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Interaktionssequenz einer Fallvignette - Universität Heidelberg

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<strong>Interaktionssequenz</strong> <strong>einer</strong> <strong>Fallvignette</strong><br />

1/L: Lies bitte Deine Hausaufgaben vor.<br />

1/S: Ich habe sie nicht gemacht.<br />

2/L: Darf ich fragen warum nicht?<br />

2/S: Ich sehe nicht ein, wozu ich Dinge tun soll,<br />

die absolut wirklichkeitsfern sind und sowieso<br />

nie wieder gebraucht werden.<br />

3/L: Dies ist keine Entschuldigung für die Nichterledigung<br />

der Hausaufgaben. Ich erwarte, sie<br />

in der nächsten Stunde zu sehen.<br />

3/S: Aber ich kann mit dem Zeugs in meinem Leben<br />

nie wieder was anfangen.<br />

4/L: Merkst Du nicht, dass diese Thematik nicht in<br />

den Unterricht passt? Wenn Du möchtest,<br />

können wir uns gerne nach der Stunde darüber<br />

unterhalten. Die Hausaufgaben holst Du<br />

bitte nach.


1/L: Lies bitte Deine Hausaufgaben vor.<br />

Das ist zunächst eine alltägliche Aufforderung, wie wir sie alle aus der Schule ken-<br />

nen. Auffallend sind aber die sprachlichen Verweise auf Aufforderung und Bitte. Lies<br />

vor ist eine imperativische Handlungsanweisung, die wiederum auf eine hierarchisch<br />

definierte Sozialbeziehung verweist, was symmetrische Interaktionen ausschließt.<br />

Dieser Imperativ wird aber von der sprachlichen Geste des Bittens begleitet. Auch<br />

die Bitte verweist auf eine Asymmetrie, allerdings in umgekehrter Richtung. Wer bittet,<br />

der stellt sich unter die Verfügungsgewalt des Adressaten der Bitte.<br />

Wenn wir das Bitte aus dem Satz weglassen, haben wir eine reine Befehlsform, wie<br />

wir sie in extrem zwangsstrukturierten Kontexten erwarten, etwa Stillgestanden!, oder<br />

Mach sitz! In diesen Kontexten ist das Bitte nicht am Platz oder sozial unsinnig: Bitte<br />

Stillgestanden. Oder Mach bitte Platz. Das Bitte unterstellt also im Rahmen asymmetrischer<br />

Kommunikation sprachlich eine Reziprozität zwischen Anweisung und<br />

Befolgung. Nur wenn der Adressierte keine andere Wahl hat, muss das Bitte fehlen.<br />

Mit dem Bitte wird eine hierarchisch strukturierte Handlungsanweisung so reziprok<br />

relationiert, dass der Adressat der Anweisung sich zu der Anweisung selbst positionieren<br />

kann. Mit dem Bitte wird zugleich die Zwangsstruktur gelockert, so dass der<br />

Adressat zwar nicht gleichberechtigter Partner der Interaktion, aber doch Partner insofern<br />

ist, als die Anweisung nicht reinen Gehorsam, sondern Einverständnis voraussetzt<br />

und damit auch die Möglichkeit des Widerspruchs vorsieht.<br />

Die Aufforderung bezieht sich material auf die Hausaufgaben, so dass dem sprachlichen<br />

Imperativ die außertextliche Verpflichtung, die Hausaufgaben zu machen, korrespondiert.<br />

Wir befinden uns also in <strong>einer</strong> Situation der Hausaufgabenkontrolle.<br />

Mit „Deine Hausaufgaben“ ist das Ergebnis der individuellen Bearbeitung <strong>einer</strong> allen<br />

Schülern gleichgestellten Aufgabe bedeutet. Der Satzpartikel weist dabei nicht auf<br />

die Aufgabenstellung, sondern auf die Aufgabenbearbeitung. Gleichfalls findet jedoch<br />

eine sprachliche Tilgung der Aufgabenbearbeitung statt. Wenn etwa jemand im au-<br />

