Essay Beschneidung Steffens - Privates Johannes-Gymnasium ...
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förmlich nur darauf, vom Individuum benutzt zu werden. Was für Kant die Vernunft war,<br />
welche den berühmten kategorischen Imperativ als Grundlage des Sittengesetzes<br />
manifestierte und so uniformes, sittlich gutes Handeln ermöglichte, war bei Arthur<br />
Schopenhauer das Mitleid, welches den Menschen dazu befähigte, seinen Egoismus zu<br />
überwinden und sich in das Leiden des Gegenübers hineinzuversetzen, um auf diese<br />
Weise moralisch gut zu handeln. Später erklärte dann Friedrich Nietzsche Gott und die<br />
Moral für tot, zog die Möglichkeit in Betracht, dass Gut geglaubtes böse und Böses gut<br />
sein könnte und forderte die Menschheit auf, sich zu „Übermenschen“ zu erheben, indem<br />
man jegliche Fremdbestimmung von sich weisen solle. Für die französischen<br />
Existentialisten Jean Paul Sartre und Albert Camus war der Mensch sogar „zur Freiheit<br />
verurteilt“. Denn die Moral ergab sich in deren Vorstellung aus der Verantwortung des<br />
Individuums der gesamten Menschheit gegenüber, die die individuelle Freiheit<br />
unweigerlich mit sich brachte.<br />
Diese kleine Auswahl an Moralvorstellungen in der Philosophiegeschichte zeigt, dass es<br />
die eine Moralinstanz nicht geben kann. Moral, wenn es sie denn überhaupt gibt, um<br />
Nietzsche nochmals aufzugreifen, ist und bleibt Ansichtssache des Einzelnen. Denn alle<br />
Modelle der Moral lassen sich immer auf ein Prinzip zurückführen, das von dem<br />
jeweiligen Philosophen als Ideal gesetzt worden ist. Die Vernunft ist eine Setzung der<br />
Aufklärer, das Mitleid eine Setzung Schopenhauers, die Nichtexistenz einer Moral die<br />
Setzung Nietzsches. Die Wahrhaftigkeit einer dieser Philosophien lässt sich nicht<br />
beweisen – aber auch nicht widerlegen. Und genauso verhält es sich auch mit der Setzung<br />
religiös begründeter Moral, nämlich mit Gott. Meiner Ansicht nach folgt daraus, dass<br />
man die Religion in Moralangelegenheiten nicht einfach hinten anstellen darf. Sie steht<br />
für mich auf einer Stufe mit allen anderen Moralmodellen.<br />
Doch ist die angezweifelte Legitimiät der Religion als moralische Instanz nicht das<br />
primäre Problem, mit dem die <strong>Beschneidung</strong>s-Befürworter zu kämpfen haben, sondern es<br />
ist, wie ich meine, die Einstellung der restlichen postmodernen Gesellschaft:<br />
Weil sich die <strong>Beschneidung</strong>sdebatte aber nun einmal in unserer heutigen Zeit abspielt, ist<br />
es unabdingbar, einen Blick auf die Struktur der Postmoderne zu werfen. Hierzu möchte<br />
ich die philosophischen Grundüberlegungen von Norbert Bolz zu Rate ziehen, die den<br />
Zustand der Postmoderne in meinen Augen treffend widerspiegeln. Wie aus dem Vorwort<br />
von Bolz´ Schrift „Die Konformisten des Andersseins“ 3 hervorgeht, sieht er die Existenz<br />
eines „Ordo“ in unserer heutigen (zumindest westlichen) Gesellschaft nicht mehr<br />
gegeben. Während die Kritische Theorie 4 der Frankfurter Schule, ganz in der Tradition<br />
der vielen vorherigen Idealisten stehend, noch von einem solchen holistischen, also ganz-<br />
und einheitlichen System, in welchem das Individuum einen festen Platz einnimmt und<br />
seiner jeweiligen Bestimmung folgt, überzeugt war, zeichnet Bolz ein dem<br />
entgegengesetztes Bild der modernen Gesellschaft. Für ihn ist diese nämlich von vielen<br />
verschiedenen Systemen, Strukturen und Differenzen geprägt. Dem kann ich voll und<br />
ganz zustimmen. Stellt man den Vergleich zwischen heutiger Gesellschaft und<br />
mittelalterlicher Ständegesellschaft an, wird dies besonders deutlich. Eine gottgegebene<br />
Ständeordnung im Sinne eines Ordogedankens widerspricht glasklar unserer<br />
multikulturellen und im höchsten Maße vielfältigen Postmoderne. Ein<br />
Zusammenstauchen der Gesellschaft auf ein einheitliches Prinzip lässt deren enorme<br />
Komplexität meiner Ansicht nach auch nicht zu. Hinzu kommt, dass die Freiheit heute als<br />
eines der höchsten Güter angesehen wird, auf welches man nur äußerst ungern verzichten<br />
möchte. Die lange Zeit vorherrschende Annahme, dass der Existenz des Individuums eine<br />
Essenz (wie Gott, die Vernunft, etc.) vorausgeht - um mit den Begrifflichkeiten Sartres zu<br />
3 BOLZ, Norbert, Konformisten des Andersseins, Fink-Verlag, München 1999<br />
4 Kritische Analyse der vom kapitalistischen Wirtschaftssystem geprägten Gesellschaft des<br />
20. Jahrhunderts