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Philip Kapleau - Die drei Pfeiler des Zen

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<strong>Die</strong><br />

<strong>drei</strong> <strong>Pfeiler</strong><br />

<strong>des</strong><br />

<strong>Zen</strong><br />

Lehre — Übung — Erleuchtung<br />

Herausgegeben und kommentiert<br />

von<br />

<strong>Philip</strong> <strong>Kapleau</strong><br />

Otto Wilhelm Barth Verlag


Zehnte Auflage 1994<br />

Übersetzt aus dem Englischen von Brigitte D'Ortschy. Titel der Originalausgabe:<br />

«The Three Pillars of <strong>Zen</strong>». Published by arrangement with John Weatherhill,<br />

Inc.,Tokyo. Copyright ©1965 by <strong>Philip</strong> <strong>Kapleau</strong>. Gesamtdeutsche Rechte<br />

beim Scherz Verlag, Bern und München, für das Otto Wilhelm Barth Programm.<br />

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen, fotomechanische<br />

Wiedergabe, Tonträger jeder Art und auszugsweisen Nachdruck, sind<br />

vorbehalten.


Meinen Lehrern,<br />

YASUTANI Rôshi, dem Meister <strong>des</strong> Tempels Taihei,<br />

HARADA Rôshi, dem verstorbenen Abt <strong>des</strong> Klosters Hosshin, und<br />

NAKAGAWA Rôshi, dem Abt <strong>des</strong> Klosters Ryutaku,<br />

in Verehrung und Dankbarkeit gewidmet.<br />

Sie alle haben selbstlos die Wahrheit <strong>des</strong> Dharma zum Wohl<br />

der Menschen in Ost und West gelehrt.


Inhalt<br />

Vorwort von Huston Smith 13<br />

Allgemeine Einführung 19<br />

Erster Teil: LEHRE UND ÜBUNG<br />

I. Yasutani Rôshis einführende Unterweisungen zur Übung <strong>des</strong> <strong>Zen</strong><br />

Einführung 27<br />

Biographische Notizen über Yasutani Rôshi 53<br />

<strong>Die</strong> Unterweisungen:<br />

1. Stunde: Theorie und Praxis <strong>des</strong> Zazen 56<br />

2. Stunde: Vorkehrungen beim Zazen 66<br />

3. Stunde: Täuschende Erscheinungen und Empfindungen 71<br />

4. Stunde: <strong>Die</strong> fünf Arten <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> 75<br />

5. Stunde: <strong>Die</strong> fünf Arten <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> (Fortsetzung) 78<br />

6. Stunde: <strong>Die</strong> <strong>drei</strong> Ziele <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> 81<br />

7. Stunde: Dokusan (individuelle Unterweisung) 85<br />

8. Stunde: Shikantaza 89<br />

<strong>Die</strong> Parabel von Enyadatta 91<br />

9. Stunde: Ursache und Wirkung sind Eins 94<br />

10. Stunde: <strong>Die</strong> <strong>drei</strong> wesentlichen Voraussetzungen zur Übung<br />

<strong>des</strong> <strong>Zen</strong> 96<br />

l1.Stunde: Angestrebte Ziele 99<br />

II. Yasutani Rôshis Kommentar zum Kôan Mu<br />

Einführung 103<br />

Der Kommentar 113


III. Yasutani Rôshis Dokusan mit zehn Menschen <strong>des</strong> Westens<br />

Einführung 129<br />

<strong>Die</strong> Dokusan:<br />

Schülerin A (60 Jahre alt) 145<br />

Schüler B (45 Jahre alt) 157<br />

Schüler C (43 Jahre alt) 159<br />

Schülerin D (40 Jahre alt) 177<br />

Schüler E (44 Jahre alt) 179<br />

Schülerin F (45 Jahre alt) 180<br />

Schüler G (25 Jahre alt) 182<br />

Schülerin H (37 Jahre alt) 193<br />

Schüler I (30 Jahre alt) 194<br />

Schülerin J (33 Jahre alt) 197<br />

IV. Bassuis Dharma-Worte und Briefe an seine Schüler<br />

Einführung 221<br />

Dharma-Worte 228<br />

<strong>Die</strong> Briefe:<br />

1. An einen Mann aus Kumasaka 233<br />

2. An die Äbtissin <strong>des</strong> Shinryu-ji 236<br />

3. An Fürst Nakamura, Gouverneur der Provinz Aki 241<br />

4. An einen Sterbenden 245<br />

5. An den Laien Ippô (Homma Shôken) 246<br />

6. An einen Mönch in der Shôbô-Einsiedelei 252<br />

7. An die Nonne Furusawa 253<br />

8. Erster Brief an den <strong>Zen</strong>-Priester Iguchi 256<br />

9. Zweiter Brief an den <strong>Zen</strong>-Priester Iguchi 257<br />

10. Dritter Brief an den <strong>Zen</strong>-Priester Iguchi 258<br />

11. Vierter Brief an den <strong>Zen</strong>-Priester Iguchi 259<br />

12. An eine Nonne 261<br />

Zweiter Teil: ERLEUCHTUNG<br />

V. Acht Erleuchtungserlebnisse zeitgenössischer Japaner und<br />

Menschen <strong>des</strong> Westens<br />

Einführung 265<br />

<strong>Die</strong> Erlebnisse:<br />

1. Herr K. Y., Japaner, Direktor einer großen Firma 285<br />

2. Herr P. K., Amerikaner, ehemaliger Geschäftsmann 290


3. Herr K. T., Japaner, Gartengestalter 317<br />

4. Herr C. S., Japaner, Regierungsangestellter im Ruhestand 322<br />

5. Frau A. M., amerikanische Lehrerin 329<br />

6. Herr A. K., japanischer Versicherungsangestellter 337<br />

7. Frau L. T. S., amerikanische Künstlerin 343<br />

8. Frau D. K., Kanadierin, Hausfrau 349<br />

VI. Yaeko Iwasaki — Briefe der Erleuchtung an Harada Rôshi<br />

und seine Anmerkungen<br />

Einführung 369<br />

Biographischer Abriß über Harada Rôshi 374<br />

<strong>Die</strong> Briefe und Anmerkungen:<br />

1. Zeugnis für Kenshô 377<br />

2. Zeugnis großer Erleuchtung 379<br />

3. Zeugnis vertiefter Erleuchtung 383<br />

4. Zeugnis für das unmittelbare Erleben <strong>des</strong> Großen Weges<br />

<strong>des</strong> Buddhismus 385<br />

5. Zeugnis für das Erlangen von Fugens unbeugsamem Geist 387<br />

6. Zeugnis von Freude und Frieden über das Eins-Sein mit dem<br />

Dharma 390<br />

7. "Weiteres Zeugnis von Frieden und Freude über das Eins-<br />

Sein mit dem Dharma 392<br />

8. Vorahnung <strong>des</strong> To<strong>des</strong> 395<br />

Dritter Teil: ERGÄNZUNGEN<br />

VII. Dôgen über «Sein-Zeit» 401<br />

VIII. <strong>Die</strong> Zehn Ochsenbilder mit Kommentaren und Lobsprüchen 407<br />

IX.. Körperhaltungen beim Zazen, mit Illustrationen 421<br />

X. Wort- und Begriffserklärungen 427<br />

Nachwort zur deutschen Übersetzung 478


Zu den dekorativen Zeichen<br />

<strong>Die</strong> vor jedem Kapitel stehenden Zeichen sind hundert bis fünfhundert<br />

Jahre alte kao, phantasievolle, mit dem Pinsel geschriebene<br />

«Signaturen» oder persönliche Chiffren, wie sie oft von <strong>Zen</strong>-Priestern<br />

und anderen kultivierten Japanern für ihre literarischen oder künstlerischen<br />

Nebenbeschäftigungen benutzt wurden. Kao haben eine nur<br />

schwache Verbindung mit der Orthographie. Sie wurden hier nicht<br />

ihrer inhaltlichen Bedeutung wegen verwendet, sondern abstrakt auf<br />

Grund ihrer dekorativen Eigenschaft.<br />

Das Kao auf dem Schutzumschlag und auf dem Titelblatt stammt von<br />

BUTCHÔ KOKUSHI, einem <strong>Zen</strong>-Meister <strong>des</strong> siebzehnten Jahrhunderts.


Zur Aussprache der japanischen Wörter<br />

<strong>Die</strong> Aussprache japanischer Wörter ist einfach: <strong>Die</strong> Konsonanten<br />

werden englisch ausgesprochen und die Vokale deutsch. Davon gibt<br />

es ein paar Ausnahmen:<br />

Das «w» wird deutsch ausgesprochen.<br />

Bei «ei» werden «e» und «i» getrennt ausgesprochen.<br />

Das «u» wird manchmal gesprochen und manchmal nicht, was allein<br />

aus den Schriftzeichen zu erklären ist, die hier nicht erörtert werden<br />

können. Wir geben der Einfachheit halber nachstehend die wenigen<br />

Wörter an, bei denen das «u» nicht oder fast nicht ausgesprochen<br />

wird:<br />

dokusan = dok'san<br />

katsu = kats'<br />

kotsu = kots'<br />

takuhatsu = takuhats'<br />

Tokusan = Tok'san<br />

Yasutani = Yas'tani<br />

11


Vorwort<br />

Der Überlieferung nach soll der <strong>Zen</strong>-Buddhismus im sechsten Jahrhundert<br />

mit der Reise <strong>des</strong> BODHIDHARMA 1 von Indien nach China<br />

zum ersten Mal nach Osten gezogen sein. Sechshundert Jahre später,<br />

im zwölften Jahrhundert, wanderte er wiederum nach Osten, nach<br />

Japan. Wird er jetzt, nachdem mehr als weitere sechs Jahrhunderte<br />

verstrichen sind, einen dritten riesigen Schritt ostwärts tun, diesmal in<br />

den Westen?<br />

Niemand weiß es. Das derzeitige Interesse <strong>des</strong> Westens an <strong>Zen</strong> zeigt<br />

sich in der Art einer Modeerscheinung, was es zum Teil auch ist. Das<br />

Interesse geht jedoch auch tiefer. Ich möchte hier anführen, welchen<br />

Eindruck <strong>Zen</strong> im Westen auf <strong>drei</strong> Männer von beträchtlichem Ansehen<br />

gemacht hat: auf einen Psychologen, einen Philosophen und einen<br />

Historiker. Das Buch, das C. G. JUNG auf seinem Sterbebett las, war<br />

Ch'an and <strong>Zen</strong> Teachings: First Series von CHARLES LUK, und er bat<br />

seine Sekretärin ausdrücklich, dem Autor mitzuteilen, daß «er begeistert<br />

sei... Als er las, was Hsu YUN gesagt hatte, hatte er manchmal<br />

das Gefühl, daß er selbst genau dasselbe gesagt haben könnte! Das<br />

genau war ,Es'! 2 » Auf dem Gebiet der Philosophie wird MARTIN<br />

HEIDEGGERS Ausspruch zitiert: «Wenn ich (Dr. SUZUKI) 3 recht verstehe,<br />

so ist es das, was ich in all meinen Schriften zu sagen ver-<br />

1. Siehe alle hervorgehobenen Namen und Fremdwörter im 10. Kapitel.<br />

2. Aus einem unveröffentlichten Brief von Dr. MARIE-LOUISE VON FRANZ an<br />

CHARLES LUK vom 12. September 1961.<br />

3. Aus WILLIAM BARRET (ed.) <strong>Zen</strong> Buddhism: Selected Writings of D. T. SUZUKI,<br />

Doubleday, Garden City; Anchor Books, 1956, p. XI.<br />

13


suchte.» LYNN WHITE ist zwar kein solcher Bildner moderner Denkweise<br />

wie JUNG und HEIDEGGER, aber er ist ein Historiker von Rang,<br />

und er sagt voraus: «Es mag wohl sein, daß die Veröffentlichung von<br />

D. T. SUZUKIS ersten Essays in <strong>Zen</strong> Buddhismus, 1927, von künftigen<br />

Generationen als ebenso großes geistiges Ereignis angesehen wird wie<br />

WILLIAM OF MOERBEKS lateinische Übersetzung <strong>des</strong> ARISTOTELES im<br />

<strong>drei</strong>zehnten Jahrhundert oder die <strong>des</strong> PLATO durch MARSIGLIO FICINO<br />

im fünfzehnten. 4 »<br />

Warum aber sollte der Westen, der zurzeit in derart hohem Maße von<br />

wissenschaftlicher Denkweise beherrscht wird, bei Anschauungen, die<br />

vor dem Anbruch neuzeitlicher Wissenschaft gebildet wurden, in die<br />

Lehre gehen? Einige meinen, die Antwort darauf liege in dem Ausmaß,<br />

in welchem die buddhistische Kosmologie das vorwegnahm, was<br />

die zeitgenössische Wissenschaft empirisch entdeckt hat. <strong>Die</strong> Parallelen<br />

sind eindrucksvoll. Astronomische Zeit und astronomischer Raum,<br />

die das bisherige Weltbild <strong>des</strong> Westens unwiderruflich zertrümmert<br />

haben, fügen sich glatt in die Falten buddhistischer Kosmologie.<br />

Wenn wir uns vom Makrokosmos zum Mikrokosmos, vom unendlich<br />

Großen zum unendlich Kleinen wenden, so finden wir das gleiche<br />

unheimliche Vorherwissen. Während die Griechen Atome setzten, die<br />

ewig, weil nicht zusammengesetzt (a-tomas = unteilbar; das, was<br />

nicht zerlegt werden kann) waren, lehrten die Buddhisten, daß alles<br />

Stoffliche nicht von Dauer (anicca) sei, weil es aus dharmas, gleich<br />

winzig an Dauer wie an räumlicher Ausdehnung, gebildet sei - bemerkenswert<br />

ähnlich den flüchtigen Spuren, die die Partikel auf den<br />

Oszillographen der Wissenschaftler verzeichnen.<br />

Um noch einmal auf den Makrokosmos zurückzukommen: Es sind<br />

nicht allein seine Dimensionen nach wissenschaftlicher Kosmologie,<br />

die der Buddhismus vorausahnte, sondern auch seine Gestalt. Wir<br />

kennen die Debatte um GEORGE GAMOWS «Urknall» und FRED HOY-<br />

LES «Dauerzustand» (steady state). Der erste stellt die These auf, daß<br />

das Universum die fortdauernde Folgeerscheinung der Explosion eines<br />

einzigen Ur-Atoms sei, und der zweite, daß sich das Universum schon<br />

4. Frontiers of Knowledge in the Study of Man, Harper and Brothers, New York,<br />

1956, pp. 304-5.<br />

14


immer in dem uns bekannten Zustand befunden habe, wobei dauernd<br />

frischer Wasserstoff erzeugt werde, um den zu ersetzen, der durch die<br />

Rezession der Sterne, sobald sie die Lichtgeschwindigkeit überschreiten,<br />

entnommen wird. <strong>Die</strong> letzte Nachricht von Mount Palomar lautet,<br />

daß diese beiden Theorien falsch zu sein scheinen. <strong>Die</strong> Rotverschiebungen<br />

auf den spektrographischen Aufnahmen entfernter<br />

Milchstraßen weisen darauf hin, daß diese ihren Lauf verlangsamen.<br />

Dadurch entsteht die Hypothese, daß sich das Universum, nachdem<br />

es sich eine Zeitlang ausgedehnt hat, wieder zusammenzieht, nur um<br />

diesen Zyklus endlos zu wiederholen. Anstelle der Theorien <strong>des</strong> «Urknalls»<br />

und <strong>des</strong> «Dauerzustands» erhalten wir die «knall... knall...<br />

knall. . .»-Theorie, wie der Harvard-Astronom HARLEY SHAPLEY es<br />

formuliert. «Sehr interessant», sagt der Buddhist, denn das ist genau<br />

das, was seine Kosmologie ihn von jeher gelehrt hat.<br />

Der Westen mag solche Beispiele der wissenschaftlichen Vorausschau<br />

<strong>des</strong> Buddhismus verblüffend finden, das aber kann die Anziehungskraft<br />

<strong>des</strong> Buddhismus nicht erklären. Einmal kann der Westen<br />

nicht das Gefühl haben, daß er auf dem Gebiet der Wissenschaft<br />

irgend etwas vom Buddhismus zu lernen hätte; er kann in diesem Feld<br />

den Buddhisten höchstens gute <strong>Zen</strong>suren für einige frühreife Ahnungen<br />

geben. Zudem ist es nicht der Buddhismus im allgemeinen, der<br />

den Westen so sehr fesselt, als vielmehr jene besondere Schule <strong>des</strong><br />

Buddhismus, die <strong>Zen</strong> heißt. Wir verstehen die besondere Anziehungskraft<br />

<strong>des</strong> <strong>Zen</strong>-Buddhismus, wenn wir uns vergegenwärtigen, in welchem<br />

Ausmaß der Westen zurzeit von «prophetischem Glauben»<br />

belebt wird, dem Gefühl der Heiligkeit <strong>des</strong> Sollte, dem Sog der<br />

Ahnung, welcher Art die Dinge sein könnten und sein sollten, jedoch<br />

noch nicht sind. Solch ein Glaube ist von offensichtlichem Wert, aber<br />

wenn sich ihm nicht als Gegengewicht ein Sinn für die Heiligkeit <strong>des</strong><br />

Ist zugesellt, gerät er aus dem Gleichgewicht. Wenn unsere Augen<br />

stets auf das «Morgen» gerichtet sind, so schlüpft das «Heute» unbemerkt<br />

vorbei. Zum Westen, der bei seinem Anliegen, Himmel und<br />

Erde umzugestalten, in Gefahr ist, sich die Gegenwärtigkeit <strong>des</strong><br />

Lebens - <strong>des</strong> einzigen Lebens, das wir wirklich haben - durch die<br />

Finger schlüpfen zu lassen, kommt <strong>Zen</strong> als Mahner und erinnert uns,<br />

15


daß wir den Wert keines Lebens und keiner Stunde gewahr werden,<br />

wenn wir nicht Geheimnis und Schönheit unseres gegenwärtigen<br />

Lebens, unserer gegenwärtigen Stunde gewahr werden lernen.<br />

Weiterhin steht fest, daß sich der Westen durch den Zusammenbruch<br />

der Metaphysik, der natürlichen Theologie und der objektiven Offenbarung<br />

zum ersten Mal als Zivilisation dem Problem gegenüber sieht,<br />

ohne objektiv überzeugende absolute Werte zu leben - mit einem<br />

Wort: ohne Dogmen. So wie Christus über die Wasser schritt, so soll<br />

der Mensch <strong>des</strong> Westens heutzutage über das Meer <strong>des</strong> Nichts gehen,<br />

unbekümmert angesichts <strong>des</strong> Fehlens nachweislich sicherer Stützen.<br />

Während sich nun der Mensch <strong>des</strong> Westens dieser heiklen Aufgabe<br />

gegenüber sieht, hört er von Menschen jenseits <strong>des</strong> Meeres, die seit<br />

Jahrhunderten ihren Aufenthalt in der Leere genommen haben, sich<br />

darin zu Hause fühlen und ihre Freude darin finden lernten. Wie ist<br />

das möglich? Der Westen versteht das nicht, aber das Nichts, von<br />

dem er von jenseits <strong>des</strong> Meeres hört, klingt wie etwas, mit dem man<br />

zu Rande kommen muß.<br />

<strong>Zen</strong> sagt uns, daß das «Ist» heilig und die Leere Heimat ist, aber solche<br />

Versicherungen sind nicht <strong>Zen</strong>. <strong>Zen</strong> ist vielmehr eine Methode,<br />

um zur unmittelbaren Erfahrung der Wahrheit dieser Versicherungen<br />

zu gelangen. Und damit kommen wir zum vorliegenden Buch, denn<br />

ich kenne kein anderes, das dem Leser ein so volles Verständnis <strong>des</strong>sen<br />

vermittelt, was diese Methode ist. Es bringt erstmals auf Englisch<br />

YASUTANI Rôshis Einführende Unterweisungen zur Übung <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>,<br />

die mit Recht in Japan höchstes Lob gewannen, da sie nach den Worten<br />

eines Kommentators «die beste Einführung in den <strong>Zen</strong>-Buddhismus,<br />

die bisher geschrieben wurde 5 », darstellen.<br />

Aber das Buch bietet noch einen anderen Gewinn, der sogar noch<br />

auffallender ist. Bis jetzt war es für jene, die sich nicht selber der<br />

<strong>Zen</strong>-Schulung unterzogen, ganz unmöglich, irgendeinen Hinweis auf<br />

das zu bekommen, was bei einem wichtigen Vorgang auf diesem Wege<br />

vor sich geht, nämlich beim dokusan - jener Reihe feierlicher, geheimer<br />

Begegnungen, durch die der Rôshi die Meditation <strong>des</strong> Schülers<br />

5. RUTH FULLER SASAKI, Direktorin <strong>des</strong> First <strong>Zen</strong> Institute of America in Japan,<br />

Kyoto.<br />

16


auf das Ziel der Erleuchtung hinführt. Man hielt den Inhalt dieser<br />

Begegnungen für zu persönlich, als daß man ihn hätte bekannt<br />

machen dürfen. Jetzt hat ein Rôshi, der davon überzeugt ist, daß<br />

unser heutiges Zeitalter neue Verfahrensweisen erfordert, gestattet,<br />

daß eine Reihe dieser Begegnungen veröffentlicht wird. Eine solche<br />

Schrift ist bisher noch nicht einmal auf Japanisch erschienen. Es<br />

bedeutet einen wichtigen Durchbruch, daß sie hier erscheinen darf.<br />

Niemand außer PHILIP KAPLEAU hätte dieses Buch schreiben können.<br />

Er kennt <strong>Zen</strong> durch zwölf Jahre intensivster Übung, von denen er<br />

<strong>drei</strong> Jahre in Soto- und Rinzai-Klostern verbrachte. Er kennt die<br />

Japaner, die ihm dabei halfen, dieses wenig bekannte Material fehlerlos<br />

zu übersetzen. Er beherrscht die japanische Sprache so gut, daß er<br />

seinem Rôshi bei den Dokusan mit westlichen Schülern als Dolmetscher<br />

dienen konnte. Durch seine jahrelangen Erfahrungen als Berichterstatter<br />

an Gerichtshöfen war er imstande, jene Gespräche schnell<br />

in Kurzschrift zu notieren, sobald sie zu Ende waren. Seine Schreibweise<br />

ist klar und reizvoll. <strong>Die</strong>se Kombination verschiedener Fähigkeiten<br />

ist einzigartig. Sie hat ein bemerkenswertes Buch hervorgebracht,<br />

das mit Sicherheit einen festen Platz in der Bibliothek der<br />

<strong>Zen</strong>-Literatur in westlichen Sprachen einnehmen wird.<br />

HUSTON SMITH<br />

Professor für Philosophie<br />

Massachusetts Institute of Technology, USA<br />

17


Allgemeine Einführung<br />

<strong>Zen</strong> ist, kurz gesagt, eine Religion mit einer einzigartigen Methode der<br />

Körper-Geist-Schulung, deren Ziel sattori, also Selbst-Wesensschau 1 ist.<br />

In diesem Buch habe ich versucht, den wesentlich religiösen Charakter<br />

und Geist von <strong>Zen</strong> zu vermitteln - ja, seine Rituale und Symbole,<br />

seine Anziehungskraft auf Herz wie Verstand -, denn als<br />

buddhistischer Weg zur Befreiung ist <strong>Zen</strong> mit größter Bestimmtheit<br />

eine Religion. Es gründet sich auf die höchsten Lehren <strong>des</strong> Buddha.<br />

Von Indien wurde es nach China gebracht, wo die für <strong>Zen</strong> charakteristischen<br />

Methoden und Techniken entwickelt wurden. Im Lauf der<br />

Jahrhunderte wurden diese Methoden dann in Japan weiter ausgebildet.<br />

Der <strong>Zen</strong>-Buddhismus stellt somit das Ergebnis der geistigen<br />

Erfahrungen <strong>drei</strong>er großer asiatischer Kulturen dar. Im heutigen<br />

Japan ist diese Tradition noch sehr lebendig; in <strong>Zen</strong>-Tempeln, -Klöstern<br />

und Privathäusern kann man Männer und Frauen jeden Berufes<br />

und Stan<strong>des</strong> finden, die sich aktiv mit Zazen, dem Hauptgebiet <strong>des</strong><br />

<strong>Zen</strong>, befassen.<br />

Wie jede andere große Religion geht <strong>Zen</strong> auf seiner höchsten Ebene<br />

über seine eigenen Lehren und Übungen hinaus; andererseits aber gibt<br />

es kein von diesen Übungen abgelöstes <strong>Zen</strong>. Der Versuch <strong>des</strong> Westens,<br />

<strong>Zen</strong> in ein intellektuelles Vakuum hinein zu isolieren, abgeschnitten<br />

von eben den Übungen, die seine raison d'être sind, hat ein Pseudo-<strong>Zen</strong><br />

erzeugt, das kaum mehr als ein den Verstand kitzelnder Zeitvertreib<br />

für Intellektuelle und ein Spielzeug für «Beatniks» ist.<br />

1. Siehe auch unter «Kenshô» im 10. Kapitel.<br />

19


Um diese Verzerrung zu berichtigen, schien es mir am besten, ein<br />

Buch zusammenzustellen, in dem die authentischen Lehren und Übungen<br />

<strong>des</strong> <strong>Zen</strong> mit den Worten der Meister selbst dargelegt werden -<br />

wer denn sollte diese Methoden besser kennen als sie? - und dabei<br />

auch zu zeigen, wie sie in Geist und Leib heutiger Männer und Frauen<br />

lebendig werden. Ich habe das hauptsächlich durch einen zeitgenössischen<br />

Sôtô-Meister, YASUTANI Rôshi, getan; weiterhin auch durch<br />

einen Rinzai-Meister <strong>des</strong> vierzehnten Jahrhunderts, BASSUI <strong>Zen</strong>ji, und<br />

durch die Berichte von japanischen und amerikanischen <strong>Zen</strong>-Anhängern<br />

über ihre Erleuchtung. YASUTANI Rôshis einführende Unterweisungen<br />

zur Übung <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>, seine Darlegung (teishô) über das Kôan<br />

Mu und seine Einzelunterweisungen (Dokusan) für zehn seiner Schüler<br />

aus dem Westen bilden eine Einheit, die den gesamten Aufbau<br />

der <strong>Zen</strong>-Schulung in ihrer traditionellen Abfolge umfaßt. Wer keinen<br />

Zugang zu einem vertrauenswürdigen Rôshi finden kann, sich aber im<br />

<strong>Zen</strong> schulen will, der wird in diesen Texten ein Handbuch zum<br />

Selbst-Unterricht finden.<br />

Hier werden - wohl zum ersten Mal in einer europäischen Sprache,<br />

wie wir glauben - sowohl Sôtô- als auch Rinzai-Methoden dargelegt<br />

als ein Gesamtorganismus der <strong>Zen</strong>-Lehre, und zwar nicht akademisch,<br />

sondern aus lebendiger Erfahrung heraus. Bisher weiß der Westen<br />

wenig über Sôtô. <strong>Die</strong> bekannten Interpreten <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> für den Westen<br />

haben in ihrer Begeisterung für Rinzai den Methoden und Lehren<br />

DÔGEN <strong>Zen</strong>jis, <strong>des</strong> Vaters <strong>des</strong> japanischen Sôtô-<strong>Zen</strong>, der nach Ansicht<br />

vieler der fruchtbarste Geist ist, den der japanische Buddhismus hervorgebracht<br />

hat, kaum Beachtung geschenkt. Es ist daher nicht<br />

erstaunlich, daß shikantaza, der Kern von DÔGENS meditativer Schulung,<br />

einer großen Zahl von dem <strong>Zen</strong> zugewandten Menschen <strong>des</strong><br />

Westens ein ziemliches Rätsel geblieben ist. In diesem Buch werden<br />

die Ziele und Methoden von Shikantaza ebenso wie die <strong>des</strong> Kôan-<br />

Zazen, der Hauptstütze der Rinzai-Sekte, von YASUTANI Rôshi, der<br />

bei<strong>des</strong> in seinem eigenen Lehrsystem verwendet, maßgebend erläutert.<br />

In den Einführungen habe ich Begründungen und Ergänzungen gebracht,<br />

von denen ich annahm, daß sie dem Leser zum Verständnis<br />

<strong>des</strong> Inhalts helfen würden. Ich habe aber der Versuchung widerstan-<br />

20


den, die Lehren der Meister zu interpretieren. Das hätte den Leser<br />

nur zu weiteren Interpretationen meiner Interpretationen ermutigt,<br />

und schließlich würde er sich wohl oder übel in den Treibsand von<br />

Spekulationen und Ich-Vergrößerungen hineingezogen sehen, aus dem<br />

er sich eines Tages, wenn er ernsthaft Zazen übt, schmerzhaft wieder<br />

herausziehen müßte. Aus eben diesem Grunde haben <strong>Zen</strong>-Meister stets<br />

das «Ideen-Hökern» mißbilligt.<br />

<strong>Die</strong>ses Buch verdankt vielen Menschen vieles. Zuerst und vor allem<br />

trägt es eine ungeheure Dankesschuld YASUTANI Rôshi gegenüber,<br />

<strong>des</strong>sen Lehren mehr als die Hälfte davon ausmachen und der mir<br />

gütigerweise erlaubte, sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu<br />

machen. Meine Mitarbeiter und ich, die wir alle seine Schüler sind,<br />

sind voll tiefer Dankbarkeit für seinen weisen Rat und seine großmütige<br />

Gesinnung, die uns all die Zeit über inspirierten.<br />

Mein besonderer Dank gilt Dr. CARMEN BLACKER von der Universität<br />

Cambridge. Ihre Übersetzungen vieler Lehrvorträge von YASU-<br />

TANI Rôshi über die <strong>Zen</strong>-Übung, die sie mir an Ort und Stelle lieferte,<br />

wurden von mir in dieses Buch eingearbeitet. Zudem habe ich mir die<br />

Freiheit genommen, ohne Änderungen verschiedene Abschnitte aus<br />

ihrer Übersetzung von Teilen <strong>des</strong> gleichen Stoffes, die in der britischbuddhistischen<br />

Zeitschrift The Middle Way veröffentlicht wurden, zu<br />

übernehmen, da ihre Ausdrucksweise derart treffend war, daß ich<br />

kaum hoffen konnte, etwas daran zu verbessern.<br />

Ich bin Dr. HUSTON SMITH, Professor für Philosophie am Massachusetts<br />

Institut of Technology und Autor <strong>des</strong> Buches The Religions of<br />

Man, überaus dankbar für seinen unschätzbaren Rat und alle Ermutigungen<br />

in einem frühen Stadium <strong>des</strong> Manuskripts, wie auch für sein<br />

Vorwort.<br />

Ich erkenne dankbar die Hilfe an, die mir durch BRIGITTE<br />

D'ORTSCHY, Schülerin von YASUTANI Rôshi und Yamada Rôshi,<br />

zuteil wurde. Ihr aufmerksames Lesen <strong>des</strong> gesamten Manuskripts veranlaßte<br />

mich dazu, mehrere Abschnitte neu zu schreiben, was dem<br />

Buch zugute kam. Außerdem hat sie in sehr sorgfältiger Weise mein<br />

englisches Buch ins Deutsche übertragen.<br />

MEREDITH WEATHERBY und RALPH FRIEDRICH, beide bei JOHN WEA-<br />

21


THERHILL Inc., Tokyo, zeigten sich während der Vorbereitung dieses<br />

Buches als äußerst verständnisvolle Verleger, und ich bin dankbar für<br />

ihre Hilfe.<br />

Meine Dankesschuld meiner Frau DELANCEY gegenüber ist nicht<br />

klein. In allen Stadien <strong>des</strong> Schreibens hat sie mit mir zusammengearbeitet,<br />

und ihre Hilfe war von großem Wert. Mehrere Jahre lang<br />

machten diese Arbeiten den größten Teil ihrer Zazen-Übung aus. Ich<br />

bin ihr auch für die Zeichnungen der Zazen-Haltungen zu Dank verpflichtet.<br />

<strong>Die</strong> Zehn Ochsenbilder im 8. Kapitel wurden mit freundlicher Genehmigung<br />

<strong>des</strong> Künstlers GYOKUSEI JIKIHARA verwendet. Er ist ein hochgeschätzter<br />

zeitgenössischer Maler in Kyoto und Laienschüler von<br />

SHIBAYAMA Rôshi, dem früheren Abt <strong>des</strong> Nanzen-Klosters, unter dem<br />

er sich mehrere Jahre lang der <strong>Zen</strong>-Übung widmete.<br />

Besondere Erwähnung behalte ich den Namen meiner beiden Mitarbeiter<br />

bei den Übersetzungen aus dem Japanischen ins Englische<br />

vor: KYÔZÔ YAMADA und AKIRA KUBOTA. YAMADA Rôshi hat sich<br />

etwa zwanzig Jahre lang im <strong>Zen</strong> geschult. Er ist YASUTANI Rôshis<br />

Dharma-Nachfolger und vertritt ihn oft. Er hat die etwa sechshundert<br />

Kôans, die ihm von YASUTANI Rôshi gegeben wurden, schon<br />

vor langer Zeit gelöst und von ihm inka (das Siegel der Bestätigung)<br />

erhalten. Wir arbeiteten an folgenden Übersetzungen zusammen: an<br />

BASSUIS Dharma-Worten und den Briefen an seine Schüler; Teilen<br />

der IWASAKI-Briefe; den Kommentaren zu den Zehn Ochsenbildern;<br />

den Zitaten von Dôgen und anderen alten Meistern und dem Abschnitt<br />

aus DÔGENS Shôbôgenzô. Ohne seinen weisen Rat und seine<br />

großzügige Hilfe wäre meine gesamte Aufgabe unendlich viel schwieriger,<br />

wenn nicht gar unmöglich gewesen, und ich bin ihm außerordentlich<br />

dankbar.<br />

AKIRA KUBOTA, mein zweiter Mitarbeiter, hat etwa fünfzehn Jahre<br />

lang unter YASUTANI Rôshi Zazen geübt und ist einer seiner Hauptschüler.<br />

Wir übersetzten zusammen den Vortrag über das Kôan Mu,<br />

Teile der IWASAKI-Briefe und den vierten und sechsten Bericht im<br />

Kapitel über Erleuchtungs-Erlebnisse. Ich bin ihm für seine gewissenhaften<br />

Arbeiten sehr dankbar.<br />

22


Bei unseren Übersetzungen haben wir uns bemüht, die beiden Übel<br />

einer zu freien, phantasievollen Wiedergabe wie auch einer zu exakt<br />

wörtlichen zu vermeiden. Hätten wir der ersten Versuchung nachgegeben,<br />

so hätten wir wohl eine größere stilistische Eleganz erreicht,<br />

die hier fehlt. Das wäre aber auf Kosten jener kraftvollen Geradheit<br />

und wohlberechneten Wiederholungen gegangen, die charakteristische<br />

Züge der <strong>Zen</strong>-Lehre sind. Wenn wir uns anderseits sklavisch an den<br />

Buchstaben <strong>des</strong> Textes geklammert hätten, so hätten wir dem Sinn<br />

Gewalt angetan und damit die tiefere innere Bedeutung entstellt.<br />

Unsere Übersetzungen sind insofern interpretierend, als alle Übersetzungsarbeit<br />

stets die Wahl <strong>des</strong>jenigen Ausdrucks einschließt, den<br />

der Übersetzer unter verschiedenen möglichen Ausdrücken für den<br />

geeignetsten hält, um den Sinn <strong>des</strong> Originals zu vermitteln. Ob diese<br />

Wahl, die der Übersetzer trifft, angemessen ist oder nicht, das hängt<br />

bei einer gewöhnlichen Übersetzung von <strong>des</strong>sen sprachlicher Wendigkeit<br />

und seiner Vertrautheit mit dem Gegenstand ab. <strong>Zen</strong>-Texte fallen<br />

jedoch in eine besondere Kategorie. Da sie ausnahmslos kurz und<br />

bündig sind und die Schriftzeichen, in denen sie geschrieben wurden,<br />

eine Vielfalt von Deutungen zulassen, wobei ein Schlüssel-Zeichen oft<br />

ganze Spektren von Vorstellungen vermittelt, wird bei der Auswahl<br />

der Bedeutungsnuancen, die einem bestimmten Zusammenhang entspricht,<br />

vom Übersetzer mehr verlangt als philologische Genauigkeit<br />

und ein umfassen<strong>des</strong> akademisches Wissen über <strong>Zen</strong>. Nach unserer<br />

Ansicht ist dazu nichts Geringeres erforderlich als die Ausübung <strong>des</strong><br />

<strong>Zen</strong> und das Erlebnis der Erleuchtung. Wo bei<strong>des</strong> fehlt, wird der<br />

Übersetzer fast mit Sicherheit die Klarheit verwischen und die Kraft<br />

<strong>des</strong> Originals in wichtigen Beziehungen schwächen.<br />

Es mag daher nicht unangebracht sein, darauf hinzuweisen, daß alle<br />

Übersetzer eine beträchtliche Zeit unter einem oder mehreren Meistern<br />

<strong>Zen</strong> geübt und ihr «Geistiges Auge» in gewissem Ausmaß geöffnet<br />

haben.<br />

Bei der Schreibweise der Namen alter japanischer Meister habe ich<br />

mich an den herkömmlichen japanischen Brauch gehalten und den<br />

buddhistischen Hauptnamen vorangesetzt. Im Falle zeitgenössischer<br />

Japaner, ob Meister oder Laien, bin ich jedoch der westlichen Sitte<br />

23


gefolgt, nach der es gerade umgekehrt ist. Das ist auch die Art, wie<br />

sie selbst ihre Namen auf Englisch schreiben. Wo ein Titel unmittelbar<br />

auf einen Namen folgt, wie bei YASUTANI Rôshi oder DÔGEN<br />

<strong>Zen</strong>ji, habe ich um <strong>des</strong> Wohlklangs willen Namen und Titel in herkömmlichem<br />

japanischem Stil, wie hier gezeigt, geschrieben.<br />

Für Fachausdrücke und Namen <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> und besondere buddhistische<br />

Bezeichnungen, die im Text nicht definiert werden, findet man Erklärungen<br />

im Wörterverzeichnis, 10. Kapitel.<br />

Während das Buch dem natürlichen Gang von Lehre, Übung und<br />

Erleuchtung folgt, kann doch je<strong>des</strong> Kapitel, da es in sich selbst vollständig<br />

ist, herausgegriffen und nach Wahl <strong>des</strong> Lesers für sich gelesen<br />

werden.<br />

Alle Fußnoten, außer den von Frau D'Ortschy eingefügten (bezeichnet<br />

mit: D. Übers.) stammen von mir.<br />

Kamakura, 8. Dezember 1964<br />

24<br />

PHILIP KAPLEAU


Erster Teil<br />

Lehre und Übung


Erstes Kapitel<br />

Yasutani Rôshis<br />

einführende Unterweisungen<br />

zur Übung <strong>des</strong> <strong>Zen</strong><br />

Einführung<br />

Menschen <strong>des</strong> Westens, die gerne <strong>Zen</strong> üben möchten, jedoch keinen<br />

Zugang zu einem fähigen Meister haben, haben sich stets einem<br />

erschwerenden Hindernis gegenüber gesehen: der Spärlichkeit schriftlicher<br />

Anweisungen über das, was Zazen ist, und wie man damit<br />

beginnen soll und es durchführen kann 1 . <strong>Die</strong>ser Mangel beschränkt<br />

sich nicht allein auf Englisch und andere europäische Sprachen.<br />

In den Schriften alt-chinesischer und -japanischer <strong>Zen</strong>-Meister, die<br />

auf uns gekommen sind, findet sich nur wenig über die Theorie <strong>des</strong><br />

Zazen oder über die Beziehung von Zazen und Erleuchtung. Es gibt<br />

weiterhin auch kaum detaillierte Unterweisungen über so grundlegende<br />

Dinge wie Sitzhaltungen, Regelung <strong>des</strong> Atems, Konzentration<br />

<strong>des</strong> Geistes, sowie genaue Angaben hinsichtlich <strong>des</strong> Auftretens von<br />

täuschenden Erscheinungen und Empfindungen.<br />

Daran ist nichts Sonderbares. Zazen-Sitzen und Meditation waren<br />

in ganz Asien als bewährter Pfad zu geistiger Befreiung derart anerkannt,<br />

daß kein <strong>Zen</strong>-Buddhist zuerst einmal hätte überzeugt werden<br />

müssen, daß er dadurch seine Konzentrationskraft entwickeln,<br />

Sammlung und Ruhe <strong>des</strong> Geistes erreichen und schließlich, falls sein<br />

Streben rein und stark genug war, zur Selbst-Wesensschau (Kenshô)<br />

kommen könne. Deshalb bekam ein Suchender einfach ein paar<br />

1. Zazen ist keine Meditation; <strong>des</strong>halb haben wir durchwegs das japanische Wort<br />

beibehalten. Seine genaue Bedeutung wird im Verlauf <strong>des</strong> Buches klar werden.<br />

27


mündliche Anweisungen, wie er seine Beine zu verschränken, seinen<br />

Atem zu regeln und seinen Geist zu konzentrieren habe. Im Verlauf<br />

schmerzhafter Prüfungen und Irrtümer und periodischer Dokusan<br />

mit seinem Lehrer lernte er schließlich auf reinem Erfahrungswege<br />

nicht allein richtig sitzen und atmen, sondern auch innere Bedeutung<br />

und Absicht <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> verstehen.<br />

Da dem heutigen Menschen aber, wie YASUTANI Rôshi hervorhebt,<br />

der Glaube und brennende Eifer seiner Vorgänger im <strong>Zen</strong> fehlen,<br />

braucht er eine Wegkarte, der sein Verstand vertrauensvoll folgen<br />

kann, und die ihm seine ganze geistige Reise vorzeichnet, ehe er zuversichtlich<br />

an die Sache herangehen kann. Aus diesem Grunde verfaßte<br />

HARADA Rôshi, YASUTANI Rôshis eigener Lehrer, vor etwa<br />

vierzig Jahren eine Reihe einführender Anleitungen zur <strong>Zen</strong>-Übung,<br />

und es ist jener Stoff, der die Grundlage für YASUTANI Rôshis Unterweisungen<br />

bildet.<br />

<strong>Die</strong> vorliegende Übersetzung ist eine Zusammenstellung einiger solcher<br />

Unterweisungen, wie YASUTANI Rôshi sie in den letzten Jahren,<br />

ohne schriftliche Unterlagen, für Anfänger gehalten hat. Kein neuer<br />

Schüler wird zum Dokusan angenommen, ehe er sie nicht alle gehört<br />

hat.<br />

<strong>Die</strong>se Vorträge (teisho) sind mehr als nur Anweisungen über die formalen<br />

Seiten <strong>des</strong> Zazen, also Sitzweise, Atmung und Konzentration.<br />

Sie enthalten vielmehr eine gültige Darlegung der fünf Ebenen <strong>des</strong><br />

<strong>Zen</strong>, seiner Ziele, seines wesentlichen Gehalts und der überaus wichtigen<br />

Beziehung von Zazen und Erleuchtung (satori). Mit ihnen als<br />

Karte und Kompaß an der Hand braucht der ernsthaft Suchende<br />

nicht auf den gefährlichen Nebenwegen <strong>des</strong> Okkulten, <strong>des</strong> Spiritistischen<br />

oder <strong>des</strong> Aberglaubens herumzutappen; er vergeudet damit<br />

nur seine Zeit, und diese Nebenwege erweisen sich oft als schädlich.<br />

Er kann vielmehr direkt einem sorgfältig abgesteckten Kurs folgen,<br />

sicher im Wissen um sein letztes Ziel.<br />

Hier wird man keinen Bericht über Geschichte und Entwicklung <strong>des</strong><br />