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ßerschulischen Kontext eine Aufgabe hat, dann wird er deren Bearbeitung und Erledigung<br />

nicht so beschreiben, die Aufgabe gemacht zu haben. Das Produkt der Aufgabenerledigung<br />

kann nicht wiederum Aufgabe sein. Wenn in einem Ferienlager eine<br />

Gruppe Jugendlicher die Aufgabe hat, ein Baumhaus zu bauen, wird der Betreuer<br />

nicht fragen, wie weit seid ihr mit Eurer Aufgabe, sondern wie weit seid Ihr mit dem<br />

Baumhaus, und wenn er es sich ansehen will, wird er auch nicht sagen, zeigt mir Eure<br />

Aufgabe, und auch die Jugendlichen können auch nicht auf das Baumhaus zeigen<br />

und sagen, da oben ist unsere Aufgabe. Die sprachliche Tilgung ist eine Entwertung<br />

der Bearbeitung der Aufgabe. Sie besteht schlicht darin, dass die individuelle Bearbeitung<br />

<strong>einer</strong> Sache gar nicht vorgesehen ist. Die Hausaufgabe wird so zu <strong>einer</strong> Aufgabe,<br />

deren Bearbeitung bloße Erledigung ist. Das ist eng verknüpft mit der komplexen<br />

Struktur der Hausaufgabe. Als explizit außerunterrichtliche Tätigkeit verweist sie<br />

auf den unterrichtlich verfassten Lehr- und Lernzusammenhang, die Schule, in der<br />

sich der Erwerb des Wissens vollzieht. Wenn jetzt etwa die <strong>Universität</strong>, in der die<br />

Handlungen der Sachauseinandersetzung und Sachaneignung aus der Sphäre des<br />

institutionalisierten Unterrichts verlagert sind, dieses Modell übernimmt, charakterisieren<br />

wir das als Verschulung. Deswegen gibt es an der <strong>Universität</strong> keinen Unterricht<br />

mehr. Die außeruniversitäre Auseinandersetzung mit <strong>einer</strong> Sache heißt folglich<br />

auch nicht mehr Hausaufgabe, sondern Hausarbeit.<br />

Hausaufgabe bezeichnet also eine außerunterrichtliche, selbstverantwortete Praxis,<br />

die sich der engen Verknüpfung mit dem Unterricht verdankt. Damit geht aber eine<br />

Verengung der erwarteten Handlungen einher: Hausaufgaben geben an, das genau<br />

dies oder das zu tun ist, dies lesen, das rechnen, dies beantworten. Nicht weniger,<br />

aber auch nicht mehr. Denn der Erfüllung der Hausaufgabe entsprechen die Möglichkeiten<br />

der Unter- oder Nichterfüllung ebenso wie die der Übererfüllung. Beide<br />

Formen sind Störgrößen, die erst durch Hausaufgaben entstehen.<br />

Hausaufgaben werfen somit ein Kontrollproblem auf und zwar nicht nur im Unterricht,<br />

sondern auch als Delegation in die familiale Sphäre: Hast Du Deine Hausaufgaben<br />

schon gemacht? In unserer Vignette haben wir es also mit <strong>einer</strong> Kontrollfrage zu tun.<br />

Das schließt schon andere mögliche Varianten auf Unterricht bezogener außerunterrichtlicher<br />

Praxis aus. Es lassen sich ja zumindest zwei Varianten denken: zum einen<br />

die sachliche Kooperation, d.h. die Hausaufgaben sind für das unterrichtliche Geschehen<br />

selbst wichtig, dienen als Beiträge der Sachbearbeitung und Problemlösung.<br />

Die Kontrolle besteht dann in nichts anderem als der sachlichen Thematisie-<br />

3


ung und Diskussion. Der dazu passende Sprechakt wäre dann: wer möchte seine<br />

Hausaufgaben vorstellen. Zum anderen die Evaluation des Unterrichts, d.h. in welchem<br />

