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Prioritäten in der medizinischen Versorgung im System der ...

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<strong>der</strong> Versuch gewagt worden (22), rund<br />

700 präventive, therapeutische o<strong>der</strong><br />

rehabilitative Verfahren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige<br />

Rangreihe zu br<strong>in</strong>gen. Angeführt wird sie<br />

von Verfahren, die akute lebensbedrohliche<br />

Krankheiten heilen können. E<strong>in</strong> vergleichbares<br />

Unternehmen ersche<strong>in</strong>t für<br />

Deutschland zu komplex, aufwendig und<br />

konfliktreich. Um <strong>in</strong> unserem Land rasch<br />

zu e<strong>in</strong>er fruchtbaren und konkreten Diskussion<br />

zu kommen, wäre die Konzentration<br />

auf ausgewählte <strong>Versorgung</strong>ssektoren<br />

und Indikationsbereiche von herausgehobener<br />

kl<strong>in</strong>ischer, epidemiologischer<br />

und/o<strong>der</strong> ökonomischer Bedeutung zu<br />

erwägen. Erleichternd wären übersichtliche<br />

Verantwortlichkeiten, wie sie z. B. <strong>im</strong><br />

Bereich <strong>der</strong> Rehabilitation durch die<br />

Renten- o<strong>der</strong> Unfallversicherung vorliegen.<br />

Hier s<strong>in</strong>d Sicherstellungsauftrag,<br />

Struktur- und F<strong>in</strong>anzierungsverantwortung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Hand. So könnte man etwa<br />

mit rehabilitativen Leistungen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Kardiologie o<strong>der</strong> Orthopädie/Rheumatologie<br />

beg<strong>in</strong>nen. Denkbar ist es aber<br />

auch, exemplarisch Leistungen <strong>der</strong><br />

Transplantationsmediz<strong>in</strong> o<strong>der</strong> <strong>der</strong> pr<strong>im</strong>ärärztlichen<br />

Prävention zu priorisieren.<br />

4.3 <strong>Prioritäten</strong> s<strong>in</strong>d verän<strong>der</strong>lich. E<strong>in</strong>mal<br />

gebildete Rangreihen tragen ihr Verfallsdatum<br />

mit sich. Zu rasch kann sich<br />

das Krankheitspanorama verän<strong>der</strong>n, zu<br />

rasch die Evidenz für o<strong>der</strong> gegen e<strong>in</strong>geführte<br />

Leistungen, zu rasch können neues<br />

Wissen o<strong>der</strong> neue Verfahren zu verän<strong>der</strong>ten<br />

o<strong>der</strong> neuen Indikationen führen. An<strong>der</strong>erseits<br />

ist Priorisierung e<strong>in</strong> relativ<br />

langsamer Vorgang. Sie darf nicht zu e<strong>in</strong>em<br />

Fortschrittshemmnis werden. Es ist<br />

dafür Sorge zu tragen, dass diagnostische,<br />

prognostische, therapeutische etc. Fortschritte<br />

rasch auf ihre Effektivität und Effizienz<br />

h<strong>in</strong> geprüft werden können – am<br />

besten <strong>in</strong> kontrollierten Studien und <strong>in</strong>nerhalb<br />

e<strong>in</strong>es ausreichend f<strong>in</strong>anzierten<br />

Bereiches kl<strong>in</strong>isch-evaluativer und <strong>Versorgung</strong>s-Forschung<br />

(23). Dies schützte<br />

auch gegen e<strong>in</strong>e unkontrollierte E<strong>in</strong>führung<br />

und Verbreitung neuer Verfahren<br />

und die heute zu beobachtende Lancierung<br />

von <strong>Prioritäten</strong> sozusagen durch<br />

die H<strong>in</strong>tertür.<br />

5. Aktuelle Notwendigkeit<br />

Priorisierung versucht die Lösung <strong>der</strong><br />

oben skizzierten charakteristischen Problemlage:<br />

E<strong>in</strong>erseits werden Globalo<strong>der</strong><br />

Teilbudgets für die gesundheitliche<br />

<strong>Versorgung</strong> <strong>der</strong> Bevölkerung <strong>in</strong> vielen<br />

Län<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>gefroren o<strong>der</strong> sogar gekürzt<br />

