Für die Bedarfsausweitung werden<br />

verschiedene Faktoren verantwortlich<br />

gemacht: die demographische Entwicklung<br />

(„Alterung“) <strong>der</strong> Bevölkerung,<br />

die Zunahme chronischer Krankheiten<br />

und Residuen, <strong>der</strong> sich weiter beschleunigendemediz<strong>in</strong>isch-technologische<br />

Fortschritt sowie wachsende Ansprüche<br />

an solidarisch f<strong>in</strong>anzierte Gesundheitsleistungen.<br />

➂ Auch wenn die Qualität <strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen<br />

<strong>Versorgung</strong> unserer Bevölkerung<br />

<strong>im</strong> Durchschnitt und auch <strong>im</strong> europäischen<br />

Vergleich gut bis sehr gut ist:<br />

epidemiologische Untersuchungen zeigen<br />

weiter regionale <strong>Versorgung</strong>sungleichmäßigkeiten.<br />

Beson<strong>der</strong>s bei chronisch<br />

Kranken (z. B. mit Diabetes mellitus,<br />

koronarer Herzerkrankung, Hypertonie,<br />

entzündlich-rheumatischen Erkrankungen,<br />

Demenzen, Psychosen o<strong>der</strong><br />

Somatisierungsstörungen) existieren Unter-,<br />

Über- und Fehlversorgung nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.<br />

Die Unterversorgung/Unter<strong>in</strong>anspruchnahme<br />

(z. B. aller Vorsorgeuntersuchungen)<br />

sche<strong>in</strong>t quantitativ zu<br />

überwiegen. Würde man diese Defizite<br />

ausgleichen wollen, dürfte dies erhebliche<br />

zusätzliche Mittel erfor<strong>der</strong>n.<br />

E<strong>in</strong> aktuelles Beispiel gibt <strong>der</strong> Bereich<br />

<strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Rehabilitation durch<br />

die gesetzliche Rentenversicherung nach<br />

dem sog. Wachstums- und Beschäftigungsför<strong>der</strong>ungsgesetz<br />

von September<br />

1996: Es führte die Gesamtausgaben

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