Maße verfügen die Schüler über den unterrichtlichen Stoff, wo liegen Schwierigkeiten<br />

etc. Dazu brauche ich aber im Prinzip keine Hausaufgaben und schon gar<br />

keine, die der Notengebung dienen. Um etwas über den Erfolg oder Misserfolg meines<br />

Unterrichts zu erfahren, müsste ich zudem die Beiträge der Schüler systematisch<br />

außerunterrichtlich auswerten.<br />

Beide Varianten verweisen jedoch auf einen Aspekt der Hausaufgabenkontrolle, der<br />

wichtig ist: die Freiwilligkeitsunterstellung. Nur dann, wenn ich diese Unterstellung<br />

mache, greift das universalistische Muster der Leistungsorientierung: Wer sich den<br />

Hausaufgaben nicht oder nur unzureichend widmet, schadet sich der Logik des schulischen<br />

Handlungsmusters gemäß potentiell selbst. So gesehen ist die Hausaufgabenkontrolle<br />

wenig geeignet als pädagogisches Disziplinierungsmittel, denn die direkte<br />

Verpflichtung der Hausaufgaben stellt eine Entgrenzung des schulischen Handlungsrahmens<br />

da und prämiert gerade nicht die selbstverantwortete Handlungspraxis,<br />

wie sie die Leistungsorientierung vorsieht. Das Problem ist dabei nicht so sehr,<br />

dass eine Verpflichtung zur Hausaufgabe besteht, sondern dass zwei Zwänge<br />

zugleich greifen. Dem Zwang der schulischen Leistungsbeurteilung korrespondiert<br />

die eigenverantwortliche Praxis, sich zu dieser Leistungsbeurteilung zu verhalten.<br />

Wenn nun diese eigenverantwortliche Praxis selbst noch einmal durch die Hausaufgabenkontrolle<br />

erzwungen wird, wird die Autonomie, auf deren Grundlage Leistungsorientierung<br />

überhaupt funktioniert, außer Kraft gesetzt. Die pädagogische Figur der<br />

Hilfe durch Zwang unterminiert das Leistungsprinzip. Durch die Aufdauerstellung der<br />

Prüfungssituation wird die Prüfungssituation selbst entgrenzt, da die Prüfungsvorbereitung<br />

selbst zum Gegenstand der Prüfung wird.<br />

Beispiel: Die Standardform <strong>einer</strong> sanktionierend-prüfenden Hausaufgabenkontrolle<br />

besteht darin, stichprobenartig die Hausaufgabenbearbeitung wie einen Leistungstest<br />

zu behandeln und dementsprechend zu benoten. Sie dient der Abschreckung<br />

wie etwa die Fahrkartenkontrolle im ÖPNV, sie soll dem Hausaufgabenbetrug vorbeugen.<br />

Eine umfassende Kontrollprozedur würde die Hausarbeiten explizit <strong>einer</strong><br />

Testlogik unterwerfen. Schulpraktisch kann ich als Lehrer so vorgehen, dass ich<br />

zweimal im Schulhalbjahr einen angekündigten Hausaufgabentest durchführe, dann<br />

wissen die Schüler, diese Hausaufgabe ist abzugeben und wird benotet. Die Hausaufgabe<br />

ist dann zum Test umdefiniert.<br />

4


Die schulische Stichprobenkontrolle hat demgegenüber einen anderen Fokus, sie<br />

richtet sich auf die außerschulische Handlungssphäre und versucht, diese zu kontrol-<br />

lieren. Sie ist somit nicht spezifisch, sondern wird diffus und unterläuft die Spezifität<br />

des schulischen Leistungsarrangements.<br />

Der Schüler wird aufgefordert, seine Hausaufgabe vorzulesen. Der individuelle Bei-<br />

trag soll klassenöffentlich verhandelt werden, was auf diskursive Problembearbeitung<br />

hinweist. Das steht jedoch in Spannung mit dem Kontrollaspekt und dem Desinteres-<br />

se an <strong>einer</strong> sachhaltigen Problembearbeitung. Soll nun in der Klasse der Sachgehalt<br />

diskutiert werden oder soll geprüft werden, wie gut oder schlecht die Hausaufgaben<br />

erledigt wurden? Das bleibt hier in der Schwebe: <strong>einer</strong>seits entgrenzende Form der<br />