<strong>Zen</strong> finden, keine Interpretation <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> vom Standpunkt der Philosophie<br />

oder Psychologie aus und keine Erwägungen über den Einfluß<br />

von <strong>Zen</strong> auf Bogenschießen, Judo, Haiku-Dichtung oder irgendeine<br />

28


andere japanische Kunst. Solche am Rande liegenden Tatsachen werden<br />

von YASUTANI Rôshi wohlweislich weggelassen, da sie keinen<br />

rechtmäßigen Platz in der <strong>Zen</strong>-Übung einnehmen und nur den Sinn<br />

<strong>des</strong> Übenden unnötig mit Ideen belasteten, die ihn hinsichtlich seiner<br />

Ziele verwirren und von seinem Drang zu üben ablenken würden.<br />

Yasutani Rôshi betont nachdrücklich die religiöse Seite <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>, also<br />

den Glauben als Vorbedingung zur Erleuchtung. Das dürfte für westliche<br />

Leser, die durch Gelehrte ohne wirkliche Einsicht in <strong>Zen</strong> vorwiegend<br />

an «intellektuelle Vorstellungen» von <strong>Zen</strong> gewöhnt sind,<br />

eine Überraschung bedeuten. Zum größten Teil leitet sich diese betont<br />

religiöse Haltung aus den Lehren von DÔGEN <strong>Zen</strong>ji ab, einer der<br />

wahrhaft imponierenden religiösen Gestalten der japanischen Geschichte.<br />

Er brachte die Lehren der Sôtô-Sekte <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>-Buddhismus<br />

von China nach Japan. Ohne wenigstens in Umrissen etwas über<br />

DÔGENS Lebensumstände zu wissen, die ihn veranlaßten, Mönch zu<br />

werden, sich <strong>Zen</strong> anzuschließen und nach China zu reisen, wo er<br />

schließlich tiefe Erleuchtung erlangte, dürfte es schwer sein, die Lehren<br />

<strong>des</strong> Sôtô-<strong>Zen</strong>, die den Kern von YASUTANI Rôshis eigenen Lehren<br />

ausmachen, zu verstehen.<br />

DÔGEN, in aristokratischer Familie geboren, gab schon als Kind<br />

Beweise seines glänzenden Geistes. Es wird berichtet, daß er als Vierjähriger<br />

chinesische Dichtung und als Neunjähriger eine chinesische<br />

Abhandlung über den Abhidhamma las. <strong>Die</strong> Trauer, die er beim Tode<br />

seiner Eltern empfand - sein Vater starb, als er <strong>drei</strong>, seine Mutter,<br />

als er acht Jahre alt war -, prägte zweifellos seiner empfänglichen<br />

Seele eindrucksvoll die Vergänglichkeit <strong>des</strong> Lebens ein und veranlaßte<br />

ihn, Mönch zu werden. Er begann sein Noviziat auf Hieizan, dem<br />

<strong>Zen</strong>trum <strong>des</strong> scholastischen Buddhismus im mittelalterlichen Japan.<br />

Er studierte dort in den folgenden Jahren die Tendai-Lehren <strong>des</strong><br />

Buddhismus. Als er fünfzehn Jahre alt war, wurde ihm eine brennende<br />

Frage zum Kernpunkt, um den all seine geistigen Anstrengungen<br />

kreisten:<br />

«Wenn, wie die Sûtras sagen, unser Wesenskern Bodhi (Vollkommenheit)<br />

ist, warum mußten dann alle Buddhas um Erleuchtung und Vollkommenheit<br />

ringen?»<br />

29


Seine Unzufriedenheit mit den Antworten, die er auf Hieizan erhielt,<br />

führten ihn schließlich zu EISAI <strong>Zen</strong>ji, der die Lehren der Rinzai-<br />

Sekte <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>-Buddhismus von China nach Japan gebracht hatte.<br />

EISAIS Antwort auf DÔGENS Frage lautete:<br />

«Kein Buddha ist sich der Existenz <strong>des</strong>sen (d. h. <strong>des</strong> Wesenskerns) bewußt,<br />

während die Tier-Ähnlichen (d. h. die in völliger Verblendung Lebenden)<br />

sich <strong>des</strong>sen bewußt sind.»<br />

Mit anderen Worten: Buddhas, gerade weil sie Buddhas sind, denken<br />

nicht mehr daran, ob sie Wesensvollkommenheit haben oder nicht;<br />

nur die Verblendeten denken in solchen Bezeichnungen. Bei diesen<br />

Worten erlebte DÔGEN eine innere Wesensschau, die seinen tief wurzelnden<br />

Zweifel löste. Aller Wahrscheinlichkeit nach fand dieses<br />

Gespräch bei einem in aller Form abgehaltenen Dokusan zwischen<br />

EISAI und DÔGEN statt. Man muß sich dabei vergegenwärtigen, daß<br />

dieses Problem DÔGEN seit langem umgetrieben und ihm keine Ruhe<br />

gelassen hatte, so daß es nur der Worte EISAIS bedurfte, um in seinem<br />

Innern einen Zustand der Erleuchtung auszulösen.<br />

Daraufhin begann DÔGEN unter EISAI seine Schulung, die jedoch nur<br />

kurz sein sollte. EISAI starb noch innerhalb <strong>des</strong> gleichen Jahres, und<br />

sein ältester Schüler MYOZEN wurde sein Nachfolger. In den acht<br />

Jahren, die DÔGEN mit MYOZEN verbrachte, löste er eine beträchtliche<br />

Anzahl Kôans und erhielt schließlich Inka.<br />

Trotz all <strong>des</strong> Erreichten fühlte sich DÔGEN geistig noch immer unbefriedigt,<br />

und diese Unruhe veranlaßte ihn, die damals gefahrvolle<br />

Seereise nach China zu unternehmen, auf der Suche nach vollkommenem<br />

Seelenfrieden. Er verweilte in all den bekannten Klöstern,<br />

übte sich unter vielen Meistern, aber sein Verlangen nach vollständiger<br />

Befreiung blieb ungestillt. In dem berühmten T'ien-t'ung-Kloster,<br />

das gerade einen neuen Meister erhalten hatte, errang er schließlich<br />

volle Erleuchtung, also Befreiung von Leib und Seele, durch<br />

folgende, von seinem Meister NYOJÔ geäußerten Worte:<br />

«Ihr müßt Leib und Seele 2 fallen lassen.»<br />

2. englisch «mind», japanisches Äquivalent: shin - kokoro.<br />

30


NYOJÔ soll diese Worte zu Beginn einer nach allen Regeln durchgeführten,<br />

tagelangen Zazen-Übung (sesshiri) am frühen Morgen geäußert<br />

haben, als er seine Inspektionsrunde machte. Als NYOJÔ einen<br />

Mönch erblickte, der am Einschlafen war, wies er ihn seiner mangelnden<br />

Hingabe wegen zurecht:<br />

«Ihr müßt euch mit aller Macht anstrengen, ja sogar euer Leben dabei aufs<br />

Spiel setzen. Um vollkommene Erleuchtung zu erleben, müßt ihr Leib und<br />

Seele fallen lassen.»<br />

(d. h. leer werden von allen Vorstellungen <strong>des</strong> Leibes und der Seele 3 .)<br />

Als DÔGEN diese letzten Worte hörte, weitete sich sein Geistiges<br />

Auge in einer Flut von Licht und Verstehen.<br />

Später erschien DÔGEN dann in NYOJÔS Raum, zündete ein Räucherstäbchen<br />

an (eine zeremonielle Geste, die wichtigen Gelegenheiten<br />

vorbehalten ist) und warf sich der Sitte gemäß vor seinem Meister<br />

nieder.<br />

«Warum zündet Ihr ein Räucherstäbchen an?» fragte NYOJÔ. Es ist<br />

klar, daß NYOJÔ, der ein erstklassiger Meister war, DÔGEN viele Male<br />

beim Dokusan empfangen hatte und <strong>des</strong>halb den Zustand seines Inneren<br />

genau kannte, sofort aus DÔGENS Gang, seinem Kniefall 4 und<br />

dem begreifenden Ausdruck seiner Augen wahrnehmen konnte, daß<br />

er Große Erleuchtung erfahren hatte. Zweifellos aber wollte NYOJÔ<br />

sehen, was für eine Erwiderung seine so unschuldig klingende Frage<br />

hervorrufen würde, damit er das Ausmaß von DÔGENS Satori feststellen<br />

konnte.<br />

«Ich habe das Abfallen von Leib und Seele erlebt», entgegnete<br />

DÔGEN.<br />

NYOJÔ rief aus: «Ihr habt Leib und Seele fallen lassen; Leib und Seele<br />

sind fürwahr abgefallen!»<br />

3. Über die Bedeutsamkeit eines einzigen Wortes oder Satzes zum Durchbruch von<br />

Satori siehe auch S. 139.<br />

4. Bei diesem Kniefall läßt man sich auf die Knie nieder, neigt den Oberkörper<br />

vor, so daß man mit der Stirn den Boden zwischen den aufruhenden Ellbogen<br />

berührt. Aus dieser Stellung hebt man die Hände, Handflächen nach oben gekehrt,<br />

ein wenig an, was bedeutet, daß man die Füße <strong>des</strong> Buddha in Empfang nimmt.<br />

31


DÔGEN aber hielt ihm entgegen: «Gebe der Rôshi mir seine Bestätigung<br />

nicht so leichthin!»<br />

«Ich bestätige Euch nicht so leichthin.»<br />

DÔGEN aber beharrte: «Zeige der Rôshi mir, daß er mich nicht leichthin<br />

bestätigt.»<br />

Und NYOJÔ wiederholte: «<strong>Die</strong>s heißt Leib und Seele fallen lassen»,<br />

indem er es demonstrierte.<br />

Daraufhin warf DÔGEN sich wiederum vor seinem Meister nieder zum<br />

Zeichen der Verehrung und Dankbarkeit.<br />

«Das heißt ,Fallenlassen' fallengelassen», fügte NYOJÔ hinzu. Es ist<br />

beachtenswert, daß DÔGEN sogar mit dieser tiefgreifenden Erfahrung<br />

noch zwei weitere Jahre seine Zazen-Übungen in China fortsetzte,<br />

ehe er nach Japan zurückkehrte.<br />

Zur Zeit seiner Großen Erleuchtung übte DÔGEN Shikantaza 5 , eine<br />

Art <strong>des</strong> Zazen, die weder ein Kôan, noch das Zählen oder Verfolgen<br />

der Atemzüge einschließt. Nun ist die eigentliche Grundlage von<br />

Shikantaza der unerschütterliche Glaube, daß es die Verwirklichung<br />

und Entfaltung <strong>des</strong> uns allen innewohnenden Bodhi-Geistes ist, zu<br />

sitzen, wie der Buddha saß, den Sinn leer von allen begrifflichen Vorstellungen,<br />

von allen Ansichten und Gesichtspunkten. Außerdem unternimmt<br />

man mit diesem Sitzen im Glauben, daß es eines Tages ganz<br />

plötzlich im unmittelbaren Gewahrwerden <strong>des</strong> wahren Wesens dieses<br />

Geistes, mit anderen Worten, in der Erleuchtung kulminieren wird.<br />

Deshalb ist es ebenso unnötig wie unerwünscht, bewußt nach Satori<br />

oder irgendeinem anderen Vorteil durch Zazen zu streben. Ja der<br />

bewußte Gedanke «Ich muß Erleuchtung finden» kann ebenso zum<br />

Hindernis werden wie alles andere, was einem durch den Sinn geht.<br />

Beim echten Shikantaza kann man keins dieser beiden Elemente <strong>des</strong><br />

Glaubens entbehren. Wollte man die Satori-Erfahrung von Shikantaza<br />

ausschließen, so würde das besagen, daß man die außerordentlichen<br />

Anstrengungen <strong>des</strong> Buddha, Erleuchtung zu erreichen, als<br />

bedeutungslos oder gar masochistisch brandmarkt und die qualvollen<br />

Bemühungen DÔGENS und der Patriarchen in gleichem Sinne bestrei-<br />

5. Siehe YASUTANI Rôshis Beschreibung von Shikantaza auf S. 89-91.<br />

32


tet. <strong>Die</strong>ser Zusammenhang von Satori und Shikantaza ist von größter<br />

Bedeutung. Unglücklicherweise ist das oft mißverstanden worden,<br />

besonders von Menschen <strong>des</strong> Westens, denen das schriftliche<br />

Gesamtwerk DÔGENS unzugänglich ist. So geschieht es <strong>des</strong> öfteren,<br />

daß jemand aus dem Westen als Schüler zu einem Sôtô-Tempel oder<br />

-Kloster kommt, in dem man im Rahmen der Lehre Kôans anwendet.<br />

Er macht dann dem Rôshi Vorstellungen darüber, daß er ihm ein<br />

Kôan zugewiesen hat, weil das Ziel der Kôans doch Erleuchtung sei;<br />

da nun aber alle von Anbeginn erleuchtet seien, so argumentiert er,<br />

bestehe kein Anlaß, Satori anzustreben. Deshalb bittet er, Shikantaza<br />

üben zu dürfen, das, wie er meint, das Erlebnis der Erleuchtung nicht<br />

einschließe 6 .<br />

Solche Haltung zeigt nicht allein Mangel an Vertrauen in das Urteil<br />

<strong>des</strong> Lehrers, sondern auch eine grundsätzlich falsche Auffassung vom<br />

Wesen und von den Schwierigkeiten <strong>des</strong> Shikantaza, ganz zu schweigen<br />

von den in Sôtô-Tempeln und -Klöstern angewandten Lehrmethoden.<br />

Wenn man die einführenden Unterweisungen und die<br />

Dokusan zwischen YASUTANI Rôshi und zehn seiner westlichen Schüler<br />

aufmerksam liest, wird einem klar, warum echtes Shikantaza von<br />

einem gänzlichen Neuling nicht erfolgreich durchgeführt werden<br />

kann. Er muß ja erst noch lernen, mit Festigkeit und Gleichmut zu<br />

sitzen; sein Eifer muß immer wieder durch gemeinschaftliches Sitzen<br />

und durch Ermutigungen seitens <strong>des</strong> Lehrers angefeuert werden; und<br />

vor allem fehlt ihm oft noch der starke Glaube an seinen eigenen<br />

Bodhi-Geist und damit auch die hingebungsvolle Entschlossenheit,<br />

<strong>des</strong>sen Realität im täglichen Leben zu erfahren.<br />

Da heutige Gläubige, wie <strong>Zen</strong>-Meister behaupten, im großen und ganzen<br />

mit weit geringerem Eifer die Wahrheit suchen, und weil die Hindernisse,<br />

die dem Üben entgegenstehen, durch die vielfältigen Verflechtungen<br />

moderner Lebensweise weit zahlreicher sind, weisen<br />

fähige Sôtô-Meister einem Anfänger nur selten Shikantaza zu. Sie<br />

ziehen es vor, ihn zunächst durch Konzentration auf das Zählen der<br />

Atemzüge zu innerer Sammlung zu bringen, oder aber, wenn er den<br />

6. Siehe solche Einstellung eines Anfängers auf S. 189.<br />

33


ennenden Wunsch nach Erleuchtung hat, seinen diskursiven Intellekt<br />

durch Auferlegen eines <strong>Zen</strong>-Problems (d. h. eines Kôans) zu<br />

erschöpfen und so den Weg zum Kenshô zu bahnen.<br />

Das Kôan-System ist also beileibe nicht auf die Rinzai-Sekte beschränkt,<br />

wie viele meinen. YASUTANI Rôshi ist nur einer aus einer<br />

Anzahl von Sôtô-Meistern, die im Rahmen ihres Unterrichts Kôans<br />

verwenden. GENSHU WATANABE Rôshi, der frühere Abt <strong>des</strong> Sôji-Ji,<br />

eines der beiden Haupttempel der Sôtô-Sekte, benutzte beständig<br />

Kôans, und im Kloster Hosshin-Ji, <strong>des</strong>sen Abt der erlauchte HARADA<br />

Rôshi war, werden Kôans ebenfalls viel angewendet.<br />

Auch DÔGEN selbst schulte sich, wie wir gesehen haben, acht Jahre<br />

lang am Kôan-<strong>Zen</strong>, ehe er nach China fuhr und dort Shikantaza übte.<br />

Und obgleich DÔGEN nach seiner Rückkehr nach Japan ausführlich<br />

über Shikantaza schrieb und es dem engsten Kreis seiner Schüler<br />

empfahl, so darf doch nicht vergessen werden, daß es sich bei diesen<br />

Schülern um hingebungsvolle Wahrheitsucher handelte, für die es<br />

nicht der Kôans bedurfte, um sie zur Weiterführung ihrer Übungen<br />

zu ermutigen. Ungeachtet <strong>des</strong> Nachdrucks, den DÔGEN auf Shikantaza<br />

legte, stellte er doch eine Sammlung von <strong>drei</strong>hundert bekannten<br />

Kôans 7 zusammen, deren je<strong>des</strong> er mit seinem eigenen Kommentar<br />

versah. Daraus dürfen wir ebenso wie aus seinem Hauptwerk Shôbôgenzô<br />

(Schatzkammer <strong>des</strong> Auges <strong>des</strong> wahren Dharma), das eine<br />

Anzahl Kôans enthält, schließen, daß er bei seinem Unterricht wirklich<br />

Kôans anwandte.<br />

Satori-Erwachen war nach DÔGENS Auffassung nicht das Ein und<br />

Alles, das einen Abschluß bedeutet. Er sah es vielmehr als die Grundlage<br />

für ein großartiges Bauwerk an, <strong>des</strong>sen vielstöckiger Aufbau der<br />

Vervollkommnung von Charakter und Persönlichkeit <strong>des</strong> geistig entwickelten<br />

Menschen entspricht, <strong>des</strong> Menschen von hoher Moral und<br />

allumfassender Barmherzigkeit und Weisheit. Nach DÔGENS Lehre<br />

kann solch eindrucksvolles Bauwerk nur auf der festen Grundlage<br />

eines unwandelbaren inneren Wissens, wie es Satori vermittelt, durch<br />

jahrelang getreulich geübtes Zazen errichtet werden.<br />

7. Nempyo Sambyaku Soku (Dreihundert Kôans mit Kommentaren).<br />

34


Was also ist Zazen, und in welcher Beziehung steht es zu Satori?<br />

DÔGEN lehrte, daß Zazen «der Torweg zu vollkommener Befreiung»<br />

sei und KEIZAN <strong>Zen</strong>ji, einer der großen japanischen Sôtô-Patriarchen,<br />

erklärte, daß allein durch <strong>Zen</strong>-Sitzen der «Geist <strong>des</strong> Menschen erleuchtet»<br />

wird. DÔGEN schrieb an anderer Stelle: 8<br />

«Sogar der Buddha, der ein geborener Weiser war, saß bis zu seiner höchsten<br />

Erleuchtung sechs Jahre lang Zazen, und eine geistig so überragende<br />

Gestalt wie BODHIDHARMA saß neun Jahre lang, das Gesicht der Wand<br />

zugekehrt 9 .»<br />

Genau so machten es DÔGEN und all die anderen Patriarchen.<br />

Wenn sich nämlich Füße, Beine, Arme, Hände, Rumpf und Kopf<br />

geordnet und unbeweglich in der herkömmlichen Lotushaltung 10<br />

befinden, der Atem geregelt ist, die Gedanken methodisch zur Ruhe<br />

gebracht werden, wenn Kontrolle über die Empfindungen und Stärkung<br />

<strong>des</strong> Willens entwickelt und tiefe Stille im innersten Bereich der<br />

Seele erzeugt wird - mit anderen Worten: wenn man Zazen übt -,<br />

dann sind die besten Vorbedingungen geschaffen, um den Herzgeist<br />

zu schauen und das wahre Wesen <strong>des</strong> Daseins zu entdecken.<br />

Obgleich Sitzen die Grundlage von Zazen ist, so handelt es sich dabei<br />

doch nicht einfach um irgendeine Art <strong>des</strong> Sitzens. Es genügt nicht,<br />

daß der Rücken gerade aufgerichtet, die Atmung richtig geregelt, die<br />

Gedanken gestillt werden und der Geist durch besondere Konzentration<br />

gesammelt wird, sondern man muß auch, nach DÔGEN, mit einem<br />

Gefühl der Würde und Hoheit sitzen, in sich ruhend wie ein Berg<br />

oder eine riesige Kiefer und mit dem Gefühl der Dankbarkeit dem<br />

Buddha und den Patriarchen gegenüber, die den Dharma offenbarten.<br />

Und wir sollen für unseren menschlichen Körper dankbar sein, der<br />

uns das Erlebnis der Wirklichkeit <strong>des</strong> Dharma in all seiner Tiefe<br />

ermöglicht. <strong>Die</strong>ses Gefühl von Würde und Dankbarkeit ist zudem<br />

nicht auf das Sitzen beschränkt, es soll vielmehr jede Tätigkeit besee-<br />

8. In seinem Tukan Zazengi (Ratschläge zu Zazen für die Allgemeinheit).<br />

9. BODHIDHARMAS Beispiel folgend, sitzen Sôtô-Anhänger mit dem Gesicht zur<br />

Wand oder zum Vorhang. In der Rinzai-Tradition sitzt man sich, durch die Weite<br />

<strong>des</strong> Raumes getrennt, in zwei Reihen gegenüber, den Rücken der Wand zugekehrt.<br />

10. Siehe S. 61 und 9. Kapitel.<br />

35


len; denn sofern jede Handlung aus dem Bodhi-Geist heraus geschieht,<br />

hat sie die der Buddhaschaft eigene Reinheit und Würde. <strong>Die</strong>se angeborene<br />

Würde <strong>des</strong> Menschen zeigt sich physiologisch an seinem aufrechten<br />

Rücken, denn von allen Geschöpfen hat allein der Mensch<br />

die Fähigkeit, seine Wirbelsäule senkrecht zu halten. Es gibt noch<br />

andere wichtige Zusammenhänge zwischen einem aufrechten Rücken<br />

und richtigem Sitzen, die in diesem Kapitel an anderer Stelle erörtert<br />

werden.<br />

Zazen im weitesten Sinn umfaßt also mehr als richtiges Sitzen allein.<br />

Es ist ebenfalls Zazen, sich jeder Handlung mit voller Aufmerksamkeit<br />

und klarer Bewußtheit zu widmen. Nach einem frühen Sûtra<br />

hat der Buddha selbst Anweisung gegeben, wie das zu erreichen sei:<br />

«Bei dem, was gesehen wird, darf es nur das Gesehene geben; bei dem, was<br />

gehört wird, darf es nur das Gehörte geben; bei dem, was empfunden wird<br />

(wie bei Geruch, Geschmack, Berührung), darf es nur das Empfundene<br />

geben; bei dem, was gedacht wird, darf es nur das Gedachte geben 11 .»<br />

<strong>Die</strong> Bedeutung ,geistigen Eingerichtetseins' und ungeteilter Aufmerksamkeit<br />

wird an folgender Anekdote klar:<br />

Eines Tages sagte ein Mann aus dem Volk zu <strong>Zen</strong>-Meister IKKYÛ:<br />

«Meister, wollt Ihr mir bitte einige Grundregeln der höchsten Weisheit aufschreiben?»<br />

IKKYÛ griff sofort zum Pinsel und schrieb: «Aufmerksamkeit.»<br />

«Ist das alles?» fragte der Mann. «Wollt Ihr nicht noch etwas hinzufügen?»<br />

IKKYÛ schrieb daraufhin zweimal hintereinander: «Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit.»<br />

«Nun», meinte der Mann ziemlich gereizt, «ich sehe wirklich nicht viel<br />

Tiefes oder Geistreiches in dem, was Ihr gerade geschrieben habt.»<br />

Daraufhin schrieb IKKYÛ das gleiche Wort <strong>drei</strong>mal hintereinander: «Aufmerksamkeit.<br />

Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit.»<br />

Halb verärgert begehrte der Mann zu wissen: «Was bedeutet dieses Wort<br />

,Aufmerksamkeit' überhaupt?»<br />

Und IKKYÛ antwortete sanft: «Aufmerksamkeit bedeutet Aufmerksamkeit<br />

12 .»<br />

11. Udāna I, 10 (Übersetzung ins Englische von Nyanaponika Thera).<br />

12. Aus <strong>Zen</strong>sô Mondô (Dialoge von <strong>Zen</strong>-Meistern), ins Englische übersetzt von<br />

Kuni Matsuo und E. Steinilber-Oberlin.<br />

36


Für den Durchschnittsmenschen, <strong>des</strong>sen Geist ein Schachbrett voll<br />

kreuz und quer laufender Überlegungen, Meinungen und Vorurteile<br />

ist, ist ungeteilte Aufmerksamkeit im Grunde unmöglich. Sein Leben<br />

ist also nicht in der Wirklichkeit selbst verankert, sondern in seinen<br />

Vorstellungen davon. Indem nun der Sinn voll und ganz auf je<strong>des</strong><br />

einzelne Ding, auf jede einzelne Handlung gerichtet wird, entkleidet<br />

Zazen ihn aller abseitigen Gedanken und erlaubt ihm, mit dem Leben<br />

in vollen Einklang zu kommen.<br />

Zazen im Sitzen und Zazen in Bewegung sind zwei gleich dynamische<br />

Funktionen, die sich wechselseitig stärken. Demjenigen, der täglich<br />

mit Hingabe Zazen sitzt, den Geist frei von allen unterscheidenden<br />

Gedanken, fällt es leichter, sich seinen täglichen Aufgaben rückhaltlos<br />

zu widmen; und demjenigen, der jede Tätigkeit mit voller Aufmerksamkeit<br />

und klarer Bewußtheit vollzieht, fällt es beim Sitzen weniger<br />

schwer, Leere <strong>des</strong> Geistes zu erreichen.<br />

Der Schüler beginnt Zazen mit dem Zählen der ein- und ausgehenden<br />

Atemzüge, während er bewegungslos in der Zazen-Haltung sitzt. Das<br />

ist der erste Schritt zur Beruhigung der Körperfunktionen wie <strong>des</strong><br />

diskursiven Denkens und zur Stärkung der Konzentration. <strong>Die</strong>se<br />

Übung wird <strong>des</strong>halb als erste gegeben, weil beim Zählen der in natürlichem<br />

Rhythmus mühelos ein- und ausgehenden Atemzüge der Geist<br />

sozusagen eine Stütze hat. Wenn die Konzentration auf die Atmung<br />

so gut geworden ist, daß sie zu klarem, bewußtem Zählen geführt hat<br />

und man dabei nicht den Faden verliert, dann kommt der nächste<br />

Schritt: Eine etwas schwierigere Zazen-Art wird angewiesen; dabei<br />

folgt man der Ein- und Ausatmung, wiederum im natürlichen Rhythmus,<br />

mit dem geistigen Auge. Der glückselige Zustand, der sich aus<br />

der Konzentration auf den Atem ergibt, und der Wert <strong>des</strong> Atems im<br />

Hinblick auf die geistige Entwicklung werden von Lama GOVINDA 13<br />

klar dargelegt:<br />

«Aus diesem Zustand völligen geist-körperlichen Gleichgewichts und der<br />

daraus resultierenden inneren Harmonie erwächst jene innere Heiterkeit<br />

13. LAMA ANAGARIKA GOVINDA, Grundlagen tibetischer Mystik, O. W. Barth<br />

Verlag, München, 4 1975, S. 174 f.<br />

37


und Beseligung, die - ebenso wie eine Quelle in einem Bergsee das ganze<br />

Wasser mit erfrischender Kühle durchdringt - den ganzen Körper mit<br />

Glücksgefühl erfüllt... Hier wird also der Atem zum Träger seelischer<br />

Empfindung, zum Vermittler zwischen Psychischem und Physischem ...<br />

<strong>Die</strong>s ist der erste Schritt zur Erhebung <strong>des</strong> Körpers aus dem Zustand eines<br />

mehr oder weniger passiven, unbewußt funktionierenden grob-stofflichen<br />

Organismus zu einem Vehikel und Werkzeug vollkommener Geistesentfaltung,<br />

wie es in der Vollkommenheit <strong>des</strong> strahlenden Buddhakörpers anschaulich<br />

demonstriert wird... <strong>Die</strong> wichtigste Erkenntnis, die sich für uns<br />

aus der Ausübung <strong>des</strong> ânâpâna-sati 14 ergibt, ist die Tatsache, daß die<br />

Atmung das Bindeglied zwischen bewußten und unbewußten, grobstofflichen<br />

und feinstofflichen, automatischen und willentlichen Funktionen ist<br />

und damit der vollkommene Ausdruck der Natur alles Lebendigen.»<br />

Bis jetzt haben wir über ein Zazen ohne Kôan gesprochen. Kôan-<br />

Zazen umfaßt sowohl bewegungsloses Sitzen, bei dem der Geist mit<br />

aller Intensität das Kôan zu durchdringen sucht, wie auch Zazen in<br />

Bewegung, bei dem die Versunkenheit in das Kôan weitergeht, während<br />

man arbeitet, spielt oder gar schläft. Durch intensive Selbst-<br />

Erforschung - z. B. indem man sich fragt «Was ist Mu?» - wird der<br />

Geist allmählich aller täuschenden Vorstellungen entkleidet, die<br />

anfangs seine Bemühungen, mit dem Kôan eins zu werden, behindern.<br />

Wenn diese abstrakten Vorstellungen wegfallen, erstarkt die Konzentration.<br />

Man mag fragen: «Wie kann man sich denn hingebungsvoll über ein<br />

Kôan befragen und gleichzeitig den Sinn auf eine Arbeit, die Genauigkeit<br />

erfordert, richten?» Nun geschieht es im Lauf der Übung in<br />

Wirklichkeit jedoch, daß das Nachforschen im Unterbewußtsein unablässig<br />

weitergeht, sobald das Kôan von Herz und Geist Besitz<br />

ergriffen hat, wobei seine Kraft, sich in uns festzusetzen, der Stärke<br />

unseres Dranges nach Befreiung entspricht. Solange Verstand oder<br />

Gefühl mit einer bestimmten Aufgabe beschäftigt sind, verschwindet<br />

die Frage aus unserem Bewußtsein, sie kommt aber sofort wieder zum<br />

Vorschein, wenn die Tätigkeit beendet ist, ganz ähnlich einem fließenden<br />

Strom, der hier und da im Boden verschwindet und dann wieder<br />

14. ânâpâna-sati (Pāli) = bewußte Achtsamkeit hinsichtlich <strong>des</strong> Atmens. D. Übers.<br />

38


hervorkommt und im Freien seinen Fortgang nimmt, ohne daß dabei<br />

sein Dahinfließen unterbrochen würde.<br />

Zazen darf nicht mit Meditation verwechselt werden. Meditation<br />

schließt zumin<strong>des</strong>t anfangs ein Fixieren <strong>des</strong> Geistes auf eine Idee oder<br />

ein Objekt ein. Bei einigen Arten buddhistischer Meditation stellt sich<br />

der Meditierende bestimmte Urformen vor, er sinnt darüber nach<br />

oder analysiert sie, wobei er sie unter Ausschluß alles anderen im<br />

Geist festhält. Er kann sich auch auf die von ihm selbst geschaffene<br />

bildhafte Vorstellung eines Buddha oder Bodhisattva konzentrieren<br />

oder über so abstrakte Eigenschaften wie liebende Freundlichkeit oder<br />

Erbarmen meditieren. Im buddhistisch-tantrischen Meditationssystem<br />

stellt man sich Mandalas vor, die verschiedene Keimsilben <strong>des</strong><br />

Sanskrit Alphabets enthalten, und sinnt in der vorgeschriebenen<br />

Weise darüber nach. Es werden auch Mandalas, auf denen sich<br />

Buddhas, Bodhisattvas und andere Gestalten in bestimmter Anordnung<br />

finden, zu Meditationszwecken benutzt.<br />

<strong>Die</strong> Einzigartigkeit von Zazen liegt in folgendem: Der Geist wird<br />

dabei aus der Knechtschaft aller und jeglicher Gedankenformen,<br />

Visionen, Dinge und Vorstellungen befreit, wie heilig und erhaben sie<br />

auch sein mögen, und in einen Zustand vollkommener Leere versetzt,<br />

aus dem allein heraus er eines Tages seines eigenen wahren Wesens<br />

oder <strong>des</strong> Wesens <strong>des</strong> Weltalls innewerden kann.<br />

Man kann daher, genau genommen, solch einführende Übungen wie<br />

das Zählen oder Verfolgen der Atemzüge nicht als Meditation<br />

bezeichnen, da sie keine bildhafte Vorstellung eines Dings, noch die<br />

Kontemplation über eine Idee einschließen. Aus dem gleichen Grunde<br />

kann man auch das Kôan-Zazen nicht als Meditation ansprechen. Ob<br />

sich nun jemand bemüht, mit seinem Kôan eins zu werden, oder sich<br />

intensiv fragt «Was ist Mu?» - in keinem Fall handelt es sich dabei<br />

um eine Meditation im eigentlichen Sinn <strong>des</strong> Wortes.<br />

Zazen, das zur Selbst-Wesensschau führt, ist weder müßige Träumerei<br />

noch leere Tatenlosigkeit, sondern ein intensives inneres Ringen um<br />

Beherrschung <strong>des</strong> Geistes, den man dann nach Art eines geräuschlosen<br />

Wurfgeschoßes benützt, um damit die Schranke der fünf Sinne<br />

und <strong>des</strong> diskursiven Intellekts (d. h. <strong>des</strong> sechsten Sinnes) zu durch-<br />

39


echen. Das verlangt Entschlossenheit, Mut und Tatkraft. YASUTANI<br />

Rôshi nennt es «eine Schlacht zwischen den widerstreitenden Kräften<br />

der Verblendung und der Bodhi 15 .» <strong>Die</strong> folgenden Worte, die der<br />

Buddha ausgesprochen haben soll, als er in höchster Bemühung unter<br />

dem Bo-Baum saß, schildern anschaulich diese Geistesverfassung; sie<br />

werden oft im zendô bei einem Sesshin zitiert:<br />

«Mögen auch nur noch Haut, Sehnen und Knochen von mir übrigbleiben<br />

und mein Blut und Fleisch verdorren und dahinwelken, so werde ich mich<br />

doch nie von diesem Sitz erheben, solange ich nicht volle Erleuchtung<br />

errungen habe.»<br />

Einerseits erhält der Drang nach Erleuchtung durch das qualvolle<br />

Gefühl innerer Knechtschaft seinen Antrieb - das Gefühl, mit dem<br />

Leben zerfallen zu sein, die Furcht vor dem Tode oder auch durch<br />

bei<strong>des</strong> - und andererseits durch die Überzeugung, daß man durch<br />

Satori Befreiung finden kann. Aber es geschieht durch Zazen, daß die<br />

Energien und Kräfte <strong>des</strong> Körpers und Geistes ausgeweitet und zum<br />

Durchbruch in die neue Welt der Freiheit mobilisiert werden. Energien,<br />

die bisher durch zwanghafte Triebe und ziellose Tätigkeit vergeudet<br />

wurden, werden nun durch richtiges <strong>Zen</strong>-Sitzen bewahrt und<br />

zur Einheit geleitet. Und in dem Maße, in dem man durch Zazen den<br />

Geist in einen Punkt sammeln lernt, hört man auf, geistige Kraft auf<br />

die unbeherrschte Vermehrung müßiger Gedanken zu verschwenden.<br />

Das gesamte Nervensystem entspannt sich und kommt zur Ruhe,<br />

innere Spannungen werden aufgehoben, und der Tonus aller Organe<br />

kräftigt sich. Kurz, indem Zazen durch richtige Atmung, durch Konzentration<br />

und rechtes Sitzen die körperlichen, verstan<strong>des</strong>mäßigen<br />

und seelischen Energien wieder in Reih und Glied bringt, stellt es ein<br />

neues Körper-Geist-Gleichgewicht her, <strong>des</strong>sen Schwerpunkt im vitalen<br />

hara 16 liegt.<br />

Wenn Körper und Geist geeint, auf einen Brennpunkt gerichtet und<br />

mit Energie aufgeladen sind, so wachsen im Gefühlsbereich Sensitivi-<br />

15. <strong>Die</strong>se Worte wurden vom Standpunkt <strong>des</strong> Übens und der Schulung aus gesagt;<br />

vom Standpunkt <strong>des</strong> zugrunde liegenden Buddha-Geistes gibt es weder Verblendung<br />

noch Bodhi.<br />

16. Über die Bedeutung <strong>des</strong> Hara bei der <strong>Zen</strong>-Schulung siehe S. 108 ff.<br />

40


tät und Reinheit entsprechend an, und der Wille müht sich mit größerer<br />

Zielkraft. Wir werden nicht mehr auf Kosten <strong>des</strong> Gefühls vom<br />

Intellekt beherrscht, noch von Gefühlen, die weder durch Vernunft<br />

noch durch den Willen kontrolliert sind, umgetrieben. Am Ende führt<br />

Zazen zur Umwandlung von Charakter und Persönlichkeit. Trockenheit,<br />

Härte und egoistische Haltung weichen überströmender Wärme,<br />

Elastizität und Mitgefühl, während Eigenliebe und Furcht in Selbstbeherrschung<br />

und Mut umgewandelt werden.<br />

Da japanische Meister aus jahrhundertelanger Erfahrung diese Umwandlungskraft<br />

von Zazen kennen, haben sie sich stets mehr auf die<br />

Förderung <strong>des</strong> moralischen Verhaltens ihrer Schüler durch Zazen verlassen,<br />

als auf Gebote, die von außen her aufgezwungen werden.<br />

In Wirklichkeit unterstützen die Gebote und Zazen einander wechselseitig,<br />

da sie beide in ein und derselben Buddha-Natur, die die Quelle<br />

aller Reinheit und Güte ist, wurzeln. Auch der festeste Entschluß, die<br />

Gebote zu halten, wird bestenfalls nur gelegentlich erfolgreich sein,<br />

wenn er nicht durch Zazen gestützt wird. Und ein Zazen, das von<br />

einer disziplinierten Lebensweise getrennt ist, kann nur schwach und<br />

unsicher sein. Auf jeden Fall sind die Gebote, entgegen den Hinweisen<br />

der Hīnayana-Lehren, nicht nur einfach Moralvorschriften, die jedermann<br />

leicht verstehen und einhalten kann, wenn er es nur will. Ihr<br />

bedingt-unbedingter Sinn kann in Wirklichkeit nur nach langjährigem,<br />

hingebungsvollem Zazen als lebendige Wahrheit begriffen werden.<br />

Deshalb gibt man Zazen-Schülern im allgemeinen das Buch der<br />

Probleme, Jujukinkai genannt, das sich vom Standpunkt der Hīnayâna-Lehren,<br />

<strong>des</strong> Mahâyâna, <strong>des</strong> Buddha-Wesens selbst und aus der<br />

Sicht von Bodhidharma und Dôgen mit den zehn Hauptgeboten<br />

auseinandersetzt, nicht vor dem Abschluß ihrer Schulung, also erst<br />

dann, wenn ihre Erleuchtung und Zazen-Kraft sich vertieft haben<br />

und gereift sind. Ja, japanische Meister betonen, daß man erst nach<br />

voller Erleuchtung wahrhaft Gut und Böse unterscheiden und durch<br />

die aus Zazen erwachsende Kraft solche Weisheit ins Alltagsleben<br />

umsetzen kann.<br />

YASUTANI Rôshi hat in seiner Antwort auf eine Frage, die ihm in<br />

Amerika von einer Gruppe von Universitätsstudenten gestellt wurde,<br />

41


klargestellt, daß der Freiheit eines Satori-Menschen ein starkes<br />

Gefühl für Verantwortung eignet. Jene fragten: «Wenn, wie man<br />

uns gelehrt hat, Satori die Unwirklichkeit von Vergangenheit und<br />

Zukunft enthüllt, hat man dann nicht die Freiheit, hier und jetzt<br />

zu leben, wie man will, ohne Bezug auf die Vergangenheit und ohne<br />

Gedanken an die Zukunft?»<br />

Als Antwort zeichnete YASUTANI Rôshi einen Punkt an die Tafel<br />

und erklärte, daß dieser isolierte Punkt ihren Begriff von «hier und<br />

jetzt» darstelle. Um die Unvollständigkeit solcher Ansicht zu zeigen,<br />

setzte er einen weiteren Punkt auf die Tafel, durch den er eine horizontale<br />

und eine vertikale Linie zog. Dann erklärte er, daß die horizontale<br />

Linie die Zeit aus anfangsloser Vergangenheit in eine endlose<br />

Zukunft hinein repräsentiere, die vertikale aber den unbegrenzten<br />

Raum. Der «gegenwärtige Augenblick» <strong>des</strong> Erleuchteten, der an<br />

ihrem Schnittpunkt steht, umfaßt, wie er betonte, all diese Dimensionen<br />

von Zeit und Raum.<br />

Somit also bringt die Satori-Erkenntnis, daß man der Brennpunkt<br />

von Vergangenheit und Zukunft ist, unvermeidlich ein Gefühl der<br />

Brüderlichkeit und ein Verantwortungsgefühl für seine Familie und<br />

die Gesellschaft im Ganzen mit sich. <strong>Die</strong> Freiheit eines befreiten <strong>Zen</strong>-<br />

Menschen ist himmelweit entfernt von der «Freiheit» eines «<strong>Zen</strong>-<br />

Dilettanten», der von unbeherrschtem, eigennützigem Verlangen<br />

getrieben wird. <strong>Die</strong> unzerreißbare Verbindung, die der wahrhaft<br />