– jedenfalls sollen sie (bei uns <strong>im</strong> Rahmen<br />

<strong>der</strong> GKV) <strong>in</strong> Zukunft nicht stärker wachsen<br />

als die Grundlohnsumme. An<strong>der</strong>er-<br />

A-1020<br />

B E K A N N T G A B E N D E R H E R A U S G E B E R<br />

Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 15, 14. April 2000<br />

seits erhöhen sich die Ansprüche an das<br />

Gesundheitssystem. Schließlich s<strong>in</strong>d die<br />

Unter- und Ungleichversorgung von<br />

akut, v. a. aber chronisch Kranken nicht<br />

zu übersehen. Daneben entsteht auch bei<br />

uns e<strong>in</strong> Markt für („<strong>in</strong>dividuelle“) Gesundheitsleistungen<br />

mit erheblichen Beschäftigungseffekten<br />

und Wachstumstendenzen<br />

und mit unsicheren Abgrenzungen<br />

gegen solidarisch zu f<strong>in</strong>anzierende<br />

Leistungen. Ungesteuert droht e<strong>in</strong>e Verletzung<br />

zentraler ethischer Werte und sozialrechtlicher<br />

Normen, vor allem <strong>der</strong> e<strong>in</strong>er<br />

solidarisch f<strong>in</strong>anzierten und <strong>in</strong> doppelter<br />

H<strong>in</strong>sicht gerechten, d. h. „bedarfsgerechte(n)<br />

und gleichmäßige(n)“ <strong>Versorgung</strong><br />

<strong>der</strong> Versicherten (§ 70 SGB V).<br />

Versuche zur Priorisierung mediz<strong>in</strong>ischer<br />

Leistungen folgen e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>fachen<br />

Logik: Wenn sich die Ressourcen für das<br />

Gesundheitswesen bei teils ungedecktem,<br />

teils wachsendem Bedarf relativ verknappen,<br />

dann müssen die vorhandenen Mittel<br />

auf das Wesentliche, eben auf das als prioritär<br />

Festgestellte, konzentriert werden.<br />

An<strong>der</strong>nfalls wird man die bisher gültigen<br />

Werte und rechtlichen Normen fallen lassen,<br />

jedenfalls än<strong>der</strong>n müssen. An H<strong>in</strong>weisen<br />

hierzu fehlt es nicht (24; 25).<br />

6. Voraussetzungen und<br />

Rahmenbed<strong>in</strong>gungen von<br />

Priorisierung<br />

6.1 Auf e<strong>in</strong>em freien Markt gibt es<br />

ke<strong>in</strong>e kollektiven <strong>Prioritäten</strong>, son<strong>der</strong>n alle<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>dividuelle Präferenzen. Priorisierung<br />

setzt e<strong>in</strong>e Solidargeme<strong>in</strong>schaft und<br />

e<strong>in</strong>en Bereich solidarisch f<strong>in</strong>anzierter<br />

Leistungen voraus. Dabei spielt es e<strong>in</strong>e<br />

untergeordnete Rolle, ob die solidarische<br />

F<strong>in</strong>anzierung über Steuern o<strong>der</strong>, wie bei<br />

uns, durch Zwangsbeiträge erfolgt: Die<br />

zur Verfügung stehenden Budgets s<strong>in</strong>d<br />

begrenzt und <strong>in</strong> ihren Umfängen und Zuflüssen<br />

nicht beliebig erhöhbar. Unter<br />

solchen Bed<strong>in</strong>gungen s<strong>in</strong>d die Interessen<br />

E<strong>in</strong>zelner mit denen an<strong>der</strong>er Versicherter<br />

und <strong>der</strong> gesamten Solidargeme<strong>in</strong>schaft <strong>in</strong><br />

E<strong>in</strong>klang zu br<strong>in</strong>gen.<br />

6.2 <strong>Prioritäten</strong> müssen schrittweise –<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em durchsichtigen Verfahren – erarbeitet<br />

werden. Priorisierung beruht auch<br />

und beson<strong>der</strong>s auf dem Wissen von<br />

Experten. Sie bedarf unterschiedlicher<br />

Fachleute, v. a. Kl<strong>in</strong>iker aus den jeweiligen<br />

<strong>Versorgung</strong>sbereichen und Diszipl<strong>in</strong>en,<br />

aber auch Sozialmediz<strong>in</strong>er und Epidemiologen,<br />

Statistiker, Sozialwissenschaftler,<br />

Juristen, Ökonomen, Philosophen<br />

und Theologen. Mit „Kl<strong>in</strong>ikern“<br />

s<strong>in</strong>d ausdrücklich nicht nur Ärzte, son<strong>der</strong>n<br />