Hausaufgabenkontrolle, andererseits zugleich potentieller Gegenstand diskursiver<br />

Problembearbeitung.<br />

1/S: Ich habe sie nicht gemacht.<br />

Der Schüler kommt der Aufforderung nicht nach und nimmt in s<strong>einer</strong> Antwort die<br />

Kontrolldimension auf, ohne die Möglichkeit <strong>einer</strong> sachlichen Auseinandersetzung<br />

angesichts eines durch die Hausaufgaben aufgeworfenen Problems in Betracht zu<br />

ziehen. Das Gemachthaben oder Nichtgemachthaben antwortet nur auf die äußere<br />

Verpflichtung, so wie man seinen Abwasch oder seinen Einkauf macht. Die Hausauf-<br />

gabe ist reduziert auf eine routinisiert alltägliche Verrichtung. Der Schüler rückt damit<br />

aber auch sein Eingeständnis der äußeren Verpflichtung in den Vordergrund, denn<br />

wer so antwortet, der akzeptiert ja, dass es an ihm war, sie zu machen. Im Alltag<br />

würden wir aber erwarten, dass jemand noch eine Entschuldigungsgeste mitliefert,<br />

wie oh je hab ich ganz vergessen Einkaufen zu gehen, und damit bestätigt, sich an<br />

die Absprache halten zu wollen. Die Schüleräußerung indiziert damit auch die Verweigerung<br />

<strong>einer</strong> prinzipiellen Bereitschaft zur Kooperation, aber ohne die Hausaufgabenverpflichtung<br />

in Frage zu stellen. Der Schüler wehrt sich gegen die Zumutung<br />

des Zwangs, ohne allerdings eine eigene autonome Haltung zu gewinnen. Eine Antwortmöglichkeit<br />

wäre ja auch gewesen zu sagen, ich bin nicht dazu gekommen. Er<br />

würde damit seine prinzipielle Bereitschaft äußern, sich mit der Sache zu beschäftigen,<br />

auch wenn sie bloß aufgegeben ist, aber noch nicht zugestehen, dass er bereit<br />

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ist, sich mit ihr auseinander zu setzen. Er könnte ja immer noch, wenn er dazu<br />

kommt, zu dem Schluss kommen, dass die Aufgabe die Mühe nicht wert ist, erledigt<br />

zu werden. Mit s<strong>einer</strong> trotzigen Bemerkung entmündigt sich der Schüler damit selbst.<br />

Der Schüler muss aber immer noch entscheiden, welcher Handlungsaufforderung er<br />

nicht nachgekommen ist, der äußerlichen Verpflichtung oder der eigenverantworteten<br />

Auseinandersetzung, der Kontrolle oder dem Diskurs. Die widersprüchliche Struktur<br />

der Aufforderung des Lehrers führt dazu, dass seine Bindung an die Sache zugleich<br />

als Unterwerfung unter den entgrenzenden Zwang verstanden werden könnte.<br />

Der Lehrer wiederum könnte die Auskunft des Schülers auf sich beruhen lassen und<br />

nun fragen, wer liest denn seinen Aufsatz einmal vor, womit er signalisieren würde,<br />

dass es ihm um den Diskurs und nicht um die Kontrolle geht. Er könnte aber auch<br />

den Kontrollaspekt verstärken durch Tadel, so geht das nicht, oder zynische Kommentierung,<br />

du schaffst es nie oder durch Eintrag ins Klassenbuch.<br />

2/L: Darf ich fragen warum nicht?<br />

Mit diesem Anschluss entscheidet sich der Lehrer für einen Mittelweg, weder setzt er<br />

ganz auf Kontrolle, noch ganz auf Diskurs, sondern rückt die Frage nach der Begründung<br />

des Nichtgemachthabens in den Vordergrund. Wir befinden uns im Vorhof<br />

der Sanktionierung. Der Schüler kann durch eine angemessene Antwort der Sanktion<br />

entgehen, steht aber in der Begründungspflicht. Es muss nur geklärt werden, ob außergewöhnliche<br />