Erleuchtete seinen Mitmenschen gegenüber empfindet, schließt jegliches<br />

egozentrisches Benehmen, wie das eines Dilettanten, aus.<br />

Zazen bereichert nicht allein die Persönlichkeit und stärkt den Charakter,<br />

es wirft auch Licht auf die <strong>drei</strong> Charakteristika <strong>des</strong> Daseins,<br />

wie der Buddha sie verkündet hat. Erstens: Alle Dinge (einschließlich<br />

unserer Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen) sind unbeständig;<br />

sie entstehen, wenn besondere Ursachen und Bedingungen sie ins<br />

Leben rufen, und vergehen beim Auftauchen neuer Kausalfaktoren.<br />

Zweitens: Das Leben ist Leiden. Und drittens: Letzten En<strong>des</strong> existiert<br />

nichts aus sich selbst, alles Gestalthafte ist seinem eigentlichen Wesen<br />

nach leer, d. h. es handelt sich dabei um voneinander abhängige, sich<br />

42


ständig verändernde Energiestrukturen, die jedoch gleichzeitig von<br />

einer provisorischen und begrenzten Wirklichkeit in Zeit und Raum<br />

in Besitz genommen werden, in ganz ähnlicher Weise wie die Handlungen<br />

in einem Film, die eine Wirklichkeit im Hinblick auf den<br />

Film haben, sonst aber gegenstandslos und unwirklich sind.<br />

Durch Zazen wird die erste Lebenswahrheit - daß alle «Dinge» vergänglich<br />

sind, sich von einem Augenblick zum anderen nicht mehr<br />

gleichen, flüchtige Manifestationen im Strom unaufhörlicher Wandlung<br />

sind - eine Sache unmittelbarer Erfahrung. Wir lernen die Verkettung<br />

unserer Gedanken, Gefühle und Stimmungen sehen, wie sie<br />

entstehen, wie sie für einen Augenblick blühen und wieder vergehen.<br />

Wir lernen erkennen, daß dieses «Sterben» das Leben eines jeden<br />

Dings ist, genau wie die alles verzehrende Flamme das Leben einer<br />

Kerze ausmacht.<br />

Wer durch Zazen gezwungen wird, sich selbst nackt gegenüberzutreten,<br />

dem wird klar, daß unsere Leiden in selbstsüchtiger Habgier, in<br />

Angst und Schrecken wurzeln, die aus unserer Unwissenheit über das<br />

wahre Wesen von Leben und Tod entstehen. Aber Zazen macht uns<br />

gleichermaßen klar, daß das, was wir «Leiden» nennen, unsere Bewertung<br />

eines Schmerzes ist, von dem wir uns für getrennt halten, und<br />

daß ein Schmerz, wenn man ihn mutig auf sich nimmt, ein Mittel zur<br />

Befreiung ist, da er unser natürliches Wohlwollen und Erbarmen freilegt<br />

und uns zudem in die Lage versetzt, Vergnügen und Freude mit<br />

neuer Tiefe und Reinheit zu empfinden.<br />

Schließlich bringt Zazen uns durch Erleuchtung zu der Erkenntnis,<br />

daß das Substrat aller Existenz eine Leere 17 ist, aus der heraus alle<br />

Dinge unablässig hervorgehen und in die sie unaufhörlich zurückkehren,<br />

und daß diese Leere positiv und lebendig ist, in ihrer Lebendigkeit<br />

tatsächlich nicht anders als ein Sonnenuntergang oder die Harmonien<br />

einer großen Symphonie.<br />

<strong>Die</strong>ser Durchbruch zum Bewußtsein <strong>des</strong> strahlenden Buddha-Wesens<br />

ist das «Verschlucken» <strong>des</strong> Weltalls, das Auslöschen jeglichen Gefühls<br />

von Gegensätzen und von Vereinzelung. In diesem Zustand bedin-<br />

17. Genauere Beschreibung siehe S. 117.<br />

43


gungsloser Subjektivität bin ich, ich selbstloses Ich 18 all-erhaben. So<br />

konnte SHAKYAMUNI-Buddha ausrufen:<br />

«Über den Himmeln und unter den Himmeln bin Ich allein erhaben.»<br />

Da aber Erleuchtung auch ein Ende allen Besessenseins von der Vorstellung<br />

eines Ich bedeutet, ist es gleichzeitig eine Welt reiner Objektivität.<br />

Daher konnte DÔGEN schreiben:<br />

«Den Weg <strong>des</strong> Buddha erfahren, heißt, sich selbst erfahren,<br />

Sich selbst erfahren, heißt, sich vergessen,<br />

Sich vergessen, heißt, die Welt als reines Objekt erleben.<br />

<strong>Die</strong> Welt als reines Objekt erleben, heißt, den eigenen Leib und Geist und<br />

den ,selbst-ander' Leib und Geist fallen lassen 19 .»<br />

<strong>Zen</strong>-Meister benutzen noch eine andere Art Zazen, um uns zu helfen,<br />

zur Welt <strong>des</strong> Buddha-Wesens zu erwachen, nämlich das Rezitieren der<br />

dhāranī und Sûtras. Nun ist eine Dhāranī beschrieben worden als<br />

«eine mehr oder weniger sinnlose Kette von Wörtern, die magische<br />

Kraft haben sollen, dem zu helfen, der sie in einer Zeit höchster Not<br />

wiederholt 20 ». Zweifellos haben die Dhāranī durch die phonetische<br />

Umschreibung der Sanskritwörter, zufolge der unvermeidlichen<br />

Änderung <strong>des</strong> ursprünglichen Klanges, viel von ihrer Bedeutung verloren.<br />

Aber sie sind in ihrer Wirkung auf die Seele alles andere als<br />

bedeutungslos, wie jeder weiß, der sie einmal längere Zeit hindurch<br />

rezitiert hat. Wenn sie voll Aufrichtigkeit und innerster Anteilnahme<br />

rezitiert werden, so prägen sie Seele und Geist die Namen und wirksamen<br />

Kräfte der Buddhas und Bodhisattvas ein, die darin aufgezählt<br />

werden, sie räumen Hindernisse, die Zazen im Wege stehen, fort<br />

und festigen unser Herz in der Haltung von Ehrfurcht und Andacht.<br />

Dhāranī sind aber auch in Klang und Rhythmus ein symbolischer<br />

Ausdruck der essentiellen Ur-Wahrheit <strong>des</strong> Weltalls, die jenseits <strong>des</strong><br />

18. Mit «ich» wird in diesem Buch das kleine, täuschende «Ich» bezeichnet. Bei<br />

dem selbstlosen «Ich» handelt es sich um das «Selbst». D. Ü.<br />

19. Shôbôgenzo, 1.Kapitel, Genjo Kôan genannt.<br />

20. A Buddhist Bible, herausgegeben von DWIGHT GODDARD, DUTTON, New York,<br />

1952, S. 662.<br />

44


Bereichs <strong>des</strong> unterscheidenden Intellekts liegt. <strong>Die</strong> Dhāranī werden<br />

in dem Maße, in dem diskursives Denken während <strong>des</strong> Rezitierens<br />

in Schach gehalten wird, auch zu einer weiteren wertvollen Übung,<br />

den Geist vom Haften an dualistischen Gedankengängen zu befreien.<br />

Das Intonieren der Sûtras, ebenfalls eine Art <strong>des</strong> Zazen, erfüllt noch<br />

einen weiteren Zweck. Da es sich dabei um die schriftlich überlieferten<br />

Worte und Predigten <strong>des</strong> Buddha handelt, haben sie bis zu einem<br />

gewissen Grad eine unmittelbare Anziehungskraft auf den Verstand.<br />

Bei Menschen, deren Glaube an den Weg <strong>des</strong> Buddha oberflächlich ist,<br />

führt das wiederholte Rezitieren der Sûtras schließlich zu einem<br />

gewissen Verständnis und dient dazu, ihren Glauben an die Wahrheit<br />

von Buddhas Lehren zu stärken. Mit wachsendem Glauben wird<br />

jedoch die Notwendigkeit, sie zu rezitieren, geringer.<br />

In einem anderen Sinn kann man das Rezitieren der Sûtras mit einem<br />

orientalischen Tuschbild, sagen wir dem einer Kiefer, vergleichen, bei<br />

dem der größte Teil <strong>des</strong> Bil<strong>des</strong> aus weißem Raum besteht. <strong>Die</strong>ser leere<br />

Raum entspricht den tieferen Bedeutungsschichten der Sûtras, die von<br />

den Worten angedeutet werden. Genau wie unser Geist bei dem Bild<br />

durch das Vorhandensein <strong>des</strong> Baumes dazu gebracht wird, sich <strong>des</strong><br />

weißen Raums in erhöhtem Maße bewußt zu werden, so können wir<br />

durch das Rezitieren der Sûtras dazu geführt werden, die Wirklichkeit,<br />

die jenseits von ihnen liegt, zu spüren, jene Leere, auf die sie<br />

hinweisen.<br />

Während <strong>des</strong> Rezitierens von Sûtras und Dhāranī, die alle im Tempo<br />

verschieden sind, kann man sitzen oder stehen, knien oder sich immer<br />

wieder niederwerfen, oder man macht wiederholte Umgänge im Tempel.<br />

Häufig wird das Intonieren vom stetigen Klopfen auf das<br />

mokugyo begleitet oder von dem sonoren Widerhall <strong>des</strong> keisu interpunktiert.<br />

<strong>Die</strong>se Kombination von Sprechgesang und dem Pochen der<br />

Schlaginstrumente kann, wenn Herz und Geist wahrhaft eins damit<br />

sind, tiefste Gefühlsschichten aufrütteln und zu einem vibrierenden<br />

Gefühl erhöhter Bewußtheit führen. Zuallermin<strong>des</strong>t aber bringt es<br />

Abwechslung in das <strong>Zen</strong>-Sitzen, das sonst zu einer düsteren und<br />

strengen Zucht ohne jede Erleichterung würde. Bei einem Sesshin von<br />

einer Woche könnten nur wenige das bloße Sitzen Stunde um Stunde<br />

45


aushalten. Und selbst wenn sich das nicht als unerträglich schwer<br />

erweisen sollte, so würde es doch allen, mit Ausnahme der am inbrünstigsten<br />

Übenden, dabei langweilig werden. <strong>Zen</strong>-Meister vermindern<br />

nicht allein die Gefahr der Langeweile, indem sie verschiedene Zazen-<br />

Arten vorschreiben - nämlich Sitzen, Gehen, Rezitieren und körperliche<br />

Arbeit -, sondern sie steigern dadurch auch die Wirkung jeder<br />

einzelnen Zazen-Art.<br />

DÔGEN legte großen Wert auf richtige Haltung, Gebärden und Körperbewegungen<br />

beim Rezitieren wie auch bei allen ändern Arten <strong>des</strong><br />

Zazen, da sie in der Seele Widerhall finden. Im Shingon-Buddhismus<br />

werden von den Gläubigen besondere Eigenschaften der Buddhas und<br />

Bodhisattvas durch bestimmte Handstellungen (mudrās) und Körperhaltungen<br />

hervorgerufen. Es ist wahrscheinlich, daß sich diese Seite<br />

von DÔGENS Lehre vom Shingon ableitet. Auf jeden Fall bringen<br />

die vorgeschriebenen Stellungen entsprechende Geistesverfassungen<br />

hervor. So erweckt das Rezitieren der Vier Gelübde im Knien, die<br />

Hände zum gasshô erhoben (Handflächen gegeneinander gelegt), wie<br />

es bei der Sôtô-Sekte gehalten wird, eher eine ehrfürchtige, demütige<br />

Stimmung, als wenn man die gleichen Gelübde im Stehen rezitiert,<br />

wie es bei der Rinzai-Sekte geschieht. In ähnlicher Weise erzeugt die<br />

leichte Berührung beider Daumenspitzen beim Zazen im Sitzen ein<br />

Gefühl von Gleichgewicht und Lauterkeit, das mit fest verschränkten<br />

Händen nicht so leicht erreicht werden kann.<br />

Umgekehrt lockt auch jede Geistesverfassung eine ihr eigene, bestimmte<br />

Körperreaktion hervor. So kann man sich nur unter dem<br />

Antrieb von Ehrfurcht und Dankbarkeit demütig vor dem Buddha<br />

niederwerfen. Solch ein «Horizontalisieren <strong>des</strong> Ich-Mastes» läutert<br />

den Herzgeist, macht ihn biegsam und weitet ihn aus und öffnet so<br />

dem Verständnis und der Hochachtung für den erhabenen Geist und<br />

die mannigfachen wirksamen Kräfte <strong>des</strong> Buddha und der Patriarchen<br />

den Weg. So erwächst in uns das Verlangen, unserer Dankbarkeit<br />

Ausdruck zu geben und ihnen unsere Hochachtung durch entsprechende<br />

Rituale vor ihren personifizierten Gestalten zu bezeigen. Solche<br />

Andachtsübungen, wenn sie gesammelten Geistes vorgenommen<br />

werden, erfüllen die Buddhagestalt mit Leben. Was zuvor ein bloßes<br />

46


Abbild war, wird nun zu lebendiger Wirklichkeit, mit der einzigartigen<br />

Kraft, im Augenblick <strong>des</strong> Niederwerfens in uns das Bewußtsein<br />

eines Ich und eines Buddha auszulöschen. Und wir fühlen uns<br />

erfrischt und erneuert, weil in dieser ich-losen, gedanken-losen<br />

Gebärde unser makelloser Bodhi-Geist hell aufleuchtet.<br />

Im Lichte solcher Beobachtungen einer Wechselwirkung zwischen<br />

Körper und Geist können wir nun bis ins Einzelne die Gründe erwägen,<br />

aus denen heraus <strong>Zen</strong>-Meister stets die Wichtigkeit eines aufrechten<br />

Rückens und der klassischen Lotushaltung betont haben. Es<br />

ist wohlbekannt, daß ein gebeugter Rücken unseren Geist seiner Spannung<br />

beraubt, so daß zufällige, flüchtige Gedanken und Bilder leicht<br />

Einlaß finden, und daß ein gerade aufgerichteter Rücken unsere Konzentration<br />

stärkt, das Aufkommen von wandernden Gedanken verringert<br />

und solchermaßen samâdhi beschleunigt. Und umgekehrt:<br />

Wenn der Geist von Vorstellungen frei wird, so führt das dazu, daß<br />

sich der Rücken ohne bewußte Anstrengung aufrichtet.<br />

Bei einer durchsackenden Wirbelsäule und der damit verbundenen<br />

Vervielfältigung der Gedanken wird die harmonische Atmung oft<br />

von beschleunigter oder ruckweiser Atmung verdrängt, je nach Art<br />

der Gedanken. Das schlägt sich bald in einer Spannung von Nerven<br />

und Muskeln nieder. In seinen Unterweisungen macht YASUTANI<br />

Rôshi darauf aufmerksam, wie ein krummer Rücken dem Geist Kraft<br />

und Klarheit aussaugt und Stumpfheit und Langeweile hervorruft.<br />

<strong>Die</strong>se überaus wichtige aufrechte Haltung der Wirbelsäule und die<br />

entsprechende geistige Straffheit kann man längere Zeit hindurch<br />

leichter durchhalten, wenn die Beine sich in der halben oder vollen<br />

Lotushaltung befinden und die Aufmerksamkeit auf eine Stelle vier<br />

Finger breit unterhalb <strong>des</strong> Nabels 21 konzentriert wird. Versuche mit<br />

Elektrokardiographen und anderen Mitteln haben gezeigt, daß Herzschlag,<br />

Puls und Atmung verlangsamt und beruhigt werden, wenn der<br />

Körper zu einer geschlossenen Einheit verschmolzen wird, wie bei der<br />

vollen Lotushaltung - d. h. wenn die Hände auf den Fersen ruhen,<br />

wobei sich die Daumenspitzen leicht berühren.<br />

21. Siehe «Hara», S. 108 ff.<br />

47


Da der Körper der materielle Aspekt <strong>des</strong> Geistes ist und der Geist<br />

der immaterielle Aspekt <strong>des</strong> Körpers, erleichtert es überdies die geistige<br />

Sammlung, wenn Hände und Arme, Füße und Beine an einem<br />

zentralen Punkt beisammen sind wie bei der vollen Lotushaltung, wobei<br />

die zusammengelegten Hände auf den Fersen der verschränkten<br />

Füße ruhen. Und schließlich erzeugt die Lotushaltung, wenn auch<br />

unfaßbar, ein Gefühl <strong>des</strong> Verwurzeltseins in der Erde und gleichzeitig<br />

ein Gefühl allumfassender Einheit, leer von allen Empfindungen eines<br />

Innen und Außen. Das trifft jedoch nur dann zu, wenn man diese<br />

Haltung ohne Unbehagen einnehmen und durchhalten kann.<br />

Aus all diesen Gründen ist man im <strong>Zen</strong>, das die Verkörperung der<br />

wesentlichen Lehren und Praktiken <strong>des</strong> Buddha ist, im Laufe seiner<br />

langen Geschichte stets der Sitzweise <strong>des</strong> Buddha gefolgt, als dem<br />

direktesten und praktischsten Wege, Leere <strong>des</strong> Geistes und schließlich<br />

Erleuchtung zu erlangen.<br />

Das soll jedoch nicht heißen, daß man Zazen nicht üben oder Satori<br />

nicht erreichen kann, wenn man nicht in halber oder voller Lotushaltung<br />

sitzt. Zazen kann vielmehr sogar auf einem Stuhl, einer Bank<br />

oder auch im Knien wirksam sein, solange nur der Rücken gerade<br />

aufgerichtet ist 22 . Was letzten En<strong>des</strong> bei der Suche nach Erleuchtung<br />

den Erfolg sichert, das ist nicht irgendeine bestimmte Haltung, sondern<br />

einzig das intensive Verlangen nach Wahrheit um ihrer selbst<br />

willen. Das allein bringt uns dazu, auf irgendeine Weise regelmäßig<br />

zu sitzen und alle Angelegenheiten <strong>des</strong> täglichen Lebens mit Hingabe<br />

und klarer Bewußtheit zu vollziehen. Aber Zazen wurde stets als die<br />

Grundlage jeder <strong>Zen</strong>-Schulung angesehen, einfach weil jahrhundertelange<br />

Erfahrungen bewiesen haben, daß es der leichteste Weg ist, den<br />

Geist zu Stille und geballter Sammlung zu bringen, so daß er als<br />

Instrument zur Selbst-Entdeckung benutzt werden kann. In der langen<br />

Geschichte <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> haben Tausende und Abertausende durch<br />

Zazen Erleuchtung gefunden, während nur wenige ohne Zazen echte<br />

22. Siehe die verschiedenen richtigen Haltungen im 9. Kapitel. Bei YASUTANI<br />

Rôshis kürzlicher Reise nach Amerika fand ein Schüler Erleuchtung, als er Zazen<br />

auf einer Klavierbank übte. In Japan üben viele Frauen in der herkömmlichen<br />

japanischen Sitzweise kniend Zazen, wobei das Gesäß auf den Fersen ruht.<br />

48


Erleuchtung erlebten 23 . Wenn es sogar für den Buddha und BODHI-<br />

DHARMA notwendig war zu sitzen, so kann gewiß kein Suchender auf<br />

Zazen verzichten. Kenshô (oder Satori) ist nur ein erster Anblick der<br />

Wahrheit, und er kann, einerlei, ob es sich dabei nur um einen flüchtigen<br />

Blick oder um einen scharfen und tiefen Einblick handelte, durch<br />

Zazen ausgeweitet werden. Man denke auch daran: Wenn die Schau<br />

<strong>des</strong> Eins-Seins, wie sie durch Erleuchtung erreicht wird, nicht durch<br />

Jôriki 24 , jene besondere, durch Zazen entwickelte Kraft, gefestigt<br />

wird, so umwölkt sie sich nach und nach, besonders wenn sie von<br />

vornherein nur schwach war, und verblaßt schließlich zu einer angenehmen<br />

Erinnerung, statt eine allgegenwärtige Wirklichkeit zu bleiben,<br />

die unser Alltagsleben gestaltet. Wir dürfen jedoch auch nicht<br />

aus den Augen verlieren, daß Zazen mehr ist als ein bloßes Mittel,<br />

Erleuchtung zu erreichen, oder eine Technik, sie aufrechtzuerhalten<br />

oder auszuweiten; es ist vielmehr die Vergegenwärtigung unseres<br />

Wahren Wesens. Somit hat es einen absoluten Wert. YASUTANI Rôshi<br />

macht diesen Punkt sowohl in den vorliegenden Unterweisungen, als<br />

auch bei seinen Dokusan mit zehn Menschen aus dem Westen klar.<br />

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß es für die meisten Menschen<br />

aus dem Westen körperlich und geistig qualvoll ist, beim Zazen<br />

vollkommen still zu sitzen, und sei es selbst auf einem Stuhl, da sie<br />

von Natur aus viel aktiver und ruheloser als Asiaten zu sein scheinen.<br />

Ihre mangelnde Bereitschaft, solche Schmerzen und solches Unbehagen<br />

auch nur für kurze Zeit auszuhalten, stammt zweifellos aus der<br />

tiefsitzenden Überzeugung, daß es nicht nur sinnlos, sondern geradezu<br />

masochistisch sei, Schmerzen mit Vorbedacht auf sich zu nehmen,<br />

wenn es Mittel und Wege gibt, ihnen zu entkommen oder sie zu mildern.<br />

Es ist daher nicht erstaunlich, daß manche Kommentatoren,<br />

die ganz offenbar Zazen nie geübt haben, zu zeigen versuchen, daß<br />

das Sitzen keineswegs unerläßlich für die <strong>Zen</strong>-Schulung sei. In<br />

23. Der Sechste Patriarch ENÔ (638-713) ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür.<br />

In seiner Autobiographie berichtet er, wie er in seiner Jugend Erleuchtung erreichte,<br />

als er hörte, wie ein Mönch das Diamant-Sûtra rezitierte. Offenbar hatte er vorher<br />

niemals richtig Zazen geübt.<br />

24. Siehe die Erörterung von Jôriki auf S. 81—82.<br />

49


The Way of <strong>Zen</strong>, S. 101, 103 (deutsch: <strong>Zen</strong>-Buddhismus, Rowohlt,<br />

RDE Nr. 129/30, Hamburg) versucht ALAN WATTS nachzuweisen,<br />

daß die <strong>Zen</strong>-Meister selbst das Sitzen angefochten hätten, indem er<br />

Teile eines bekannten Kôans zitiert. Nachstehend geben wir unsere<br />

Übersetzung <strong>des</strong> Kôan in seiner Gesamtheit:<br />

BASO saß täglich Zazen im Dempo-In. NANGAKU, der ihn beobachtete,<br />

dachte: Er wird ein großer Mönch werden, und er fragte ihn:<br />

«Mein Werter, was wollt Ihr durch Sitzen erreichen?»<br />

BASO erwiderte: «Ich will ein Buddha werden.»<br />

Daraufhin hob NANGAKU ein Stück Dachziegel auf und begann es an einem<br />

Felsen vor sich zu schleifen.<br />

«Was macht Ihr da, Meister?» fragte BASO.<br />

«Ich schleife ihn, um daraus einen Spiegel zu machen», sagte NANGAKU.<br />

«Wie könnte das Schleifen einen Ziegel zu einem Spiegel machen?»<br />

«Wie könnte das Sitzen im Zazen einen Buddha machen?»<br />

BASO fragte: «Was soll ich dann tun?»<br />

NANGAKU erwiderte: «Wenn Ihr einen Karren führt, und er bewegte sich<br />

nicht, würdet Ihr dann den Karren peitschen oder den Ochsen?»<br />

BASO gab keine Antwort.<br />

NANGAKU fuhr fort: «Übt Ihr Euch im Zazen? Strebt Ihr danach, ein<br />

sitzender Buddha zu werden? Wenn Ihr Euch im Zazen übt, (so laßt Euch<br />

sagen, die Substanz <strong>des</strong>) <strong>Zen</strong> ist weder Sitzen noch Liegen. Wenn Ihr<br />

Euch darin schult, ein sitzender Buddha zu werden, (laßt Euch gesagt sein),<br />

daß Buddha keine Form hat (wie z. B. das Sitzen). Das Dharma, das keine<br />

feste Stätte hat, erlaubt keine Unterscheidungen. Wenn Ihr ein sitzender<br />

Buddha zu werden versucht, so bedeutet das nichts anderes, als den Buddha<br />

zu töten. Wenn Ihr Euch an die Form <strong>des</strong> Sitzens klammert, werdet Ihr die<br />

Ur-Wahrheit nicht erreichen.»<br />

Als Baso das hörte, fühlte er sich so erfrischt, als hätte er den köstlichsten<br />

Trunk genossen.<br />

Mr. WATTS fügt seiner eigenen Übersetzung ins Englische (S. 113)<br />

hinzu: «Das scheint die übereinstimmende Lehre aller T'ang-Meister<br />

von HUI-NENG (dem Sechsten Patriarchen) bis zu LIN-CHI (RINZAI)<br />

zu sein. Nirgends habe ich in ihren Lehren irgendwelche Anweisungen<br />

oder Empfehlungen zu jener Art von Zazen finden können, wie sie<br />

heute die Hauptbeschäftigung der <strong>Zen</strong>-Mönche ausmacht.» Offenbar<br />

50


hat er The <strong>Zen</strong> Teachings of HUANG Po (in der Übersetzung von<br />

JOHN BLOFELD) übersehen. Darin finden wir, daß HUANG Po, der 850<br />

starb, rät (S. 131):<br />

«Wenn ihr Geist-Beherrschung (Zazen oder dhyâna) übt, so sitzt in der<br />

richtigen Haltung, verhaltet euch vollkommen still, und laßt nicht zu, daß<br />

ihr durch die geringste Bewegung <strong>des</strong> Geistes gestört werdet.»<br />

Das ist gewiß ein klarer Beweis, daß Zazen, wie es heute in Japan<br />

weitergeführt wird, auch in der T'ang-Zeit eine festgelegte Übung<br />

war, wie selbst schon zu Zeiten <strong>des</strong> Buddha.<br />

Überdies heißt es dem Geist <strong>des</strong> Kôan Gewalt antun, wenn man<br />

den oben zitierten Dialog als Verdammung von Zazen auslegt.<br />

NANGAKU ist weit davon entfernt, damit zu sagen, daß Zazen so<br />

nutzlos sei wie das Schleifen eines Ziegels zu einem Spiegel - obgleich<br />

es für jemanden, der niemals <strong>Zen</strong> geübt hat, leicht ist, zu solcher<br />

Schlußfolgerung zu kommen. Er versuchte vielmehr, BASO zu lehren,<br />

daß, da wir alle von allem Anfang an Buddhas sind, das Buddhatum<br />

nicht außerhalb seiner selbst als ein Ding existiert, nach dem man<br />

streben kann. Offenbar war BASO, der später ein großer Meister<br />

wurde, damals in der Täuschung befangen, daß die Buddhaschaft<br />

etwas von ihm Verschiedenes sei. NANGAKU sagte in Wirklichkeit:<br />

«Wie könntet Ihr durch Sitzen ein Buddha werden, wenn Ihr nicht<br />

von Anfang an ein Buddha wärt? Das wäre ebenso unmöglich, wie<br />

der Versuch, durch Schleifen einen Dachziegel zu einem Spiegel zu<br />

machen 25 .» Mit anderen Worten: Zazen erteilt nicht Buddhaschaft; es<br />

deckt vielmehr ein Buddha-Wesen auf, das von jeher da war. Zudem<br />

zeigt NANGAKU durch das Schleifen <strong>des</strong> Ziegels BASO anschaulich,<br />

daß das Polieren selbst ein Ausdruck <strong>des</strong> Buddha-Wesens ist, das alle<br />

Formen übersteigt, einschließlich derer <strong>des</strong> Sitzens, Stehens oder<br />

Liegens.<br />

Um ihre Schüler davor zu bewahren, daß sie an der Sitz-Haltung haften,<br />

nehmen <strong>Zen</strong>-Meister Bewegungs-Zazen in ihren Unterricht auf.<br />

25. Der Sechste Patriarch stellt in seinem Tribünen-Sûtra fest: «Wenn man den<br />

Buddha-Geist nicht in sich hätte, wo wollte man dann nach dem wahren Buddha<br />

suchen?»<br />

51


Es ist durch und durch falsch, wenn Mr. WATTS behauptet, daß die<br />

Hauptbeschäftigung der <strong>Zen</strong>-Mönche heute das Sitzen sei. Japanische<br />

<strong>Zen</strong>-Mönche bringen bei ihrer Schulung den größten Teil der Zeit mit<br />

Arbeit, nicht mit Sitzen zu, abgesehen von den etwa sechs Wochen im<br />

Jahr, während derer sie im Sesshin sind. Im Hosshin-Ji, das in dieser<br />

Hinsicht mehr oder weniger typisch für die meisten japanischen <strong>Zen</strong>-<br />

Klöster ist, sitzen die Mönche gewöhnlich morgens anderthalb Stunden<br />

und abends etwa zwei bis <strong>drei</strong> Stunden. Sie schlafen normalerweise<br />

sechs bis sieben Stunden; die übrigen zwölf bis <strong>drei</strong>zehn Tagesstunden<br />

bringen sie mit Arbeit, z. B. auf den Reisfeldern oder im<br />

Gemüsegarten zu, mit Holzspalten und Wasserpumpen, Kochen, dem<br />

Servieren von Mahlzeiten, dem Sauberhalten <strong>des</strong> Klosters und dem<br />

Fegen und Unkraut-Jäten. Zu anderer Zeit pflegen sie die Gräber auf<br />

dem an das Kloster angrenzenden Friedhof, rezitieren Sûtras und<br />

Dhāranī für die Toten, sowohl in den Häusern der Gläubigen als<br />

auch im Kloster. Außerdem verbringen die <strong>Zen</strong>-Mönche viele Stunden<br />

damit, auf den Straßen um Essen und andere notwendige Dinge<br />

zu bitten; dadurch lernen sie im Rahmen ihrer religiösen Erziehung<br />

Demut und Dankbarkeit. All diese Tätigkeiten werden als Übungen<br />

im Bewegungs-Zazen angesehen, da sie achtsam und mit voller Anteilnahme<br />

ausgeführt werden müssen. Der berühmte Ausspruch von<br />

HYAKUJÔ:<br />

«Ein Tag ohne Arbeit ist ein Tag ohne Essen»,<br />

belebt den Geist der <strong>Zen</strong>-Klöster heute genau so stark wie eh und je.<br />

Wo es kein Zazen gibt, mag es sich nun um die bewegungslose oder<br />

um die bewegte Art handeln, kann man nicht von einer <strong>Zen</strong>-Schulung<br />

sprechen. Das NANGAKU-Kôan deutet ebenso wie alle anderen auf den<br />

uns innewohnenden Buddha-Geist hin, aber sie alle lehren uns nicht,<br />

wie wir die Wirklichkeit dieses Geistes verwirklichen sollen. <strong>Die</strong> Verwirklichung<br />

der Höchsten Wahrheit verlangt Hingabe und anhaltende<br />

Anstrengung, was soviel heißt wie reine und gläubige Ausübung<br />

<strong>des</strong> Zazen. Der Versuch, Zazen als unwichtig abzutun, ist im Grunde<br />

nichts anderes als eine rationale Erklärung für die Unwilligkeit, sich<br />

um der Wahrheit willen anzustrengen, wobei der tiefere Sinn offen-<br />

52


sichtlich der ist, daß in Wirklichkeit gar kein echtes Verlangen nach<br />

der Wahrheit besteht. DÔGEN erteilt im Shôbôgenzô all denen einen<br />

Verweis, die sich mit den höchsten Idealen <strong>des</strong> Buddha identifizieren,<br />

jedoch vor der Mühe zurückschrecken, die es erfordert, sie in die Praxis<br />

umzusetzen:<br />

«Der Große Weg <strong>des</strong> Buddha und der Patriarchen schließt auch äußerste<br />

Anstrengung ein, die pausenlos in Stufenfolgen weitergeht vom ersten<br />

Dämmern der religiösen Wahrheit über die Prüfungen bei Schulung und<br />

Übung bis zu Erleuchtung und Nirvana. Das bedeutet ununterbrochene<br />

Anstrengung, von Stufe zu Stufe fortschreitend . ..<br />

<strong>Die</strong>se ununterbrochene Anstrengung ist nichts, was die Weltmenschen<br />

gemeinhin lieben oder begehren; sie ist jedoch die letzte Zuflucht aller.<br />

Nur durch die Anstrengungen aller Buddhas in Vergangenheit, Gegenwart<br />

und Zukunft werden die Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und<br />

Zukunft zur Wirklichkeit... Durch diese Anstrengung wird die Buddhaschaft<br />

verwirklicht, und die, welche keine Anstrengungen machen, wenn<br />

Anstrengungen möglich sind, sind die, die den Buddha hassen, die es<br />

hassen, dem Buddha zu dienen, und es hassen, sich anzustrengen. Sie<br />

wollen nicht mit Buddha leben und sterben, sie wollen ihn nicht zum Lehrer<br />

und Gefährten haben 26 ...<br />

Biographische Notizen über Yasutani Rôshi<br />

Mit achtzig Jahren ist <strong>Zen</strong>-Meister HAKUUN 27 YASUTANI im Begriff,<br />

sich für einen längeren Aufenthalt in Amerika einzuschiffen, um<br />

den Dharma <strong>des</strong> Buddha auszulegen. Damit ruft er den Geist <strong>des</strong><br />

ehrfurchtgebietenden BODHIDHARMA hervor, der in seinen späteren<br />

Lebensjahren seinem Heimatland den Rücken kehrte und sich fernen<br />

Gestaden zuwandte, um dort den lebendigen Samen <strong>des</strong> Buddhismus<br />

zu säen. Für YASUTANI Rôshi ist das jedoch nur eine weitere bemer-<br />

26. Zitiert in Sources of Japanese Tradition, herausgegeben von WLLIAM THEO-<br />

DORE DE BARY, Columbia University Press, New York, 1961, S. 250 ff.<br />

27. Ein <strong>Zen</strong>-Name, der «Weiße Wolke» bedeutet. Siehe «Wolken und Wasser» im<br />

10. Kapitel.<br />

53


kenswerte Begebenheit in einem Leben, das durch einzigartige Leistungen<br />

gekennzeichnet ist.<br />

Seit seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag hat er fünf vollständige<br />

Bände von Kommentaren über die Kôan-Sammlungen, die als Mumon-kan,<br />

Hekigan-roku, Shôyô-roku und Denkô-roku bekannt sind,<br />

und eine Abhandlung über die Fünf Grade <strong>des</strong> Tôzan (japanisch:<br />

Go-i) geschrieben. <strong>Die</strong>se Serie als Ganzes stellt eine in der neuzeitlichen<br />

Geschichte <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> einzigartige Großtat dar.<br />

Seine Schriften sind jedoch nur eine Facette seiner ausgedehnten<br />

Lehrtätigkeit. Er hält nicht allein jeden Monat in seinem eigenen<br />

Tempel in einem Vorort von Tokyo ein Sesshin von <strong>drei</strong> bis sieben<br />

Tagen und von Zeit zu Zeit weitere Sesshin in Kyushu und Hokkaido,<br />

dem äußersten Süden und Norden Japans, er leitet auch jede Woche<br />

verschiedene Eintags-Sesshin (zazen-kai) im Gebiet von Groß-Tokyo.<br />

Unter anderem gehören eine große Universität, mehrere Fabriken, die<br />

Selbstverteidigungs-Akademie und eine Reihe von Tempeln zu den<br />

Veranstaltungsorten.<br />

Er ist zweimal in den Westen gereist. Bei seiner ersten Amerikareise<br />

1962 hielt er in Honolulu, Los Angeles, Clairmont/California, Wallington/Pennsylvania,<br />

New York, Boston und Washington/D.C.<br />

Sesshin von vier bis sieben Tagen. Im folgenden Jahr wiederholte er<br />

seine Sesshin in Amerika und dehnte seine Tätigkeit auch auf Vorträge<br />

über <strong>Zen</strong> in England, Frankreich und Deutschland aus.<br />

HAKUUN YASUTANI war Gatte, Vater, Lehrer und schließlich <strong>Zen</strong>-<br />

Meister; er hat seine gegenwärtige Würde also nicht dadurch erreicht,<br />

daß er den dem Leben <strong>des</strong> gewöhnlichen Menschen eigenen Leiden<br />

und Freuden auswich, sondern indem er sie durchlebte und dann<br />

transzendierte. Damit spiegelt sein Leben das Mahâyâna-Ideal wider:<br />

Selbst-Wesensschau ist nicht weniger Sache <strong>des</strong> Hausvaters als <strong>des</strong><br />

Mönchs im Zölibat.<br />

YASUTANI Rôshi wurde als Kind einer frommen buddhistischen Mutter<br />

und eines Vaters geboren, der einen Kuchenladen in einem kleinen<br />

Dorf besaß. Als er fünf Jahre alt war, wurde ihm der Kopf geschoren,<br />

was seinen Eintritt in das buddhistische Mönchstum kennzeichnete.<br />

Danach schickten ihn seine Eltern, dem Brauch frommer Fami-<br />

54


lien damaliger Zeit folgend, in einen Tempel, auf daß er die religiöse<br />

Atmosphäre in sich aufnehme und auf das Priestertum hingelenkt<br />

werde.<br />

Er blieb in diesem Tempel, bis er zwölf war, verrichtete dort die Alltagsarbeiten<br />

eines Novizen, besuchte die Grundschule und wurde vom<br />

Oberpriester in den Grundlagen <strong>des</strong> Buddhismus unterwiesen. An<br />

seinem <strong>drei</strong>zehnten Geburtstag wurde er Novize eines großen Sôtô-<br />

Tempels. Es folgten zwei weitere Jahre an einer öffentlichen Schule,<br />

fünf Jahre an einem von der Sôtô-Sekte geleiteten Seminar und<br />

schließlich vier Jahre an einer Lehrer-Bildungsanstalt.<br />

HAKUUN YASUTANI heiratete mit <strong>drei</strong>ßig und gründete eine Familie,<br />

die mit der Zeit fünf Kinder zählte. Nominell war er Priester; da<br />

ihm aber damals kein Tempel zur Verfügung stand, nahm er eine<br />

Stelle als Grundschullehrer an, um seine wachsende Familie zu unterhalten.<br />

Er unterrichtete dort sechs Jahre lang. Nachdem er Direktor<br />

geworden war, diente er der gleichen Schule noch weitere vier Jahre.<br />

Trotz der Belastungen durch die Familie, das Aufziehen der fünf<br />

Kinder und die Anforderungen seines Berufes fuhr er all die Jahre<br />

hindurch unter verschiedenen Lehrern fort, Zazen zu üben, mit dem<br />

er viele Jahre vorher - genau gesagt, als Fünfzehnjähriger - begonnen<br />

hatte. Obgleich man diese Lehrer allgemein für einige der besten<br />

Meister der Sôtô-Sekte erachtete, ließ doch die Tatsache, daß sie<br />

Satori in vagen, allgemeinen Äußerungen behandelten, die tatsächliche<br />

Verwirklichung von Satori als entlegen und phantastisch erscheinen.<br />

HAKUUN YASUTANI spürte immer, daß ihm ein echter Meister<br />

fehlte, eine buddhaähnliche Gestalt, jemand, der seine Füße auf den<br />

wahren Weg lenken könnte. Mit vierzig fand er ihn schließlich in<br />

HARADA Rôshi, und mit dieser Begegnung nahm sein Leben eine entscheidende<br />

Wendung.<br />

Er gab seine Arbeit als Schuldirektor auf, wurde ein Tempelpriester,<br />

in Wirklichkeit wie dem Namen nach, und begann, regelmäßig die<br />

Sesshin in HARADA Rôshis Kloster, Hosshin-Ji, zu besuchen. Bei seinem<br />

allerersten Sesshin erlangte er Kenshô mit dem Kôan Mu.<br />

YASUTANI Rôshi war achtundfünfzig, als HARADA Rôshi ihm das<br />

Siegel der Bestätigung (inka shômei) erteilte und ihn zu seinem<br />

55


Dharma-Nachfolger ernannte. <strong>Die</strong>se außerordentliche Ehrung besagte,<br />

daß seine geistige Schau tief, sein Charakter moralisch hochstehend<br />

und seine Fähigkeit zu lehren erwiesen war.<br />

YASUTANI Rôshi ist ebenso einfach und ungekünstelt wie sein bescheidener<br />

Tempel. Seine zwei täglichen Mahlzeiten enthalten weder<br />

Fleisch, noch Fisch, noch Eier, noch Alkohol. Man kann ihn oft in<br />

schäbigem Gewand und Segeltuchschuhen auf seinem Weg zu einem<br />

Zazen-Treffen durch Tokyo trotten oder auch in der überfüllten<br />

zweiten Klasse der innerstädtischen Züge stehen sehen, seine Lehrbücher<br />

in einer Stofftasche über die Schulter gehängt. In seiner vollkommenen<br />

Schlichtheit, seiner Gleichgültigkeit allem Putz, Reichtum<br />

und Ruhm gegenüber wandelt er in den Fußstapfen einer langen<br />

Reihe hervorragender <strong>Zen</strong>-Meister.<br />

<strong>Die</strong> Unterweisungen<br />

1. Unterrichtsstunde: Theorie und Praxis <strong>des</strong> Zazen<br />

Meine Ausführungen hier beruhen auf den Lehren meines verehrten<br />

Lehrers, DAIUN 28 HARADA Rôshi. Obgleich er selbst der Sôtô-Sekte<br />

angehörte, war es ihm doch unmöglich, in dieser Sekte einen fähigen<br />

Meister zu finden. So ging er in zwei Rinzai-Klöster, zuerst ins Shogen-Ji<br />

und dann ins Nanzen-Ji, um sich dort zu schulen. Im Nanzen-<br />

Ji begriff er schließlich unter der Führung von DOKUTAN Rôshi, einem<br />

hervorragenden Meister, das innerste Geheimnis von <strong>Zen</strong>.<br />

Obgleich es eine unleugbare Wahrheit ist, daß man sich selbst der<br />

<strong>Zen</strong>-Schulung unterziehen muß, um die Wahrheit <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> zu verstehen,<br />

meinte HARADA Rôshi jedoch, daß es Sinn habe, Anfängern als<br />

Einführung in die Praxis solche Lehrvorträge zu halten, da der<br />

moderne Mensch geistig weitaus wacher ist. Er verband das Beste beider<br />

Sekten und schuf eine einzigartige Lehrmethode <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>. Nir-<br />

28. Ein <strong>Zen</strong>-Name, der «Große Wolke» bedeutet. Siehe unter «Wolken und<br />

Wasser» im 10. Kapitel.<br />

56


gends in Japan wird man die <strong>Zen</strong>-Lehre so gründlich und knapp und<br />

der modernen Geistesart so angepaßt dargelegt finden, wie in seinem<br />

Kloster. Ich war zwanzig Jahre lang sein Schüler und konnte dank<br />

seiner Güte mein Geistiges Auge in gewissem Ausmaß öffnen.<br />

Ehe HARADA Rôshi mit seinen Unterweisungen begann, gab er zur<br />

Einleitung gewöhnlich einen Rat, wie man richtig zuhört. Der erste<br />

Punkt dabei war, daß man mit offenen und auf ihn gerichteten Augen<br />

zuhören solle - mit anderen Worten: mit dem ganzen Wesen -, denn<br />

ein Eindruck, den man nur mit dem Gehör aufnimmt, ist ziemlich<br />

oberflächlich, ähnlich wie beim Radiohören. Zweitens solle jeder Einzelne<br />

die Unterweisungen so anhören, als ob sie für ihn allein gehalten<br />

würden, wie es im Idealfall auch wirklich sein sollte. <strong>Die</strong> menschliche<br />

Natur ist so beschaffen, daß sich, wenn zwei zuhören, jeder der beiden<br />

nur halb verantwortlich fühlt, und wenn zehn Menschen zuhören,<br />

jeder nur ein Zehntel der Verantwortung empfindet. Da jedoch das,<br />

was ich zu sagen habe, für Sie alle ganz das Gleiche ist, habe ich Sie<br />

gebeten, als Gruppe zu kommen. Sie müssen nichts<strong>des</strong>toweniger zuhören,<br />

als wenn Sie vollkommen allein hier wären, und sich für alles,<br />

was gesagt wird, voll verantwortlich fühlen.<br />

<strong>Die</strong>ser Lehrvortrag gliedert sich in elf Abschnitte, die innerhalb von<br />

etwa zehn Unterrichtsstunden vorgetragen werden. Der erste Abschnitt<br />

behandelt die rationale Grundlage von Zazen und die genauen<br />

Übungsmethoden, der nächste bestimmte Vorkehrungen und die weiteren<br />

gewisse Probleme, die sich aus Zazen ergeben, sowie deren<br />

Lösung.<br />

<strong>Die</strong> Kenntnis von Theorie und Prinzipien <strong>des</strong> Zazen ist eigentlich<br />

keine Vorbedingung zum Ausüben von Zazen. Wer unter einem wirklich<br />

befähigten Lehrer übt, wird sowieso diese Theorien Schritt für<br />

Schritt begreifen, wenn seine Übungen reifer werden. Schüler der<br />

heutigen Zeit werden jedoch Anweisungen nicht vorbehaltlos folgen,<br />

da sie intellektuell viel anspruchsvoller sind als ihre Vorgänger im<br />

<strong>Zen</strong>. Sie wollen zuerst die Gründe kennen, die dahinter stecken.<br />

Daher fühle ich mich verpflichtet, diese hier theoretisch darzulegen.<br />

Das Schwierige an jeder Theorie ist jedoch, daß sie kein Ende nimmt.<br />

Buddhistische Schriften, buddhistische Lehren und buddhistische Phi-<br />

57


losophie sind nichts anderes als intellektuelle Formulierungen <strong>des</strong><br />

