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Gesamtausgabe als PDF - Schweizerische Ärztezeitung

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Vom Glück der Pause<br />

erhard.taverna[at]saez.ch<br />

Editores Medicorum Helveticorum<br />

Das Schrillen der Pausenglocke ist seit Generationen<br />

der Inbegriff von Freiheit. Nie mehr wird so ungestüm<br />

aufgebrochen, ins Freie gestürmt, gelärmt, geschrien<br />

und herumgetobt. Natürlich wird es immer<br />

wieder alle möglichen Pausen geben, bis zur Menopause<br />

von Mann und Frau, was definitiv nicht mehr<br />

die Lustgefühle von dam<strong>als</strong> hervorruft. Gibt es so etwas<br />

wie Lebenspausen vor der ewigen Ruhe? Die Natur<br />

kennt den Winterschlaf, Zustände wie Sporen,<br />

Verpuppungen, zeitlos Erstarrtes, wobei scheinbar<br />

nichts mehr geschieht. Das aussermenschliche Sein<br />

wirkt unbegrenzt und pausenlos. Planeten ziehen<br />

ihre Bahn, Sonnen verbrennen Wasserstoff, Meere<br />

schwappen hin und her, Sedimente versteinern, Jahreszeiten<br />

kommen wieder, ununterbrochen wächst<br />

etwas heran und verwest.<br />

Menschliche Pausen unterbrechen eine Handlung,<br />

sie bedeuten ein Stillestehen im Guten oder<br />

Schlechten, erwünscht oder nicht. «Alles fliesst»,<br />

sprach der Philosoph, und «keiner steigt zwei Mal in<br />

denselben Fluss». Das viele Denken brauchte Musse,<br />

Arbeit war etwas für Frauen und Sklaven. Das benediktinische<br />

«ora et labora» ersetzte diese Herrenmoral. «Im<br />

Schweisse deines Angesichts sollst du dein Brot essen,<br />

bis du wieder zu Erde werdest.» Zu diesem göttlichen<br />

Jobprofil passte der Kirchenkalender. Er sorgte für die<br />

hohen und niederen Feiertage, für Fasching und Advent.<br />

Auf die Frommen wartet die ewige Paradiespause.<br />

Bis es so weit ist, regeln Glockentürme und<br />

Nachtwächter die Zeit. Zu den sieben Todsünden gehört<br />

die irdische Faulheit. Deckenmalereien in Frankreich<br />

illustrieren die «Paresse» <strong>als</strong> kriechende Schnecke<br />

vor geblähten Segeln im Hintergrund. Lafontaines<br />

Grille musiziert einen Sommer lang und hat im Winter<br />

nichts zu beissen, denn der fleissigen Ameise gehört<br />

die Zukunft der beginnenden Industrialisierung.<br />

Für die Musikantin der Fabel hat sie nur Spott übrig.<br />

Das Arbeitsleben im Takt der Fabrikuhren ist zwar<br />

weniger gefährlich, dafür affekt- und lustloser, weil zivilisiert<br />

und befriedet. Zum Stundenplan am Fliessband<br />

gehört die Pause. Als eingeplante Unterbrechung<br />

ist sie eine Erfindung der Moderne, minutengenau<br />

festgelegt, zweckgerichtet und lohnpflichtig. Arbeitsunterbrechungsphasen<br />

gehören zum Zeitmanagement,<br />

sie sollen die Produktivität steigern. Die Arbeitsphysiologie<br />

testet die Belastungsfähigkeit in der Fabrik<br />

und im Büro. Tag- und Nachtschicht brauchen unterschiedliche<br />

Erholungszeiten, für Piloten und Lokomotivführer<br />

gelten vorgeschriebene Auszeiten, für Soldaten<br />

gibt es die befohlene Ruhe. Nur Roboter schlafen<br />

nie, so wenig wie Google, CNN oder die Börse.<br />

Am Eingang eines inzwischen überbauten Kurortes<br />

versprach ein grosses Plakat «Ferien voller<br />

Uhren sind aller Laster Anfang.<br />

<strong>Schweizerische</strong> <strong>Ärztezeitung</strong> | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2013;94: 1/2<br />

ZU GUTER LETZT<br />

Ferien». Die aktive Freizeit <strong>als</strong> Fortsetzung des Alltags.<br />

Die Seelen baumeln nur im Werbeprospekt. Zum beklagten<br />

Zeit-Mangel gehört paradoxerweise der Zeit-<br />

Vertreib, den eine gigantische Industrie am Laufen<br />

hält. Für Kranke und Verunfallte gibt es die Zwangspause,<br />

für Wöchnerinnen die Stillpause, für Süchtige<br />

die Rauchpause, für Kämpfende die Feuerpause.<br />

Jogger gönnen sich eine Verschnaufpause, Autoren<br />

brauchen eine Schreibpause. Vielerlei Pausen, für<br />

jede Situation eine andere. Ausser im Gefängnis gibt<br />

es die unfreiwilligen Pausen nur in den Übergangszonen.<br />

In den Warteräumen von Busstationen,<br />

Bahnhöfen und Flughäfen, und natürlich im Stau.<br />

Nur der Meditierende weiss, wie viel Übung es<br />

braucht, den Strom der Gedanken und Bilder für<br />

eine kurze Zeit zu unterbrechen.<br />

«Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus/<br />

Flog durch die stillen Lande / Als flöge sie nach<br />

Haus.» Die Nacht schenkt uns die ersehnte Schlafpause.<br />

«Es rauschten leis die Wälder / So sternenklar<br />

war die Nacht», reimte Joseph von Eichendorff in<br />

seinem Gedicht «Mondnacht». Seit der preussische<br />

Beamte diese Zeilen schrieb, haben sich Stille und<br />

Dunkelheit in die entferntesten Urlaubswinkel verkrochen.<br />

Aus grosser Höhe betrachtet, überzieht ein<br />

Elektroschimmel die nächtliche Hemisphäre. Er verwirrt<br />

die Zugvögel auf ihrer Reise, er vertreibt die<br />

Milchstrasse und stört unsere Träume. Das Schrillen<br />

der Pausenglocke läutete auch den Beginn der nächsten<br />

Lernperiode ein. Man nahm wieder Platz in der<br />

Schulbank und lernte <strong>als</strong> ritalinloser Jahrgang das<br />

kollektive Zuhören und Stillsitzen. Wer Glück hatte,<br />

durfte sich auch langweilen. Die neue Pädagogik des<br />

Suchens, Abzählens, Abfragens und Vergleichens<br />

verknüpft schon im Vorschulalter jede Ente mit einem<br />

Wissenstest. Nur Privi legierte können sich eine<br />

Denkpause leisten. Darum lerne für seine Zukunft,<br />

wer früh lernt.<br />

Mach mal Pause, trink Coca-Cola, Whiskytime,<br />

Timeout, have a break, have a Kit Kat, gönne dir eine<br />

Milka Lila Pause. Die Werbung kennt die geheimsten<br />

Wünsche. Sie verkauft uns das Glück der Pause.<br />

Erhard Taverna<br />

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