Einleitung - Hogrefe
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<strong>Einleitung</strong><br />
Visuelle Störungen gehören zu den häufigsten Beeinträchtigungen nach einer<br />
Hirnschädigung und führen zu starken Einschränkungen im täglichen<br />
Leben. Daher kommt der Diagnostik visueller Störungen ein besonderer<br />
Stellenwert zu. Der klinisch arbeitende Neuropsychologe 1 hat noch einen<br />
weiteren Grund, die visuelle Funktionsfähigkeit des Patienten ausführlich<br />
zu überprüfen. Die meisten standardisierten neuropsychologischen Testverfahren<br />
beruhen auf der Darbietung visueller Reize. Daher kann eine<br />
visuelle Verarbeitungsstörung die valide Beurteilung anderer kognitiver<br />
Leistungen erheblich gefährden. Das nachfolgende Fallbeispiel verdeutlicht<br />
dies.<br />
Patientenbeispiel<br />
Ein 32-jähriger Apotheker wird mit einer im Vorgutachten diagnostizierten<br />
generellen Minderung der kognitiven Leistungsfähigkeit nach<br />
HIV-bedingter Leukencephalopathie vorgestellt. Im Kontakt wirkte der<br />
Patient differenziert, wortgewandt und in der Auffassungsgabe uneingeschränkt.<br />
Bei genauerer Betrachtung der Testergebnisse im HAWIE<br />
(Hamburg Wechsler Intelligenztest für Erwachsene) fällt die große Diskrepanz<br />
zwischen dem relativ intakten Verbal- und dem stark beeinträchtigten<br />
Handlungs-IQ auf. Weit unterdurchschnittliche Leistungen<br />
wurden im Mosaiktest, beim Figuren-Legen und im Zahlen-Symbol-Test<br />
festgestellt. Letztendlich ließ sich die vermeintliche generelle Minderung<br />
der kognitiven Leistungsfähigkeit primär auf eine Beeinträchtigung der<br />
visuokonstruktiven Fähigkeit (Mosaiktest, Figuren-Legen) und einen<br />
Gesichtsfeldausfall nach links (reduzierte visuelle Exploration im Zahlen-Symbol-Test)<br />
zurückführen. Die Diagnose deckte sich mit dem MRT<br />
(Magnetresonanz-Tomografie)-Befund, der eine Läsion im parietookzipitalen<br />
Bereich der rechten Hemisphäre beschrieb.<br />
Das Beispiel verdeutlicht nicht nur die Notwendigkeit einer eingehenden<br />
Diagnose der visuellen Funktionen, sondern auch die unmittelbaren Konsequenzen<br />
für den Patienten. So müssen der Gesichtsfeldausfall und die<br />
visuokonstruktive Störung nicht notwendigerweise zur Berufsunfähigkeit<br />
führen. Andererseits kann sich die Einschränkungen des Gesichtsfeldes<br />
auf die Lesefähigkeit auswirken und die Fahrtauglichkeit gefährden. Deshalb<br />
ist eine adäquate Diagnostik zur <strong>Einleitung</strong> geeigneter therapeutischer<br />
Maßnahmen, welche die Alltagskompetenzen steigern, unabdingbar.<br />
1 Aus Gründen einer Vereinfachung werden wir im Laufe des Buches die Formen „Neuropsychologe“<br />
und „Patient“ benutzen. Natürlich sind beide Rollen nicht an ein bestimmtes<br />
Geschlecht gebunden.<br />
IX
Das Buch wird einen Überblick über die visuellen Funktionsbeeinträchtigungen,<br />
ihre Diagnostik und Therapie gegeben. In Kapitel 1 werden visuelle<br />
Leistungen behandelt, welche die Grundlage einer intakten höheren visuellen<br />
Weiterverarbeitung darstellen, jedoch nicht immer eindeutig funktionell<br />
lokalisiert werden können. Die häufigeren Gesichtsfeldbeeinträchtigungen<br />
werden ausführlich in Kapitel 2 beschrieben. In den Kapiteln 3, 4 und 5<br />
widmen wir uns der Verarbeitung von Objekten, Farben und Gesichtern.<br />
Die speziellen Formen der visuellen Agnosien gehen zumeist auf eine<br />
Schädigung des ventralen visuellen Pfades zurück. Störungen in der Analyse<br />
visuell-räumlicher Eigenschaften und visueller Objektbewegungen, die<br />
mit Läsionen des dorsalen visuellen Pfades einhergehen, werden in den<br />
abschließenden Kapiteln 6 und 7 behandelt.<br />
Die standardisierten Test- und Trainingsverfahren, deren Bezugsquellen im<br />
Anhang genannt werden, sind im Fall der visuellen Wahrnehmungsstörungen<br />
oft limitiert. In Zusammenarbeit mit Dr. Guido Hesselmann (Dipl.-<br />
Psych.) haben wir deshalb ein computergestütztes Screeningverfahren<br />
aufgestellt, welches Sie kostenfrei über die Internetseite www.psycho.uniduesseldorf.de/abteilungen/enp.html<br />
erhalten können. Ebenso finden Sie<br />
im Anhang Informationen zur Exploration visueller Beschwerden sowie<br />
einen Anamnesefragebogen. Da wir uns bemühen, das Programm den klinischen<br />
Erfordernissen anzupassen, würden wir uns über Ihre Rückmeldung<br />
freuen.<br />
Im Herbst 2004 Michael Niedeggen<br />
Silke Jörgens<br />
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