Zazen, während Zazen als Übung deren praktische Demonstration<br />

ist. Aus diesem weiten Gebiet will ich nun das herausgreifen, was für<br />

Ihre Schulung am wichtigsten ist.<br />

Wir beginnen mit Buddha SHAKYAMUNI 29 . Wie Sie wohl alle wissen,<br />

begab er sich zuerst auf den Weg der Askese, wobei er sich vieler<br />

Martern und Entbehrungen, einschließlich überlangen Fastens, unterzog,<br />

wie es niemand vor ihm je versucht hatte. Aber Erleuchtung<br />

erlangte er mit all diesen Mitteln nicht. Als er halbtot war vor Hunger<br />

und Entbehrungen, wurde ihm klar, wie vergeblich es war, einem<br />

Weg zu folgen, der nur in den Tod münden konnte. So trank er denn<br />

die Milch, die man ihm darbot, stellte allmählich seine Gesundheit<br />

wieder her und entschloß sich, einen mittleren Weg zwischen Selbstquälerei<br />

und Selbstverwöhnung zu beschreiten. Von da an widmete<br />

er sich sechs Jahre lang 30 ausschließlich Zazen und erlangte endlich<br />

am Morgen <strong>des</strong> achten Dezember in eben dem Augenblick, da der<br />

Venusstern am östlichen Himmel glitzerte, vollkommene Erleuchtung.<br />

Wir glauben, daß all das auf historischer Wahrheit beruht.<br />

<strong>Die</strong> Worte, die der Buddha in jenem Augenblick unwillkürlich<br />

äußerte, werden in den buddhistischen Schriften verschieden wiedergegeben.<br />

Dem Kegon-Sûtra nach rief er im Augenblick der Erleuchtung<br />

spontan aus:<br />

«Wunder über Wunder! Ihrem innersten Wesen nach sind alle Geschöpfe<br />

Buddhas, begabt mit Weisheit und Vollkommenheit, da aber ihr Geist von<br />

verblendeter Unwissenheit verkehrt wurde, können sie <strong>des</strong>sen nicht innewerden.»<br />

Der erste Ausruf <strong>des</strong> Buddha bei seiner Erleuchtung scheint ein Ausdruck<br />

von Ehrfurcht und Erstaunen gewesen zu sein. Ja, wie wahr-<br />

29. <strong>Die</strong> traditionelle japanische Bezeichnung lautet: O-Shaka-Sama, was ebenso<br />

liebevoll wie ehrerbietig ist. Sama und O sind Ehrenbezeichnungen, und es dürfte<br />

besser sein, die übliche deutsche Wiedergabe zu wählen, als eine willkürliche Übersetzung<br />

zu versuchen. Siehe auch im 10. Kapitel unter «Buddha».<br />

30. Anderen Berichten zufolge sollen zwischen dem Verlassen seines Hauses und<br />

seiner vollkommenen Erleuchtung nur sechs Jahre verstrichen sein.<br />

58


haft wunderbar ist es, daß alle Menschen, ob klug oder dumm, männlich<br />

oder weiblich, häßlich oder schön, so wie sie sind, ganz und vollkommen<br />

sind! Das besagt, daß das Wesen aller Geschöpfe an sich<br />

makellos ist, vollkommen, nicht anders als das <strong>des</strong> Amida oder<br />

irgendeines anderen Buddha. <strong>Die</strong>se erste Erklärung <strong>des</strong> Buddha<br />

SHAKYAMUNI ist zugleich die letzte Schlußfolgerung <strong>des</strong> Buddhismus.<br />

Der Mensch jedoch, ruhelos und geängstigt, führt ein halb verrücktes<br />

Dasein, weil sein Geist, mit Verblendung überkrustet, völlig durcheinander<br />

ist. Wir müssen <strong>des</strong>halb zu unserer ursprünglichen Vollkommenheit<br />

zurückkehren, das falsche Abbild unserer selbst als unvollständig<br />

und sündhaft durchschauen und zu unserer immanenten Reinheit<br />

und Ganzheit erwachen.<br />

Das beste Mittel, das zu erreichen, ist Zazen. Nicht allein SHAKYA-<br />

MUNI Buddha selbst, sondern auch viele seiner Jünger erlangten<br />

Erleuchtung durch Zazen. Darüber hinaus haben in den 2500 Jahren<br />

seit Buddhas Tod unzählige Gläubige in Indien, China und Japan<br />

für sich selbst die tiefschürfendste aller Fragen «Was sind Leben und<br />

Tod?» gelöst, indem sie den gleichen Schlüssel ergriffen. Selbst heutzutage<br />

gibt es viele, denen es durch Zazen gelang, Angst und Sorge<br />

abzuschütteln und ihre Freiheit zu erringen.<br />

Zwischen einem Nyorai (d. h. einem zu höchster Vollkommenheit<br />

gelangten Buddha) und uns gewöhnlichen Menschen besteht der<br />

Wesenheit nach kein Unterschied. <strong>Die</strong>se «Wesenheit» kann man dem<br />

Wasser vergleichen. Eines der auffallendsten Merkmale <strong>des</strong> Wassers ist<br />

seine Anpassungsfähigkeit: Gießt man es in ein run<strong>des</strong> Gefäß, so<br />

wird es rund, gießt man es aber in ein eckiges, so wird es eckig. Wir<br />

besitzen die gleiche Anpassungsfähigkeit. Da wir aber in Unkenntnis<br />

unseres wahren Wesens in Banden und Fesseln leben, haben wir diese<br />

Freiheit verwirkt. Verfolgen wir diese Metapher weiter, so können<br />

wir sagen, daß der Geist <strong>des</strong> Buddha gleich einem ruhigen, tiefen und<br />

kristallklaren Wasser ist, in dem der «Mond der Wahrheit» sich ganz<br />

und vollkommen spiegelt. Der Geist <strong>des</strong> gewöhnlichen Menschen hingegen<br />

gleicht trübem Wasser, das, dauernd von den heftigen Winden<br />

verblendeten Denkens aufgewühlt, nicht mehr imstande ist, den<br />

Mond der Wahrheit zu spiegeln. Nichts<strong>des</strong>toweniger scheint der<br />

59


Mond unwandelbar auf die Wogen. Da aber die Wasser aufgerührt<br />

sind, vermögen wir seine Spiegelung nicht zu sehen. So führen wir<br />

ein Leben, das sinnlos und voller Vereitelungen ist.<br />

Wie können wir es dahin bringen, daß der Mond der Wahrheit unser<br />

Leben und unsere Persönlichkeit voll erleuchtet? Zuerst müssen wir<br />

das Wasser reinigen, die aufwallenden Wogen glätten, indem wir dem<br />

Wind der diskursiven Gedanken Einhalt gebieten. Mit anderen Worten:<br />

Wir müssen unseren Geist von dem entleeren, was das Kegon-<br />

Sûtra «begriffliches Denken <strong>des</strong> Menschen» nennt. <strong>Die</strong> meisten Menschen<br />

werten abstraktes Denken sehr hoch, aber der Buddhismus hat<br />

klar nachgewiesen, daß das unterscheidende, urteilende Denken an<br />

der Wurzel aller Verblendung sitzt. Einmal hörte ich jemanden sagen:<br />

«Das Denken ist die Krankheit <strong>des</strong> menschlichen Geistes.» Vom<br />

buddhistischen Standpunkt aus ist das ganz richtig. Sicher ist abstraktes<br />

Denken nützlich, wenn es weise angewandt wird - d. h. wenn sein<br />

Wesen und seine Grenzen recht verstanden werden -, aber solange die<br />

Menschen Sklaven ihres Intellekts sind, von ihm gefesselt und überwacht<br />

werden, solange kann man sie mit Recht als krank bezeichnen.<br />

Alle Gedanken, seien sie nun erhebend oder niederziehend, sind vergänglich<br />

und ohne Bestand. Sie haben Anfang und Ende, wie sie auch<br />

nur flüchtig bei uns verweilen. Das gilt ebenso für den Gedanken eines<br />

Zeitalters wie für den <strong>des</strong> Einzelnen. Im Buddhismus wird das Denken<br />

als «Strom von Leben-und-Tod» bezeichnet. In diesem Zusammenhang<br />

ist es wichtig, flüchtige Gedanken von festen Begriffen zu<br />

unterscheiden. Flüchtige Gedanken sind verhältnismäßig harmlos,<br />

aber Ideologien, Glaubensanschauungen, Meinungen und Standpunkte<br />

werfen jene Schatten, die uns das Licht der Wahrheit verdunkeln,<br />

ganz zu schweigen von all dem Tatsachen-Wissen, das wir seit unserer<br />

Geburt angehäuft haben und an das wir uns klammern.<br />

Solange die Winde <strong>des</strong> Denkens fortfahren, die Wasser unserer Eigentlichen<br />

Natur, unseres Selbst-Wesens aufzurühren, können wir Wahrheit<br />

nicht von Unwahrheit unterscheiden. Deshalb ist es dringend<br />

nötig, diese Winde zu beschwichtigen. Sobald sie sich legen, beruhigen<br />

sich die Wellen, das trübe Wasser klärt sich, und wir erkennen unmittelbar,<br />

daß der Mond der Wahrheit niemals aufgehört hat zu scheinen.<br />

60


Der Augenblick solcher Erkenntnis ist Kenshô, d. h. Erleuchtung, das<br />

Innewerden der wahren Substanz unseres Selbst-Wesens. Während<br />

moralische und philosophische Begriffe wandelbar sind, ist wahre<br />

Ein-Sicht unvergänglich. Nun können wir zum ersten Mal in innerem<br />

Frieden und mit Würde leben, frei von Verwirrung und Unruhe und<br />

in Harmonie mit unserer Umwelt.<br />

Ich habe über all diese Dinge hier nur kurz zu Ihnen gesprochen, aber<br />

ich hoffe, daß es mir gelungen ist, Ihnen ein Gefühl für die Bedeutung<br />

von Zazen zu vermitteln. Sprechen wir nun über die Übung selbst.<br />

Zuerst muß man sich einen ruhigen Raum zum Sitzen suchen. Legen<br />

Sie eine nicht zu weiche Polstermatte, etwa neunzig <strong>Zen</strong>timeter im<br />

Quadrat groß, auf den Boden und darauf ein kleineres run<strong>des</strong> Polster<br />

mit einem Durchmesser von etwa <strong>drei</strong>ßig <strong>Zen</strong>timetern, oder statt<strong>des</strong>sen<br />

ein flaches quadratisches Kissen, das Sie einmal in der Mitte falten.<br />

Darauf setzen Sie sich. Am besten ist es, dabei keine langen<br />

Hosen und keine Socken zu tragen, da sie uns beim Verschränken<br />

der Beine und der richtigen Lagerung der Füße behindern. Aus mancherlei<br />

Gründen ist es am besten, in der vollen Lotushaltung zu<br />

sitzen. Um den vollen Lotussitz einzunehmen, legt man den rechten<br />

Fuß auf den linken Schenkel und den linken Fuß auf den rechten<br />

Schenkel. Das Wichtigste bei dieser besonderen Sitzweise ist, daß man<br />

durch die verschränkten Beine, die mit beiden Knien die Polstermatte<br />

berühren und eine breite und feste Basis bilden, absolute Festigkeit<br />

und Gelassenheit erzielt. Wenn der Körper solchermaßen unbeweglich<br />

geworden ist, werden auch keine Gedanken mehr durch Körperbewegungen<br />

zur Tätigkeit angeregt, und man kommt geistig leichter zur<br />

Ruhe.<br />

Wenn es für Sie zu schmerzhaft und dadurch zu schwierig ist, in der<br />

vollen Lotushaltung zu sitzen, so nehmen Sie die halbe Lotushaltung<br />

ein, wobei der linke Fuß auf dem rechten Schenkel ruht. Wer an das<br />

Sitzen mit verschränkten Beinen nicht gewöhnt ist, dem wird es sogar<br />

noch schwerfallen, auch nur diese Stellung durchzuhalten. Sie werden<br />

wahrscheinlich auch feststellen, daß es schwierig ist, die beiden Knie<br />

unten auf der Matte zu halten; man wird wieder und wieder eines<br />

oder auch beide Knie hinunterdrücken müssen, bis sie schließlich dort<br />

61


leiben. Bei der halben wie bei der vollen Lotushaltung kann man die<br />

Lage der Füße wechseln, wenn sie ermüden.<br />

Wer diese beiden herkömmlichen Zazen-Haltungen höchst unbequem<br />

findet, kann auf die traditionelle japanische Sitzweise zurückgreifen,<br />

bei der man kniend auf den Fersen und Waden sitzt. <strong>Die</strong>se Haltung<br />

kann man länger aushalten, wenn man ein Kissen zwischen die Fersen<br />

und das Gesäß legt, noch besser, wenn man im Knien auf einem<br />

festen Polster rittlings sitzt. <strong>Die</strong>se Haltung hat den Vorteil, daß man<br />

dabei den Rücken gut aufrecht halten kann. Sollten sich jedoch all<br />

diese Stellungen als zu schmerzhaft erweisen, so benutzen Sie einen<br />

Stuhl 31 .<br />

Als nächstes legt man die rechte Hand, Handfläche nach oben, in den<br />

Schoß und die linke, ebenfalls mit der Handfläche nach oben, in die<br />

Handfläche der rechten. Dabei berühren sich die Daumenspitzen<br />

leicht, so daß von Handflächen und Daumen ein abgeflachter Kreis<br />

gebildet wird. <strong>Die</strong> rechte Seite <strong>des</strong> Körpers ist die aktive, die linke<br />

die passive. Um das höchste Maß an Stille zu erreichen, unterdrückt<br />

man daher die aktive Seite, indem man den linken Fuß und die linke<br />

Hand auf die rechten Gliedmassen legt. Wenn Sie eine Buddha-Statue<br />

betrachten, so werden Sie jedoch bemerken, daß die Haltung der<br />

Gliedmassen gerade umgekehrt ist. Das bedeutet, daß ein Buddha zum<br />

Unterschied von uns allen aktiv darauf hin wirkt, andere zu retten.<br />

Wenn Sie die Beine verschränkt haben, beugen Sie sich nach vorn,<br />

wobei gleichzeitig das Gesäß nach hinten gedrückt wird, und bringen<br />

den Rumpf dann langsam wieder in eine aufrechte Stellung. Der<br />

Kopf muß gerade gehalten werden. Von der Seite gesehen, sollen<br />

sich die Ohren in einer Linie mit den Schultern und die Nasenspitze<br />

in einer Linie mit dem Nabel befinden. Der Körper soll von der<br />

Taille an aufwärts schwerelos und frei von Druck oder Anspannung<br />

sein. Halten Sie die Augen offen und den Mund geschlossen. <strong>Die</strong><br />

Zungenspitze soll hinten an den Oberzähnen leicht anliegen. Wenn<br />

man die Augen schließt, fällt man leicht in einen dumpfen und träumerischen<br />

Zustand. Der Blick soll gesenkt sein, ohne auf etwas<br />

3l. Siehe die Skizzen all dieser Haltungen, einschließlich der in den buddhistischen<br />

Ländern Südost-Asiens vielfach geübten, im 9. Kapitel.<br />

62


Bestimmtes gerichtet zu sein. <strong>Die</strong> Erfahrung hat gelehrt, daß der<br />

Geist am ruhigsten und am wenigsten müde oder angespannt ist, wenn<br />

die Augen in dieser Weise gesenkt werden.<br />

<strong>Die</strong> Wirbelsäule muß jederzeit aufrecht gehalten werden. <strong>Die</strong>se<br />

Ermahnung ist besonders wichtig. Wenn der Körper zusammensackt,<br />

werden nicht nur die inneren Organe einem unzulässigen Druck ausgesetzt<br />

und ihre Funktionen behindert, sondern die Wirbel können<br />

auch durch Druck auf die Nerven Überanstrengungen verschiedener<br />

Art hervorrufen. Da Körper und Geist eins sind, wirkt sich jegliche<br />

Schwächung der Körperfunktionen auch auf den Geist aus. <strong>Die</strong> zu<br />

wirksamer geistiger Konzentration so wesentliche Klarheit und die<br />

Fähigkeit, den Geist in einem Punkt zu sammeln, werden beeinträchtigt.<br />

Vom rein psychologischen Standpunkt aus gesehen, ist eine steife<br />

Haltung, aufgerichtet wie ein La<strong>des</strong>tock, ebenso unerwünscht wie<br />

eine schlaffe Haltung. <strong>Die</strong> eine ergibt sich aus unbewußtem Stolz, die<br />

andere aus innerer Schwäche, und da beide im Ich begründet sind,<br />

bilden beide gleichermaßen ein Hindernis auf dem Wege zur Erleuchtung.<br />

Achten Sie darauf, den Kopf aufrecht zu halten; wenn er sich nach<br />

vorn, nach hinten oder zur Seite neigt und geraume Zeit in solcher<br />

Stellung verharrt, kann man leicht einen Krampf im Nacken<br />

bekommen.<br />

Wenn Sie sich in der richtigen Haltung zurechtgesetzt haben, holen<br />

Sie tief Atem, halten ihn einen Augenblick an und atmen dann langsam<br />

und gleichmäßig wieder aus. Wiederholen Sie das, stets durch die<br />

Nase atmend, zwei- bis <strong>drei</strong>mal. Dann atmen Sie in ganz natürlicher<br />

Weise. Wenn Sie sich an die Haltung gewöhnt haben, genügt ein<br />

einziger tiefer Atemzug zu Beginn. Nun beugen Sie den Körper zuerst<br />

so weit als möglich nach rechts, dann nach links, etwa sieben bis acht<br />

mal, zuerst in großen Bögen, dann in immer kleineren, bis der Rumpf<br />

auf der vertikalen Mittelachse von selbst zur Ruhe kommt.<br />

Jetzt kann man mit der inneren Konzentration beginnen 32 . Von<br />

unseren Vorgängern im <strong>Zen</strong> sind uns viele gute Konzentrationsmetho-<br />

32. Siehe weitere Angaben über geistige Konzentration (oft besser: «Sammlung»<br />

oder «Versenkung») auf S. 186-187 und besonders S. 480.<br />

63


den überliefert worden. Für Anfänger ist es am leichtesten, die Atemzüge<br />

beim Ein- und Ausatmen zu zählen. Der Wert gerade dieser<br />

Übung liegt darin, daß alle Überlegungen ausgeschaltet werden und<br />

das unterscheidende Denken zur Ruhe gebracht wird. So werden die<br />

Wogen der Gedanken geglättet, und man erreicht allmählich, daß der<br />

Geist sich auf einen Punkt sammelt. Am Anfang zählen Sie die Atemzüge<br />

sowohl beim Einatmen wie beim Ausatmen. Wenn Sie einatmen,<br />

so konzentrieren Sie sich auf «eins», wenn Sie ausatmen, auf «zwei»<br />

usw. bis zehn. Dann beginnen Sie wieder mit «eins» und zählen wieder<br />

bis zehn und wiederholen das immer wieder. Es ist ganz einfach.<br />

Wie ich schon vorhin betont habe, bilden flüchtige Gedanken, die uns<br />

ganz selbstverständlich durch den Sinn gehen, an sich kein Hindernis.<br />

Darüber ist man sich leider im allgemeinen nicht klar. Sogar unter<br />

Japanern, die fünf und mehr Jahre lang <strong>Zen</strong> geübt haben, gibt es<br />

viele, die die <strong>Zen</strong>-Übung irrtümlicherweise für ein Ausschalten <strong>des</strong><br />

Bewußtseins halten. Es gibt zwar wirklich eine Art Zazen, die gerade<br />

das anstrebt 33 , aber dabei handelt es sich nicht um das herkömmliche<br />

Zazen <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>-Buddhismus. Sie müssen sich darüber klar sein, daß<br />

Sie, wie intensiv Sie auch die Atemzüge zählen mögen, immer noch<br />

wahrnehmen werden, was in Ihrer Blickrichtung liegt, da Ihre Augen<br />

ja geöffnet sind, und Geräusche um sich her hören werden, da Ihre<br />

Ohren ja nicht verstopft sind. Und da Ihr Gehirn gleichfalls nicht<br />

schläft, werden sich allerhand Gedanken in Ihrem Kopf tummeln.<br />

Aber sie bedeuten an sich keine Hemmung und werden die Wirksamkeit<br />

von Zazen nur dann herabsetzen, wenn man sie als «gut» oder<br />

«schlecht» wertet und sich dementsprechend an sie klammert oder<br />

versucht, sie loszuwerden. Sehen Sie all diese Wahrnehmungen und<br />

Empfindungen nicht als Behinderung für Zazen an, versuchen Sie<br />

aber andererseits auch nicht, ihnen nachzuhängen. Das möchte ich<br />

betonen. Solches «Nachhängen» besteht einfach darin, daß Ihr Blick<br />

beim Sehvorgang an den Objekten hängen bleibt, beim Hören die<br />

Aufmerksamkeit bei den Geräuschen verweilt und beim Denkvorgang<br />

Ihr Verstand sich an Ideen heftet. Wenn man sich auf solche<br />

33. Siehe S. 79-80.<br />

64


Weise ablenken läßt, wird die Konzentration auf die Atemzüge<br />

beeinträchtigt. Also noch einmal: Lassen Sie Gedanken kommen und<br />

gehen, wie sie wollen; liebäugeln Sie nicht damit, und versuchen Sie<br />

auch nicht, sie abzuweisen; konzentrieren Sie sich vielmehr mit aller<br />

Energie auf das Zählen der Atemzüge beim Ein- und Ausatmen.<br />

Wenn Sie Ihre Zazen-Übung beenden, so stehen Sie nicht jählings auf,<br />

sondern beginnen Sie damit, sich von einer Seite zur anderen zu wiegen,<br />

zuerst in kleinen Schwingungen, dann in immer größeren, insgesamt<br />

etwa sechsmal. Wie Sie sehen, werden diesmal die Bewegungen<br />

in umgekehrter Reihenfolge wie am Anfang vorgenommen. Erheben<br />

Sie sich langsam, und gehen Sie mit den anderen in jener Zazen-Gangart,<br />

die wir kinhin nennen, herum.<br />

Beim Kinhin legt man die rechte Faust mit eingeschlagenem Daumen<br />

vor die Brust und bedeckt sie mit der linken Handfläche. Dabei bilden<br />

die Ellbogen einen rechten Winkel. Halten Sie die Unterarme so,<br />

daß sie miteinander eine horizontale Gerade bilden, den Körper aufrecht<br />

und die Augen auf einen Punkt knapp zwei Meter vor den<br />

Füßen gerichtet. Dabei fahren Sie fort, Ihre Atemzüge beim Ein- und<br />

Ausatmen zu zählen, während Sie langsam im Raum umhergehen.<br />

Machen Sie den ersten Schritt mit dem linken Fuß, und gehen Sie so,<br />

daß der Fuß gleichsam in den Boden einsinkt. Dabei setzen Sie den<br />

Fuß mit der Ferse auf und rollen ihn zu den Zehen hin ab. Schreiten<br />

Sie ruhig und gleichmäßig mit Haltung und Würde dahin. Sie dürfen<br />

nicht geistesabwesend herumgehen, sondern müssen sich gespannten<br />

Geistes auf das Zählen konzentrieren. Es ist ratsam, diese Geh-Übung<br />

je<strong>des</strong>mal min<strong>des</strong>tens fünf Minuten lang zu machen, wenn man zwanzig<br />

bis <strong>drei</strong>ßig Minuten gesessen hat.<br />

Sie müssen dieses Schreiten als Zazen in Bewegung auffassen. <strong>Die</strong> Art<br />

<strong>des</strong> Kinhin weicht bei Rinzai und Sôtô beträchtlich voneinander ab.<br />

Nach der Rinzai-Methode geht man lebhaft und energisch herum,<br />

während man nach traditionellem Sôtô-Stil langsam und gemächlich<br />

schreitet, wobei man bei jedem Atemzug nur einen kleinen Schritt<br />

von etwa fünfzehn <strong>Zen</strong>timetern macht. Mein eigener Lehrer, HARADA<br />

Rôshi, befürwortete eine Gangart, die etwa in der Mitte zwischen diesen<br />

beiden liegt, und das ist diejenige, die wir hier üben. Außerdem<br />

65


edeckt man bei der Rinzai-Sekte die rechte Hand mit der linken,<br />

bei der orthodoxen Sôtô-Sekte liegt hingegen die rechte Hand obenauf.<br />

HARADA Rôshi hielt die Rinzai-Methode, bei der die linke Hand<br />

zuoberst liegt, für geeigneter, und so übernahm er sie in seine eigene<br />

Lehre. Nun lockert sich zwar beim Gehen die Steifheit in den Beinen,<br />

aber das sollte nur als Nebenergebnis und nicht als Hauptzweck <strong>des</strong><br />

Kinhin erachtet werden. Daher sollen jene unter Ihnen, die die Atemzüge<br />

zählen, das beim Kinhin weiterführen, und jene, die an einem<br />

Kôan arbeiten, sollen damit fortfahren.<br />

Damit sind wir am Ende unserer ersten Unterrichtsstunde angekommen.<br />

Zählen Sie weiterhin die Atemzüge in der angegebenen Weise,<br />

bis Sie wieder vor mir erscheinen.<br />

2. Stunde: Vorkehrungen beim Zazen<br />

Nun möchte ich, daß Sie Ihre Atemübung ein wenig ändern. Heute<br />

morgen wies ich Sie an, beim Einatmen «eins», beim Ausatmen<br />

«zwei» zu zählen usw. Von jetzt ab sollen Sie nur beim Ausatmen<br />

«eins» zählen, so daß ein voller Atemzug (Ein- und Ausatmung)<br />

«eins» ergibt. Kümmern Sie sich nicht um die Einatmung; zählen Sie<br />

einfach beim Ausatmen «eins», «zwei», «<strong>drei</strong>» usw.<br />

Es ist ratsam, beim Zazen einer Wand, einem Vorhang oder etwas<br />

Ähnlichem gegenüberzusitzen. Setzen Sie sich nicht zu weit von der<br />

Wand entfernt hin und auch nicht so, daß Sie die Wand dicht vor<br />

der Nase haben; am besten ist eine Entfernung von sechzig bis neunzig<br />

<strong>Zen</strong>timetern. Setzen Sie sich nicht dorthin, wo Sie einen weiten<br />

Blick haben, denn das lenkt Sie ab, und auch nicht an einen Platz,<br />

von dem aus man auf eine hübsche Landschaft blickt, denn das bringt<br />

Sie nur in Versuchung, Zazen zu unterbrechen und die Landschaft<br />

zu bewundern. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich ins<br />

Gedächtnis zu rufen, daß die Augen zwar offen sind, doch nicht, um<br />

etwas zu sehen. Aus all diesen Gründen ist es am weisesten, sich mit<br />

dem Gesicht zur Wand zu setzen. Wenn Sie jedoch einmal an einer<br />

regelrechten Zazen-Übung in einem Rinzai-Tempel teilnehmen, so<br />

66


leibt Ihnen nichts anderes übrig, als den anderen Teilnehmern gegenüber<br />

zu sitzen, wie das der feste Brauch bei dieser Sekte ist.<br />

Suchen Sie sich am Anfang wenn irgend möglich einen Raum, der<br />

nicht allein ruhig, sondern auch sauber und ordentlich ist, einen<br />

Raum, den Sie als heilig ansehen können. Man mag sich fragen, ob<br />

es angeht, Zazen auf einem Bett zu üben, solange nur der Raum<br />

sauber und still ist. Für einen normalen, gesunden Menschen lautet<br />

die Antwort: Nein. Es gibt vielerlei Gründe, warum es schwierig ist,<br />

auf einem Bett die rechte innere Spannung aufrechtzuerhalten. Ein<br />

Kranker hat natürlich keine andere Wahl.<br />

Sie werden wohl bald herausfinden, daß natürliche Geräusche wie die<br />

von Insekten, Vögeln oder fließendem Wasser Sie nicht stören,<br />

ebensowenig wie das rhythmische Ticken einer Uhr oder das Surren<br />

eines Motors. Plötzliche Geräusche hingegen, wie das Aufheulen eines<br />

Düsenflugzeuges, gehen einem auf die Nerven. Aber rhythmische<br />

Geräusche können einem von Nutzen sein. Einer meiner Schüler fand<br />

tatsächlich Erleuchtung, indem er sich das stetige Geräusch <strong>des</strong> Reisdreschens<br />

zunutze machte, während er Zazen übte. <strong>Die</strong> nachteiligsten<br />

Laute sind die der menschlichen Stimme, ob sie nun unmittelbar oder<br />

über Radio und Fernsehen zu uns dringen. Deshalb soll man sich als<br />

Anfänger einen Raum suchen, der von solchen Geräuschen abgelegen<br />

ist. Wenn Sie später im Zazen weiter fortgeschritten sind, werden Sie<br />

sich von keinerlei Geräusch mehr gestört fühlen.<br />

Sie sollten Ihren Raum nicht nur sauber und ordentlich halten, sondern<br />

ihn auch mit Blumen schmücken und Räucherwerk dort anzünden,<br />

da all das ein Gefühl von etwas Reinem und Heiligem vermittelt<br />

und es Ihnen leichter macht, sich in Zazen hineinzufinden und<br />

damit schneller zu Ruhe und Sammlung zu kommen. Tragen Sie einfache,<br />

bequeme Kleidung, die Ihnen ein Gefühl von Würde und Reinheit<br />

gibt. Übt man am Abend, so ist es besser, nicht schon Nachthemd<br />

oder Schlafanzug zu tragen. Wenn es aber bei Hitze die Frage ist,<br />

entweder im Schlafanzug Zazen zu üben oder überhaupt nicht zu<br />

üben, dann tragen Sie nur den Schlafanzug. Aber richten Sie sich<br />

sauber und ordentlich her.<br />

Der Raum sollte weder zu hell noch zu dunkel sein. Wenn er zu<br />

67


hell ist, kann man einen dunklen Vorhang vors Fenster ziehen, und<br />

wenn es Nacht ist, kann man eine kleine Glühbirne brennen lassen.<br />

Ein dunkler Raum hat die gleiche Wirkung wie das Schließen der<br />

Augen: er stumpft einen ab. Das Beste ist ein gedämpftes Licht. Denken<br />

Sie daran, daß man beim buddhistischen Zazen nicht danach strebt,<br />

das Bewußtsein außer Tätigkeit zu setzen, sondern danach, es inmitten<br />

aller Tätigkeit zur Ruhe zu bringen und zu einen.<br />

Ideal ist ein Raum, der weder zu heiß im Sommer, noch zu kalt im<br />

Winter ist. Es geht beim Zazen nicht darum, den Körper zu züchtigen;<br />

daher ist es überflüssig, gegen außerordentliche Hitze oder Kälte<br />

anzukämpfen. <strong>Die</strong> Erfahrung hat jedoch gelehrt, daß man Zazen besser<br />

üben kann, wenn es etwas kühl ist. In einem zu warmen Zimmer<br />

wird man leicht schläfrig. Je mehr sich Ihre Hingabe an Zazen vertieft,<br />

<strong>des</strong>to gleichgültiger werden Sie natürlich Hitze und Kälte gegenüber.<br />

Es ist in<strong>des</strong>sen weise, auf die Gesundheit achtzugeben.<br />

Sprechen wir nun als nächstes über die Tageszeit, die zum Üben von<br />

Zazen am geeignetsten ist. Für den, der voller Eifer und Entschlossenheit<br />

ist, sind alle Tages- und Jahreszeiten gleich gut. Für diejenigen<br />

aber, die beruflich arbeiten, ist die beste Zeit morgens oder abends<br />

oder noch besser bei<strong>des</strong>. Versuchen Sie, jeden Morgen zu üben, möglichst<br />

vor dem Frühstück, und abends kurz ehe Sie zu Bett gehen.<br />

Wenn Sie aber nur einmal am Tag sitzen können — und einmal sollten<br />

Sie es min<strong>des</strong>tens tun -, dann müssen Sie die jeweiligen Vorteile von<br />

Morgen und Abend gegeneinander abwägen. Beide haben sowohl Vorals<br />

auch Nachteile. Wenn Ihnen Morgen und Abend für Ihre Übungen<br />

gleich geeignet erscheinen, Sie aber nur einmal sitzen können, so<br />

möchte ich Ihnen den Morgen empfehlen, und zwar aus folgenden<br />

Gründen: Frühmorgens kommen keine Besucher, abends hingegen laufen<br />

Sie Gefahr, unterbrochen zu werden. Zudem ist es am Morgen viel<br />

ruhiger als am Abend, zumin<strong>des</strong>t in der Großstadt, da der Straßenverkehr<br />

dann schwächer ist. Und schließlich sind Sie morgens ausgeruht<br />

und etwas hungrig, in einer guten Verfassung für Zazen, während<br />

Sie am Abend, wenn Sie müde sind und gegessen haben, in einem<br />

dumpferen Zustand sein dürften. Da es schwierig ist, mit vollem<br />

Magen Zazen zu üben, ist es für Anfänger besser, nicht unmittelbar<br />

68


nach einer Mahlzeit zu sitzen. Vor einer Mahlzeit hingegen ist es<br />

recht günstig zu üben. Wenn sich Ihr Eifer steigert, dann ist es gleich,<br />

wann Sie Zazen sitzen: vor, nach oder auch während einer Mahlzeit.<br />

Wie lange sollte man jeweils ohne Unterbrechung Zazen sitzen? Dafür<br />

gibt es keine allgemein gültige Regel, denn die Zeitdauer richtet sich<br />

nach dem Eifer <strong>des</strong> Einzelnen und nach dem Reifegrad seines Übens.<br />

Für Anfänger ist eine kurze Zeitspanne besser. Wenn Sie ein bis zwei<br />

Monate lang täglich fünf Minuten hingebungsvoll Zazen üben, wird<br />

in Ihnen mit wachsendem Eifer der Wunsch erwachen, die Übungsdauer<br />

auf zehn oder mehr Minuten auszudehnen. Wenn Sie fähig<br />

sind, etwa <strong>drei</strong>ßig Minuten lang gespannten Geistes ohne Schmerzen<br />

und Unbehagen zu sitzen, werden Sie das Gefühl von Ruhe und<br />

Wohlsein, wie Zazen es hervorruft, schätzen lernen, und Sie werden<br />

den Wunsch haben, weiterhin regelmäßig zu üben. Aus diesen Gründen<br />

empfehle ich Anfängern kurze Zeitspannen. Würden Sie sich hingegen<br />

von Anfang an zu einem längeren Zeitraum zwingen, könnten<br />

die Schmerzen in Ihren Beinen, noch ehe Sie zu geistiger Stille gekommen<br />

sind, unerträglich werden. Sie würden <strong>des</strong> Zazen schnell überdrüssig<br />

werden und das Gefühl bekommen, daß Sie damit nur Ihre<br />

Zeit vertrödeln, oder auch dauernd auf die Uhr sehen. Schließlich<br />

bekämen Sie einen Widerwillen gegen Zazen und hörten mit dem Sitzen<br />

überhaupt auf. Das geschieht recht häufig. Wenn Sie nun aber<br />

jeden Tag nur etwa zehn Minuten sitzen, so können Sie die Kürze der<br />

Zeit dadurch ausgleichen, daß Sie sich besonders intensiv auf das<br />

Zählen je<strong>des</strong> Atemzuges konzentrieren und dadurch die Wirksamkeit<br />

steigern. Sie dürfen keinesfalls geistesabwesend oder mechanisch zählen,<br />

als sei das alles nur eine lästige Pflicht.<br />

Auch wenn Sie eine Stunde oder noch länger mit einem Gefühl köstlich<br />

heiterer Ruhe sitzen können, ist es doch vernünftiger, die Sitzdauer<br />

auf jeweils <strong>drei</strong>ßig bis vierzig Minuten zu beschränken. Es ist<br />

gemeinhin nicht ratsam, Zazen noch länger ohne Unterbrechung zu<br />

üben, da die geistige Spannkraft nachläßt und damit der Wert <strong>des</strong><br />

Sitzens abnimmt. Ob man es nun spürt oder nicht, die Intensität der<br />

geistigen Konzentration wird doch allmählich schwächer. Aus diesem<br />

Grunde ist es besser, abwechselnd <strong>drei</strong>ßig bis vierzig Minuten zu<br />

69


sitzen und eine Runde Zazen zu gehen. Ja, wenn man dieser Methode<br />

folgt, kann man einen ganzen Tag oder gar eine Woche lang mit<br />

guten Ergebnissen Zazen üben. Je länger man jedoch Zazen sitzt,<br />

<strong>des</strong>to mehr Zeit sollte man auf das Zazen-Gehen verwenden. Ja, es<br />

ist gut, sogar Zeiten körperlicher Arbeit einzuschieben, wie man es<br />

seit alters in den <strong>Zen</strong>-Tempeln tut. Es ist klar, daß man solche Arbeiten<br />

mit wacher Aufmerksamkeit durchführen muß und nicht nachlässig<br />

oder stumpf dabei werden darf.<br />

Ein Wort über das Essen. Es ist besser, nicht mehr als achtzig Prozent<br />

<strong>des</strong>sen zu essen, was man essen könnte. Ein japanisches Sprichwort<br />

sagt, daß bei gefülltem Magen acht von zehn Teilen den Menschen<br />

erhalten, die anderen beiden Teile den Arzt. Im Zazen Yôjinki (Vorkehrungen<br />

beim Zazen), das vor rund 650 Jahren zusammengestellt<br />

wurde, heißt es, daß man nur zwei Drittel <strong>des</strong> Fassungsvermögens<br />

essen solle, und weiterhin, daß man nahrhafte Gemüse wählen solle<br />

(natürlich entspricht es der Tradition <strong>des</strong> Buddhismus, kein Fleisch<br />

zu essen, und es war ganz tabu, als das Yôjinki geschrieben wurde),<br />

z. B. Gebirgskartoffeln, Sesam, saure Pflaumen, schwarze Bohnen,<br />

Pilze und Lotuswurzeln. Es empfiehlt auch verschiedene Arten von<br />

Seealgen, die sehr nahrhaft sind und zudem einen alkalischen Rückstand<br />

im Körper hinterlassen. Nun bin ich zwar kein Fachmann auf<br />

dem Gebiet der Vitamine, Mineralien und Kalorien, aber es steht fest,<br />

daß die Speisenwahl der meisten Menschen von heute zuviel Säure im<br />

Blut erzeugt. In dieser Hinsicht richtet vor allem das Fleisch viel<br />

Schaden an. Essen Sie mehr Gemüse der schon erwähnten Arten, die<br />

alkalisch wirken. In alter Zeit gab es eine yang-yin-Diät. Dabei war<br />

Yang das Alkalische, Yin das Saure; und die alten Bücher warnen vor<br />

einer Diät, die zu sehr yang oder zu sehr yin ist.<br />

Es ist gut, beim Sitzen ein Notizbuch und einen Bleistift vor sich zu<br />

haben, denn mancherlei Einsichten werden in Ihrem Bewußtsein aufleuchten,<br />

und Sie werden denken: «Das muß ich mir aufschreiben,<br />

ehe ich es vergesse.» Beziehungen, die bislang unbegreiflich waren,<br />

werden Ihnen plötzlich klar, und schwierige Probleme werden plötzlich<br />

gelöst sein. Wenn Sie sich dergleichen nicht notieren, wird es Sie<br />

beunruhigen und Ihre Konzentration beeinträchtigen.<br />

70


3. Stunde: Täuschende Erscheinungen und Empfindungen<br />

Ehe ich beginne, möchte ich Ihnen eine neue Konzentrationsaufgabe<br />

geben. Anstatt wie bisher die Atemzüge beim Ausatmen zu zählen,<br />

zählen Sie von nun an «eins» beim ersten Einatmen, «zwei» beim<br />

nächsten usw. bis zehn. Das ist schwieriger, als beim Ausatmen zu<br />

zählen, da alle geistige und körperliche Tätigkeit beim Ausatmen<br />

durchgeführt wird. So atmen z. B. Tiere kurz vor dem Ansprung ein.<br />

<strong>Die</strong>ses Prinzip ist beim kendô (= Weg <strong>des</strong> Schwertes) und beim judô<br />

recht bekannt. Dabei lernt man, daß man den Angriff <strong>des</strong> Gegners<br />

voraussehen kann, wenn man genau auf <strong>des</strong>sen Atmung achtet.<br />

Obgleich die neue Übung schwierig ist, müssen Sie doch versuchen, sie<br />

als weitere Förderung geistiger Sammlung durchzuführen. Ehe Sie<br />

wieder vor mir erscheinen, zählen Sie also die Atemzüge beim Einatmen<br />

und zwar nicht hörbar, sondern still für sich.<br />

Wer Zazen übt, der erlebt in einem bestimmten Stadium seiner Praxis<br />

leicht gewisse Phänomene, die man makyô nennt: Gesichte, Halluzinationen,<br />

phantastische Vorstellungen, Offenbarungen oder täuschende<br />

Empfindungen. Ma heißt «Teufel» und kyô «die objektive Welt».<br />

Makyô sind also die störenden oder «teuflischen» Phänomene, die<br />

uns beim Zazen erscheinen. An sich sind diese Phänomene nicht böse.<br />

Sie werden nur dann zu einem ernsten Hindernis beim Üben, wenn<br />

man ihr wahres Wesen nicht kennt und sich von ihnen bestricken<br />

läßt.<br />

Man wendet das Wort Makyô in einem allgemeinen und in einem<br />

besonderen Sinn an. Ganz allgemein gesagt, ist das gesamte Leben der<br />

gewöhnlichen Menschen nichts als Makyô. Sogar Bodhisattvas wie<br />

MONJU und KANNON haben bei all ihrer hohen Entfaltung doch noch<br />

Spuren von Makyô an sich; sonst würden sie ja erhabene Buddhas<br />

sein, völlig frei von Makyô. Auch wer an dem haftet, was er im<br />

Satori geschaut hat, verweilt noch in der Welt der Makyô. Sie sehen<br />

also, daß sogar noch nach der Erleuchtung Makyô auftreten.<br />

Auch die Zahl der im besonderen Sinn <strong>des</strong> Wortes als Makyô bezeichneten<br />

Erscheinungen ist schier unbegrenzt. Sie sind je nach Persönlichkeit<br />

und Temperament <strong>des</strong> Übenden verschieden. Im Ryogon (Śūran-<br />