Angehörige aller therapeutischen<br />

Berufe geme<strong>in</strong>t (u. a. Psychologen, Phy-<br />

sio- und Ergotherapeuten, Pädagogen,<br />

Sporttherapeuten).<br />

6.3 Die ersten Vorschläge weniger<br />

Fachleute und Institutionen (z. B. mediz<strong>in</strong>ischer<br />

Fachgesellschaften, E<strong>in</strong>richtungen<br />

<strong>der</strong> Selbstverwaltung) bedürfen <strong>der</strong><br />

breiten fachlichen, öffentlichen und politischen<br />

Diskussion und Prüfung. Hieran<br />

s<strong>in</strong>d selbstverständlich auch die Bürger,<br />

die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Solidargeme<strong>in</strong>schaften,<br />

die Gesundheitsgefährdeten, Kranken<br />

und Patienten (bzw. ihre jeweiligen<br />

Repräsentanten) zu beteiligen.<br />

6.4 Priorisierung braucht e<strong>in</strong>en se<strong>in</strong>erseits<br />

legit<strong>im</strong>ierten Adressaten mit e<strong>in</strong>er<br />

belastbaren Sicherstellungs-, Strukturund/o<strong>der</strong><br />

F<strong>in</strong>anzierungsverantwortung sowie<br />

dem Vermögen, <strong>Prioritäten</strong> umzusetzen.<br />

Solche Zuständigkeitsbereiche, Aufgaben<br />

und Verfahren s<strong>in</strong>d bei uns <strong>in</strong> aller<br />

Regel sozialrechtlich normiert, u. a. für die<br />

Bereiche <strong>der</strong> Kranken-, Renten- und Unfallversicherung.<br />

Priorisierungsverfahren<br />

und -ergebnisse müssen auch vor den Normen<br />

und Grundsätzen solcher Institutionen<br />

und schließlich vor dem Gesetz bestehen<br />

können, sie bedürfen <strong>der</strong> rechtlichen<br />

und <strong>der</strong> ethischen Legit<strong>im</strong>ation.<br />

6.5 Priorisierung erfolgt nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

<strong>Versorgung</strong>svakuum. Sie muss die<br />

<strong>Versorgung</strong>swirklichkeit e<strong>in</strong>es Landes,<br />

nach Möglichkeit auch von Regionen<br />

berücksichtigen. Diese Wirklichkeit beruht<br />

ihrerseits <strong>im</strong>mer schon auf <strong>Prioritäten</strong>,<br />

Zielen, Werten und Normen, unausgesprochenen<br />

wie ausdrücklichen.<br />

Die jeweils geltenden <strong>Prioritäten</strong> müssen<br />

möglicherweise verän<strong>der</strong>t und weiterentwickelt<br />

werden; jedoch können sie nicht<br />

e<strong>in</strong>fach durch neue <strong>Prioritäten</strong> ersetzt<br />

werden. Dazu s<strong>in</strong>d sie zu sehr lebendige<br />

Mediz<strong>in</strong>- und Sozialgeschichte, zu tief<br />

verwurzelt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em spezifischen Wertgefüge,<br />

e<strong>in</strong>er eigenen Kultur, e<strong>in</strong>er materiellen<br />

Infrastruktur, <strong>in</strong> gewachsenen Institutionen<br />

und organisierten Interessen.<br />

Man mag <strong>Prioritäten</strong> europaweit diskutieren<br />

– akzeptiert und umgesetzt werden<br />

müssen sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em nationalen und<br />

letztlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em regionalen Rahmen.<br />

6.6 Zentral für Priorisierung ist<br />

die Kategorie des <strong>Versorgung</strong>sbedarfs<br />

(„need“ [26]). Wir setzen voraus, dass Bedarf<br />

<strong>im</strong> E<strong>in</strong>zelfall und für Bevölkerungen<br />

und Gruppen – <strong>in</strong> Annäherung – objektiviert<br />

und abgestuft werden kann. In se<strong>in</strong>e<br />

Feststellung geht zweierlei e<strong>in</strong>: die Objektivierung<br />

e<strong>in</strong>es drohenden o<strong>der</strong> bestehenden<br />

gesundheitlichen Problems und die<br />

Vergegenwärtigung e<strong>in</strong>es notwendigen<br />

o<strong>der</strong> zweckmäßigen (s. o.) präventiven,<br />

therapeutischen o<strong>der</strong> rehabilitativen Verfahrens<br />

– bei unzureichenden Möglichkeiten<br />

<strong>der</strong> Selbsthilfe. Im englischen Gesundheitswesen<br />

wird Bedarf über die <strong>in</strong>dividuelle<br />

bzw. aggregierte „ability/capa-

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