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Diagnose, "moralisch defekt" - Thomas Huonker

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schlaf ähnlichen Handlungen» komme. Solches ist auch aus Zürcher Heimen tatsächlich<br />

überliefert. 137<br />

Wegen des in der Anstalt «Burghof» bei Regensberg platzierten Arnold N. intervenierten<br />

die Eltern N. direkt bei Stadtrat Pflüger. Sie forderten ferner die Ersetzung<br />

Grobs durch einen anderen Vormund. Auf den Vormundschaftsbericht vom 19. November<br />

1915 hatte Vater N. die Bemerkung geschrieben: «Mit diesem Vogtbericht bin<br />

ich nicht einverstanden». Denn Amtsvormund Grob hatte den Bericht, getreu seinen<br />

Theorien über «Minderwertige», deren leibhaftige Verkörperung er in Familie N. erblickte,<br />

so eingeleitet: «Familie N. ist vollkommen degeneriert, in <strong>moralisch</strong>er und<br />

sittlicher Hinsicht ganz heruntergekommen und unglaublich verlogen.» Vater N. konterte<br />

am 31. März 1916: «Von Beweisen kann keine Rede sein, sondern es sind alles nur<br />

ungerechte Denunzierungen». Der Vormund stütze sich nur «auf anderer Leute dummes<br />

Geschwätz» und bilde daraus ein «Lügengewebe».<br />

Als Familie N. mit ihren Rekursen auf die Ebene des Stadt- und des Regierungsrats<br />

hinauf gelangt war, erfolgten scharfe Reaktionen. Der Stadtrat entzog ihnen ab<br />

dem 1. August 1916 für zehn Jahre die Niederlassungsbewilligung, der Regierungsrat<br />

wies Vater N. «für die Dauer eines Jahres in eine staatliche Korrektionsanstalt ein», und<br />

Emma wurde ins Mädchenheim Emmenhof in Derendingen verbracht, wo sie als «ganz<br />

vagabundenartig veranlagt» bezeichnet wurde - eine auch gegenüber Angehörigen der<br />

sesshaften Mehrheitskultur in vielen Dossiers und seitens verschiedenster Instanzen<br />

immer wieder verwendete abwertende Einstufung. Schon 1913 hiess es im Bericht des<br />

Informators Fritschi über Familie N., sie würden «in der Wohnung Orgien feiern, da<br />

werde getrunken, gejodelt und gesungen und getanzt ohne Rücksicht auf die Nachbarn,<br />

im betrunkenen Zustand gebe es zudem nicht selten Krach und man schildert sie wie<br />

eine richtige Appachengesellschaft, die bei Reklamationen stets wieder einig sei und<br />

einander beistehe». Emma N. entwich sofort aus dem Heim und floh, nach einigen<br />

Übernachtungen bei ihrem Verlobten, dem Schuhmacher K. im Niederdorf, weiter<br />

nach Bitterfeld in Deutschland, wo sie eine DienstbotensteIle ihrer Wahl annahm.<br />

Familie N. war unterdessen seit mehr als zwei Jahren aus Zürich ausgewiesen.<br />

Doch Grob gab seine Vormundschaft über die Kinder N. erst im Herbst 1918 an deren<br />

Wohngemeinden ab. Die Vormundschaft über Emma N. übte er weiterhin bis zu ihrer<br />

Volljährigkeit aus, um sie noch möglichst lange an einer Heirat mit Schuhmacher K. zu<br />

hindern. Eine Barunterstützung zur Haushaltsgründung von Rosina N., die von ihrem<br />

Verlobten, einem Mechaniker, schwanger war, lehnte der Vormund ab, der bei<br />

Anstalseinweisungen nicht sparte.<br />

Was bei Emma N. gescheitert war, nämlich die Anstaltseinweisung, wurde an<br />

ihrer Stieftochter vollzogen: Die Amtsvormundschaft verbrachte diese, die weiter oben<br />

schon erwähnte Eisa K., Tochter von Schuhmacher K. aus erster Ehe, misshandelt vom<br />

137 So 1930 im städtischen Mädchenheim Tannenhof. Vgl. Vorstand des Wohlfahrtsamts, Protokoll<br />

14.6.1933. Stadtarchiv, Bestand V. J. a. 61<br />

59<br />

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