7l


gama)-Sûtra warnt der Buddha vor fünfzig verschiedenen Arten,<br />

wobei er natürlich nur die üblichsten erwähnt. Wenn Sie an einem<br />

Sesshin von etwa fünf bis sieben Tagen teilnehmen und voll und ganz<br />

darin aufgehen, werden Sie vermutlich am dritten Tage Makyô von<br />

verschiedener Intensität erleben. Außer Makyô in Form von Gesichten<br />

gibt es viele, die Geruchs-, Gehör- oder Tastsinn betreffen. Andere<br />

wieder veranlassen den Körper zu Bewegungen; so wiegt er sich z. B.<br />

von Seite zu Seite, oder vor und zurück, oder man lehnt sich nach<br />

einer Seite, oder man hat das Gefühl zu sinken oder in die Höhe zu<br />

steigen. Seltener kommt es vor, daß man einen besonders aromatischen<br />

Duft zu riechen vermeint. Es gibt auch Fälle, da man, ohne sich<br />

<strong>des</strong>sen bewußt zu sein, etwas aufschreibt, was sich später als prophetisch<br />

wahr erweist.<br />

Visuelle Halluzinationen sind besonders häufig. Während man Zazen<br />

mit offenen Augen übt, fangen plötzlich die Ränder der Strohmatten<br />

vor einem an, sich wogenartig auf und ab zu bewegen. Oder es wird<br />

alles vor Ihren Augen gänzlich unvermittelt schwarz oder weiß. Eine<br />

Aststelle im Holz einer Tür mag einem plötzlich als Tier, Dämon<br />

oder Engel erscheinen. Einer meiner Schüler hatte oft Gesichte von<br />

Masken und zwar von Teufels- oder Narrenmasken. Ich fragte ihn,<br />

ob er einmal ein besonderes Erlebnis mit Masken gehabt hätte. Es<br />

kam dabei heraus, daß er sie als Kind bei einem Fest in Kyushu 34<br />

gesehen hatte. Ein anderer wurde bei seinen Übungen durch Visionen<br />

<strong>des</strong> Buddha und seiner Jünger äußerst beunruhigt; sie umschritten<br />

ihn und rezitierten Sûtras dabei. Er konnte diese Halluzinationen nur<br />

dadurch loswerden, daß er für ein bis zwei Minuten in eine Wanne<br />

mit eiskaltem Wasser stieg.<br />

Viele Makyô betreffen das Gehör. Man hört vielleicht den Ton eines<br />

Klaviers oder ein lautes Geräusch, wie das einer Explosion (das aber<br />

sonst niemand hört), so daß man buchstäblich hochfährt. Einer meiner<br />

Schüler hörte beim Zazen immer den Ton der Bambusflöte. Viele<br />

Jahre zuvor hatte er einmal gelernt, Bambusflöte zu spielen, hatte es<br />

aber schon lange aufgegeben. Dennoch tauchte der Klang beim Sitzen<br />

immer wieder in ihm auf.<br />

34. die südlichste der großen Inseln Japans.<br />

72


Im Zazen Yôjinki finden wir folgen<strong>des</strong> über Makyô:<br />

«Der Körper kann sich heiß oder kalt, glasartig, hart, schwer oder leicht<br />

anfühlen. Das tritt ein, weil die Atmung nicht in rechter Harmonie (mit<br />

dem Geist) ist; sie muß sorgfältig geregelt werden.»<br />

Und weiterhin:<br />

«Man mag das Gefühl <strong>des</strong> Sinkens oder Dahintreibens haben; man kann<br />

sich auch abwechselnd benebelt und höchst wach fühlen. Der Schüler mag<br />

auch wohl die Fähigkeit entwickeln, durch feste Gegenstände hindurchzusehen,<br />

als ob sie durchsichtig wären. Er mag auch den eigenen Körper als<br />

durchscheinende Masse empfinden. Er kann Buddhas und Bodhisattvas<br />

sehen. Durchdringende Einsichten mögen ihm plötzlich kommen, oder ein<br />

besonders schwer verständlicher Abschnitt aus einem Sûtra wird ihm mit<br />

einem Male leuchtend klar. All diese ungewöhnlichen Erscheinungen und<br />

Empfindungen sind lediglich Symptome einer Beeinträchtigung, wie sie sich<br />

aus einem mangelhaften Zusammenspiel von Geist und Atmung ergibt.»<br />

Andere Religionen und Sekten messen solchen Erfahrungen, die Visionen<br />

von Gott, Hören himmlischer Stimmen, Wunder-Tun, Empfangen<br />

göttlicher Botschaften oder Läuterung durch mancherlei Riten<br />

einschließen, großen Wert bei. So ruft z. B. der Gläubige der NICHI-<br />

REN-Sekte den Namen <strong>des</strong> Lotus-Sûtra wieder und wieder mit lauter<br />

Stimme an, was er mit heftigen Körperbewegungen begleitet, und er<br />

hat dann das Gefühl, sich dadurch von seinen Verfehlungen gereinigt<br />

zu haben. Solche Praktiken rufen zwar in verschiedenem Ausmaß ein<br />

Gefühl <strong>des</strong> Wohlseins hervor; vom Standpunkt <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> aus sind das<br />

jedoch alles nur krankhafte Zustände, bar jeder wirklich religiösen<br />

Bedeutung und daher nichts als Makyô.<br />

Was ist nun die eigentliche Natur dieser störenden Phänomene, die<br />

wir Makyô nennen? Es handelt sich dabei um vorübergehende mentale<br />

Zustände, die sich beim Zazen dann einstellen, wenn sich unsere<br />

Fähigkeit zur Sammlung bis zu einem gewissen Grade entwickelt hat<br />

und unsere Übungsweise an Reife gewinnt. Wenn Gedankenwellen,<br />

die an der Oberfläche der sechsten Bewußtseinsebene kommen und<br />

gehen, schon teilweise geglättet sind, tauchen plötzlich Rückstände<br />

vergangener Erlebnisse, die sich auf der siebenten und achten Bewußt-<br />

73


seinsebene «aufgehalten» haben, hier und da an der Oberfläche <strong>des</strong><br />

Bewußtseins auf und vermitteln uns das Gefühl einer größeren und<br />

ausgedehnteren Wirklichkeit. So sind also Makyô ein Gemisch aus<br />

Wirklichem und Unwirklichem, ähnlich wie gewöhnliche Träume.<br />

Nun kommen Träume nur dann vor, wenn man halb schläft, halb<br />

wach ist, aber nicht, wenn man im Tiefschlaf liegt; ebenso kommen<br />

Makyô nicht zu dem, der sich in tiefer Konzentration oder im<br />

samâdhi befindet. Lassen Sie sich nie dazu verführen, solche Phänomene<br />

für wirklich zu halten oder zu glauben, daß diese Gesichte an<br />

sich irgendeine Bedeutung hätten. Wenn Sie eine schöne Vision von<br />

einem Bodhisattva haben, so bedeutet das durchaus nicht, daß Sie<br />

näher daran sind, selbst einer zu werden, wie ja auch der Traum, daß<br />

man ein Millionär sei, durchaus nicht bedeutet, daß man beim Aufwachen<br />

etwa reicher wäre. Es liegt also kein Grund vor, sich durch<br />

ein derartiges Makyô erhoben zu fühlen. Desgleichen gibt es keinen<br />

Grund zur Bestürzung, wenn Ihnen Ungeheuer erscheinen, mögen sie<br />

auch noch so schrecklich sein. Lassen Sie sich vor allen Dingen von<br />

Visionen von Buddhas oder Göttern, die Sie segnen oder Ihnen göttliche<br />

Botschaften übermitteln, nicht verführen und ebensowenig von<br />

Makyô prophetischen Inhalts, der sich als wahr erweist. Damit würden<br />

Sie nur Ihre Kräfte auf der törichten Jagd nach Nebensächlichkeiten<br />

verschwenden.<br />

In<strong>des</strong>sen sind solche Visionen gewiß ein Zeichen dafür, daß Sie im<br />

Zazen an einem entscheidenden Punkt angekommen sind und mit<br />

Sicherheit Kenshô erleben können, wenn Sie sich aufs äußerste anstrengen.<br />

Der Überlieferung nach hat sogar SHAKYAMUNI Buddha<br />

kurz vor seinem eigenen Erwachen unzählige Makyô erlebt, die er<br />

«versperrende Teufel» nannte. Wann auch immer Makyô auftreten,<br />

nehmen Sie keine Notiz davon, sondern fahren Sie mit aller Kraft im<br />

Zazen fort.<br />

74


4. Stunde: <strong>Die</strong> fünf Arten <strong>des</strong> <strong>Zen</strong><br />

Ich werde Ihnen nun die verschiedenen Arten <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> darlegen.<br />

Wenn Sie nicht lernen, sie zu unterscheiden, dürften Sie sich in entscheidenden<br />

Punkten irren, so z.B. hinsichtlich der Frage, ob beim<br />

<strong>Zen</strong> Satori notwendig sei oder nicht, ob <strong>Zen</strong> das gänzliche Fehlen<br />

alles diskursiven Denkens bedeute, und dergleichen mehr. <strong>Die</strong><br />

Wahrheit ist, daß es unter den vielen Arten <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> einige gibt,<br />

die tiefgründig sind, und andere, die seicht sind, einige, die zur<br />

Erleuchtung führen, und andere, die das nicht tun. Man sagt, daß<br />

es zu Buddhas Zeiten neunzig oder fünfundneunzig Schulen der<br />

Philosophie und Religion gegeben habe. Jede dieser Schulen hatte<br />

ihren besonderen <strong>Zen</strong>-Modus, wobei jeder ein wenig von den anderen<br />

abwich.<br />

Alle großen Religionen haben gewisse Züge mit <strong>Zen</strong> gemeinsam, da<br />

jede Religion <strong>des</strong> Gebets und je<strong>des</strong> Gebet geistiger Sammlung bedarf.<br />

<strong>Die</strong> Lehren von KUNG-TZE und MENG-TZE, LAO-TZE und CHUANG-TZE,<br />

sie alle enthalten eigene <strong>Zen</strong>-Elemente. So erstreckt sich <strong>Zen</strong> auch<br />

auf verschiedene Gebiete <strong>des</strong> Lebens, und wir finden es bei der Teezeremonie<br />

(cha-dô = Weg <strong>des</strong> Tees), beim Nô-Spiel, Ken-dô oder<br />

Ju-dô. In Japan sind seit der MEIJI-Restauration, also seit knapp hundert<br />

Jahren, eine Reihe von Lehr- und Schulungsmethoden entstanden,<br />

die <strong>Zen</strong>-Elemente enthalten. <strong>Die</strong>se Entwicklung setzt sich bis<br />

zum heutigen Tage fort. Ich erinnere unter anderem an OKADAS<br />

System ruhigen Sitzens und EMMAS Methode zur Schulung von Geist<br />

und Körper. Vor kurzem hat ein gewisser TEMPU NAKAMURA eine Art<br />

indisches Yoga-<strong>Zen</strong> propagiert. All diese verschiedenen Konzentrationsmethoden,<br />

schier unbegrenzt an Zahl, finden sich unter dem<br />

umfassenden Titel: <strong>Zen</strong>. Ich will hier nicht versuchen, auf alle im<br />

einzelnen einzugehen, sondern vielmehr über die fünf wichtigsten<br />

Kategorien <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> sprechen, wie sie von KEIHO <strong>Zen</strong>ji, einem der<br />

frühen <strong>Zen</strong>-Meister in China, klassifiziert wurden, und die meiner<br />

Ansicht nach noch immer gültig und nützlich sind. Äußerlich gesehen,<br />

unterscheiden sich diese fünf <strong>Zen</strong>-Arten kaum voneinander. Es gibt<br />

vielleicht geringe Abweichungen beim Verschränken der Beine, dem<br />

75


Ineinanderlegen der Hände oder der Regelung <strong>des</strong> Atems. Aber allen<br />

sind folgende <strong>drei</strong> Grundelemente gemeinsam: aufrechte Sitzhaltung,<br />

Regelung <strong>des</strong> Atems und geistige Konzentration. In Gehalt und Ziel<br />

dieser verschiedenen Arten gibt es jedoch ausgesprochene Unterschiede,<br />

die sich besonders Anfänger merken sollten. <strong>Die</strong>se Unterscheidungen<br />

sind wichtig für Sie, denn sie werden Ihnen helfen, Ihr<br />

Ziel klar zu definieren, wenn Sie einzeln vor mir erscheinen und mir<br />

sagen sollen, was Sie anstreben. Ich kann Ihnen dann umso besser<br />

die Übung zuweisen, die Ihnen angemessen ist.<br />

<strong>Die</strong> erste dieser Arten nennen wir bonpu oder gewöhnliches <strong>Zen</strong>, im<br />

Gegensatz zu den vier anderen, von denen jede als eine besondere<br />

Art <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> aufgefaßt werden kann, die in ihrer jeweiligen Eigenart<br />

den besonderen Zielen <strong>des</strong> Einzelnen entspricht. Bonpu-<strong>Zen</strong> ist für alle<br />

und jeden, da es frei von jeglichem philosophischen und religiösen<br />

Gehalt ist. <strong>Die</strong>ses <strong>Zen</strong> übt man einzig und allein in dem Glauben,<br />

daß es die körperliche und geistige Gesundheit fördern kann. Da es<br />

fast mit Sicherheit keine nachteiligen Wirkungen hat, kann jedermann<br />

es üben, welche Glaubensanschauungen er auch haben mag, und selbst<br />

dann, wenn er gar keine hat. Durch Bonpu-<strong>Zen</strong> werden auf jeden<br />

Fall Krankheiten psychosomatischer Art verschwinden, und der allgemeine<br />

Gesundheitszustand wird sich heben.<br />

Wenn man Bonpu-<strong>Zen</strong> übt, so lernt man sich konzentrieren und die<br />

seelisch-geistigen Vorgänge überwachen. <strong>Die</strong> meisten Menschen kommen<br />

gar nicht auf den Gedanken, auch nur den Versuch einer solchen<br />

seelisch-geistigen Kontrolle zu machen. Leider gehört diese grundsätzliche<br />

Schulung nicht zu unserem heutigen Erziehungssystem, da es<br />

nicht unter das, was wir «Erwerben von Kenntnissen» nennen, fällt.<br />

Doch ohne diese Schulung können wir nur schwer behalten, was wir<br />

lernen, da wir es auf unrichtige Weise lernen, wobei wir viel Kraft<br />

unnütz vergeuden. Ja, wir sind im Grunde genommen Krüppel,<br />

solange wir unsere Gedanken nicht zu zügeln, uns geistig nicht zu<br />

sammeln wissen. Wenn Sie diese ausgezeichnete Methode geistiger<br />

Schulung üben, werden Sie auch merken, daß Sie in zunehmendem<br />

Maße Versuchungen widerstehen können, denen Sie bislang erlegen<br />

sind, und sich von Bindungen lösen können, denen Sie lange hörig<br />

76


waren. Bereicherung der Persönlichkeit und Stärkung <strong>des</strong> Charakters<br />

folgen unausweichlich, da sich die <strong>drei</strong> geistig-seelischen Grundelemente,<br />

Verstand, Gefühl und Wille, in Harmonie miteinander entwickeln.<br />

Bei dem quietistischen Sitzen, wie man es im Konfuzianismus<br />

geübt hat, scheint man vor allem auf diese Wirkungen geistiger<br />

Sammlung Gewicht gelegt zu haben. Es steht jedoch fest, daß Bonpu-<br />

<strong>Zen</strong>, obgleich es sich weit segensreicher auf die geistige Entwicklung<br />

auswirkt als das Lesen zahlloser Bücher über Ethik und Philosophie,<br />

die Grundprobleme <strong>des</strong> Menschen und seiner Beziehung zum Weltall<br />

nicht lösen kann. Warum? Weil es die verblendete Grundvorstellung<br />

<strong>des</strong> Menschen, daß er selbst etwas gänzlich anderes sei als das Weltall,<br />

nicht auflösen kann.<br />

<strong>Die</strong> zweite der fünf <strong>Zen</strong>-Arten wird gedô genannt. Gedô heißt wörtlich<br />

übersetzt «Weg außerhalb», d. h. Lehren folgend, die außerhalb<br />

der buddhistischen liegen. Hier haben wir es mit einem <strong>Zen</strong> zu tun,<br />

das zwar in einer Beziehung zu Philosophie und Religion steht, jedoch<br />

kein buddhistisches <strong>Zen</strong> ist. Hindu-Yoga, das quietistische Sitzen im<br />

Konfuzianismus und christliche Kontemplationsübungen könnte man<br />

auch zur Kategorie <strong>des</strong> Gedô-<strong>Zen</strong> zählen.<br />

Ein anderes Charakteristikum von Gedô-<strong>Zen</strong> besteht darin, daß es<br />

oft geübt wird, um mancherlei übernatürliche Kräfte und Fähigkeiten<br />

zu entwickeln, oder um gewisse, außerhalb der Reichweite <strong>des</strong> normalen<br />

Menschen liegende Künste zu meistern. Ein gutes Beispiel dafür<br />

bietet TEMPU NAKAMURA, den ich schon vorhin erwähnt habe. Man<br />

sagt, daß er Menschen zum Handeln veranlassen kann, ohne daß er<br />

selbst auch nur einen Muskel bewegte oder ein Wort spräche. Das<br />

Ziel der EMMA-Methode ist es, Kunststücke, wie z. B. das Barfußgehen<br />

auf scharfen Schwertschneiden fertigzubringen, oder das<br />

Anstarren von Spatzen, so daß sie gelähmt werden. All diese wunderbaren<br />

Heldentaten kommen durch die Entwicklung von Jôriki zustande,<br />

jener besonderen Kraft oder Macht, die sich durch angestrengtes<br />

Üben geistiger Konzentration einstellt. Ich werde darüber später noch<br />

im einzelnen sprechen. Hier möchte ich nur daran erinnern, daß ein<br />

<strong>Zen</strong>, das einzig und allein die Ausbildung von Jôriki um solcher Ziele<br />

willen anstrebt, kein buddhistisches <strong>Zen</strong> ist.<br />

77


Ein weiteres Ziel <strong>des</strong> Gedô-<strong>Zen</strong> ist die Wiedergeburt in verschiedenen<br />

Himmeln. Gewisse Hindu-Sekten üben <strong>Zen</strong>, um im Himmel wiedergeboren<br />

zu werden. Das ist nicht das Ziel <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>-Buddhismus.<br />

Obgleich der <strong>Zen</strong>-Buddhismus an der Vorstellung verschiedener Himmelssphären<br />

nichts auszusetzen hat und ebensowenig an dem Glauben,<br />

daß man dort auf Grund der zehn Arten verdienstvoller Werke<br />

wiedergeboren werden kann, verlangt ihn selbst doch nicht nach Wiedergeburt<br />

im Himmel. <strong>Die</strong> Bedingungen dort sind bei weitem zu<br />

angenehm und bequem, und so kann man nur allzu leicht dazu verführt<br />

werden, von Zazen abzulassen. Im übrigen kann man, wenn<br />

unsere Verdienste im Himmel abgegolten sind, nur allzu leicht wieder<br />

in der Hölle landen! Deshalb halten es <strong>Zen</strong>-Buddhisten für erstrebenswerter,<br />

in die Welt der Menschen hineingeboren zu werden und<br />

dort Zazen zu üben mit dem Ziel, ein Buddha zu werden.<br />

Damit möchte ich für heute schließen; in der nächsten Stunde werde<br />

ich das Thema der fünf <strong>Zen</strong>-Arten zu Ende führen.<br />

5. Stunde: <strong>Die</strong> fünf Arten <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> (Fortsetzung)<br />

Ehe ich zu den anderen <strong>drei</strong> Arten <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> übergehe, möchte ich<br />

Ihnen eine weitere Methode zur Konzentration geben: das Verfolgen<br />

<strong>des</strong> Atems mit dem geistigen Auge. Hören Sie einstweilen damit auf,<br />

die Atemzüge zu zählen, und folgen Sie statt<strong>des</strong>sen den ein- und ausgehenden<br />

Atemzügen mit gespannter Aufmerksamkeit. Dabei versuchen<br />

Sie, sich die Atemzüge anschaulich vorzustellen. Üben Sie das,<br />

bis Sie wieder zu mir kommen.<br />

<strong>Die</strong> dritte Art <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> ist shôjô, was wörtlich übersetzt «Kleines<br />

Fahrzeug» (Hīnayâna) heißt. Bei dieser Lehre handelt es sich um das<br />

«Fahrzeug», das Sie aus einer Geistesverfassung, der Verblendung,<br />

zu einer anderen, der Erleuchtung, bringen soll. Man nennt es «Kleines<br />

Fahrzeug», da es so angelegt ist, daß es nur einen selbst «unterbringen»<br />

kann, etwa einem Fahrrad vergleichbar. Das «Große Fahrzeug»,<br />

Mahâyâna, hingegen ist eher einem Auto oder einem Bus zu<br />

vergleichen, die beide zusätzlich noch andere Menschen aufnehmen<br />

78


können. Somit ist shôjô eine Form <strong>des</strong> Zazen, bei der man nur auf<br />

den eigenen inneren Frieden bedacht ist.<br />

Hier haben wir es also mit einem <strong>Zen</strong> zu tun, das zwar buddhistisch<br />

ist, sich aber nicht in Übereinstimmung mit den höchsten Lehren <strong>des</strong><br />

Buddha befindet. Es ist vielmehr ein Notbehelf für jene, die die tiefste<br />

Bedeutung von Buddhas Erleuchtung nicht erfassen können, die nicht<br />

zu erkennen vermögen, daß alles Seiende ein untrennbares Ganzes ist<br />

und daß ein jeder von uns das Weltall in seiner Ganzheit umschließt.<br />

Da das die Wahrheit ist, so folgt daraus, daß wir zu keinem echten inneren<br />

Frieden gelangen können, wenn wir nur unsere eigene Erleuchtung<br />

suchen und dabei dem Wohl anderer gleichgültig gegenüberstehen.<br />

Es gibt jedoch Menschen, die sich einfach nicht dazu aufraffen können,<br />

an die Wirklichkeit der Welt als eines untrennbaren Ganzen zu<br />

glauben. Wie oft man sie auch lehren mag, daß die Welt der Relativität<br />

und Unterscheidungen, an die sie sich klammern, eine Täuschung,<br />

das Produkt ihrer irrigen Sicht ist, so können sie doch nur das<br />

Gegenteil davon glauben. Solchen Menschen kann die Welt nur als<br />

durch und durch böse erscheinen, voller Sünde, Kampf und Leiden,<br />

erfüllt von Töten und Getötet-Werden. In ihrer Verzweiflung versuchen<br />

sie, all dem zu entrinnen. Ja, selbst der Tod scheint ihnen<br />

besser als solch ein Leben. Nun ist die schlimmste aller Sünden die<br />

Vernichtung <strong>des</strong> Lebens, in welcher Form und unter was für Umständen<br />

auch immer, da es einen nach dem unausweichlichen Gesetz <strong>des</strong><br />

Karma zu grenzenlosen Leiden verurteilt, wie zur Wiedergeburt als<br />

Tier oder Dämon in zahllosen künftigen Existenzen. Der bloße Tod<br />

ist also noch kein Ende. Sie suchen daher einen Weg, um jeglicher<br />

Wiedergeburt zu entgehen, eine Art und Weise zu sterben, ohne wiedergeboren<br />

zu werden.<br />

Shôjô-<strong>Zen</strong> bietet eine Lösung dieses Problems. Sein Ziel ist es, alle<br />

Gedanken anzuhalten, so daß der Geist gänzlich verödet und in einen<br />

Zustand übergeht, den man mushinjô nennt, eine Verfassung, bei der<br />

alle Sinneswahrnehmungen ausgelöscht sind und das Bewußtsein aussetzt.<br />

Durch Übung kann jeder diese Fähigkeit entwickeln. Wenn<br />

kein Wunsch zu sterben besteht, so kann man sich auf begrenzte Zeit<br />

in diesen trance-ähnlichen Zustand versetzen - sagen wir, für ein bis<br />

79


zwei Stunden oder auch für ein bis zwei Tage. Man kann aber auch<br />

unbegrenzt darin verweilen; dann tritt der Tod natürlich und<br />

schmerzlos ein und vor allem ohne Wiedergeburt, was das Wichtigste<br />

dabei ist. In dem buddhistisch-philosophischen Werk Kusharon wird<br />

der gesamte Vorgang dieses Sterbens ohne Wiedergeburt in allen Einzelheiten<br />

erörtert.<br />

<strong>Die</strong> vierte Art <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> nennt man daijô, «Großes Fahrzeug» (Mahâyâna).<br />

Das ist wahrhaft buddhistisches <strong>Zen</strong>, denn sein zentrales<br />

Anliegen ist Kenshô-godô, d. h. Schau ins eigene innerste Wesen und<br />

Verwirklichung <strong>des</strong> Großen Weges im Alltag. Der Buddha lehrte<br />

diese Art <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> für jene, die imstande sind, die Tragweite seiner<br />

eigenen Erleuchtung zu begreifen, und die voll Verlangen sind, ihre<br />

eigene trügerische Auffassung vom Weltganzen zu durchbrechen und<br />

zur absoluten, unzerteilten Wirklichkeit durchzudringen. Der Buddhismus<br />

ist seinem Wesen nach eine Religion der Erleuchtung. Nach<br />

seinem eigenen Satori-Erlebnis verbrachte der Buddha etwa fünfzig<br />

Jahre damit, die Menschen zu lehren, wie auch sie zur Erkenntnis<br />

ihres eigentlichen Wesens gelangen könnten. Seine Methoden wurden<br />

vom Meister auf den Schüler übermittelt, bis zum heutigen Tag. Somit<br />

kann man sagen, daß ein <strong>Zen</strong>, das Satori unbeachtet läßt oder herabsetzt,<br />

kein wahres Daijô-buddhistisches <strong>Zen</strong> ist.<br />

Bei der Übung <strong>des</strong> Daijô-<strong>Zen</strong> ist das erste Ziel, zum eigenen Wahren<br />

Wesen zu erwachen. Nach der Erleuchtung aber begreift man, daß<br />

Zazen mehr ist als ein Mittel, Erleuchtung zu erlangen. Es ist vielmehr<br />

selbst schon die Vergegenwärtigung <strong>des</strong> uns innewohnenden<br />

Wahren Wesens. Bei dieser Art <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>, das Satori-Erwachen zum<br />

Ziel hat, kann man leicht Zazen einzig als Weg und Mittel ansehen.<br />

Ein weiser Lehrer wird von Anfang an auf diese Gefahr hinweisen.<br />

Wäre Zazen nichts als eine Technik, Erleuchtung zu erlangen, so<br />

würde daraus folgen, daß nach Satori Zazen überflüssig ist. Aber das<br />

Gegenteil trifft zu, wie DÔGEN <strong>Zen</strong>ji dargelegt hat: Je tiefer man<br />

Satori erlebt, <strong>des</strong>to mehr begreift man die Notwendigkeit zu üben 35 .<br />

Saijôjô, die letzte der fünf Arten <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>, ist das höchste Fahrzeug,<br />

35. Siehe S. 384.<br />

80


Höhepunkt und Krönung <strong>des</strong> buddhistischen <strong>Zen</strong>. <strong>Die</strong>ses <strong>Zen</strong> wurde<br />

von allen Buddhas der Vergangenheit geübt, so von SHAKYAMUNI und<br />

auch AMIDA -, und es ist der Ausdruck <strong>des</strong> Absoluten Lebens, <strong>des</strong><br />

Lebens in seiner reinsten Form. Es ist jenes Zazen, für das DÔGEN<br />

<strong>Zen</strong>ji vor allem eintrat. Hier gibt es kein Ringen um irgend etwas,<br />

nicht einmal um Satori. Wir nennen es Shikantaza. Ich werde in<br />

einer der nächsten Stunden näher darauf eingehen.<br />

Bei dieser höchsten Form der Übung sind Weg und Ziel in eins verschmolzen.<br />

Daijô-<strong>Zen</strong> und Saijôjô-<strong>Zen</strong> ergänzen einander. <strong>Die</strong> Rinzai-Sekte<br />

stellt Daijô an die Spitze und Saijôjô darunter, während die<br />

Sôtô-Sekte es umgekehrt hält. Beim Saijôjô-<strong>Zen</strong> sitzt man, wenn man<br />

es richtig übt, in der festen Überzeugung, daß Zazen die Vergegenwärtigung<br />

<strong>des</strong> eigenen makellosen Wahren Wesens ist, und gleichzeitig<br />

sitzt man im festen Glauben, daß der Tag kommen wird, da<br />

man mit dem Ausruf «Ach, das ist es!» dieses Wahre Wesen klar<br />

erkennt. Man braucht daher nicht im Bewußtsein seiner selbst um<br />

Erleuchtung zu ringen.<br />

Heutzutage sind viele Anhänger der Sôtô-Sekte der Ansicht, daß<br />

Satori überflüssig sei, da wir alle von Natur Buddhas sind. Das ist<br />

ein ungeheuerlicher Irrtum, und er hat Shikantaza, das eigentlich die<br />

höchste Form <strong>des</strong> Zazen darstellt, zu nichts als Bonpu-<strong>Zen</strong>, der ersten<br />

der fünf Arten, degradiert.<br />

Damit schließe ich die Darstellung der fünf Arten <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>. Aber<br />

meine Darlegung wäre unvollständig, besonders hinsichtlich der letzten<br />

beiden Arten, wollte ich Ihnen nicht zudem über die <strong>drei</strong> Ziele<br />

<strong>des</strong> <strong>Zen</strong> berichten.<br />

6. Stunde: <strong>Die</strong> <strong>drei</strong> Ziele <strong>des</strong> <strong>Zen</strong><br />

Zazen hat <strong>drei</strong> Ziele: 1. Entwicklung der Kraft der Konzentration<br />

(Jôriki), 2. Satori-Erwachen (Kenshô-godô) und 3. Verwirklichung<br />

<strong>des</strong> Erhabenen Weges im täglichen Leben (mujôdô-no taigen). <strong>Die</strong>se<br />

<strong>drei</strong> bilden eine unauflösliche Einheit. Zum Zweck der Erörterung<br />

jedoch muß ich sie einzeln behandeln.<br />

81


Jôriki ist die Macht oder Stärke, die dann erwächst, wenn der Geist<br />

durch Konzentration geeint und in eine Spitze gesammelt ist. Das ist<br />

mehr als Konzentrationsfähigkeit im üblichen Sinn <strong>des</strong> Wortes. Es ist<br />

eine dynamische Kraft, die uns, einmal in Bewegung gesetzt, dazu<br />

befähigt, in gänzlich unvorhergesehenen Situationen blitzschnell zu<br />

handeln, wie es den Gegebenheiten am besten entspricht, ohne erst<br />

nachsinnend innezuhalten. Wer Jôriki entwickelt hat, ist nicht länger<br />

ein Sklave seiner Leidenschaften, noch ist er der Umwelt preisgegeben.<br />

Stets Meister über sich und die Umstände seines Lebens, vermag<br />

er sich mit völliger Freiheit und Gelassenheit zu bewegen. Durch<br />

Jôriki ist auch die Ausbildung gewisser übernatürlicher Kräfte möglich,<br />

wie auch das Eintreten in jenen Zustand, da der Geist gleich<br />

klarem, stillem Wasser ist.<br />

<strong>Die</strong> ersten beiden der fünf Arten <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>, über die ich gesprochen<br />

habe, sind ganz und gar von Jôriki abhängig, ebenso der Zustand <strong>des</strong><br />

Mushinjô beim shôjô-<strong>Zen</strong> - jene Verfassung, bei der die Bewußtseinsfunktionen<br />

bis zu völliger geistiger Verödung erlöschen. Während nun<br />

die Kraft <strong>des</strong> Jôriki durch regelmäßiges Üben endlos anwachsen<br />

kann, nimmt sie doch ab und verschwindet schließlich, wenn wir<br />

Zazen vernachlässigen. Und obgleich viele außerordentliche Kräfte<br />

aus Jôriki hervorgehen, so können wir durch Jôriki allein doch nicht<br />

unsere trügerische Weltschau mit den Wurzeln ausrotten. <strong>Die</strong> Kraft<br />

der Konzentration allein ist für die höchsten Arten <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> nicht<br />

ausreichend; das Satori-Erwachen muß hinzukommen. In einem<br />

wenig bekannten Dokument, das uns vom Patriarchen SEKITÔ KISEN,<br />

dem Gründer einer der ersten <strong>Zen</strong>-Sekten, überliefert wurde, steht<br />

folgen<strong>des</strong>:<br />

«In unserer Sekte steht die Verwirklichung <strong>des</strong> Buddha-Wesens an der<br />

Spitze und nicht bloße Andachtsübungen oder Konzentrationskräfte.»<br />

Das zweite Ziel ist Kenshô-godô, die Schau <strong>des</strong> eigenen Wahren<br />

Wesens und gleichzeitig die Schau in den Wesensgrund <strong>des</strong> Weltalls<br />

mit «all den zehntausend Dingen» darin. Es ist die plötzliche<br />

Erkenntnis: «Ich bin von allem Anbeginn an ganz und vollkommen.<br />

Wie wunderbar, wie voller Wunder!» Wenn es sich um echtes<br />

82


Kenshô handelt, ist es seiner Substanz nach immer gleich, wer immer<br />

es auch erleben möge, sei es nun SHAKYAMUNI Buddha, Buddha Amida<br />

oder irgendeiner von Ihnen, die Sie hier im Tempel versammelt sind.<br />

Das bedeutet jedoch nicht, daß wir alle Kenshô auch im gleichen Ausmaß<br />

erleben können; an Klarheit, Tiefe und Vollständigkeit gibt es<br />

große Unterschiede. Stellen Sie sich zur Veranschaulichung einen von<br />

Geburt an Blinden vor, der ganz allmählich seine Sehkraft erlangt.<br />

Zuerst kann er nur ganz verschwommen einige Gegenstände in seiner<br />

Nähe wahrnehmen. Wenn seine Sehkraft sich weiter bessert,<br />

ist er fähig, Dinge zu unterscheiden, die ungefähr einen Meter von<br />

ihm entfernt sind, später Dinge auf zehn Meter Entfernung, dann auf<br />

hundert Meter, und schließlich kann er alles bis auf eine Entfernung<br />

von tausend Metern erkennen. In jedem dieser Stadien ist die Welt<br />

der Erscheinungen, die er sieht, die gleiche, aber die Unterschiede an<br />

Klarheit und Genauigkeit seiner Sicht sind so groß wie die zwischen<br />

Schnee und Kohle. Genau so ist es mit den Unterschieden an Klarheit<br />

und Tiefe bei dem Erlebnis <strong>des</strong> Kenshô.<br />

Das letzte der <strong>drei</strong> Ziele ist Mujôdô-no Taigen, die Verwirklichung<br />

<strong>des</strong> Erhabenen Weges mit unserem gesamten Sein in all unseren täglichen<br />

Verrichtungen. Auf dieser Stufe unterscheiden wir nicht mehr<br />

Zweck und Mittel. <strong>Die</strong>sem Stadium entspricht Saijôjô, über das ich als<br />

fünfte und höchste der fünf <strong>Zen</strong>-Arten gesprochen habe. Wenn Sie<br />

gemäß den Unterweisungen eines befähigten Meisters ernsthaft und<br />

«ichlos» sitzen, den Sinn frei von Gedanken, so daß er gleichsam<br />

ein reines, weißes, von keinem Flecken verunstaltetes Blatt Papier<br />

darstellt - jedoch bei vollem Bewußtsein -, entfaltet sich Ihr von<br />

Natur reines Buddha-Wesen, ob Sie nun Satori erlebt haben oder<br />

nicht. Hier muß jedoch betont werden, daß Sie nur durch echte<br />

Erleuchtung der Wahrheit Ihres Buddha-Wesens unmittelbar innewerden<br />

können. Damit auch begreifen Sie erst ganz, daß Saijôjô, die<br />

reinste Form <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>, sich nicht von dem unterscheidet, was alle<br />

Buddhas übten.<br />

Da diese <strong>drei</strong> Ziele in Wechselwirkung stehen, sollte die Ausübung<br />

von buddhistischem <strong>Zen</strong> alle <strong>drei</strong> umfassen. So gibt es z. B. eine wichtige<br />

Verbindung von Jôriki und Kenshô. Kenshô ist die «sich Jôriki<br />

83


natürlich zugesellende Weisheit», d. h. jenes Wissen, das aus Versenkung<br />

erwächst. Jôriki ist noch auf andere Weise mit Kenshô verbunden.<br />

Viele Menschen könnten niemals Kenshô erreichen, wenn sie<br />

nicht vorher ein gewisses Maß von Jôriki entwickelt hätten, da sie<br />

sonst zu rastlos, zu nervös und unsicher sind, um beharrlich mit Zazen<br />

fortzufahren. Zudem wird eine einzige Kenshô-Erfahrung keine nennenswerte<br />

Wirkung auf unser Leben haben und zu bloßer Erinnerung<br />

verblassen, wenn sie nicht durch Jôriki gestützt wird. Obgleich<br />

Sie durch das Kenshô-Erlebnis die dem Kosmos zugrunde liegende<br />

Einheit mit Ihrem geistigen Auge geschaut haben, sind Sie doch ohne<br />

Jôriki nicht imstande, mit der ganzen Kraft Ihres Seins im Sinne<br />

<strong>des</strong>sen zu handeln, was Ihre innere Schau Ihnen offenbart hat.<br />

So gibt es auch eine Wechselbeziehung zwischen Kenshô und dem<br />

dritten der Ziele, Mujôdô-no Taigen. Wenn Kenshô sich in all Ihren<br />

Handlungen auswirkt, so ist es Mujôdô-no Taigen. Durch vollkommene<br />

Erleuchtung (anuttarā samyak-samhodhi) begreifen wir auch,<br />

daß unsere Begriffsvorstellung von einer Welt der Zweiheit und<br />

Gegensätze falsch ist, und gleichzeitig offenbart sich uns die Welt der<br />

unbedingten Einheit, echter Harmonie und wahren Friedens.<br />

In der Rinzai-Sekte ist man geneigt, das Satori-Erwachen zum Endzweck<br />

von Zazen zu machen, und man gleitet flüchtig über Jôriki und<br />

Mujôdô-no Taigen hinweg. Damit wird die Notwendigkeit, auch<br />

nach der Erleuchtung zu üben, auf ein Min<strong>des</strong>tmaß beschränkt. <strong>Die</strong><br />

Arbeit an einem Kôan wird, anstatt zur Ausweitung und Stärkung<br />

<strong>des</strong> Satori zu dienen, im Wesentlichen zu einem intellektuellen Spiel,<br />

da sie nicht von Zazen getragen wird und mit dem Alltag kaum in<br />

Verbindung steht.<br />

Andererseits tritt man in den offiziellen Kreisen der Sôtô-Sekte für<br />

eine Übungsweise ein, bei der die Betonung auf Mujôdô-no Taigen<br />

liegt, was in Wirklichkeit jedoch nur auf eine Anreicherung von<br />

Jôriki hinausläuft, das, wie ich schon gesagt habe, «leck» ist, abnimmt<br />

und schließlich ganz verschwindet, wenn man Zazen nicht regelmäßig<br />

weiterführt. <strong>Die</strong> Behauptung der Sôtô-Sekte, daß Kenshô<br />

unnötig sei und daß man nichts weiter zu tun habe, als die täglichen<br />

Verrichtungen im Geist <strong>des</strong> Buddha zu erledigen, ist trügerisch, da Sie<br />

84


ohne Kenshô nie wirklich wissen können, was denn dieser Buddha-<br />

Geist ist.<br />

<strong>Die</strong>se mangelnde Ausgewogenheit innerhalb beider Sekten 36 hat leider<br />

in jüngster Zeit den Wert der <strong>Zen</strong>-Lehre beeinträchtigt.<br />

7. Stunde: Dokusan (individuelle Unterweisung)<br />

Fahren Sie mit der Übung fort, die ich Ihnen das letzte Mal gab;<br />

konzentrieren Sie sich also weiterhin auf die ein- und ausgehenden<br />

Atemzüge, und bemühen Sie sich, jeden Atemzug deutlich zu sehen.<br />

<strong>Die</strong> heutige Unterweisung befaßt sich mit Dokusan. Dokusan bietet<br />

Ihnen die Möglichkeit, allein vor dem Rôshi alle Probleme vorzubringen,<br />

die die Übung betreffen. <strong>Die</strong>ser Brauch der individuellen Unterweisung<br />

nahm mit dem hochverehrten SHAKYAMUNI selbst seinen<br />

Anfang und wurde ununterbrochen bis zum heutigen Tage fortgeführt.<br />

Das ist uns bekannt, da einer der großen Tendai-Meister,<br />

CHISHA DAISHI, in seiner systematischen Einteilung aller Sûtras in<br />

Acht Lehrweisen und Fünf Zeitabschnitte die Geheime Belehrung aufführt,<br />

die dem Dokusan entspricht.<br />

Ohne diese individuelle Anleitung kann man die Zazen-Übung nicht<br />

als authentisch ansprechen. Leider ist Dokusan seit der MEIJI-Zeit<br />

vor etwa hundert Jahren in der Sôtô-Sekte praktisch ausgestorben; sie<br />

lebt nur noch in der Rinzai-Sekte weiter. Wenn wir Zazen mit einer<br />

Wanderung vergleichen, bei der einige am Anfang eilen und später<br />

ihr Tempo verlangsamen, andere langsam beginnen und später ihren<br />

Schritt beschleunigen, bei der einigen ein Abschnitt <strong>des</strong> Weges gefährlicher<br />

vorkommt als ein anderer, und bei der alle verschieden schwe-<br />

36. Folgen<strong>des</strong> aus einem unveröffentlichten Manuskript <strong>des</strong> verstorbenen NYOGEN<br />

SENZAKI mag als poetische Beschreibung der Unterschiede von Rinzai und Sôtô<br />

von Interesse sein: «Unter <strong>Zen</strong>-Schülern heißt es: ,<strong>Die</strong> Rinzai-Lehre ist wie der<br />

Frost im Spätherbst, der einen frösteln macht, während die Sôtô-Lehre dem Frühlingswind<br />

gleicht, der die Blumen liebkost und ihnen zum Blühen verhilft.' Ein<br />

anderes Sprichwort lautet: ,<strong>Die</strong> Rinzai-Lehre ist einem tapferen General gleich,<br />

der sein Regiment unverzüglich in Marsch setzt, während die Sôtô-Lehre einem<br />

Bauern gleicht, der sein Reisfeld versorgt - geduldig, Halm für Halm.'»<br />

85


es Gepäck (d. h. vorgefaßte Meinungen) tragen, dann verstehen wir<br />

allmählich, warum man auf individuelle Anleitung durch Dokusan<br />

nicht verzichten kann.<br />

Man mag fragen, warum es denn nötig sei, Dokusan geheim zu halten.<br />

Da nichts Unmoralisches im Spiele ist, warum kann es nicht offen<br />

und öffentlich sein? Erstens einmal sind wir, da wir gewöhnliche, ichbehaftete<br />

Menschen sind, geneigt, uns in Gegenwart von anderen besser<br />

zu machen, als wir sind. Wir können unsere Seele nicht entblößen<br />

und sozusagen nackt dastehen. So zögern wir auch, die volle<br />

Wahrheit zu sagen, aus Furcht, ausgelacht zu werden. Wenn der<br />

Rôshi uns schilt und dabei harte Worte gebraucht, kümmern wir uns<br />

mehr um den Eindruck, den das auf die anderen macht, als daß wir<br />

ihm offenen Sinnes zuhörten.<br />

Es gibt noch einen weiteren Grund für die Zurückgezogenheit beim<br />

Dokusan. Nach Ihrer ersten Kenshô-Erfahrung schreiten Sie mit<br />

wachsendem Verständnis von Kôan zu Kôan fort. Wären nun andere<br />

zugegen, wenn Sie diese Kôans demonstrieren, dann würden sie vielleicht,<br />

wenn sie die Antworten <strong>des</strong> Rôshi hören, denken: ,Ach, das<br />

ist also die Antwort!' ohne die Tragweite <strong>des</strong> Kôans ganz zu verstehen.<br />

Es ist klar, daß das ihrem Üben schaden würde; denn anstatt<br />

selbst den inneren Sinn zu erfahren und ihn vor dem Rôshi darzulegen,<br />

würden sie sich erinnern, daß die eine Antwort annehmbar<br />

war, die andere aber nicht, und so würde ihre Kôan-Schulung zu<br />

ihrem eigenen Nachteil auf einen bloßen Denkvorgang herabsinken.<br />

Aus all diesen Gründen sollten Sie Schweigen wahren, wenn jemand<br />

Sie nach einem Kôan fragt, das er selbst noch nicht bewältigt hat.<br />

Unverantwortliches Reden kann noch andere schädliche Folgen<br />

haben. So können sich z. B. Gerüchte verbreiten, daß man beim<br />

Dokusan grausam geschlagen wird, was <strong>Zen</strong> in unverdient schlechten<br />