Umstände die Pflicht zur Hausaufgabenerledigung aussetzen. Allerdings<br />

ist auch hier die sprachliche Form bemerkenswert. Wörtlich fragt der Lehrer<br />

nicht nach den Gründen, sondern ob er nach diesen Gründen fragen darf. Sprachpragmatisch<br />

stellen wir diese Frage immer dann, wenn der Gefragte s<strong>einer</strong> Auskunftspflicht<br />

nicht von selbst nachgekommen ist, dies aber erwartet werden kann.<br />

Darf ich fragen, was Sie meinen, heißt, ich habe meine Meinung nicht deutlich genug<br />

für mein Gegenüber zum Ausdruck gebracht. Zwar geht es also auf der inhaltlichen<br />

Ebene um die mehr oder weniger guten Gründe, auf der Ebene der latenten Sinnstruktur<br />

steht jedoch die Rüge im Vordergrund, wie kommst du dazu, mir einfach zu<br />

sagen, dass du die Aufgaben nicht erledigt hast. Die Rüge bezieht sich dabei auf eine<br />

Pflichtverletzung des Schülers, deren Inhalt Gehorsam ist. Durch das „ich“ wird<br />

auch klar, dass der Schüler nicht gerügt wird, weil er die Norm der Hausaufgabener-<br />

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ledigung verletzt hat, sondern die Norm, den Anweisungen des Lehrers Folge zu leis-<br />

ten. Auch diese harmlose Frage zeigt sich somit als weiterer Eskalationsschritt in der<br />

Entgrenzung. Harmlos wirkt sie nur, weil die direkte Sanktion ausbleibt.<br />

Wie kann der Schüler darauf reagieren? Er könnte die Frage wortwörtlich nehmen<br />

und mit nein antworten oder auch mit das spielt keine Rolle, ich hab sie nicht gemacht.<br />

Wie scharf auch immer, er würde den Lehrer konfrontieren und dessen Heteronomie<br />

zurückweisen.<br />

2/S: Ich sehe nicht ein, wozu ich Dinge tun soll, die absolut<br />

wirklichkeitsfern sind und sowieso nie wieder gebraucht<br />

werden.<br />

Der Schüler unterwirft sich mit dieser Antwort nicht, weist aber auch nicht die Frage<br />

zurück, sondern erkennt die Berechtigung des Fragens an. Er gibt materiale Gründe<br />

an, die Aufgabe war es nicht wert bearbeitet zu werden, und wechselt auf die Ebene<br />

der Sachadäquanz der Aufgabenstellung, also nicht mehr die Ebene des Prüfungsheteronomie<br />

/ Vorbereitungsautonomie Modells. Zudem versucht er sich in die Position<br />

eines autonomen Gesprächspartners zu begeben.<br />

Schauen wir uns die Aussage aber noch einmal genauer an. Das die Aufgabe nicht<br />

einsehbar ist, könnte schon bei der Aufgabenstellung festgestellt werden. Ob sie da<br />

schon geäußert wurde, wissen wir nicht, jedenfalls wird kein Bezug darauf genommen.<br />

Wir können also annehmen, dass die Fundamentalkritik im Moment entsteht.<br />

Das ich sehe nicht ein, kann prinzipiell einem autonomen Standpunkt zugerechnet<br />

werden. Wenn ich aber einen Sprechakt daraus mache, zeige ich an, dass ich Autonomie<br />

nur sprachlich reklamiere, aber einen autonomen Standpunkt noch nicht einnehme.<br />

