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Diagnose, "moralisch defekt" - Thomas Huonker

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che die neuen Instanzen als erwerbsfähige Arbeitsscheue, als ungebrechliche, «starke»<br />

Bettler ansahen. Die Einstufung als «würdige» Arme garantierte kein im heutigen Sinn<br />

menschenwürdiges Dasein. Der Unterstützung «würdig» Befundene unterlagen gesellschaftlicher<br />

Ausgrenzung und wurden stigmatisiert,l2 Vom Almosenamt Unterstützte,<br />

auch Kinder, mussten auf der Kleidung ein spezielles Zeichen tragen. 13 Armut, Krankheit<br />

oder Invalidität verlieh auch in jenen Zeiten und Regionen, in denen die Gottgefälligkeit<br />

des Almosengebens Bettlern eine gewisse gottgewollte Würde gab und Geisteskrankheiten<br />

oder Epilepsie «heilige Krankheiten» hiessen, nur selten höheres Sozialprestige.<br />

In protestantischen Regionen galt, dass reicher Arbeitsertrag, Gesundheit und<br />

Geschäftserfolg Zeichen der Gnade Gottes seien, Armut und Elend hingegen selbst<br />

verschuldete Laster. Arm sein hiess auch schlecht sein.<br />

Der zwinglianischen «Reformationskammer» (Exekutivausschuss mit weit reichenden<br />

Befugnissen), den «Stillständen» (Kirchenpflegen) und den «Ehegaumern», einer Art<br />

Sittenwächter, brachte das auf die Reformation folgende Vierteljahrtausend weit reichende<br />

Kompetenzen. Ihre DisziplinierungsmiUel und Zwangsmassnahmen waren die<br />

Durchsetzung von Sittenmandaten, die Abkanzelung und das An-den-Pranger-Stellen,<br />

kombiniert mit dem denunziatorischen «Verlaidungswesen»: für anonyme Denunziationen<br />

gab es eine spezielle Eingabestelle, offenes Denunziantenturn wurde mit einem<br />

Anteil an den Bussgeldern belohnt. 14 Diese Institutionen des zwinglianischen Zürich<br />

hatten auch ältere Vorläufer und anderweitige Parallelen.<br />

«Züchtigung der Ungehorsamen und Lasterhaften»<br />

Waisenhaus, Zuchthaus, Spital<br />

Die Zwinglistadt war der neuen Sozialtechnik der Einschliessung15 gegenüber aufgeschlossen.<br />

Zürich gehörte zu den ersten Städten Europas, die nach dem Vorbild des<br />

1596 in Betrieb genommenen Amsterdamer «Rasphuis» eine ähnliche Institution einrichteten.<br />

1637 beschloss der Rat, «dass zur Uferzüchtung der Waisen und zur Züchtigung<br />

der Ungehorsamen und Lasterhaften ein Waisen- und Zuchthaus sam mt dem<br />

Schellenwerk»16 zu betreiben sei, und zwar in den halb zerfallenen Räumlichkeiten des<br />

beschlagnahmten vormaligen Frauenklosters Oetenbach, dort, wo heute das Heimatwerk<br />

und das Parkhaus Urania sind.<br />

12 Zur Begrifflichkeit von Stigma und Stigmatisierung vgl. Goffman 1975, Stigma<br />

13 DenzIer 1925, Jugendfürsorge, S. 95<br />

14 Vgl. DenzIer 1925, Jugendfürsorge, S. 38 bis 44, Wehrli 1963, Reformationskammer, S. 92-99. Vgl.<br />

auch Ziegler 1978, Sittenmandate<br />

15 Vgl. Foucault 1976, Überwachen<br />

16 Zitiert nach Ziegler 1971, Waisenhaus, S. 11<br />

18<br />

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