Ruf brächte. Diskutieren Sie also mit niemandem über Ihr Kôan,<br />

auch nicht mit Ihren besten Freunden oder Familienangehörigen.<br />

Eben diese Verletzung der Geheimhaltung, wie sie früher das Kôan-<br />

System umgab, hat bei der Rinzai-Lehre zu einem allmählichen Zerfall<br />

geführt. Was ich jetzt sagen möchte, betrifft keine Laien, da sie<br />

im allgemeinen ihr Üben ernst nehmen. Es wird aber ein ernstes Pro-<br />

86


lem in den Klöstern, in denen sich Mönche finden, die über die<br />

ganze Schulung grollen und die hauptsächlich dort sind, um die Zeit<br />

abzudienen, die erforderlich ist, um einen Tempel als dort ansässiger<br />

Priester zu erben. In Klöstern mit mangelhafter Disziplin wird oft<br />

ein älterer Mönch zu einem jüngeren sagen: «An welchem Kôan<br />

arbeitest du?» Hat er das erfahren, so fährt der ältere fort: «Verstehst<br />

du es? » «Nein.» «Gut, ich sage dir die Antwort, und du kaufst<br />

mir dafür Kuchen», sagt der ältere Mönch. Der Rôshi kann unterscheiden,<br />

ob eine Antwort echt ist oder nicht. Wenn er aber aus<br />

irgendeinem Grunde selbst lau geworden ist, so akzeptiert er vielleicht<br />

eine Antwort, die nicht wirklich die <strong>des</strong> Mönchs ist. So etwas wird<br />

keinen besonderen Schaden anrichten, wenn ein Mönch nur zwei bis<br />

<strong>drei</strong> Jahre in einem Kloster verbringt, ehe er als Tempelpriester einen<br />

Tempel fest übernimmt, da seine Pflichten dort nicht erfordern, daß<br />

er das Satori eines anderen bewertet. Es kann aber geschehen, daß<br />

kein Tempel frei ist, wenn er seine Grundausbildung beendet hat, so<br />

daß er vielleicht acht oder zehn Jahre im Kloster bleibt und das ganze<br />

Kôan-System mit Antworten absolviert, die nicht seine eigenen sind.<br />

Schließlich erhält er nach dem Brauch bei der Rinzai-Sekte den Titel<br />

eines Lehrers. Auf diese Art und Weise wird jemand, der keinerlei<br />

echtes Verständnis besitzt, für befähigt erklärt, andere zu leiten. <strong>Die</strong>se<br />

heimtückische Praxis untergräbt die <strong>Zen</strong>-Lehre. Sôtô-Gelehrte, die<br />

<strong>Zen</strong> auf akademische Weise studieren, greifen auf eben dieser Grundlage<br />

das Kôan-System an, und mit Recht.<br />

Der nächste Punkt betrifft die Fragen, die beim Dokusan angemessen<br />

sind. Alle Fragen sollten sich auf Probleme beziehen, die unmittelbar<br />

aus Ihrer Übung erwachsen. Das schließt naturgemäß persönliche<br />

Probleme aus. Sie mögen vielleicht denken, daß das Abgesondert-Sein<br />

beim Dokusan eine ausgezeichnete Gelegenheit zur Erörterung privater<br />

Probleme biete; aber Sie müssen bedenken, daß andere warten<br />

und daß Sie ihnen zum Hindernis werden, wenn Sie von Ihrer Übung<br />

abliegende Probleme aufgreifen. Es ist angebracht, wenn Sie z. B. eine<br />

Frage Ihren Magen betreffend stellen, wenn er knurrt, oder über Ihre<br />

Zähne, wenn sie so wehtun, daß Sie nicht essen können, oder auch<br />

über Visionen, die Sie vielleicht haben. Sie sollten jedoch keine Fra-<br />

87


gen über die buddhistische Lehre, vergleichende Philosophie oder<br />

den Unterschied zwischen zwei Sûtras stellen. Fragen Sie in<strong>des</strong>sen<br />

alles, was sich unmittelbar aus Ihrem Üben ergibt.<br />

Es ist üblich, daß ein Schüler dem Rôshi Geld für Räucherwerk überreicht,<br />

ehe er zum ersten Mal Dokusan empfängt. Man mag fragen:<br />

Wozu solche Formalität? Man kann nicht genug betonen, daß Dokusan<br />

keine geringfügige Angelegenheit ist. Während es in jedermanns<br />

Belieben steht, Zazen zu üben und die Kommentare <strong>des</strong> Rôshi bei<br />

einem Sesshin zu hören, besteht das Wesen <strong>des</strong> Dokusan darin, ein<br />

karmisches Band zwischen Lehrer und Schüler entstehen zu lassen,<br />

was im Buddhismus von tiefer Bedeutung ist. Darum darf Dokusan<br />

nicht leicht genommen werden. Da weiterhin alles, was beim Dokusan<br />

zwischen dem Rôshi und dem Schüler vorgeht, Probleme tiefer und<br />

letzter Art betrifft, darf dabei zwischen ihnen nur die Wahrheit<br />

gesprochen werden. Bei gesellschaftlichen Zusammenkünften zögert<br />

man oft, Dinge zu sagen, die einen anderen verletzen könnten. Das ist<br />

beim Dokusan ganz anders. Hier muß ständig vollkommene Wahrheit<br />

herrschen. Aus diesem Grunde dürfen die Anstandsformen, die diese<br />

Beziehung herstellen, nicht geringschätzig übergangen werden.<br />

Wenn man zum Dokusan geht, ist es gut, zeremonielle Kleidung zu<br />

tragen. Da man aber heute nicht mehr unbedingt darauf besteht, dürfen<br />

Sie alles tragen, wenn es nur in anständigem Zustand ist. Wenn<br />

Dokusan angekündigt wird, dann nehmen Sie außerhalb der Zazen-<br />

Halle der Reihe nach hinter der Glocke Ihren Platz ein. Sind Sie an<br />

der Reihe, und hören Sie meine Handglocke, dann schlagen Sie zweimal<br />

die Glocke vor Ihnen an, und kommen zu meinem Raum. Stürzen<br />

Sie nicht herein, denn das würde Verwirrung verursachen, und Sie<br />

wären nicht in der Geistesverfassung, um einen Gewinn von Dokusan<br />

zu haben. Sie sollten aber auch nicht allzu gemächlich daherkommen,<br />

denn andere warten. Ursprünglich war es Sitte, sich je <strong>drei</strong>mal an der<br />

Schwelle, vor dem Rôshi und dann wieder beim Weggehen an der<br />

Tür niederzuwerfen. Das ist aber jetzt abgekürzt worden: Man wirft<br />

sich insgesamt nur <strong>drei</strong>mal nieder, je einmal an den erwähnten Stellen.<br />

Wenn Sie sich niederwerfen, sollen Sie die Tatami (Strohpolstermatten)<br />

mit der Stirn berühren, wobei Ihre Unterarme dem Boden anlie-<br />

88


gen, die Hände mit aufwärts gekehrten Handflächen vor dem Kopf.<br />

Dann heben Sie von den Ellbogen her die Hände in gleicher Haltung<br />

etwas über Kopfhöhe an. <strong>Die</strong>se Geste bedeutet, die Füße Buddhas in<br />

Empfang zu nehmen, und symbolisiert Demut und die dankbare Aufnahme<br />

<strong>des</strong> Buddha-Weges in Ihr Leben. Solange Sie Ihr Ich nicht<br />

untergetaucht haben, können Sie das nicht tun. Denken Sie daran,<br />

daß der Rôshi nicht nur ein Abgesandter <strong>des</strong> Buddha ist, sondern tatsächlich<br />

an seiner Stelle steht. Indem Sie sich auf solche Weise niederwerfen,<br />

erweisen Sie in Wirklichkeit dem Buddha Ihre Verehrung, als<br />

säße er selber dort, und ebenso auch dem Dharma.<br />

Danach nehmen Sie etwa 30 <strong>Zen</strong>timeter vor mir Platz und sagen<br />

mir, was Sie üben. Sagen Sie einfach: «Ich zähle die Atemzüge», «Ich<br />

arbeite an Mu» oder «Ich übe Shikantaza». Stellen Sie alle Fragen<br />

kurz und sachlich. Sollte ich Ihnen etwas zu sagen haben, so werde<br />

ich es sagen, sobald Sie geendet haben. Aber kommen Sie nicht herein,<br />

ohne zu wissen, was Sie sagen wollen - damit vergeuden Sie nur Zeit.<br />

Denken Sie daran, daß andere darauf warten, mit mir zu sprechen.<br />

Wenn ich die Handglocke läute, ist es für Sie das Zeichen, sich zu<br />

verneigen und hinauszugehen. Wenn Ihnen danach noch etwas einfällt,<br />

müssen Sie es beim nächsten Dokusan vorbringen.<br />

8. Stunde: Shikantaza<br />

Bisher haben Sie sich darauf konzentriert, den Atemzügen mit Ihrem<br />

geistigen Auge zu folgen, und dabei versucht, die Einatmung einzig<br />

als einziehenden Atem, die Ausatmung einzig als ausströmenden Atem<br />

lebendig zu erfahren. Ich möchte, daß Sie von nun an Shikantaza<br />

üben, das ich Ihnen kurz im einzelnen beschreiben werde. Es ist im<br />

allgemeinen weder üblich noch wünschenswert, die verschiedenen<br />

Übungsweisen so schnell zu wechseln. Um Ihnen jedoch hier einen<br />

Vorgeschmack der verschiedenen Konzentrationsarten zu geben, bin<br />

ich dieser Methode gefolgt. Wenn diese einführenden Unterweisungen<br />

abgeschlossen sind und Sie einzeln vor mir erscheinen, werde ich<br />

jedem von Ihnen eine Übung zuweisen, die sowohl der Art Ihres<br />

89


Strebens als auch dem Grad Ihrer Entschlossenheit angemessen ist,<br />

also Zählen oder Verfolgen <strong>des</strong> Atems, Shikantaza oder ein Kôan.<br />

Der heutige Unterricht betrifft Shikantaza. Shikan heißt «nichts als»<br />

oder «nur», während tat «treffen» heißt und za «sitzen» bedeutet.<br />

Somit ist Shikantaza also eine Übung, bei der die Aufmerksamkeit<br />

vom Sitzen allein intensiv beansprucht wird. Da es hierbei keine stützenden<br />

Hilfsmittel mehr gibt, wie das Zählen der Atemzüge oder ein<br />

Kôan, kann bei dieser Art <strong>des</strong> Zazen die Aufmerksamkeit nur allzu<br />

leicht abgelenkt werden. <strong>Die</strong> rechte Geistesverfassung ist dabei also<br />

doppelt wichtig. Beim Shikantaza darf man nicht gehetzten Sinnes<br />

sein, sondern muß so fest verwurzelt und massiv in sich gesammelt<br />

sein wie, sagen wir, der Fujiyama. Dabei aber müssen Sie geistig<br />

wachsam sein und gespannt wie eine Bogensehne 37 . So ist Shikantaza<br />

ein Zustand erhöhter, konzentrierter Geistes-Gegenwart, in dem man<br />

weder überspannt noch in Eile und natürlich niemals schlaff ist. Es ist<br />

die Geisteshaltung eines Menschen angesichts <strong>des</strong> To<strong>des</strong>. Stellen Sie<br />

sich vor, Sie nähmen an einem Duell im Schwertkampf jener Art teil,<br />

wie er einst im alten Japan geübt wurde. Angesichts Ihres Gegners<br />

sind Sie jeden Augenblick auf der Hut, entschlossen und bereit. Wenn<br />

Sie auch nur eine Sekunde in Ihrer Wachsamkeit nachließen, so würden<br />

Sie augenblicklich niedergestochen. Eine Menge Volks sammelt<br />

sich, um den Kampf zu sehen. Da Sie nicht blind sind, sehen Sie die<br />

Volksmenge aus dem Augenwinkel, und da Sie nicht taub sind, hören<br />

Sie sie. Aber Ihre Aufmerksamkeit wird von solchen Sinneswahrnehmungen<br />

nicht einen einzigen Augenblick gefangen genommen.<br />

<strong>Die</strong>se Haltung kann man nicht lange durchhalten. Sie sollten Shikantaza<br />

also nicht länger als eine halbe Stunde hintereinander üben. Stehen<br />

Sie nach <strong>drei</strong>ßig Minuten auf, und gehen Sie im Kinhin. Danach<br />

nehmen Sie Ihre Sitzübung wieder auf. Wenn Sie Shikantaza wirklich<br />

und wahrhaftig üben, so werden Sie selbst im Winter in einem ungeheizten<br />

Raum nach einer halben Stunde ins Schwitzen kommen,<br />

durch die in der intensiven Sammlung entwickelte Hitze. Wenn<br />

Sie zu lange sitzen, verlieren Sie an geistiger Spannkraft, werden<br />

37. Siehe auch S. 178.<br />

90


körperlich müde, und Ihre Anstrengungen bringen weniger ein, als<br />

wenn Sie Ihre Sitzzeiten auf <strong>drei</strong>ßig Minuten beschränkt hätten.<br />

Im Gegensatz zu einem ungeschulten Fechter gebraucht ein Meister<br />

sein Schwert mühelos. Aber auch bei ihm war das nicht immer so;<br />

auch er mußte sich einmal aufs äußerste anstrengen, um bei seiner<br />

noch mangelhaften Technik sein Leben zu wahren. Mit Shikantaza<br />

ist es nicht anders. Anfangs ist eine übermäßige Anspannung unvermeidlich,<br />

aber mit zunehmender Erfahrung geht dieser allzu gespannte<br />

Zustand in einen ausgeglichenen über, wobei man jedoch mit<br />

voller Aufmerksamkeit Zazen sitzt. Und ebenso wie ein Fechtmeister<br />

sein Schwert im Notfall mühelos zieht und zielbewußt angreift, so<br />

sitzt auch ein im Shikantaza Erfahrener ohne Anstrengung, wach und<br />

voller Aufmerksamkeit. Aber glauben Sie ja nicht, daß solches Sitzen<br />

erreicht werden kann, ohne daß man lange und hingebungsvoll übt.<br />

<strong>Die</strong> Parabel von ENYADATTA<br />

Heute will ich noch die Geschichte von ENYADATTA, die aus dem<br />

Ryogon-Sûtra stammt, behandeln. Wir haben hier eine außerordentlich<br />

treffende Parabel vor uns. Sie wird Ihnen über viele schwer verständliche<br />

Punkte <strong>des</strong> Buddhismus Klarheit verschaffen, wenn Sie<br />

aufmerksam darüber nachsinnen.<br />

<strong>Die</strong>se Begebenheit soll sich zu Lebzeiten <strong>des</strong> Buddha zugetragen<br />

haben. Ich weiß nicht, ob sie wahr oder legendär ist. Jedenfalls war<br />

ENYADATTA eine schöne Jungfrau, die nichts mehr erfreute, als sich<br />

allmorgendlich im Spiegel zu betrachten. Eines Tages, als sie in den<br />

Spiegel sah, gab es darin kein Spiegelbild ihres Kopfes. Warum<br />

gerade an diesem Morgen nicht, das sagt das Sûtra nicht. Auf jeden<br />

Fall war der Schrecken so groß, daß sie ganz außer sich geriet, herumraste<br />

und zu wissen verlangte, wer ihren Kopf weggenommen habe.<br />

«Wer hat meinen Kopf? Wo ist mein Kopf? Ich sterbe, wenn ich ihn<br />

nicht finde!» jammerte sie. Obgleich jedermann ihr sagte: «Sei doch<br />

nicht töricht, dein Kopf sitzt dir auf den Schultern, wo er immer<br />

war», weigerte sie sich, das zu glauben. «Nein, das stimmt nicht!<br />

91


Nein, das stimmt nicht! Jemand muß ihn mir weggenommen haben!»<br />

schrie sie und fuhr in ihrer wahnsinnigen Suche fort. Schließlich<br />

schleppten ihre Freunde, die glaubten, sie sei verrückt geworden, sie<br />

nach Hause und banden sie an einen Pfosten, um sie daran zu hindern,<br />

daß sie sich Schaden antäte.<br />

Das Angebundensein kann man der Zazen-Übung vergleichen. Durch<br />

die Stillegung <strong>des</strong> Körpers erlangt auch der Geist ein gewisses<br />

Maß an Ruhe. Und obgleich er noch immer verwirrt ist, wie ENYA-<br />

DATTAS Geist im Glauben, daß sie keinen Kopf habe, so wird doch<br />

wenigstens der Körper davor bewahrt, seine Kräfte zu vergeuden.<br />

Ihre guten Freunde redeten ihr geduldig zu, daß sie doch noch immer<br />

ihren Kopf habe, und allmählich kam sie so weit, es halb und halb zu<br />

glauben. Ihr Unterbewußtsein begann, die Tatsache zu akzeptieren,<br />

daß sie womöglich verblendet war in der Meinung, sie habe ihren<br />

Kopf verloren.<br />

Man kann ENYADATTA, während sie die Versicherungen ihrer Freunde<br />

empfängt, mit denen vergleichen, die die Erläuterungen (Teishô) <strong>des</strong><br />

Rôshi hören. Anfangs sind diese Lehren schwer zu verstehen; wenn<br />

man sie aber aufmerksam anhört, sinkt je<strong>des</strong> Wort ins Unterbewußtsein,<br />

und Sie kommen zu dem Punkt, da Sie denken: «Ist das wirklich<br />

wahr?... Ich möchte wohl wissen, ob ... Ja, es muß schon stimmen.»<br />

Plötzlich versetzte einer ihrer Freunde ihr einen Hieb auf den Kopf,<br />

und sie schrie vor Schmerz und Schrecken auf «Au!» «Das ist dein<br />

Kopf! Da ist er!» rief ihr Freund aus, und augenblicklich sah ENYA-<br />

DATTA ein, daß sie sich einer Täuschung hingegeben hatte in der Meinung,<br />

daß sie ihren Kopf verloren habe, während sie ihn doch die<br />

ganze Zeit über gehabt hatte.<br />

In gleicher Weise ist das Schlagen beim Zazen von höchstem Wert.<br />

Körperliche Schläge genau zur rechten Zeit - wenn es zu früh ist,<br />

haben sie keine Wirkung - können Selbst-Wesensschau herbeiführen,<br />

einerlei, ob sie durch den kyosaku (Stock) oder unmittelbar von<br />

einem einfühlsamen Lehrer ausgeteilt werden. So liegt der Wert <strong>des</strong><br />

Kyosaku also nicht allein darin, Sie anzuspornen, sondern ein harter<br />

Schlag damit kann, wenn Sie einen entscheidenden Punkt im<br />

Zazen erreicht haben, Ihren Geist jählings ins Bewußtsein seines<br />

92


Wahren Wesens stürzen - mit anderen Worten: zur Erleuchtung<br />

bringen.<br />

Als das ENYADATTA geschah, fühlte sie sich derart freudig erhoben,<br />

daß sie herumlief und rief: «Ach, ich habe ihn! Ich habe doch noch<br />

meinen Kopf! Ich bin so glücklich!»<br />

Das ist die Verzückung beim Kenshô. Wenn es eine tiefe Erfahrung<br />

ist, können Sie vor lauter Freude zwei bis <strong>drei</strong> Nächte nicht schlafen.<br />

In<strong>des</strong>sen ist es ein halb verrückter Zustand. Es ist, vorsichtig ausgedrückt,<br />

zumin<strong>des</strong>t wunderlich, wenn man vor Freude überströmt,<br />

weil man einen Kopf gefunden hat, den man von Anbeginn an hatte.<br />

Es ist auch nicht weniger wunderlich, wenn Sie voller Freude über<br />

die Entdeckung Ihrer Wesens-Essenz sind, die Sie ja nie verloren<br />

hatten. <strong>Die</strong>se Ekstase ist zwar durchaus echt, aber man kann Ihren<br />

Geisteszustand nicht als natürlich bezeichnen, solange Sie sich die<br />

Vorstellung «Ich habe Erleuchtung gefunden» nicht völlig aus dem<br />

Kopf schlagen. Achten Sie gut auf diesen Punkt, denn er wird häufig<br />

mißverstanden.<br />

Als ihre Freude allmählich verebbte, erholte sich ENYADATTA von<br />

ihrem halb-verrückten Zustand.<br />

Genau so ist es beim Satori. Wenn sich das Delirium <strong>des</strong> Entzückens<br />

langsam legt und dabei alle Gedanken über diese Wesensschau mit<br />

sich fortnimmt, finden Sie sich in eine wahrhaft natürliche Lebensweise<br />

hinein, und es gibt dabei nichts Wunderliches mehr. Ehe Sie<br />

jedoch diesen Punkt nicht erreicht haben, ist es Ihnen unmöglich, in<br />

Harmonie mit Ihrer Umwelt zu leben und auf dem Wege wahrer geistiger<br />

Schulung fortzufahren.<br />

Ich werde nun die Bedeutung <strong>des</strong> ersten Teils dieser Geschichte im<br />

einzelnen erläutern. Da die meisten Menschen der Erleuchtung gleichgültig<br />

gegenüberstehen, ist ihnen auch die Möglichkeit eines solchen<br />

Erlebnisses unbekannt. Sie sind wie ENYADATTA, als sie sich <strong>des</strong> Vorhandenseins<br />

ihres Kopfes gar nicht bewußt war. <strong>Die</strong>ser «Kopf» entspricht<br />

natürlich dem Buddha-Wesen, unserer eingeborenen Vollkommenheit.<br />

Den meisten Menschen kommt noch nicht einmal der<br />

Gedanke, daß sie überhaupt ein Buddha-Wesen besitzen, bis sie<br />

hören:<br />

93


«Shujô honrai hotoke nari.» Alle Geschöpfe sind von Urbeginn an [dem<br />

Wesen nach] Buddha.)<br />

Dann rufen sie plötzlich aus: «Dann muß auch ich Buddha-Wesen<br />

haben! Aber wo ist es?» Und so beginnen sie ihre Suche nach ihrem<br />

Wahren Wesen gleich ENYADATTA, als sie zum ersten Mal ihren Kopf<br />

vermißte und auf der Suche nach ihm herumraste.<br />

Sie fangen damit an, verschiedene Teishô zu hören, die ihnen widerspruchsvoll<br />

und rätselhaft scheinen. So hören sie, daß ihr Ur-Wesenskern<br />

sich nicht von dem <strong>des</strong> Buddha unterscheidet - ja sogar, daß die<br />

Substanz <strong>des</strong> Weltalls an Umfang und Dauer ihrem eigenen Buddha-<br />

Wesen gleicht. Da aber ihr Geist von Verblendung umwölkt ist,<br />

sehen sie sich selbst einer Welt von einzelnen Wesenheiten gegenüber.<br />

Sobald sich der feste Glaube an die Wirklichkeit dieses Buddha-<br />

Wesens in ihnen festgesetzt hat, werden sie dazu getrieben, es mit der<br />

ganzen Kraft ihres Seins zu suchen. Gerade so, wie ENYADATTA niemals<br />

ohne ihren Kopf war, so sind auch wir niemals von unserem essentiellen<br />

Buddha-Wesen getrennt, ob wir nun erleuchtet sind oder nicht.<br />

Wir sind uns <strong>des</strong>sen jedoch nicht bewußt. Wir gleichen ENYADATTA,<br />

der ihre Freunde sagten: «Sei doch nicht albern; du hast doch immer<br />

noch deinen Kopf. Du täuschst dich, wenn du das nicht glaubst.»<br />

<strong>Die</strong> Entdeckung unseres Wahren Wesens kann man mit ENYADATTAS<br />

Entdeckung ihres Kopfes vergleichen. Und was haben wir entdeckt?<br />

Nur, was wir niemals verloren hatten! In<strong>des</strong>sen sind wir so begeistert<br />

wie sie, als sie ihren Kopf gefunden hatte. Wenn die Begeisterung verebbt,<br />

wird uns klar, daß wir gar nichts Außerordentliches errungen<br />

haben und erst recht nichts Seltsames. Nur ist jetzt alles vollkommen<br />

natürlich.<br />

9. Stunde: Ursache und Wirkung sind Eins<br />

Man wird die Erhabenheit von <strong>Zen</strong> nicht begreifen, wenn man diesen<br />

Vortrag über inga ichinyo, was besagt, daß Ursache und Wirkung<br />

eins sind, nicht versteht. <strong>Die</strong>ser Ausdruck Inga Ichinyo stammt aus<br />

94


HAKUIN <strong>Zen</strong>jis Preisgesang <strong>des</strong> Zazen. Denken Sie daran, daß diese<br />

Unterweisung keine Erklärung von Ursache und Wirkung im weitesten<br />

Sinne ist, sondern sich nur auf die Zazen-Übung bezieht.<br />

Genau genommen, sollten Sie beim Zazen nicht in Zeitbegriffen denken.<br />

Es trifft zwar im allgemeinen zu, daß Zazen die den Anstrengungen<br />

eines Jahres entsprechenden Wirkungen zeitigt, wenn man es<br />

ein Jahr lang übt; und wenn man es zehn Jahre lang übt, so hat es<br />

eine Wirkung, die den zehnjährigen Bemühungen entspricht. <strong>Die</strong><br />

Ergebnisse von Zazen in bezug auf die Erleuchtung können jedoch<br />

nicht an der Übungsdauer gemessen werden. Einige Übende haben<br />

nach nur wenigen Jahren der Ausübung tiefe Erleuchtung gefunden,<br />

während andere sogar zehn Jahre lang übten, ohne Erleuchtung zu<br />

erfahren.<br />

Auf klar unterschiedenen Stufen, die man sich als eine Leiter von<br />

Ursache und Wirkung vorstellen kann, steigt man von Beginn <strong>des</strong><br />

Übens an aufwärts. Das Wort «Inga», das Ursache und Wirkung<br />

bedeutet, schließt sowohl Grade als Verschiedenheit ein, während<br />

«Ichinyo» Gleichheit, Identität, Eins-Sein bezeichnet. Obgleich es<br />

nun viele Stufen gibt, die der Übungsdauer entsprechen, so ist doch<br />

auf jeder der Stufen die geistige Substanz der <strong>des</strong> Buddha gleich.<br />

Folglich sagen wir, daß Ursache und Wirkung eins sind. Vor dem<br />

Satori-Erwachen können Sie jedoch nicht damit rechnen, Inga wirklich<br />

zuinnerst zu begreifen.<br />

Ich möchte das jetzt in Beziehung setzen zu der Parabel von ENYA-<br />

PATTA. Als ENYADATTA keinen Kopf im Spiegel sah und auf der wilden<br />

Suche danach herumraste - das versinnbildlicht den ersten<br />

Schritt, die Triebfeder. Dann banden ihre Freunde sie an einen Pfosten<br />

und bestanden darauf, daß sie einen Kopf habe. Sie begann zu<br />

denken: Vielleicht ist es wirklich so; dann schlugen sie sie, und sie<br />

schrie «Au!» und wurde gewahr, daß sie doch einen Kopf hatte. Sie<br />

freute sich über diese Entdeckung; dann verebbte die Freude allmählich,<br />

und es kam ihr ganz natürlich vor, einen Kopf zu haben, so daß<br />

sie gar nicht mehr daran dachte. All das sind verschiedene Stufen<br />

oder Grade <strong>des</strong> Fortschreitens - das heißt, wenn man sie rückblickend<br />

überschaut. Sie war natürlich auf jeder einzelnen Stufe nicht ohne<br />

95


Kopf, aber das wurde ihr erst klar, nachdem sie ihn «gefunden»<br />

hatte.<br />

In gleicher Weise wird auch uns erst nach der Erleuchtung klar, daß<br />

wir von Anbeginn an nie ohne Buddha-Wesen waren. Und ebenso,<br />

wie es für ENYADATTA notwendig war, all diese verschiedenen Phasen<br />

zu durchlaufen, um zu begreifen, daß sie stets einen Kopf hatte,<br />

so müssen auch wir die aufeinander folgenden Stufen <strong>des</strong> Zazen<br />

ersteigen, um unseres Wahren Wesens unmittelbar innezuwerden. <strong>Die</strong><br />

aufeinander folgenden Stufen stehen in einer Kausalbeziehung. <strong>Die</strong><br />

Tatsache aber, daß wir dem Wesen nach Buddha sind (in der Parabel<br />

ENYADATTAS Kopf, den sie stets hatte) - das ist Gleichheit und Nicht-<br />

Unterschiedenheit.<br />

So stellt DÔGEN <strong>Zen</strong>ji im Shôbôgenzo fest:<br />

«Sogar das Zazen eines Anfängers manifestiert seine Wesens-Substanz in<br />

ihrer Gesamtheit.»<br />

Damit sagt er, daß rechtes Zazen die Verwirklichung <strong>des</strong> Bodhi-Geistes<br />

ist, jenes Herz-Geistes, mit dem wir alle begabt sind. <strong>Die</strong>ses Zazen<br />

ist Saijôjô, bei dem der Weg <strong>des</strong> Buddha Ihr ganzes Sein durchströmt<br />

und die Gesamtheit Ihres Lebens durchzieht. Obgleich wir uns zuerst<br />

all <strong>des</strong>sen gar nicht bewußt sind, so kommen wir doch mit fortschreitender<br />

Übung allmählich zu Verständnis und Einsicht und erwachen<br />

schließlich im Satori zu der Erkenntnis, daß Zazen selbst die Verwirklichung<br />

<strong>des</strong> uns innewohnenden Buddha-Wesens ist, ob wir<br />

erleuchtet sind oder nicht.<br />

10. Stunde: <strong>Die</strong> <strong>drei</strong> wesentlichen Voraussetzungen zur Übung<br />

<strong>des</strong> <strong>Zen</strong><br />

Was ich jetzt sagen möchte, betrifft vor allem Daijô-<strong>Zen</strong>, das ganz<br />

besonders auf Satori hin gerichtet ist. Es schließt jedoch auch Saijôjô-<br />

<strong>Zen</strong> ein, wenn auch in geringerem Maße.<br />

<strong>Die</strong> erste dieser <strong>drei</strong> wesentlichen Voraussetzungen für die <strong>Zen</strong>-Übung<br />

ist ein starker Glaube, dai-shinkon. Das ist mehr als ein bloßes Für-<br />

96


Wahr-Halten. Das Schriftzeichen für kon bedeutet «Wurzel» und das<br />

für shin «Glaube» (dai = groß). So bedeutet das Wort also einen<br />

fest und tief verwurzelten Glauben, so unerschütterlich wie ein riesiger<br />

Baum oder ein gewaltiger Felsblock. Es handelt sich zudem um<br />

einen Glauben, der von keinerlei Aberglauben oder Hängen an Übernatürlichem<br />

vergiftet ist. Man hat den Buddhismus sowohl als rationale<br />

Religion wie auch als Religion der Weisheit dargestellt. Jedenfalls<br />

aber ist er eine Religion, und was ihn dazu macht, das ist das<br />

Element <strong>des</strong> Glaubens, ohne welches er nur eine Philosophie wäre.<br />

Mit der Erleuchtung <strong>des</strong> Buddha, wie er sie nach erschöpfenden<br />

Anstrengungen erlangte, nimmt der Buddhismus seinen Anfang.<br />

Unser tiefster Glaube gehört <strong>des</strong>halb Buddhas Erleuchtungs-Erlebnis,<br />

als <strong>des</strong>sen Kern er verkündete, daß die menschliche Natur und alles<br />

Dasein von Anbeginn ganz, makellos, allmächtig seien - mit einem<br />

Wort: vollkommen. Ohne den beharrlichen Glauben an diesen Kern<br />

von Buddhas Lehre ist es unmöglich, mit der Übung weit zu kommen.<br />

<strong>Die</strong> zweite unentbehrliche Voraussetzung ist das Gefühl eines starken<br />

Zweifels, dai-gidan 38 . Es geht hier nicht um einen landläufigen Zweifel,<br />

wohlgemerkt, sondern um eine ganze «Zweifel-Masse», wie sie sich<br />

unvermeidlich aus starkem Glauben ergibt. <strong>Die</strong>ser Zweifel läßt uns<br />

fragen, warum wir und die Welt so unvollkommen zu sein scheinen,<br />

so voller Angst und Leiden, wenn unser tiefer Glaube uns doch sagt,<br />

daß in Wahrheit das Entgegengesetzte zutrifft. Das ist ein Zweifel,<br />

der uns keine Ruhe läßt. Es ist, als wüßten wir sehr genau, daß wir<br />

Millionäre sind, und fänden uns doch unerklärlicherweise in schrecklicher<br />

Not, ohne einen Pfennig in der Tasche. <strong>Die</strong> Stärke <strong>des</strong> Zweifels<br />

steht also im Verhältnis zur Stärke <strong>des</strong> Glaubens.<br />

<strong>Die</strong>se Geistesverfassung kann ich durch ein einfaches Beispiel veranschaulichen.<br />

Stellen Sie sich einen Mann vor, der dasitzt und raucht,<br />

und plötzlich merkt, daß die Pfeife, die er noch einen Augenblick<br />

zuvor in der Hand gehalten hat, verschwunden ist. Er beginnt,<br />

danach zu suchen, in der völligen Gewißheit, daß er die Pfeife finden<br />

wird. Sie war vor einem Augenblick noch da, niemand war in der<br />

38. Im <strong>Zen</strong> begreift «Zweifel» keinen Skeptizismus ein, sondern bedeutet einen<br />

Zustand der Bestürzung, sondierenden Forschens, der intensiven Selbst-<br />

Erforschung.<br />

97


Nähe; sie kann nicht verschwunden sein. Je länger seine vergebliche<br />

Suche dauert, <strong>des</strong>to größer werden seine Energie und Entschlossenheit,<br />

mit der er alles danach absucht.<br />

Aus diesem Gefühl <strong>des</strong> Zweifels erwächst also ganz natürlich die<br />

dritte wesentliche Voraussetzung: feste Entschlossenheit, dai-funshi.<br />

Es ist die überwältigende Entschlossenheit, diesen Zweifel mit aller<br />

Energie und aller Kraft unseres Willens zu beheben. Da wir mit jeder<br />

Pore unseres Seins an die Wahrheit von Buddhas Lehre glauben, nämlich,<br />

daß wir alle mit dem makellosen Bodhi-Geist begabt sind, haben<br />

wir uns entschlossen, die Wirklichkeit dieses Herz-Geistes zu entdecken<br />

und selber zu erleben.<br />

Vor kurzem fragte mich jemand, der völlig mißverstanden hatte, was<br />

für einen Geisteszustand diese <strong>drei</strong> wesentlichen Voraussetzungen<br />

erfordern: «Handelt es sich bei dem Glauben, daß wir Buddhas sind,<br />

um mehr, als daß wir es einfach als Tatsache hinnehmen, daß die<br />

Welt vollkommen ist, so wie sie ist - daß der Weidenbaum eben<br />

grün, die Nelke rot ist?» Der Trugschluß hierbei ist augenscheinlich.<br />

Wenn wir nicht die Frage stellen, warum es Habgier und Hader gibt,<br />

warum der gewöhnliche Mensch in seiner Handlungsweise alles<br />

andere eher als ein Buddha ist, so erhebt sich in uns auch nicht die<br />

Entschlußkraft, die offensichtlichen Widersprüche zwischen dem,<br />

was wir auf Grund <strong>des</strong> Glaubens für richtig halten, und dem, was uns<br />

als <strong>des</strong>sen glattes Gegenteil erscheint, zu lösen. Mithin ist unser Zazen<br />

seiner wichtigsten Kraftquelle beraubt.<br />

Ich will nun diese <strong>drei</strong> wesentlichen Voraussetzungen zu Daijô- und<br />

Saijôjô-<strong>Zen</strong> in Beziehung setzen. Zwar finden wir beim Daijô alle<br />

<strong>drei</strong>, aber der Zweifel ist hier am stärksten, der Hauptansporn zum<br />

Satori, denn er gönnt uns keine Ruhe. Und so erleben wir Satori und<br />

die Lösung dieses Zweifels schneller mit Daijô-<strong>Zen</strong>.<br />

Beim Saijôjô-<strong>Zen</strong> andererseits ist das Glaubenselement am stärksten.<br />

Uns ficht hier kein so grundsätzlicher Zweifel der erwähnten Art an,<br />

und so werden wir auch nicht dazu getrieben, uns davon zu befreien.<br />

Beim Saijôjô, das, wie Sie sich erinnern werden, die reinste Form <strong>des</strong><br />

Zazen ist, gibt es im Unterschied zum Daijô-<strong>Zen</strong> kein begieriges<br />

Streben nach Erleuchtung. Bei diesem Zazen findet ein natürlicher<br />

98


Reifeprozeß statt, der in der Erleuchtung seinen Höhepunkt erreicht.<br />

Dabei ist Saijôjô von allen <strong>Zen</strong>-Arten die schwierigste und erfordert<br />

entschlossenes und hingebungsvolles Zazen.<br />

11. Stunde: Angestrebte Ziele<br />

Obgleich wir alle Zazen üben, so sind doch die von den Einzelnen<br />

angestrebten Ziele keineswegs die gleichen. <strong>Die</strong>se Ziele gliedern sich<br />

in vier Hauptgruppen oder -ebenen.<br />

<strong>Die</strong> erste und niedrigste Ebene begreift weder Glauben an den <strong>Zen</strong>-<br />

Buddhismus, noch auch nur die flüchtigste Kenntnis davon ein. Man<br />

hört irgendwann einmal zufällig davon und kommt dahin, daß man<br />

gern mit einer Zazen-Gruppe oder in einem Sesshin sitzen möchte.<br />

Daß jedoch von Millionen verblendeter Menschen, die alle gar nichts<br />

vom Buddhismus wissen, gerade dieser eine Mensch dieser seit 2500<br />

Jahren ununterbrochen fortdauernden Lehre zugeführt wird, ist nach<br />

buddhistischer Auffassung kein Zufall, sondern eine karmische Gegebenheit<br />

und daher von ungeheurer geistiger Bedeutung.<br />

Auf der zweiten Ebene reicht das Streben nicht tiefer als bis zu dem<br />

Wunsch, Zazen zu üben, um die körperliche oder geistige Gesundheit<br />

oder auch bei<strong>des</strong> zu heben. Wie Sie sich erinnern werden, fällt das<br />

unter die erste der fünf Arten <strong>des</strong> Zazen, nämlich unter Bonpu,<br />

gewöhnliches <strong>Zen</strong>.<br />

Auf der dritten Ebene finden wir Menschen, die sich nicht damit<br />

zufrieden geben, nur ihr körperliches oder geistiges Wohlsein zu steigern,<br />

sondern den Weg <strong>des</strong> Buddha beschreiten wollen. Sie erkennen<br />

die Erhabenheit buddhistischer Kosmologie, welche das Dasein nicht<br />

auf eine Lebensspanne beschränkt, sondern in einer endlosen Evolution<br />

von Leben zu Leben sieht, wobei sich der Kreis menschlicher<br />

Bestimmung einzig durch Erlangen der Buddhaschaft vollendet.<br />

Zudem hat sich in ihnen der Glaube an die Wirklichkeit <strong>des</strong> Erleuchtungs-Erlebnisses<br />

festgesetzt, und obgleich in ihnen noch nicht der<br />

Entschluß erwacht ist, das auch zu erreichen, ist doch der Wunsch,<br />

dem Weg <strong>des</strong> Buddha zu folgen, klar und echt.<br />

99


Zu der vierten Ebene gehören jene, die entschlossen sind, ihr Wahres<br />

Selbst zu erkennen. Sie wissen, daß dieses Erlebnis eine lebendige<br />

Wirklichkeit ist, denn sie sind Menschen begegnet, die dieses Erlebnis<br />

hatten, und sie sind überzeugt, daß auch sie es erreichen können.<br />

Wenn sie vor ihrem Lehrer erscheinen, kommen sie mit offenem Sinn<br />

und einfältigem Herzen, bereit, jedem Weg zu folgen, den er ihnen<br />

weist, sicher in dem Wissen, daß sie auf diese Weise ihr Ziel in kürzester<br />

Zeit erreichen können.<br />

Hier noch einmal in Kürze die vier Arten der Suchenden: jene, die<br />

durch glückliche karmische Umstände zum Zazen kommen, ohne<br />

dabei besonders an <strong>Zen</strong> zu glauben; jene, die Zazen in dem Wunsch<br />

üben, lediglich ihren körperlichen oder geistigen Gesundheitszustand<br />

oder auch bei<strong>des</strong> zu heben; jene, die Zazen im Glauben an die Erhabenheit<br />

buddhistischer Lehren üben, und jene, die fest entschlossen<br />

sind, Erleuchtung zu finden.<br />

Sie werden nachher einzeln vor mir erscheinen, und ich werde Sie<br />

fragen, welcher Art das von Ihnen angestrebte Ziel ist, d. h. in welche<br />

der vier Gruppen Sie fallen. Sagen Sie mir aufrichtig, was Sie<br />

meinen. Fügen Sie nichts aus Stolz hinzu, und verringern Sie nichts<br />

aus falscher Bescheidenheit. Ich werde Ihnen auf Grund <strong>des</strong>sen,<br />

was Sie mir sagen, dasjenige Zazen zuweisen, das am geeignetsten für<br />

Sie ist.<br />

Es gibt keine bestimmte Übung, die für alle paßt. Doch ganz allgemein<br />

kann man sagen: Dem, der sich selbst in die erste Kategorie<br />

einreiht, wird die Übung <strong>des</strong> Zählens der Atemzüge zugewiesen; dem<br />

der zweiten Kategorie das Verfolgen der Atemzüge, dem der dritten<br />

Kategorie Shikantaza und dem der vierten ein Kôan, im allgemeinen<br />

Mu.<br />

Wenn Schüler zum ersten Mal einzeln vor mir erscheinen, geben sie<br />

alle möglichen merkwürdigen Antworten. Einige sagen: «Ich glaube,<br />

ich gehöre zwischen die erste und die zweite Kategorie.» Andere wieder<br />

erzählen mir: «Ich habe einen chronisch schwachen Magen;<br />

würde der Rôshi mir bitte eine Art <strong>des</strong> Zazen zuweisen, die dem<br />

abhilft?» Manchmal sagt jemand auch: «Ich bin etwas neurotisch;<br />

welche Zazen-Art wäre dagegen wohl gut?»<br />

100


Je nach dem Typ <strong>des</strong> Menschen und der Kraft seiner Entschlossenheit<br />

weise ich ihm die Übung zu, die ich für geeignet halte. Bei einem<br />

schwerfälligen Menschen ist es im allgemeinen angebracht, ihn mit<br />

dem Kyosaku anzuspornen, wohingegen ein etwas nervöser und feinfühliger<br />

Mensch Zazen besser ohne das üben kann. Ich kann für Sie<br />

nur dann die wirksamste Übung auswählen, wenn Sie Ihre Gefühle<br />

freimütig bekennen.<br />

101


Zweites Kapitel<br />

Yasutani Rôshis<br />

Kommentar zum<br />

Kôan Mu<br />

Einführung<br />

Seit JÔSHÛ, einer der großen chinesischen <strong>Zen</strong>-Meister der T'ang-Zeit,<br />

auf die Frage eines Mönchs, ob ein Hund Buddha-Wesen habe, versetzte:<br />

«Mu! 1 », widerhallen all die Jahrhunderte hindurch die Räume<br />

der <strong>Zen</strong>-Klöster und -Tempel vom Echo dieses Vorfalls. Auch heutzutage<br />

wird kein anderes Kôan Anfängern so oft aufgegeben. Japanische<br />

<strong>Zen</strong>-Meister sind sich allgemein darüber einig, daß dieses Kôan<br />

unübertroffen ist, um den Geist der Unwissenheit aufzubrechen und<br />

das Auge der Wahrheit zu öffnen. Wenn man dieses Kapitel und das<br />

dritte und vierte Kapitel aufmerksam liest, hat man die Erklärung<br />

dafür. Bis jetzt ist noch keine Übersetzung eines in aller Form gehaltenen<br />

Kommentars (Teishô) zum Kôan Mu auf Deutsch oder Englisch<br />

erschienen.<br />

Der vorliegende Kommentar wurde 1961 von <strong>Zen</strong>-Meister YASUTANI<br />

bei einem Sesshin vor etwa fünfund<strong>drei</strong>ßig Laien frei gehalten. Er<br />

wird in der Übersetzung genau so wiedergegeben, wie der Meister ihn<br />

gehalten hat, von kleinen Überarbeitungen ungeschickter Ausdrücke<br />

und Wiederholungen, wie sie sich unvermeidlich in einen Stegreifvortrag<br />

einschleichen, abgesehen. Er bietet in seiner Klarheit und Präzision<br />

dem Neuling ebenso wie dem Fortgeschrittenen Anregung,<br />

Ermutigung und Führung und kann als Meister-Kommentar zu diesem<br />

alt-ehrwürdigen Kôan betrachtet werden.<br />

1. Wörtlich: «nein», «nicht», «hat nicht» und «nichts».<br />

103


Im Mumon-Kan 2 (Torlose Schranke), zusammengestellt von MUMON<br />

EKAI, der selber <strong>Zen</strong>-Meister war, steht Mu an erster Stelle von achtundvierzig<br />