Ich äußere also den Wunsch, autonom zu sein, ohne dass dieser Wunsch<br />

schon Realität ist. Ich sehe nicht ein verweist hypothetisch auf Autonomie, ohne sie<br />

handlungspraktisch zu haben. Deswegen wirkt der Satz so hilflos.<br />

Inhaltlich geht die Beschwerdeführung auf die Wirklichkeitsferne der Hausaufgabe.<br />

Das ist ein schon so ausgeleierter kultureller topos, das er nur Zitat ist. Zudem bleibt<br />

er hoffnungslos abstrakt, da nicht angegeben wird, worauf er sich konkret bezieht.<br />

Die Beschwerde bleibt so diffus, die Wirklichkeit unbestimmt. Dasselbe indiziert der<br />

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Elativ absolut. Es ist gar keine Wirklichkeit vorstellbar, wo die Hausaufgaben von<br />

praktischer Bedeutung sein könnten.<br />

Der Schüler greift eine geläufige Schulkritik auf (nicht für das Leben) und offenbart<br />

damit auch eine utilitaristisch Einstellung zur Schule (Wert hat nur, was nützt). Durch<br />

seine expressive Beschwerdeführung eskaliert die Interaktion weiter. Er konfrontiert<br />

inhaltlich den Lehrer mit <strong>einer</strong> massiven didaktischen Kritik: sinnlose Hausaufgaben.<br />

Auf der Ebene der latenten Sinnstruktur verdichtet sich das Autonomieproblem. Er<br />

fordert Einsicht und gibt zugleich eine jegliche Korrektur und Selbstkorrektur verunmöglichende<br />

Einsichtslosigkeit erkennen. Hilflose Rebellion des Schülers. Wie reagiert<br />

der Lehrer auf diese Einladung den Konflikt weiter eskalieren zu lassen?<br />

3/L: Dies ist keine Entschuldigung für die Nichterledigung<br />

der Hausaufgaben. Ich erwarte, sie in der nächsten Stunde<br />

zu sehen.<br />

Der Lehrer fordert eine Entschuldigung ein. Während er sie durch das darf ich fragen<br />

noch implizit zu erpressen versuchte, zeigt er nun explizit, dass es ihm um eine Entschuldigung<br />

ging. D.h. auch, eine akzeptable Entschuldigung hätte die Hausaufgabenverpflichtung<br />

situativ ausgesetzt, denn die Entschuldigung erkennt die prinzipielle<br />

Verpflichtung an. Die Beschwerde des Schülers wird von ihm nicht als Entschuldigung<br />

anerkannt. Er muss die Hausaufgabenverpflichtung aufrecht erhalten, auch aus<br />

dem Grund, weil es ein klassenöffentliche Auseinandersetzung ist. Eine Ausnahme<br />

von der Verpflichtung kann nur mit akzeptablen Gründen und von Fall zu Fall individuell<br />

erfolgen. Deswegen die Erwartung, sie in der nächsten Stunde zu sehen.<br />

Er geht mit s<strong>einer</strong> Äußerung auf die Begründung des Schülers nicht ein, lässt sie<br />

damit aber zugleich auch gelten. Wie auch immer die Äußerungen des Schülers zu<br />

würdigen sind, sie sind außerhalb des diskursiven Rahmens platziert. D.h. nicht,<br />

dass sie in einem anderen Rahmen nicht ernstgenommen werden können. Der Lehrer<br />

hätte ja auch auf die Fadenscheinigkeit der Argumentation des Schülers eingehen<br />

können und sie durchaus sachlich gerechtfertigt disqualifizieren können. Indem<br />

er sich eines Urteils über die Beschaffenheit der Argumente enthält, bringt er implizit<br />

die Anerkennung des Schülers als Diskurspartner zum Ausdruck. Statt also die Eskalationsspirale<br />

fortzusetzen, vermeidet er diesen Weg. Durch die knappe Anweisung<br />

8


der Erwartung zu sehen, zieht er sofort die Konsequenz aus seinem Urteil. Mit eine<br />

