Essay Beschneidung Steffens - Privates Johannes-Gymnasium ...
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großer Hilflosigkeit befindet, hofft mit aller Sehnsucht darauf, dass er irgendwann mit<br />
diesem alles umfassenden Weltprinzip eins werden kann, oder philosophisch: Die<br />
Existenz zur Essenz zurückkehrt. Nichts anderes war auch schon das Ziel der Stoiker in<br />
den ersten vorchristlichen Jahrhunderten, welche das Einswerden mit der Weltvernunft<br />
mittels eines durchaus tugendhaften Lebens erreichen wollten. Allein diese Parallele<br />
beweist doch, dass das Streben nach vollkommener Erfüllung, nach Glückseligkeit, die<br />
sich noch deutlicher in den asiatischen Religionen zeigt, schon immer ein typisch<br />
menschliches Phänomen war.<br />
Ein Ludwig Feuerbach mag dieses Phänomen als Trugschluss des Menschen entlarvt<br />
haben, wenn er behauptet, dass der Mensch, der sich selbst als negativ erlebt, all das ihm<br />
gegensätzliche Positive auf Gott „projeziere“. Folglich existiere Gott nur in der<br />
gespaltenen Persönlichkeit des Menschen. Für Sigmund Freud war Gott als Vaterperson<br />
nichts weiter als das Produkt der Sehnsucht des schwachen Menschen nach Schutz und<br />
Geborgenheit und Karl Marx bläst in dasselbe Rohr, indem er die Religion als das<br />
„Opium des Volkes“ bezeichnet, die die Menschheit lediglich auf das zukünftige Jenseits<br />
vertröste und dadurch nicht gewillt mache, gegen gegenwärtige Missstände vorzugehen.<br />
Aber all diesen mehr oder weniger plausiblen antireligiösen Ansichten zum Trotz haben<br />
Menschen entschieden an der unverblümten Existenz eines solchen Monismus<br />
festgehalten und mit ihr an ihrer unerschütterlichen Hoffnung auf das sprichwörtliche<br />
Paradies.<br />
Wenn nun die derzeit in allen Medien präsenten postmodernen Gegner der <strong>Beschneidung</strong><br />
selbige als, wie ich häufig gehört habe, „archaisch“ abtun, womit sie ausdrücken wollen,<br />
dass sie dem jetzigen Zeitalter nicht angemessen ist, greifen sie somit nicht nur das<br />
medizinisch und juristisch zwar bedenkliche Ritual der Entfernung der Vorhaut an,<br />
sondern in meinen Augen gleichsam das für die Gläubigen existentielle Ordo, welches für<br />
sie mit der <strong>Beschneidung</strong> in direkter Verbindung steht und den Kern ihres Weltbildes<br />
ausmacht. Die <strong>Beschneidung</strong> zu verbieten heißt demnach auch den Glauben an ein Ordo<br />
zu verbieten oder zumindest in beträchtlicher Weise einzuschränken.<br />
Woher kommt es aber, dass der Postmodernist dies offenbar nicht begreifen kann? Bei<br />
meinen Überlegungen bin ich auf eine mögliche Antwort gestoßen:<br />
Die meisten Menschen, auf die meine Beschreibung eines Postmodernisten zutrifft, sind<br />
meiner Meinung nach nicht verzweifelt genug, als dass sie etwas so Grundlegendes<br />
verstehen könnten. Materiell gesehen sind selbst die Unterschichten vergleichsweise gut<br />
versorgt, wobei die Betonung auch hier wieder auf unserer westlichen Gesellschaft liegt.<br />
Zudem leben wir in der längsten Friedenszeit, die es jemals gegeben hat. Die<br />
fortschreitende Technisierung nimmt uns viel Mühe ab und sorgt ferner durch reichlich<br />
Unterhaltung dafür, dass es dem Postmodernisten nur schwer langweilig wird. Kurzum,<br />
es geht ihm gut, dem Postmodernisten. Sein Sinn des Lebens besteht darin, so erfolgreich<br />
wie möglich zu sein, so viel Geld wie möglich zu verdienen, Ansehen und Wohlstand zu<br />
haben - ausschließlich auf Erden versteht sich - und natürlich so lange wie möglich<br />
gesund und am Leben zu bleiben. Am besten ist es für ihn, wenn er dabei noch möglichst<br />
viele Freiräume genießt, selbst wenn dafür die Grundsätze der Ethik über den Haufen<br />
geworfen werden müssten. Das einzige, womit er zu kämpfen hat, ist die<br />
Unzufriedenheit, wenn einmal etwas nicht so funktionieren sollte, wie er es sich vorstellt.<br />
Und wenn er das Spirituelle doch nicht missen will, probiert er womöglich etwas Esoterik<br />
aus, freilich ohne sich gänzlich an eine Sache binden zu müssen. Kein Wunder also, dass<br />
so jemand für die aus der Tradition stammenden existentiellen Fragen des Lebens (Wo<br />
komme ich her? Wer bin ich? Wo gehe ich hin?) nicht mehr empfänglich ist, ja regelrecht<br />
abstumpft, und das Recht auf körperliche Unversehrtheit meilenweit über die<br />
Religionsfreiheit und das Elternrecht stellt, welche in gleicher Weise von der Verfassung<br />
garantiert und gestützt werden.