Kôans. Es sind zwar einige deutsche und englische Übersetzungen<br />

<strong>des</strong> Mumon-Kan erschienen, aber sie lassen viel zu wünschen<br />

übrig. Nur allzu oft verdunkeln sie den eigentlichen Sinn <strong>des</strong> Kôan,<br />

anstatt ihn zu enthüllen. Je<strong>des</strong> Kôan ist ein einzigartiger Ausdruck <strong>des</strong><br />

lebendigen, unteilbaren Buddha-Wesens, das man mit dem zwiegeteilten<br />

Intellekt nicht erfassen kann. Kôans scheinen all jenen Menschen<br />

verwirrend, die den Buchstaben höher schätzen als den Geist. Jene<br />

aber, die ihren geistigen Gehalt begreifen, wissen, daß Kôans trotz<br />

der Ungereimtheit ihrer verschiedenen Elemente einen tiefen Sinn<br />

haben. Alle Kôans weisen auf das Ur-Antlitz 3 <strong>des</strong> Menschen, auf sein<br />

Wahres Selbst hin.<br />

Ziel eines jeden Kôan ist es, unseren Geist aus den Fallstricken der<br />

Sprache zu befreien, «in der jede Erfahrung wie in einer Zwangsjacke<br />

sitzt 4 ». Kôans sind so formuliert, daß sie uns absichtlich Sand in die<br />

Augen streuen, um uns dadurch zu zwingen, unser Geistiges Auge zu<br />

öffnen und die Welt mit allem, was darin ist, unverzerrt zu sehen.<br />

Kôans nehmen greifbare, handfeste Dinge, wie einen Hund, einen<br />

Baum, ein Gesicht, einen Finger zum Gegenstand, um uns einerseits<br />

sehen zu lehren, daß ein je<strong>des</strong> Ding seinen absoluten Wert hat, und<br />

um andererseits die Neigung <strong>des</strong> Intellekts, sich an abstrakten Begriffen<br />

festzuhaken, zum Stillstand zu bringen. Aber der Sinn aller<br />

Kôans ist der gleiche: nämlich, daß die Welt ein zusammenhängen<strong>des</strong><br />

Ganzes ist und daß jeder Einzelne von uns eben dieses Ganze ist.<br />

<strong>Die</strong> chinesischen <strong>Zen</strong>-Meister, jene Genies <strong>des</strong> Geistes, die diese paradoxen<br />

Dialoge schufen, trugen kein Bedenken, in ihren erstaunlichen<br />

Schöpfungen über Logik und gesunden Menschenverstand die Nase<br />

zu rümpfen. Indem diese Kôans den Verstand beschwatzen, Lösungen<br />

2. Deutsch: Zu den Quellen <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>, die Kôan <strong>des</strong> Meisters Mumon, O. W. Barth<br />

Verlag, München, 1976.<br />

3. Auf japanisch: honrai-no memmoku. Es wurde im Englischen als «Face before<br />

one's parents' birth» wiedergegeben. Siehe im 10. Kapitel unter «Ur-Antlitz»,<br />

«Ur-Angesicht».<br />

4. Zitat von WILLIAM GOLDING, angeführt in Watcher on the Hills von RAYNOR<br />

C. JOHNSON, Harper, 1959, S. 27.<br />

104


zu versuchen, die ihm unmöglich sind, offenbaren sie uns die Grenzen<br />

<strong>des</strong> logischen Verstands, wenn er als Instrument zur Erkenntnis letzter<br />

Wahrheit dienen soll. Durch diesen Vorgang reißen sie uns von<br />

unseren Dogmen und Vorurteilen los, berauben uns unserer Neigung,<br />

Gut und Böse zu unterscheiden, und machen uns leer von unseren<br />

falschen Vorstellungen eines Ich-und-Anderen, mit dem Ziel, daß wir<br />

eines Tages innewerden können, daß die «Welt der Vollkommenheit»<br />

tatsächlich keine andere ist, als jene, in der wir essen und ausscheiden,<br />

lachen und weinen.<br />

Das große Verdienst der Kôans, die sich über das ausgedehnte Gebiet<br />

der Mahâyâna-Lehren erstrecken, liegt darin, daß sie uns auf geniale<br />

und oft dramatische Weise zwingen, diese Lehren nicht einfach nur<br />

mit dem Kopf zu lernen, sondern mit unserem ganzen Sein zu erfassen;<br />

sie nehmen uns die Möglichkeit, uns zurückzulehnen und in abstrakter<br />

Weise endlos darüber zu theoretisieren. Was HEINRICH ZIM-<br />

MER über gewisse Arten der Meditation sagt, das trifft besonders auf<br />

Kôans zu, muß doch deren geistiger Gehalt vor dem Rôshi demonstriert<br />

und nicht nur erklärt werden:<br />

«Erkenntnis ist der Lohn der Tat... Das Tun ist es, was verwandelt. Indem<br />

man eine symbolische Gebärde ausführt, indem man eine besondere Rolle<br />

bis an ihre Grenze ganz ausfüllt, wird man die in der Rolle eingeschlossene<br />

Wahrheit erkennen. Indem man sie mit all ihren Konsequenzen durchleidet,<br />

schöpft man ihren Inhalt restlos aus . . . 5 »<br />

<strong>Die</strong> vollständige Lösung eines Kôans bringt eine Entwicklung mit<br />

sich, die aus dem Zustand der Unwissenheit (Verblendung) zu pulsierender<br />

innerer Bewußtheit der Lebendigen Wahrheit führt. Das<br />

bedeutet, daß man sich zur Bewußtseinsebene <strong>des</strong> makellosen Bodhi-<br />

Geistes erhebt, der die Umkehrung <strong>des</strong> Geistes der Verblendung ist.<br />

Der Entschluß, überhaupt das Ringen mit einem Kôan aufzunehmen,<br />

wird durch den Glauben an die Wirklichkeit <strong>des</strong> Bodhi-Geistes<br />

bewirkt, wobei das Ringen selber die Bemühung eben jenes Herz-<br />

Geistes ist, die Fesseln der Unwissenheit abzuwerfen und zur Erkenntnis-seiner-Selbst<br />

zu gelangen.<br />

5. Philosophie und Religion Indiens von HEINRICH ZIMMER, Rhein-Verlag, Zürich,<br />

1961, S. 483-484.<br />

105


Worin nun liegt die Quelle der Kraft von Mu? Was hat Mu dazu<br />

befähigt, über tausend Jahre lang unter allen Kôans den ersten Rang<br />

zu halten? Während Kôans wie «Was ist der Ton einer klatschenden<br />

Hand?» oder «Was ist dein Ur-Antlitz?» das diskursive Denken reizen<br />

und die Phantasie anregen, hält sich Mu kühl von beidem, dem<br />

Intellekt wie der Vorstellungskraft, fern. Mit verstan<strong>des</strong>mäßigen<br />

Überlegungen kann man, wie man es auch anstellen mag, Mu keinen<br />

Fußbreit Boden abgewinnen. Ja, die Meister sagen uns, Mu auf rationalem<br />

Weg lösen zu wollen, sei so, als «versuchte man, mit der Faust<br />

eine eiserne Wand zu durchstoßen». Da Mu aller Logik und Vernunft<br />

gegenüber vollkommen unzugänglich ist und man es außerdem leicht<br />

stimmhaft aussprechen kann, hat es sich als außerordentlich handliches<br />

Skalpell erwiesen, um aus dem tiefsten Unterbewußtsein das<br />

bösartige Gewächs von «Ich» und «Nicht-Ich» herauszuschneiden,<br />

jenes Gewächs, das die dem Geist eigene Reinheit vergiftet und die<br />

ihm zugrundeliegende Ganzheit beeinträchtigt.<br />

Ein lebendiger, eindringlicher Kommentar (zusätzlich zu dem Kommentar,<br />

der das Kôan begleitet) ist für jeden Suchenden, der ein Kôan<br />

zu geistiger Übung anwenden möchte, von unschätzbarem Wert.<br />

Solch ein Kommentar macht ihn nicht allein mit den Hintergründen<br />

der dramatis personae bekannt und erläutert in zeitgenössischer Sprache<br />

unverständliche Ausdrücke und metaphorische Anspielungen, wie<br />

sie in der Volkssprache <strong>des</strong> alten China gang und gäbe waren, sondern<br />

er drängt ihm auch den geistigen Gehalt <strong>des</strong> Kôan in bündiger,<br />

kraftvoller Sprache auf. Ein Kôan dürfte dem, dem solche Anleitung<br />

fehlt, leicht fremdartig, wenn nicht gar grotesk erscheinen.<br />

Da ein Teishô keine gewöhnliche Vorlesung oder Predigt ist, die sich<br />

an Hinz und Kunz wendet, sondern ein integrierender Bestandteil der<br />

<strong>Zen</strong>-Schulung, wird es im allgemeinen nur bei einem Sesshin gehalten<br />

und im wesentlichen zum Wohle derer, die zum Üben von Zazen<br />

kommen 6 . In einem Kloster, wo das Teishô täglich min<strong>des</strong>tens einmal,<br />

oft auch zweimal gehalten wird, wird es durch feierliche Glok-<br />

6. Gelegentlich wird Gläubigen erlaubt, das Teishô zu hören, obgleich sie nicht am<br />

Sesshin teilnehmen. In einigen Klöstern wird auch außerhalb <strong>des</strong> Sesshin Teishô<br />

gehalten, jedoch hauptsächlich für die zum Kloster gehörenden Mönche.<br />

106


kenschläge der hansho angekündigt, die unter den Glocken, Trommeln<br />

und Gongs, wie sie in <strong>Zen</strong>-Klöstern gebräuchlich sind, zu den<br />

größten gehört. Auf ihr Zeichen hin gehen alle in einer Reihe hintereinander<br />

aus der Zazen-Halle in die Haupthalle, teilen sich hier in<br />

zwei Gruppen, die sich im rechten Winkel zum Hauptaltar einander<br />

gegenüber aufstellen. Sie setzen sich in halber oder voller Lotus-Haltung<br />

oder in der traditionellen japanischen Sitzweise auf die Tatami.<br />

Dann erscheint der Rôshi, von einem Gefährten begleitet, der das<br />

Buch der Kôans 7 trägt, das zeremoniell in ein Seidentuch eingeschlagen<br />

ist, aus Achtung sowohl als auch zum Schutz. Alle Anwesenden<br />

neigen die Köpfe in Demut vor ihrem Lehrer, während er zum butsudan<br />

(Altar) schreitet, um dort ein Räucherstäbchen anzuzünden und<br />

es vor das Bild <strong>des</strong> Buddha zu stellen. Dann erheben sich alle und<br />

werfen sich unter Führung <strong>des</strong> Rôshi <strong>drei</strong>mal nieder, das Gesicht dem<br />

Butsudan zugewandt. Nach dieser Andachtsübung der Verehrung,<br />

Dankbarkeit und Demut für den Buddha und die Patriarchen nimmt<br />

der Rôshi auf einem großen Kissen auf dem Podium dem Butsudan<br />

gegenüber Platz, verschränkt die Beine zum Lotussitz und führt die<br />

Gruppe beim Rezitieren eines kurzen Sûtra-Abschnittes an. Nun ist<br />

er bereit, mit seinem Teishô zu beginnen.<br />

Ebenso wie das vorangegangene Rezitieren <strong>des</strong> Sûtra ist auch das<br />

Teishô eine Opfergabe an den Buddha. Aus diesem Grunde sitzt der<br />

Rôshi mit dem Gesicht dem Butsudan und nicht den Hörern zugekehrt<br />

da, während er seinen Kommentar gibt. Indem sich der Rôshi<br />

an den Buddha wendet, sagt er im Grunde: «<strong>Die</strong>s hier ist meine Aussage<br />

der Wahrheit deiner Lehren. Ich biete sie dir dar in der Hoffnung,<br />

daß du damit zufrieden bist.»<br />

Ein Teishô ist keine gelehrte Abhandlung über die «Bedeutung» eines<br />

Kôan, denn der Rôshi weiß, daß Erklärungen, wie knifflig und<br />

scharfsinnig sie auch sein mögen, doch niemals jenes innere Verständnis<br />

herbeiführen können, das allein uns befähigt, den geistigen Gehalt<br />

eines Kôan mit Sicherheit und Überzeugung zu demonstrieren. Ja,<br />

<strong>Zen</strong>-Meister sehen bloße Definitionen und Erklärungen als trocken<br />

7. <strong>Die</strong> Namen dieser Bücher siehe unter «Kôan» im 10. Kapitel.<br />

107


und leblos und sogar irreführend an, da beide ihrem Wesen nach<br />

begrenzt sind. Das eine Wort «närrisch!», von den Eingeweiden herausgestoßen,<br />

vermittelt mehr als Hunderte von Worten, die es definieren.<br />

Der Rôshi belastet seine Hörer auch nicht mit einer rein philosophischen<br />

Vorlesung über die buddhistische Lehre oder über die<br />

metaphysische Natur der letzten Wirklichkeit.<br />

<strong>Die</strong> Absicht <strong>des</strong> Rôshi ist vielmehr, Geist und Dramatik <strong>des</strong> Kôan<br />

nachzuerleben und durch seine kraftgeladenen Worte und Gebärden<br />

die den Rollen der verschiedenen Hauptpersonen eigene Wahrheit<br />

lebendig werden zu lassen. Da er sich der verschiedenen Grade <strong>des</strong><br />

Auffassungsvermögens seiner Hörer bewußt ist, legt er seinen Kommentar<br />

so an, daß jeder das erhält, was seiner Auffassungskraft entspricht.<br />

Er bringt dabei den geistigen Gehalt <strong>des</strong> Kôan auch in Beziehung<br />

zu den alltäglichen Lebenserfahrungen seiner Hörer. In der<br />

<strong>Zen</strong>-Sprache heißt das: Der Rôshi «schlägt gegen» das Kôan von<br />

seinem Hara aus, und er vertraut darauf, daß die aufsprühenden Funken<br />

der Wahrheit den Geist seiner Hörer erleuchten werden.<br />

«Hara» bedeutet eigentlich Bauch und Unterleib und die Verdauungsfunktionen,<br />

Aufnahme und Ausscheidung, die damit verbunden sind.<br />

Gleichzeitig aber hat das Wort eine seelisch-geistige Bedeutung. Den<br />

Yoga-Systemen von Hindus und Buddhisten zufolge gibt es eine<br />

Anzahl von psychischen <strong>Zen</strong>tren im Körper, durch die vitale kosmische<br />

Kraft oder Energie fließt. Eines von zwei derartigen <strong>Zen</strong>tren<br />

innerhalb <strong>des</strong> Hara steht in Verbindung mit dem Sonnengeflecht,<br />

<strong>des</strong>sen Nervensystem die Verdauungs- und Auscheidungsorgane dirigiert.<br />

Hara ist somit ein Quell vitaler, psychischer Energien. Wenn<br />

HARADA Rôshi 8 , einer der gefeiertsten <strong>Zen</strong>-Meister seiner Zeit, seine<br />

Schüler dazu drängte, ihr Geistiges Auge 9 , d. h. die Aufmerksamkeit,<br />

die Zusammenballung <strong>des</strong> gesamten Seins, im Hara zu konzentrieren,<br />

so pflegte er zu sagen:<br />

«Sie müssen realisieren - d. h. wirklich machen -, daß Ihre Bauchhöhle der<br />

Mittelpunkt <strong>des</strong> Weltalls ist!»<br />

8. Weiteres über ihn siehe Seiten 374-377.<br />

9. Siehe unter «Geist» im 10. Kapitel.<br />

108


Um dem Anfänger im <strong>Zen</strong> das Erlebnis dieser Ur-Wahrheit zu<br />

erleichtern, lehrt man ihn, seine Aufmerksamkeit auf Hara, genauer<br />

gesagt, auf die Stelle handbreit unterhalb <strong>des</strong> Nabels zu richten und<br />

alle geistige und körperliche Aktivität von dort her ausstrahlen zu<br />

lassen. Schafft man im Hara einen Mittelpunkt geist-körperlichen<br />

Gleichgewichts, so bildet sich dort allmählich ein Sitz <strong>des</strong> Bewußtseins,<br />

ein Brennpunkt vitaler Energie, der den gesamten Organismus<br />

beeinflußt. Lama GOVINDA zeigt, daß das Bewußtsein keineswegs nur<br />

auf das Gehirn beschränkt ist; er schreibt:<br />

«Während nach westlicher Anschauung das Gehirn der ausschließliche Sitz<br />

<strong>des</strong> Bewußtseins ist, erweist die yogische Erfahrung, daß unser ‚Hirnbewußtsein‘<br />

nur ein Sonderfall unter einer Anzahl möglicher Bewußtseinsformen<br />

ist, und daß diese je nach ihrer Funktion und ihrer Natur in verschiedenen<br />

Organen <strong>des</strong> Körpers lokalisiert oder konzentriert werden können.<br />

<strong>Die</strong>se auf der Vertikalachse <strong>des</strong> Körpers liegenden ,Organe', welche die<br />

durchströmende Energie sammeln, transformieren und verteilen, werden als<br />

,Cakras' oder Kraftzentren bezeichnet, von denen strahlenförmig, den Speichen<br />

eines Ra<strong>des</strong> oder den Rippen eines Schirms vergleichbar, zahlreiche<br />

sekundäre Ströme psychischer Kraft ausgehen oder in das <strong>Zen</strong>trum zurückführen.<br />

<strong>Die</strong>se Cakras sind in anderen Worten die Punkte, in denen Seelisches und<br />

Körperliches ineinander übergehen, einander durchdringen. Sie sind die<br />

Punkte, in denen das Seelische sich zum Körperlichen kristallisiert und in<br />

denen das Körperliche sich wiederum in Seelisches auflöst, oder richtiger,<br />

zurückverwandelt 10 .»<br />

Wenn man den Schwerpunkt <strong>des</strong> Körpers auf die Stelle unterhalb<br />

<strong>des</strong> Nabels verlagert, d. h. wenn man ein Bewußtseinszentrum im<br />

Hara schafft, so lockern sich sofort die Spannungen, wie sie aus<br />

gewohnheitsmäßig hochgezogenen Schultern, Anspannung <strong>des</strong> Nakkens<br />

oder einem gedrückten Magen entstehen. Wenn diese Steifheit<br />

verschwindet, bekommt man in jeder Hinsicht körperlich und geistig<br />

ein neuartiges Gefühl von Freiheit und gesteigerter Lebenskraft,<br />

10. Lama ANAGARIKA GOVINDA, Grundlagen tibetischer Mystik, O. W. Barth<br />

Verlag, München, 4 1975, S. 154.<br />

109


wobei Körper und Geist mehr und mehr als Einheit empfunden<br />

werden.<br />

Zazen hat klar erwiesen, daß das Wuchern wahllos auftauchender<br />

Ideen abnimmt, wenn man sein Geistiges Auge im Hara zentriert;<br />

auf diese Weise kann man schneller zu geballter Sammlung gelangen,<br />

da der Blutandrang aus dem Kopf abgezogen und dem Unterleib<br />

zugeführt wird, wodurch das Gehirn «abkühlt» und das vegetative<br />

Nervensystem beruhigt wird. Das wiederum führt zu größerer seelisch-geistiger<br />

Stabilität. Wer vorn Hara her wirkt, regt sich daher<br />

auch nicht so leicht auf. Zudem ist er imstande, im Notfall schnell<br />

und entschlossen zu handeln, da sein im Hara verankerter Sinn nicht<br />

ins Straucheln gerät.<br />

Wird das Bewußtsein in den Hara verlagert, so treten Großmut und<br />

ein weiter, offener Blick an die Stelle von engem, egozentrischem<br />

Denken. Das kommt daher, daß ein Denken vom Hara, dem lebenskräftigen<br />

<strong>Zen</strong>trum, aus, das von allen Überlegungen eines von Begriffen<br />

eingeengten Verstan<strong>des</strong> frei ist, spontan und allumfassend ist. <strong>Die</strong><br />

intuitive Erkenntnis vom Hara her führt eher zu Integrierung und<br />

Einung als zu Teilung und Zersplitterung. Kurz, es ist ein Denken,<br />

das die Dinge sicher und ganz erfaßt.<br />

<strong>Die</strong> Gestalt <strong>des</strong> auf dem Lotusthron sitzenden Buddha - heiter, fest,<br />

allwissend, allumfassend, eine grenzenlose Fülle von Licht und Erbarmen<br />

ausstrahlend - gibt das beste Beispiel dafür, wie Hara nach<br />

voller Erleuchtung zum Ausdruck kommt. «Der Denker» von Rodin<br />

hingegen charakterisiert den entgegengesetzten Zustand: eine einsame<br />

Gestalt in Gedanken «verloren», der Körper gekrümmt, vereinzelt<br />

und von seinem Selbst getrennt.<br />

Es ist wichtig, sich darüber klar zu werden, daß die Fähigkeit, vom<br />

Hara her zu denken und zu handeln, ebenso wie Jôriki nur in<br />

indirekter Beziehung zu Satori steht und damit nicht gleichbedeutend<br />

ist. Satori ist ein «Umstülpen» <strong>des</strong> Geistes, ein seelisches Erlebnis, das<br />

inneres Wissen vermittelt, während Hara nicht mehr als das oben<br />

Gesagte ist. <strong>Die</strong> Meister der traditionellen japanischen Künste leisten<br />

alle Vorzügliches in diesem Denken und Handeln vom Hara aus -<br />

wenn sie das nicht könnten, würden sie den Titel «Meister» nicht ver-<br />

110


dienen -, aber nur wenige, wenn überhaupt welche, erreichten Satori<br />

ohne <strong>Zen</strong>-Schulung. Und warum nicht? <strong>Die</strong> Ausbildung <strong>des</strong> Hara<br />

dient im Wesentlichen der Vervollkommnung ihrer Kunst und nicht<br />

Satori; zu <strong>des</strong>sen Erlangung ist der Glaube an die Wirklichkeit von<br />

Buddhas Erleuchtung und an das eigene makellose Buddha-Wesen<br />

Voraussetzung, wie YASUTANI Rôshi in seinen einführenden Unterweisungen<br />

dargelegt hat.<br />

Der Rôshi muß seinen Kommentar also vom Hara aus halten, wenn<br />

er von Geist und Kraft seines gesamten Seins durchglüht sein soll. In<br />

ähnlicher Weise müssen auch seine Zuhörer den Hara zum Brennpunkt<br />

ihres Geistes machen, wenn sie die pulsierende Wahrheit, die<br />

er ihnen zuschleudert, unmittelbar und ganz erfassen sollen. Ja, das<br />

Zuhören beim Teishô ist eigentlich eine andere Art von Zazen, also<br />

ein Zustand ununterbrochener Aufmerksamkeit, der bis zu völliger<br />

Versunkenheit führt. Aus diesem Grunde darf die Konzentration<br />

nicht dadurch unterbrochen werden, daß man Notizen macht oder<br />

sonst die Augen aus ihrer «Sitz-Stellung» abgleiten läßt. In Klöstern,<br />

in denen strenge Disziplin herrscht, erteilen die Mönchs-Ältesten<br />

Anfängern einen Verweis, wenn diese sich etwas aufschreiben wollen<br />

oder wenn ihre Augen in der Halle umherwandern, um andere Sitzende<br />

anzusehen.<br />

Besonders für jenen Gläubigen, <strong>des</strong>sen Übung ein Kôan ist, stellt das<br />

Teishô eine unvergleichliche Gelegenheit dar, unmittelbar Ein-Sicht in<br />

den wesentlichen Gehalt <strong>des</strong> Kôans zu gewinnen, bietet es doch zahlreiche<br />

Anhaltspunkte. Wenn es ihm gelungen ist, seine Gedanken<br />

durch zielbewußte Konzentration zu erschöpfen, und er so weit<br />

gekommen ist, daß er mit seinem Kôan absolut eins ist, so kann eine<br />

Redewendung <strong>des</strong> Rôshi für ihn zum goldenen Pfeil werden, der<br />

plötzlich und unversehens sein Ziel findet, die innerste Hülle der<br />

Dunkelheit in Stücke reißt und den Geist mit Licht und innerem<br />

Begreifen durchflutet. Für den, <strong>des</strong>sen Geist dazu noch nicht reif ist -<br />

mit anderen Worten: noch in verblendetes Denken eingehüllt ist -<br />

bietet das Teishô eine Fülle von Fingerzeigen für seine weitere Übung.<br />

Allen aber, wie immer auch ihre Geistesverfassung sein mag, dient ein<br />

klares, kraftvolles Teishô als Inspiration und Ermutigung.<br />

111


Ist das Teishô beendet, so schließt der Rôshi unauffällig das Buch der<br />

Kôans, während alle mit ihm in das Rezitieren der Vier Gelübde einstimmen.<br />

Nie, weder während <strong>des</strong> Teishô, noch danach, fordert er zu<br />

Fragen auf oder ermutigt dazu. Bei der <strong>Zen</strong>-Lehre blickt man stirnrunzelnd<br />

auf alle theoretischen Fragen, da sie dem unmittelbaren<br />

Erlebnis der Wahrheit nicht förderlich sind. <strong>Die</strong>se Einstellung läßt<br />

sich bis auf den Buddha zurückverfolgen, der in «edlem Schweigen»<br />

verharrte, wann immer ihm Fragen gestellt wurden wie «Sind Weltall<br />

und Seele endlich oder unendlich?» «Existiert der Heilige nach dem<br />

Tode oder nicht?». Und der <strong>Zen</strong>-Buddhismus, der die Quintessenz<br />

von Buddhas Lehre darstellt, weigert sich gleichermaßen, Fragen zu<br />

behandeln, auf die es letzten En<strong>des</strong> keine Antwort gibt, oder auch<br />

Fragen, die Antworten zur Folge haben, die nur von jemandem verstanden<br />

werden können, <strong>des</strong>sen Geist im Lichte vollen Bewußtseins<br />

gebadet ist, also nach vollkommener Erleuchtung. Wenn beim Dokusan<br />

abstrakte, theoretische Fragen gestellt werden, wie es manchmal<br />

geschieht, dann wirft der Rôshi sie auf den Fragenden zurück, um<br />

zu versuchen, ihm den Ur-Quell sichtbar zu machen, aus dem sie hervorgehen,<br />

und um ihn mit eben diesem Ur-Quell in Verbindung zu<br />

bringen.<br />

Abstrakte Fragen werden jedoch noch aus anderen Gründen mit Mißfallen<br />

betrachtet. Wenn solche Fragen zum Hauptanliegen werden, so<br />

treten sie nur allzu leicht an die Stelle von Zazen und drängen jenes<br />

Innere Begreifen ab, zu dem allein Zazen führen kann. Indem sie den<br />

Verstand kitzeln, erschweren sie auch die für Kenshô so wesentliche<br />

Stillung und Entleerung <strong>des</strong> Geistes erheblich. <strong>Die</strong> klassische Antwort,<br />

die der Buddha einem Mönch gab, der drohte, seine religiöse Lebensweise<br />

aufzugeben, wenn der Buddha nicht seine Frage, ob ein Heiliger<br />

nach dem Tode existiere, beantworten würde, verdient, hier angeführt<br />

zu werden:<br />

«Das ist genau so, als wäre jemand von einem Pfeil, der dick mit Gift<br />

beschmiert war, verwundet worden, und seine Freunde und Gefährten, seine<br />

Sippe und Familie wollten ihm einen Arzt oder Chirurgen verschaffen; und<br />

der Kranke würde sagen: ,Ich will nicht, daß man mir diesen Pfeil herauszieht,<br />

ehe ich nicht erfahren habe, ob der Mann, der mich verwundet hat,<br />

112


zur Kriegerkaste oder zur Brahmanenkaste gehörte, ... ob er groß, klein<br />

oder von mittlerem Wuchs war, schwarze, braune oder gelbe Haut hatte;<br />

aus dieser oder jener Ortschaft, Stadt oder Großstadt stammte; ... ob es<br />

ein gewöhnlicher Pfeil war oder einer mit einem Widerhaken ...‘ Jener<br />

Mann würde sterben, ohne all das jemals erfahren zu haben 11 .»<br />

Und in einem anderen Dialog stellte der Buddha fest:<br />

«Das religiöse Leben hängt nicht von dem Glaubenssatz ab, daß die Welt<br />

ewig ist oder nicht, unendlich oder endlich, daß Seele und Leib identisch<br />

oder verschieden sind; oder von dem Glaubenssatz, daß der Heilige nach<br />

dem Tode existiert oder nicht... Das bringt keinen Gewinn, noch hat es<br />

etwas mit den Grundwahrheiten der Religion zu tun, noch ist es auf Leidenschaftslosigkeit<br />

gerichtet. . . oder auf Weisheit und Nirvana 12 .»<br />

Der Kommentar<br />

Heute will ich das erste Beispiel im Mumon-Kan behandeln, das den<br />

Titel «JÔSHÛ (über das dem) Hund (eigene Wesen)» trägt. Ich werde<br />

das Kôan genau vorlesen und danach MUMONS Erläuterung:<br />

Ein Mönch fragte JÔSHÛ in allem Ernst: «Hat ein Hund Buddha-Wesen<br />

oder nicht?» JÔSHÛ versetzte: «Mu!»<br />

MUMONS Erläuterung: Bei der Übung <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> müßt ihr durch das Schranken-Tor<br />

13 hindurchgehen, das die Patriarchen aufrichteten. Um jenes wundersame<br />

Ding, das man Erleuchtung nennt, zu erfahren, müßt ihr in den<br />

Ursprung eurer Gedanken Einblick gewinnen und sie dadurch ausrotten.<br />

Wenn ihr nicht durch die Schranke hindurchgehen könnt, euch also der<br />

aufsteigenden Gedanken nicht entledigen könnt, seid ihr Gespenstern<br />

gleich, die sich an Bäume und Gräser klammern.<br />

11. Majjhima Nikāya 63.<br />

12. Majjhima Nikāya 72.<br />

13. Im alten China gab es auf den großen Straßen, die zu einer Ortschaft oder<br />

Stadt führten, Schlagbäume, an denen man kontrolliert wurde, ehe man die Erlaubnis<br />

erhielt, die Stadt zu betreten - ähnlich also wie bei den Stadtmauern im<br />

mittelalterlichen Europa.<br />

113


Was denn ist diese von den Patriarchen aufgerichtete Schranke? Es ist Mu,<br />

die eine Schranke der erhabenen Lehre. Letzten En<strong>des</strong> ist es eine Schranke,<br />

die keine Schranke ist. Wer hindurch gegangen ist, kann nicht allein<br />

JÔSHÛ von Angesicht zu Angesicht sehen, sondern er kann auch Hand in<br />

Hand mit der ganzen Reihe der Patriarchen gehen. Ja, er kann Augenbraue<br />

an Augenbraue stehend mit den gleichen Ohren hören und mit den<br />

gleichen Augen sehen.<br />

Wie wunderbar! Wer wünschte nicht, durch diese Schranke zu gehen?<br />

Dafür müßt ihr euch Tag und Nacht konzentrieren und euch mit jedem<br />

eurer 360 Knochen und jeder eurer 84 000 Poren erforschen. Legt Mu nicht<br />

fälschlich als Nichts aus und faßt es nicht als Dasein oder Nicht-Dasein<br />

auf, (ihr müßt jenen Punkt erreichen, da es euch vorkommt) als hättet ihr<br />

eine rot-glühende Eisenkugel verschluckt, die ihr trotz aller Anstrengung<br />

nicht ausspeien könnt. Wenn ihr all eure Verblendung aufgelöst habt und<br />

im Verlaufe vieler Jahre zur Reinheit herangereift seid, so daß Innen und<br />

Außen wie Eines sind, dann werdet ihr eure (hehre) Geistesverfassung voll<br />

auskosten; aber wie ein Stummer, der einen Traum gehabt hat (werdet ihr<br />

nicht darüber sprechen können). Wenn ihr einmal zur Erleuchtung durchbrecht,<br />

so werdet ihr den Himmel in Bestürzung setzen und die Erde in<br />

Bewegung bringen. Als hättet ihr das scharfe Schwert von General KUAN 14<br />

erbeutet, werdet ihr imstande sein, den Buddha zu erschlagen, solltet ihr<br />

ihm begegnen (und er wollte euch aufhalten), und alle Patriarchen, die ihr<br />

trefft, zu töten (falls sie euch hindern wollten). Frei von (den Fesseln von)<br />

Geburt-und-Tod, werdet ihr euch in den Sechs Bereichen <strong>des</strong> Daseins und<br />

den Vier Arten von Geburt in einem samâdhi unschuldigen Entzückens<br />

bewegen.<br />

Wie nun haltet ihr ausschließlich an Mu fest? Alle eure Lebenskraft<br />

erschöpfend, sammelt Euch auf Mu. Wenn ihr unterwegs nicht aufgebt,<br />

werdet ihr erleuchtet werden, gleich wie eine Dharma-Kerze durch einen<br />

einzigen Funken entzündet wird.<br />

MUMONS LOBSPRUCH:<br />

Hund! Buddha-Wesen!<br />

Darstellung <strong>des</strong> ganzen, unabdingbaren Gebots!<br />

Wer zu denken beginnt, «hat» oder «hat nicht»,<br />

hat (den Einklang mit dem) Leben verloren.<br />

14. Siehe S. 125.<br />

114


<strong>Die</strong> Hauptperson in diesem Kôan ist JÔSHÛ, ein berühmter chinesischer<br />

Meister. Ich meine, es wäre besser, ihn als den Patriarchen<br />

JÔSHÛ zu bezeichnen. Da mein Kommentar zum heutigen Kôan ziemlich<br />

lang sein wird, sehe ich davon ab, JÔSHÛS Lebenslauf zu erzählen.<br />

Es mag genügen zu sagen, daß er, wie Sie alle wissen, ein großer<br />

Patriarch <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> war. Obgleich zahlreiche Kôans ihn zum Mittelpunkt<br />

haben, ist doch dieses zweifellos das bekannteste. Meister<br />

MUMON rang sechs Jahre lang damit und kam schließlich zur Selbst-<br />

Wesensschau. Das Kôan machte offenbar tiefen Eindruck auf ihn,<br />

denn er stellte es unter seinen achtundvierzig Kôans an erste Stelle.<br />

Es gibt eigentlich keinen besonderen Grund dafür, daß gerade dieses<br />

Kôan das erste sein sollte - je<strong>des</strong> andere hätte ebenso gut an den<br />

Anfang gestellt werden können - aber MUMONS Beziehung dazu war<br />

derart innig, daß er es ganz selbstverständlich an die Spitze stellte.<br />

<strong>Die</strong> erste Zeile lautet: «Ein Mönch fragte JÔSHÛ in allem Ernst...»<br />

Das heißt, seine Frage war weder leichtfertig noch beiläufig, sondern<br />

wohldurchdacht.<br />

Im folgenden wird durch «Hat ein Hund Buddha-Wesen?» die Frage<br />

erhoben: Was ist Buddha-Wesen? Eine bekannte Stelle im Nirvana-<br />

Sûtra besagt, daß je<strong>des</strong> Geschöpf Buddha-Wesen habe. Der Ausdruck<br />

«je<strong>des</strong> Geschöpf» bedeutet: alles Dasein. Nicht allein die Menschen,<br />

sondern auch die Tiere und sogar die Pflanzen sind Geschöpfe. Daher<br />

haben laut dem Nirvana-Sûtra ein Hund, ein Affe, eine Libelle und<br />

ein Wurm gleichermaßen Buddha-Wesen. Im Zusammenhang mit diesem<br />

Kôan können Sie diesen Ausdruck jedoch so verstehen, als bezöge<br />

er sich nur auf Tiere.<br />

Was also ist Buddha-Wesen? Kurz gesagt: Das Wesen von allem ist so<br />

beschaffen, daß es Buddha werden kann. Einige von Ihnen mögen<br />

sich nun, da sie meinen, daß es da verborgen in uns etwas gibt, das<br />

man das Buddha-Wesen nennt, nach dem Aufenthalt dieses Buddha-<br />

Wesens erkundigen. Vielleicht sind Sie geneigt, es dem Gewissen<br />

gleichzusetzen, das jeder, selbst der Böse, besitzen soll. Sie werden die<br />

Wahrheit von Buddha-Wesen nie begreifen, solange Sie derart trügerische<br />

Ansichten hegen. Der Patriarch DÔGEN legte diesen Ausdruck im<br />

Nirvana-Sûtra dahin aus, daß das, was das Wesen aller Geschöpfe<br />

115


ausmacht, eben Buddha-Wesen ist, und nicht, daß alle Geschöpfe<br />

etwas haben, das man das Buddha-Wesen nennt. Für DÔGEN gibt es<br />

also überhaupt nur Buddha-Wesen und sonst nichts.<br />

Im Buddhismus ist Buddha-Wesen eine intime Bezeichnung, Dharma-<br />

Wesen hingegen eine unpersönliche. Ob wir nun aber Buddha-Wesen<br />

oder Dharma-Wesen sagen, der Gehalt bleibt der gleiche. Wer zum<br />

Dharma erwacht ist, ist ein Buddha, und demzufolge erhebt sich<br />

Buddha aus dem Dharma. Das Diamant-Sûtra sagt, daß alle Buddhas<br />

und ihre Erleuchtung aus diesem Dharma hervorgehen. Daraus folgt,<br />

daß der Dharma Mutter der Buddhaschaft ist. In Wirklichkeit jedoch<br />

gibt es weder Mutter noch Sohn, und es ist, wie ich schon gesagt habe,<br />

ganz gleich, ob Sie Buddha oder Dharma sagen.<br />

Was ist der Dharma von Dharma-Wesen? Dharma bedeutet Erscheinungen,<br />

Phänomene. Was wir gemeinhin als Phänomene bezeichnen<br />

- also das, was mit den Sinnen wahrnehmbar ist -, wird im<br />

Buddhismus Dharma genannt. Das Wort «Phänomen» hat, da es sich<br />

nur auf Wahrnehmbares bezieht und nicht auch auf das, was ihr<br />

Erscheinen bewirkt, eine beschränkte Bedeutung. <strong>Die</strong>se Phänomene<br />

werden Dharma (oder Gesetz) genannt, weil sie weder durch Zufall,<br />

noch durch den Willen einer besonderen Instanz, die das Weltall<br />

überwacht, hervorgerufen werden. Alle Phänomene sind das Ergebnis<br />

<strong>des</strong> Gesetzes von Ursache und Wirkung. Sie entstehen, wenn die<br />

Ursachen und Bedingungen, von denen sie beherrscht werden, ausgereift<br />

sind. Wenn sich eine dieser Ursachen oder Bedingungen ändert,<br />

so wandeln sich die Phänomene entsprechend. Wenn sich die Kombination<br />

von Ursachen und Bedingungen völlig auflöst, so verschwindet<br />

auch die Form selbst. Da alles Dasein Ausdruck dieses Gesetzes von<br />

Ursache und Wirkung ist, sind alle Phänomene ebenfalls dieses<br />

Gesetz, dieser Dharma. Und da es mannigfaltige Daseinsformen gibt,<br />

gibt es auch mannigfaltige Dharma, die diesen Daseinsformen entsprechen.<br />

<strong>Die</strong> Substanz dieser mannigfachen Dharma nennen wir<br />

Dharma-Wesen. Ob wir nun Dharma-Wesen sagen, oder die persönlichere<br />

Bezeichnung Buddha-Wesen benutzen, so beziehen sich doch<br />

beide Ausdrücke auf ein und dieselbe Wirklichkeit. Anders ausgedrückt:<br />

Alle Phänomene sind Transformationen von Buddha- oder<br />

116


Dharma-Wesen. Alles unterliegt seinem Wesen nach dem Vorgang<br />

unendlicher Wandlungen - das ist sein Buddha- oder Dharma-Wesen.<br />

Was ist die Substanz dieses Buddha- oder Dharma-Wesens? Im<br />

Buddhismus nennt man es ku (śûnyatâ). Ku ist jedoch nicht bloße<br />

Leerheit. Es ist vielmehr etwas Lebendiges, Dynamisches, frei von<br />

Masse, beweglich, jenseits von Individualität und Persönlichkeit - der<br />

Mutterboden aller Phänomene. Hierin haben wir das Grundprinzip,<br />

die grundlegende Lehre und Philosophie <strong>des</strong> Buddhismus.<br />

Für den Buddha SHAKYAMUNI war das keine bloße Theorie, sondern<br />

die Wahrheit, deren er unmittelbar innewurde. Durch das Erlebnis<br />

der Erleuchtung, das der Ursprung aller buddhistischen Lehren ist,<br />

begreift man die Welt von Ku. <strong>Die</strong>se Welt - beweglich, frei von<br />

Masse, jenseits von Individualität und Persönlichkeit - liegt außerhalb<br />

<strong>des</strong> Bereichs unserer Vorstellungskraft. Demzufolge ist die wahre<br />