Entschuldigung liege nicht vor, nimmt er dem Schüler die Möglichkeit, dem Urteil<br />

entgegenzutreten. Bemerkenswert genug ist auch, dass er keine Strafe ausspricht,<br />

sondern nur seinen Standpunkt aufrecht erhält. Dennoch geht es nur um die Erledi-<br />

gung, nicht um eine sachliche Problembearbeitung. Und mit dem ich erwarte klingt<br />

immer noch der Kampf nach, der durch die einfach Zurückweisung des Schülerbe-<br />

schwerde schon beigelegt schien. Die Verpflichtung ist damit immer noch an die Per-<br />

son des Lehrers gebunden und nicht an die Autonomie des Schülers. Beispiel: Es ist<br />

etwas anderes, wenn mir gesagt wird, ich erwarte, dass Sie pünktlich zur Arbeit er-<br />

scheinen, oder, achten Sie doch bitte darauf, pünktlich zu kommen. Das eine Mal<br />

wird Unpünktlichkeit als Missachtung der Erwartung gesehen und damit tendenziell<br />

als persönliche Verletzung, das andere Mal als vertragswidriges Fehlverhalten, das<br />

mit der Person nichts zu tun hat.<br />

3/S: Aber ich kann mit dem Zeugs in meinem Leben nie<br />

wieder was anfangen.<br />

Das ist nur noch Wiederholung der zweiten Schüleraussage. Die Kritik der Wirklichkeitsferne<br />

bleibt abstrakt und nicht kritisierbar. Ob er mit dem Zeugs in seinem Leben<br />

nichts mehr anfangen kann, darüber entscheidet das Leben. Die Kritik bleibt zirkulär<br />

und selbstimmunisierend. Nur der Ton der Kooperationsverweigerung wird noch<br />

schärfer: Zeugs. Es zeigt sich, dass der Begrenzungsversuch des Lehrers begrenzt<br />

ist. Schule und ihr Personal kann Kooperation nicht selbst erzeugen, sondern muss<br />

sie voraussetzen. Der Lehrer kann sich jetzt auch wiederholen oder sankionieren. Er<br />

findet aber noch einen anderen Weg.<br />

4/L: Merkst Du nicht, dass diese Thematik nicht in den Un-<br />

terricht passt? Wenn Du möchtest, können wir uns gerne<br />

nach der Stunde darüber unterhalten. Die Hausaufgaben<br />

holst Du bitte nach.<br />

9


Das merkst Du nicht ist eine rhetorische Frageform, wir könnten sie auch indikati-<br />

visch fassen, du merkst doch, die Formulierung verweist so auf die Ungehaltenheit<br />

des Lehrers und ist zu Verweigerungshaltung des Schülers komplementär, sie bleibt<br />

im Rahmen eines diffus affektiven Schlagabtauschs. Mit der zweiten Satzhälfte kehrt<br />

er jedoch in die Perspektive der zuvor schon eingenommenen Kritik zurück, indem er<br />

nicht den Inhalt der Schüleräußerung thematisiert, sondern auf ihre Fehlplatziertheit<br />

verweist. Unter Berufung auf die Institution Unterricht und deren Interaktionsrahmen<br />

gelingt es ihm, sich von dem erneuten Entgrenzungsangebot des Schülers zu distanzieren<br />

und damit die Situation selbst, an deren Entstehen er beteiligt war, zu entdramatisieren.<br />

Zudem macht er ein Diskursangebot für das vom Schüler vorgegebene<br />

Thema außerhalb des Unterrichts, wenn man so will, ein Vorschlag zur Güte, das<br />

dem Schüler die Gelegenheit gibt, den Lehrer beim Wort zu nehmen. Er kann die<br />

Ernsthaftigkeit s<strong>einer</strong> Kritik unter Beweis stellen, indem er das Angebot annimmt. Er<br />

ist nun am Zug. Die Bekräftigung der Hausaufgabenverpflichtung, erscheint dann wie<br />

der erste Sonnenstrahl nach einem Gewitter, ohne noch die genannten Konnotationen<br />

mitzuführen.<br />

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