Substanz der Dinge, also ihr Buddha- oder Dharma-Wesen, unbegreiflich<br />

und unerforschlich. Da alles Vorstellbare etwas von Form<br />

oder Farbe an sich hat, muß alles, was man sich als Buddha-Wesen<br />

vorstellt, notgedrungen unwirklich sein. Was man sich vorstellen<br />

kann, ist nur ein Abbild von Buddha-Wesen, nicht aber Buddha-<br />

Wesen selbst. Aber obgleich Buddha-Wesen jenseits aller Begriffe und<br />

Vorstellungen liegt, ist es uns doch möglich, dazu zu erwachen, da<br />

wir selbst ureigentlich Buddha-Wesen sind. Wir können jedoch nur<br />

durch das Erlebnis der Erleuchtung die Bestätigung dafür im Herzen<br />

finden. Erleuchtung ist daher alles.<br />

Wenn Sie einmal dieser Welt von Ku innegeworden sind, werden<br />

Sie das Wesen der Erscheinungswelt sogleich begreifen und aufhören,<br />

sich daran zu klammern. Was wir sehen, ist trügerisch, ohne Substanz,<br />

gleich den Possen von Puppen in einem Film. Fürchten Sie sich davor<br />

zu sterben? Das brauchen Sie nicht. Der Tod hat nicht mehr substantielle<br />

Wirklichkeit als die Bewegungen der Puppen. Oder anders ausgedrückt:<br />

Er ist nicht wirklicher als das Schneiden der Luft mit einem<br />

Messer oder das Platzen von Blasen, die immer aufs neue erscheinen,<br />

wie oft sie auch zerplatzen.<br />

Sind wir einmal der Welt von Buddha-Wesen gewahr geworden, so<br />

sind wir dem Tod gegenüber gleichgültig, da wir wissen, daß wir wie-<br />

117


dergeboren werden durch die Affinität zu einem Vater und einer<br />

Mutter. Wir werden wiedergeboren, wenn unsere karmischen Zusammenhänge<br />

uns dazu treiben. Wir sterben, wenn unsere karmischen<br />

Zusammenhänge bestimmen, daß wir sterben. Und wir werden getötet,<br />

wenn unsere karmischen Zusammenhänge dazu führen, daß wir<br />

getötet werden. Wir sind in jedem Augenblick die Manifestation<br />

unserer karmischen Zusammenhänge, und wir wandeln uns, wenn sie<br />

sich ändern. Was wir Leben nennen, ist nichts mehr als eine Abfolge<br />

von Umwandlungen. Wenn wir uns nicht wandeln, sind wir leblos.<br />

Wir wachsen und altern, weil wir leben. Unser Sterben ist der Beweis<br />

dafür, daß wir gelebt haben. Wir sterben, weil wir leben. Leben<br />

bedeutet Geburt und Tod. Schöpfung und Vernichtung bedeuten<br />

Leben.<br />

Wenn Sie dieses Grundprinzip wahrhaft begreifen, werden Sie sich um<br />

Leben und Tod keine Sorge machen. Sie werden unerschütterlichen<br />

Sinnes werden und in Ihrem alltäglichen Leben glücklich sein. Selbst<br />

wenn bei Himmel und Erde das Oberste zuunterst gekehrt würde,<br />

werden Sie doch keine Furcht haben. Und wenn eine Atom- oder<br />

Wasserstoffbombe explodierte, so würden Sie nicht vor Entsetzen<br />

beben. Wenn Sie mit der Bombe eins werden, was sollte es da zu<br />

fürchten geben? «Unmöglich!» sagen Sie. Aber ob Sie es wünschen<br />

oder nicht, Sie würden doch gewaltsam mit ihr eins werden, nicht<br />

wahr? Desgleichen würden Sie, wenn Sie in ein Großfeuer gerieten,<br />

unweigerlich verbrennen. Werden Sie also eins mit dem Feuer, wenn<br />

es kein Entkommen gibt! Wenn Sie in Armut geraten, so leben Sie<br />

darin, ohne zu grollen; dann wird Ihnen die Armut keine Bürde sein.<br />

Und ebenso: Wenn Sie reich sind, so leben Sie mit Ihren Reichtümern.<br />

All das ist das Wirken von Buddha-Wesen. Kurz gesagt: Buddha-<br />

Wesen ist von unendlicher Anpassungsfähigkeit.<br />

Wenn wir nun auf unser Kôan zurückkommen, müssen wir uns der<br />

Frage «Hat ein Hund Buddha-Wesen?» mit Vorsicht nähern, da wir<br />

nicht wissen, ob der Mönch wirklich unwissend ist oder nur Unwissenheit<br />

heuchelt, um JÔSHÛ zu prüfen. Würde JÔSHÛ antworten «Er<br />

hat» oder «Er hat nicht», würde er niedergestochen. Wissen Sie,<br />

warum? Weil das, worum es hier geht, gar nicht eine Sache von<br />

118


«haben» oder «nicht haben» ist. Da sowieso alles Buddha-Wesen ist,<br />

wäre jede der beiden Antworten sinnwidrig. Das hier ist ein<br />

«Dharma-Gefecht». JÔSHÛ muß den Stoß parieren. Das tut er, indem<br />

er scharf versetzt «Mu!» Hier endet der Dialog.<br />

Anderen Versionen <strong>des</strong> gleichen Kôan zufolge fährt der Mönch fort<br />

zu fragen: «Warum hat ein Hund nicht Buddha-Wesen, wenn es im<br />

Nirvana-Sûtra doch heißt, daß alle Geschöpfe es besitzen 15 ?» JÔSHÛ<br />

parierte: «Er hat sein eigenes Karma.» Das bedeutet, daß <strong>des</strong> Hun<strong>des</strong><br />

Buddha-Wesen nichts anderes als Karma ist. Handlungen, die in Verblendung<br />

ausgeführt wurden, rufen schmerzhafte Folgen hervor. Das<br />

ist Karma. Einfacher ausgedrückt: Ein Hund ist ein Hund auf Grund<br />

seines vergangenen Karmas, das ihn dazu bestimmt hat, ein Hund zu<br />

werden. Das ist das Wirken von Buddha-Wesen. Man rede also nicht,<br />

als gäbe es ein besonderes Ding, das «Buddha-Wesen» genannt wird.<br />

Das ist der tiefere Sinn von JÔSHÛS «Mu». Somit ist klar, daß Mu<br />

mit dem Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von Buddha-<br />

Wesen nichts zu tun hat, sondern selber Buddha-Wesen ist. <strong>Die</strong><br />

scharfe Entgegnung «Mu!» legt Buddha-Wesen bloß und drängt es<br />

uns zugleich voll auf. Obgleich Sie vielleicht nicht ganz verstehen<br />

können, was ich sage, werden Sie doch nicht irregehen, wenn Sie<br />

Buddha-Wesen in dieser Weise auffassen.<br />

Buddha-Wesen kann mit dem Verstand nicht erfaßt werden. Um es<br />

unmittelbar zu erleben, müssen Sie mit äußerster Hingabe in Ihrem<br />

Innern suchen, bis Sie von seiner Existenz unbedingt überzeugt sind,<br />

denn schließlich sind Sie ja selber dieses Buddha-Wesen. Wenn ich<br />

vorhin sagte, daß Buddha-Wesen Ku ist - unpersönlich, frei von<br />

Masse, beweglich und endloser Verwandlung fähig -, so habe ich<br />

Ihnen damit nur ein Bildnis davon gegeben. Es ist zwar möglich, in<br />

solchen Begriffen an Buddha-Wesen zu denken, es muß Ihnen aber<br />

klar sein, daß alles, was Sie erdenken oder sich vorstellen können,<br />

notgedrungen unwirklich ist. Es gibt daher keine andere Möglichkeit,<br />

als die Wahrheit im eigenen Geist zu erleben. Den Weg dazu hat<br />

MUMON in größter Güte gewiesen.<br />

15. Der Mönch deutete offenbar JÔSHÛS «Mu!» irrtümlich als «hat nicht!»<br />

119


Wir wollen jetzt MUMONS Erläuterung betrachten. Zu Beginn sagt er:<br />

«Bei der Übung <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>...» Zazen, Dokusan (individuelle Unterweisung)<br />

zu empfangen, das Teishô anzuhören - all das ist <strong>Zen</strong>-<br />

Übung. Aufmerksamkeit bei allen Einzelheiten Ihres täglichen Lebens<br />

- auch das ist Schulung im <strong>Zen</strong>. Wenn Ihr Leben und <strong>Zen</strong> eins geworden<br />

sind, dann leben sie wahrhaft <strong>Zen</strong>. Wenn <strong>Zen</strong> nicht mit Ihren<br />

alltäglichen Verrichtungen übereinstimmt, ist es lediglich eine Verzierung.<br />

Sie müssen darauf bedacht sein, <strong>Zen</strong> nicht zur Schau zu tragen,<br />

sondern es Ihrem Leben bescheiden einzufügen. Ein konkretes Beispiel<br />

für Aufmerksamkeit: Wenn Sie im Vorraum aus den Holzschuhen<br />

oder vor der Toilette aus den Pantoffeln schlüpfen, müssen Sie<br />

darauf achten, sie säuberlich hinzustellen, so daß der Nächste sie<br />

selbst im Dunkeln leicht anziehen kann. Solche Achtsamkeit ist eine<br />

praktisch-anschauliche Darstellung von <strong>Zen</strong>. Wenn Sie Pantoffeln<br />

oder Schuhe geistesabwesend anziehen, sind Sie nicht aufmerksam.<br />

Wenn sie gehen, müssen Sie achtsam auftreten, um nicht zu stolpern<br />

oder zu fallen. Werden Sie nicht nachlässig!<br />

Aber ich schweife ab. Fahren wir fort: «... müßt Ihr durch das<br />

Schranken-Tor hindurchgehen, das die Patriarchen aufrichteten.» Mu<br />

ist solche Schranke. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß es von<br />

Anbeginn an gar keine Schranke gibt. Da alles Buddha-Wesen ist,<br />

gibt es kein Tor, durch das man ein- und ausgehen könnte. Um uns<br />

aber zu der Wahrheit, daß alles Buddha-Wesen ist, zu erwecken,<br />

haben die Patriarchen widerwillig Schranken errichtet und feuern uns<br />

an, hindurchzugehen. Sie verurteilen unser mangelhaftes Üben und<br />

weisen unsere unvollständigen Antworten zurück. Wenn Sie stetig<br />

an Lauterkeit zunehmen, werden Sie eines Tages plötzlich zur Selbst-<br />

Wesensschau kommen. Wenn das geschieht, werden Sie mühelos durch<br />

das Schranken-Tor hindurchgehen. Mumon-Kan ist ein Buch, das<br />

achtundvierzig solcher Schranken enthält.<br />

<strong>Die</strong> nächste Zeile beginnt: «Um jenes wundersamen Dinges, das man<br />

Erleuchtung nennt, innezuwerden ...» Beachten Sie das Wort «wundersam».<br />

Erleuchtung wird als wundersam bezeichnet, da sie unerklärlich<br />

und unbegreiflich ist. «... müßt ihr in den Ursprung eurer<br />

Gedanken Einblick gewinnen und sie dadurch ausrotten.» Das heißt,<br />

120


daß es nutzlos ist, sich <strong>Zen</strong> vom Standpunkt der Logik und bestimmter<br />

Voraussetzungen aus zu nähern. Man kann durch Schlußfolgerungen,<br />

Kenntnisse oder Begriffsbildungen niemals zur Erleuchtung kommen.<br />

Hören Sie auf, sich an irgendwelche Gedankenformen zu klammern!<br />

Ich betone das, da es der Mittelpunkt der <strong>Zen</strong>-Übung ist.<br />

Hüten Sie sich auch ganz besonders davor zu denken, Erleuchtung<br />

müsse dieses oder jenes sein!<br />

«Wenn ihr nicht durch die Schranke hindurchgehen könnt, euch also<br />

der aufsteigenden Gedanken nicht entledigen könnt, seid ihr Gespenstern<br />

gleich, die sich an Bäume und Gräser klammern.» Gespenster<br />

erscheinen nicht am hellichten Tage, sondern kommen verstohlen bei<br />

Dunkelheit hervor, so sagt man, schmiegen sich an die Erde oder<br />

klammern sich an Weidenbäume. Sie bedürfen zu ihrer bloßen Existenz<br />

dieser Stützen. In gewissem Sinne sind auch die Menschen<br />

gespensterartig, da die meisten von uns nicht unabhängig von Geld,<br />

sozialem Rang, Ehren, Gesellschaft und Ansehen wirken können.<br />

Oder aber wir haben das Bedürfnis, uns mit Organisationen und Ideologien<br />

zu identifizieren. Wer ein Mensch von wahrem Wert und nicht<br />

nur ein Phantom ist, der muß fähig sein, aufrecht dahinzuschreiten,<br />

allein und von allem unabhängig. Wenn Sie philosophische Begriffe<br />

oder religiöse Glaubensanschauungen, Ideen oder Theorien irgendwelcher<br />

Art hegen, so sind Sie gleichfalls ein Gespenst, denn Sie<br />

werden unausweichlich davon festgehalten. Nur wenn Ihr Sinn von<br />

solchen Abstraktionen leer ist, sind Sie wahrhaft frei und unabhängig.<br />

<strong>Die</strong> nächsten beiden Sätze lauten: «Was denn ist diese von den<br />

Patriarchen aufgerichtete Schranke? Es ist Mu, die eine Schranke der<br />

erhabenen Lehre.» <strong>Die</strong> erhabene Lehre ist kein Moralsystem, sondern<br />

das, was an der Wurzel all solcher Systeme sitzt, nämlich <strong>Zen</strong>. Als<br />

Wurzel aller Lehren und daher als erhaben kann man nur das bezeichnen,<br />

was von lauterster Reinheit ist, frei von allem Abergläubischen<br />

und Übernatürlichen. Im Buddhismus ist <strong>Zen</strong> die einzige Lehre, die<br />

in gar keiner Weise von Elementen <strong>des</strong> Übernatürlichen vergiftet ist.<br />

So kann man <strong>Zen</strong> allein als erhabene Lehre bezeichnen und Mu als<br />

eine Schranke dieser erhabenen Lehre. Sie können «eine Schranke»<br />

121


als «einzige Schranke» auffassen, oder auch als eine von vielen. Letzten<br />

En<strong>des</strong> gibt es keine Schranke.<br />

«Wer hindurch gegangen ist, kann nicht allein JÔSHÛ von Angesicht<br />

zu Angesicht sehen ...» Da wir in einem anderen Zeitalter leben,<br />

können wir natürlich JÔSHÛ nicht leiblich sehen. « JÔSHÛ von Angesicht<br />

zu Angesicht sehen» heißt, seinen Geist begreifen. «... er kann<br />

auch Hand in Hand mit der ganzen Reihe der Patriarchen gehen.»<br />

<strong>Die</strong> Reihe der Patriarchen beginnt mit MAHÂ KĀSHYAPA, der auf den<br />

Buddha folgte; sie führt weiter zu BODHIDHARMA, dem achtundzwanzigsten<br />

Patriarchen, und setzt sich bis zum heutigen Tage fort.<br />

«Augenbraue an Augenbraue» ist eine Redewendung, die große Vertraulichkeit<br />

besagt. «... mit den gleichen Ohren hören und mit den<br />

gleichen Augen sehen», kennzeichnet die Fähigkeit, die Dinge vom<br />

gleichen Gesichtspunkt aus zu betrachten wie der Buddha und<br />

BODHIDHARMA. Das besagt natürlich, daß wir die Welt der Erleuchtung<br />

klar erfaßt haben.<br />

«Wie wunderbar!» Ja, wunderbar fürwahr! Einzig jene, die die Kostbarkeit<br />

<strong>des</strong> Buddha, <strong>des</strong> Dharma und der Patriarchen anerkennen,<br />

wissen einen derartigen Ausruf zu würdigen. Ja, wie wahrhaft wunderbar!<br />

Jene, die nicht nach dem Buddha und dem Dharma fragen,<br />

dürften alles andere als ein Wunder darin sehen; aber das läßt sich<br />

nicht ändern.<br />

«Wer wünschte nicht, durch diese Schranke zu gehen? Dafür müßt<br />

ihr euch Tag und Nacht konzentrieren und euch mit jedem eurer 360<br />

Knochen und jeder eurer 84 000 Poren erforschen.» <strong>Die</strong>se Zahlen<br />

geben die Vorstellung der Alten wieder, die glaubten, daß der Körper<br />

in dieser Weise aufgebaut sei. Jedenfalls beziehen sie sich auf das<br />

ganze Sein <strong>des</strong> Menschen. Alles an Ihnen muß zu einer einzigen Masse<br />

von Zweifel und Fragen werden. Versenken Sie sich in Mu, und<br />

durchdringen Sie es ganz! Mu zu durchdringen bedeutet, zu unbedingter<br />

Einheit mit ihm zu gelangen. Wie kann man diese Einheit erreichen?<br />

Indem Sie sich hartnäckig Tag und Nacht an Mu halten! Trennen<br />

Sie sich unter gar keinen Umständen davon! Machen Sie es<br />

unablässig zum Brennpunkt Ihres Geistes.<br />

«Legt Mu nicht fälschlich als Nichts aus und faßt es nicht als Dasein<br />

122


oder Nichtdasein auf.» Mit anderen Worten: Sie sollen nicht an Mu<br />

als an ein Problem denken, das Dasein oder Nicht-Dasein von<br />

Buddha-Wesen zum Gegenstand hat. Was also sollen Sie tun? Hören<br />

Sie auf zu grübeln, und konzentrieren Sie sich voll und ganz auf Mu -<br />

Mu allein!<br />

Trödeln Sie nicht, üben Sie mit jeder Faser Ihrer Kraft. «(Ihr müßt<br />

jenen Punkt erreichen, da es euch vorkommt,) als hättet ihr eine rotglühende<br />

Eisenkugel verschluckt...» Es ist natürlich eine Übertreibung,<br />

wenn von dem Verschlucken einer rot-glühenden Eisenkugel<br />

die Rede ist. Wir schlucken jedoch oft achtlos einen heißen Reisknödel,<br />

der uns in der Kehle stecken bleibt und uns beträchtliches Unbehagen<br />

verursacht. Wenn Sie Mu einmal verschluckt haben, werden<br />

Sie sich gleichermaßen höchst unbehaglich fühlen und versuchen, es<br />

zu entfernen. «.. . die ihr trotz aller Anstrengung nicht ausspeien<br />

könnt.» - Das charakterisiert den Zustand jener, die an diesem Kôan<br />

arbeiten. Da die Aussicht auf Selbst-Wesensschau wahre Tantalusqualen<br />

hervorruft, können sie nicht aufgeben; ebensowenig aber können<br />

sie die Bedeutung von Mu leicht erfassen. Es gibt also für sie<br />

keinen anderen Weg, als sich auf Mu zu konzentrieren, bis sie «blau<br />

im Gesicht werden».<br />

Der Vergleich mit einer rot-glühenden Eisenkugel ist angemessen. Sie<br />

müssen Ihre Verblendung zusammen mit der rot-glühenden Eisenkugel<br />

Mu, die Ihnen in der Kehle steckt, einschmelzen. Ihre Ansichten,<br />

an denen Sie festhalten, und Ihr weltliches Wissen machen Ihre<br />

Verblendung aus. Dazu gehören auch philosophische und moralische<br />

Begriffe, wie hehr sie auch sein mögen, und religiöse Glaubensanschauungen<br />

und Dogmen, ganz zu schweigen von unschuldigen, alltäglichen<br />

Gedanken. Kurz, man bezeichnet mit «Verblendung» alle<br />

nur vorstellbaren Ideen, die Hindernisse für die erkennende Schau<br />

unserer Wesens-Essenz sind. Schmelzen Sie sie also mit der Feuerkugel<br />

Mu ein!<br />

Sie sollten Zazen nicht nach Lust und Laune üben. Sie werden niemals<br />

Erfolg haben, wenn Sie Zazen nur dann üben, wenn Ihnen gerade der<br />

Sinn danach steht, und es dann schnell wieder aufgeben. Sie müssen<br />

unerschütterlich ein, zwei, <strong>drei</strong> oder gar fünf Jahre lang durchhalten,<br />

123


ohne nachzulassen, beständig auf der Hut sein. Auf diese Weise werden<br />

Sie allmählich an Reinheit gewinnen. Anfangs werden Sie sich<br />

nicht von ganzem Herzen in Mu ergießen können. Es wird Ihnen<br />

schnell entwischen, da Ihr Sinn zu wandern beginnt. Sie müssen sich<br />

schärfer konzentrieren - einzig und allein «Mu! Mu! Mu!» Und wiederum<br />

wird es sich Ihnen entziehen. Und wiederum versuchen Sie, es<br />

scharf in den Blick zu fassen, und wieder schlägt es Ihnen fehl. Das ist<br />

in den ersten Stadien der Übung das Übliche. Selbst wenn Mu nicht<br />

davonschlüpft, wird Ihre Konzentration durch mancherlei geistige<br />

Verunreinigung unterbrochen. <strong>Die</strong>se Verunreinigungen verschwinden<br />

mit der Zeit; da Sie aber noch kein Eins-Sein mit Mu erreicht haben,<br />

sind Sie noch weit von jeder Reife entfernt. Unbedingtes Eins-Sein mit<br />

Mu, gedankenfreie Versenkung in Mu - das ist Reife. Wenn Sie dieses<br />

Stadium der Lauterkeit erreicht haben, verschmelzen Innen und<br />

Außen ganz naturgemäß. <strong>Die</strong> Bedeutung von «Innen und Außen» hat<br />

verschiedene Schattierungen. Man kann darunter Subjektivität und<br />

Objektivität verstehen oder auch Seele und Leib. Wenn Sie sich voll<br />

und ganz in Mu versenken, verschmelzen Äußeres und Inneres zu<br />

einer völligen Einheit. Aber unfähig, darüber zu sprechen, werden Sie<br />

sein «wie ein Stummer, der einen Traum gehabt hat». Wer stumm ist,<br />

kann über den Traum, den er vergangene Nacht hatte, nicht sprechen.<br />

So werden auch Sie den Geschmack <strong>des</strong> samâdhi für sich allein auskosten,<br />

anderen aber nicht davon erzählen können.<br />

Auf dieser Stufe wird sich jählings Selbst-Wesensschau ereignen.<br />

Urplötzlich! Das «Durchbrechen zur Erleuchtung» erfordert nur<br />

einen Augenblick. Es ist, als hätte eine Explosion stattgefunden. Wenn<br />

das geschieht, werden Sie so viel erleben! Sie werden «den Himmel<br />

in Bestürzung setzen und die Erde in Bewegung bringen». Alles wird<br />

so verwandelt erscheinen, daß Sie meinen, Himmel und Erde hätten<br />

umstürzend die Plätze getauscht. Natürlich kommt es nicht dazu, daß<br />

sie buchstäblich umstürzen. Durch Erleuchtung sehen Sie die Welt als<br />

Buddha-Wesen, das heißt aber nicht, daß alles so strahlend wird wie<br />

ein Glorienschein. Vielmehr nimmt je<strong>des</strong> Ding genau so, wie es ist,<br />

einen völlig neuen Sinn und Wert an. Wunderbarerweise ist alles von<br />

Grund auf verändert und bleibt dabei doch, wie es ist.<br />

124


MUMON beschreibt das also: Es ist, «als hättet ihr das scharfe Schwert<br />

von General KUAN erbeutet». General KUAN war ein tapferer General,<br />

der mit seinem Schwert «Blauer Drache» im Nahkampf unbesiegbar<br />

war. Deshalb sagt MUMON, ihr werdet so mächtig werden, wie<br />

einer, der das Schwert «Blauer Drache» von General KUAN erbeutet<br />

hat. Das heißt, daß Ihnen nichts Widriges geschehen kann. Durch<br />

Selbst-Wesensschau erwirbt man Selbstvertrauen und ein eindrucksvolles<br />

Gebaren. Erscheint solch einer vor dem Rôshi, so drückt sein<br />

Benehmen aus: «Prüft mich, wie immer Ihr wünscht», und seine<br />

Sicherheit ist derart, daß er den Meister sogar prügeln könnte.<br />

«... werdet ihr imstande sein, den Buddha zu erschlagen, solltet ihr<br />

ihm begegnen, und alle Patriarchen, die ihr trefft, zu töten.» <strong>Die</strong><br />

Furchtsamen werden starr vor Schrecken sein, wenn sie das hören,<br />

und <strong>Zen</strong> als ein Werkzeug <strong>des</strong> Teufels brandmarken. Andere, die<br />

weniger zimperlich, wenn auch genau so unfähig sind, den Geist dieser<br />

Worte zu erfassen, werden in Verlegenheit geraten. Seien Sie<br />

überzeugt, daß der Buddhismus uns die allergrößte Hochachtung für<br />

alle Buddhas einflößt. Gleichzeitig aber ermahnt er uns, daß wir uns<br />

schließlich davon befreien müssen, ihnen verhaftet zu sein. Wenn wir<br />

den GEIST von SHAKYAMUNI Buddha erkannt haben und seine unvergleichlich<br />

wirksamen Kräfte entwickeln, dann verwirklichen wir das<br />

höchste Ziel <strong>des</strong> Buddhismus. Dann sagen wir dem Buddha Lebewohl<br />

und nehmen die Aufgabe, seine Lehren zu verbreiten, auf uns. Ich<br />

habe niemals von einer derartigen Haltung bei jenen Religionen, die<br />

den Glauben an Gott lehren, gehört. Während es das Ziel <strong>des</strong> Buddhisten<br />

ist, ein Buddha zu werden, kann er doch, grob gesagt, den<br />

Buddha und alle Patriarchen erschlagen. <strong>Die</strong>jenigen von Ihnen, die<br />

Erleuchtung finden, werden sagen können: «Wenn der verehrte SHA-<br />

KYAMUNI oder der große BODHIDHARMA erschiene, würde ich sie<br />

augenblicklich niederschlagen und sie anherrschen: «Warum kommt ihr<br />

dahergetorkelt? Ihr werdet nicht mehr gebraucht!» Solcher Art wird<br />

Ihre Entschlossenheit sein.<br />

«Frei von (den Fesseln von) Geburt-und-Tod, werdet ihr euch in den<br />

Sechs Bereichen <strong>des</strong> Daseins und den Vier Arten von Geburt in einem<br />

Samâdhi unschuldigen Entzückens bewegen.» Sie werden Tod und<br />

125


Wiedergeburt furchtlos ins Angesicht sehen können. <strong>Die</strong> «Sechs<br />

Bereiche» sind die der Māyā, nämlich die Hölle, die Welt der preta<br />

(hungrigen Geister), der Tiere, der asura (kämpfenden Dämonen), der<br />

Menschen und der deva. (himmlischen Wesen). <strong>Die</strong> «Vier Arten von<br />

Geburt» sind folgende: Geburt durch den Schoß, Geburt aus dem Ei<br />

durch Brüten, Geburt aus Feuchtigkeit und Geburt durch Metamorphose.<br />

In Himmel oder Hölle wird man durch Metamorphose geboren,<br />

da dort keine leiblichen Vorfahren dazu erforderlich sind. Wer<br />

hätte je von einem himmlischen Wesen gehört, das das Geburtstrauma<br />

durchmachen muß? In Himmel und Hölle gibt es weder Hebammen<br />

noch Geburtshelfer.<br />

Wo immer und wie immer Sie dann geboren werden mögen, Sie<br />

werden mit der Ungezwungenheit und Freude von spielenden Kindern<br />

leben können. Das ist mit «einem samâdhi unschuldigen Entzückens»<br />

gemeint. samâdhi ist vollkommene Versunkenheit. Haben<br />

Sie einmal Erleuchtung gefunden, können Sie voller Freiheit und<br />

Entzücken zur tiefsten Hölle fahren oder zum höchsten Himmel aufsteigen.<br />

«Wie aber konzentriert man sich auf Mu?» Durch Zazen. «Gebt euch<br />

ihm mit aller Kraft und ganzem Herzen hin.» Fahren Sie mit aller<br />

Kraft von Leib und Seele beharrlich damit fort. «Wenn ihr ohne<br />

Unterlaß also fortfahrt...» Sie dürfen nicht damit anfangen und es<br />

dann aufgeben. Sie müssen bis zum Ende durchhalten wie eine Henne,<br />

die auf ihren Eiern sitzt, bis sie sie ausgebrütet hat. Sie müssen sich<br />

auf Mu konzentrieren, ohne zurückzuweichen, entschlossen, nicht<br />

aufzugeben, bis Sie Kenshô erreichen. «... wird euer Geist plötzlich<br />

strahlend werden, einem Licht gleich, das im Dunkeln aufflammt.<br />

Wunderbar fürwahr!» Durch Erleuchtung wird der Geist, erlöst von<br />

der Dunkelheit seiner endlosen Vergangenheit, augenblicklich aufleuchten.<br />

«Wunderbar führwahr!» wird hinzugefügt, da nichts wunderbarer<br />

sein kann.<br />

<strong>Die</strong> erste Zeile von MUMONS Vers lautet: «Hund, Buddha-Wesen» -<br />

«Wesen» ist unnötig. «Hund ist Buddha» - «ist» ist überflüssig.<br />

«Hund, Buddha» - immer noch weitschweifig. «Hund!» - das genügt!<br />

Oder einfach «Buddha!» Man hat zu viel gesagt, wenn man sagt<br />

126


«Hund ist Buddha». «Hund!» - das ist alles. Das ist vollkommen<br />

Buddha.<br />

(Das ist die) «Darstellung <strong>des</strong> ganzen, unabdingbaren Gebots!» Das<br />

bedeutet: Es ist die authentische Verfügung von Buddha SHAKYA-<br />

MUNI - es ist der rechte Dharma. Sie sind dieser Dharma in aller Vollkommenheit.<br />

Er wird Ihnen nicht vorenthalten - er ist vollkommen<br />

offenbart!<br />

«Wer zu denken beginnt, ,hat' oder ,hat nicht', hat das Leben verloren.»<br />

Was heißt das: «Hat das Leben verloren»? Einfach, daß Ihr<br />

kostbares Buddha-Leben (<strong>des</strong> Eins-Seins) zergeht. *<br />

* Das heißt, daß sie Dessen nicht gewahr sind. D. Übers.<br />

127


Drittes Kapitel<br />

Yasutani Rôshis<br />

Dokusan mit zehn Menschen<br />

<strong>des</strong> Westens<br />

Einführung<br />

<strong>Die</strong> weit verbreitete Neugier und das praktische Interesse, das der<br />

<strong>Zen</strong>-Buddhismus seit dem Zweiten Weltkrieg hervorgerufen hat - ein<br />

Interesse, das mit Sicherheit eines der bedeutsamen kulturellen und<br />

religiösen Phänomene unserer Zeit ist - haben eine stattliche Literatur<br />

in verschiedenen europäischen Sprachen hervorgebracht. Einige der<br />

bekannteren in englisch geschriebenen Bücher hat ALAN WATTS im<br />

Vorwort zu seinem Buch The Way of <strong>Zen</strong> zusammengestellt. Er weist<br />

zunächst darauf hin, daß nicht einmal Professor SUZUKI «einen umfassenden<br />

Bericht über <strong>Zen</strong>» erstattet habe, «der <strong>des</strong>sen historischen<br />

Hintergrund und seine Beziehungen zu chinesischer und indischer<br />

Denkweise einschließt», noch habe er über «die Beziehung <strong>des</strong> <strong>Zen</strong><br />

zum chinesischen Taoismus und indischen Buddhismus» geschrieben.<br />

Weiterhin stellt er fest, daß es in R. H. BLYTHS <strong>Zen</strong> in English Literature<br />

and Oriental Classics «an Angaben über die Hintergründe fehlt»,<br />

und daß der Verfasser «keinen Versuch macht, eine geordnete Darstellung<br />

<strong>des</strong> Themas (<strong>Zen</strong>) zu geben»; und weiter, daß CHRISTMAS<br />

HUMPHREYS in seinem <strong>Zen</strong> Buddhism «nicht wirklich damit beginnt,<br />

<strong>Zen</strong> in seine kulturellen Zusammenhänge zu stellen». Daraufhin<br />

kommt er zu dem Schluß, daß die Verwirrung, die im Hinblick auf<br />

<strong>Zen</strong> im Westen herrscht, diesem Mangel an einem «grundsätzlichen,<br />

geordneten und umfassenden Bericht über dieses Thema» zuzuschreiben<br />

sei.<br />

Nichts könnte irreführender sein. So anregend eine theoretische Stel-<br />

129


lungnahme zu <strong>Zen</strong> für den akademisch Gesinnten und den intellektuell<br />

Neugierigen auch sein mag, so ist sie doch mehr als unnütz, ja<br />

geradezu gefährlich für den ernsthaft Suchenden, der nach Erleuchtung<br />

strebt. Wer nach der Lektüre solcher Bücher ernstlich versucht<br />

hat, Zazen zu üben, weiß, daß sie ihn nicht allein schlecht darauf vorbereitet<br />

haben, sondern daß sie ihm sogar zum Hindernis wurden, da<br />

sie ihm den Kopf mit Splittern von Kôans, mit belanglosen Brocken<br />

von Philosophie, Psychologie, Theologie und Dichtung vollgestopft<br />

haben. All das schwirrt nun in seinem Hirn herum und macht es ihm<br />

maßlos schwierig, geistig zur Ruhe zu kommen und den Zustand <strong>des</strong><br />

samâdhi zu erreichen. <strong>Die</strong> chinesischen und japanischen <strong>Zen</strong>-Meister<br />

haben nicht ohne guten Grund vor der Nutzlosigkeit gewarnt, einen<br />

Zugang zum erleuchtenden Erlebnis <strong>des</strong> echten Satori auf künstlichem<br />

Weg über das Gehirn zu suchen.<br />

Was zur Selbst-Wesensschau führt, das ist nicht die Kenntnis der<br />

chinesischen, indischen oder irgendeiner anderen Denkweise, sondern<br />

es sind richtige Übungsmethoden, die sich auf die authentischen Lehren<br />

der Meister gründen. Das Herz der <strong>Zen</strong>-Schulung ist Zazen. Reißt<br />

man das Herz heraus, bleibt nur eine Leiche übrig. Dennoch enthalten<br />

weder die von ALAN WATTS aufgezählten Bücher noch seine<br />

eigenen Bücher über <strong>Zen</strong> mehr als nur oberflächliche Angaben zu<br />

diesem höchst wichtigen Thema - und manche noch nicht einmal das.<br />

<strong>Die</strong>se Parteinahme für einen philosophischen, theoretischen Zugang<br />

zu <strong>Zen</strong> wird nur allzu deutlich an einer jüngst erschienenen Anthologie<br />

der Werke von Professor SUZUKI 1 . In diesem Buch von annähernd<br />

550 Seiten kann man nur zwei Hinweise auf Zazen finden;<br />

einer davon ist eine Fußnote, der andere macht kaum <strong>drei</strong> Zeilen aus.<br />

Gewisse Interpreten <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>, Asiaten ebenso wie Europäer und Amerikaner,<br />

haben ihre Leser noch auf andere Weise irregeführt. In ihrem<br />

Wohlgefallen am Dramatischen haben sie die Hiebe und Fußtritte der<br />

alt-chinesischen Meister unverhältnismäßig stark betont und zudem<br />

ihre Leser durch solch bestürzende, paradoxe Zitate gequält wie «Ihr<br />

müßt den Buddha töten!» und «Obgleich du dazu etwas sagen<br />

1. DAISETZ T. SUZUKI, The Essentials of <strong>Zen</strong> Buddhism, herausgegeben von BER-<br />

NARD PHILIPS, Dutton & Co. Inc., New York, 1962.<br />

130


kannst, gebe ich dir <strong>drei</strong>ßig Stockhiebe; und wenn du nichts dazu<br />

sagen kannst, gebe ich dir <strong>drei</strong>ßig Stockhiebe!» "Wollen sie damit<br />

versuchen, ihre Leser durch einen Schock zur Annahme eines bilderstürmenden<br />

und esoterischen <strong>Zen</strong> zu bringen, zu den innersten<br />

Geheimnissen, in die allein wenige Auserwählte eingeweiht sind? Und<br />

zu welchem Zweck, so mag man fragen, graben einige Verfasser, die<br />

wohl weniger dramatisch, aber von ebenso verfehlter Begeisterung<br />

sind, Kôans aus, die bis dahin auf Englisch noch nicht erschienen<br />

waren, und «lösen» sie zur Erbauung ihrer weniger erleuchteten<br />

Leser?<br />

Über das <strong>Zen</strong>, das heute wirklich geübt wird, insbesondere darüber,<br />

wie der Meister in den alltäglichen, undramatischen und gelegentlich<br />

öden und entmutigenden Augenblicken der <strong>Zen</strong>-Schulung seine Schüler<br />

und Anhänger lehrt und leitet, und auch über die Art der Probleme,<br />

mit denen heutige Schüler zum Meister kommen - darüber<br />

sind diese Verfasser merkwürdig schweigsam.<br />

Es ist diese Verzerrung von <strong>Zen</strong> und nicht der Mangel an «einer<br />

gelehrten, systematischen Darstellung», was der gegenwärtigen Verwirrung<br />

zugrunde liegt. Nicht wenige Menschen <strong>des</strong> Abendlan<strong>des</strong><br />

wurden von den rätselhaften und anscheinend unsinnigen Formulierungen<br />

der Kôans und dem scheinbar grausamen und sinnlosen Benehmen<br />

der chinesischen <strong>Zen</strong>-Meister abgestoßen, da sie von diesem akademischen<br />

Stoßtrupp zu einem hypothetischen <strong>Zen</strong>, dem Produkt der<br />

Theorie und Spekulation und nicht dem persönlicher Erfahrung, irregeführt<br />

worden waren. Das Ergebnis war, daß diese Menschen <strong>Zen</strong><br />

als eine unheimliche und fremdartige Zuchtübung, die der westlichen<br />

Gesinnung nicht geistesverwandt ist, von sich wiesen. Andere wieder,<br />

schnell bei der Hand, die angepriesene Freiheit <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> als Sanktion<br />

für ausschweifende Sitten auszunutzen, wurden infolge der wahllosen<br />

und unverantwortlichen Veröffentlichung von Kôans in die Lage versetzt,<br />

<strong>Zen</strong> zu solchen Zwecken herabzuwürdigen und zu pervertieren.<br />

Es ist zu hoffen, daß die Enthüllung <strong>des</strong>sen, was zwischen einem <strong>Zen</strong>-<br />

Meister und seinen Schülern tatsächlich vor sich geht, nicht allein die<br />

völlig irrige Ansicht beseitigt, daß <strong>Zen</strong> fremdartig und «mystisch» sei<br />

oder doch höchstens ein interessantes, wenn auch bizarres Kulturstu-<br />

131


dium abgebe, sondern <strong>Zen</strong> auch als eine ausnehmend unmittelbare<br />

und praktische Lehre erweist, die, recht verstanden und geübt, den<br />

Menschen von seiner tiefsitzenden Furcht und seinen Ängsten befreien<br />

kann, so daß er in Frieden und mit Würde leben und sterben kann -<br />

in unserem thermonuklearen Zeitalter nicht weniger als in der Vergangenheit.<br />

<strong>Die</strong> vorliegende Zusammenstellung über die individuelle Unterweisung<br />

und Führung, wie sie zehn Schülern aus dem Westen - Amerikanern<br />

und Europäern - zuteil wurde, und über deren Antworten und<br />

Fragen dürfte die erste zusammenfassende Darstellung der Lehrmethoden<br />

und -techniken eines <strong>Zen</strong>-Meisters bei der <strong>Zen</strong>-Schulung<br />

sein, die in einer europäischen Sprache erscheint. Sie umfaßt insgesamt<br />

fünfundachtzig Dokusan. Das Material wurde im Laufe von<br />

zwei Jahren gesammelt; die Zahl der Dokusan für den Einzelnen<br />

schwankt zwischen einem und vierundzwanzig. Der Dialog, der<br />

jeweils zwischen zwei Sternchen gesetzt ist, entspricht einem vollständigen<br />

Dokusan beim Rôshi von dem Zeitpunkt an, da der Schüler<br />

den Raum betrat, bis er hinausging. Im allgemeinen werden Dokusan<br />

ein und <strong>des</strong>selben Schülers in der Reihenfolge wiedergegeben, in der<br />

sie stattfanden; sie geben aber keinen lückenlosen Bericht jeder<br />

Begegnung mit dem Rôshi. Dokusan, die nur aus ein paar Worten der<br />

Ermutigung bestanden, oder solche, die nicht allgemeines Interesse<br />

finden, wurden ausgelassen. Zwischen den verschiedenen Dokusan<br />

mit dem gleichen Schüler kann gelegentlich eine Zeitspanne von ein<br />

bis zwei Monaten liegen.<br />

All diese Dokusan fanden während einer Übungszeit in voller Zurückgezogenheit,<br />

Sesshin genannt, statt. Obgleich die meisten notwendigerweise<br />

kurz sind, da oft den Bedürfnissen von fünfund<strong>drei</strong>ßig bis<br />

vierzig Menschen <strong>drei</strong>mal täglich entsprochen werden muß, richtet<br />

sich ihre Länge letzten En<strong>des</strong> doch nach dem, was für den Einzelnen<br />

erforderlich ist, und wird nicht nach Willkür zeitlich begrenzt.<br />

Bis auf eine Ausnahme 2 waren alle Schüler Anfänger, d. h. keiner von<br />

ihnen hatte sein erstes Kôan gelöst, keiner hatte also ein Satori-Erleb-<br />

2. Schülerin H; das wurde aufgenommen, damit der Leser die andersartige Stellung<br />

<strong>des</strong> Rôshi einem fortgeschritteneren Schüler gegenüber zum Vergleich hat.<br />

132


nis gehabt. Alle hatten <strong>Zen</strong> für eine Zeitdauer von mehreren Wochen<br />

bis zu zwei Jahren in Japan geübt. In einzelnen Fällen ist es möglich,<br />

eine Zunahme <strong>des</strong> Verständnisses wahrzunehmen, jedoch noch nicht<br />

so weit, daß es bis zur Erleuchtung gereift wäre.<br />

Das Material spricht für sich selbst. Jeder Versuch, zu analysieren<br />

oder zu erklären, wäre überflüssig und anmaßend. Jene Leser jedoch,<br />

die keinen Zugang zu einem befähigten <strong>Zen</strong>-Meister haben, dürften<br />

einige grundsätzliche Angaben über die Handhabung <strong>des</strong> Dokusan im<br />

heutigen Japan, besonders soweit es Menschen aus dem Westen betrifft,<br />

als hilfreich empfinden, werden sie doch dadurch in die Lage<br />

gesetzt, Rat und Unterweisungen <strong>des</strong> Rôshi, wie sie sich bei diesen<br />

Dokusan zeigen, bei ihren eigenen geistigen Übungen aufs beste zu<br />

nutzen.<br />

Zazen, Teishô und Dokusan bilden zusammen den «Dreifuß», auf<br />

dem die traditionelle <strong>Zen</strong>-Schulung ruht. Für den Anfänger kann die<br />

Begegnung mit dem Rôshi von Angesicht zu Angesicht in der Zurückgezogenheit<br />

seines Raumes alles mögliche bedeuten: von einem inspirierenden,<br />

ihn wundervoll bereichernden Erlebnis, das ihm für sein<br />

Üben Impulse gibt und ihm die Richtung weist, bis zu einer schrecklichen<br />

Heimsuchung, die ihn mit wachsender Verzweiflung erfüllt.<br />

All das hängt von der Kraft und Art seiner Inbrunst ab, von der<br />

Stufe, bis zu der sein Zazen gereift ist, und vor allem von der Persönlichkeit<br />

und den Lehrmethoden <strong>des</strong> Rôshi.<br />

Hat der Schüler einmal das Privatgemach <strong>des</strong> Rôshi betreten und sich<br />

zum Zeichen seiner Verehrung und Demut niedergeworfen, so kann<br />

er völlig frei alles sagen oder tun, solange es nur echter Ausdruck<br />

seiner Wahrheitssuche ist und mit seiner Übung in wohlbegründetem<br />

Zusammenhang steht. Anfangs, wenn er seine widerspenstigen Gedanken<br />

noch nicht im Zaum halten kann und seiner egozentrischen Einstellung<br />

noch nicht Herr geworden ist, wird er gewöhnlich versuchen,<br />

mit dem Rôshi abstrakte, theoretische Diskussionen zu führen,<br />

besonders wenn er philosophisch gesinnt ist. Aber im Lauf der Zeit,<br />

wenn er durch anhalten<strong>des</strong> Üben von Zazen geistig ruhiger und<br />

tiefer geworden ist und seine Aufmerksamkeit besser auf einen<br />

Punkt sammeln kann, verliert er das Interesse an leeren Diskussio-<br />

133


nen und wird im Ganzen empfänglicher für den Rôshi und seine<br />

Anweisungen.<br />

Durch weitere Zazen-Übungen wird er allmählich, wenn auch nur<br />

für Augenblicke, eine zugrundeliegende Harmonie und ein Eins-Sein<br />

verspüren (besonders nach Zeiten <strong>des</strong> samâdhi), die nach und nach an<br />

die Stelle der Befremdung und Verwirrung treten, die er anfangs<br />

empfand. Wenn er nun vor dem Rôshi erscheint und von ihm befragt<br />

wird, wird er kraftvoll und lebhaft reagieren, während seine früheren<br />

Antworten verwirrt und zögernd waren. Es kann sogar sein, daß<br />

er den Rôshi anschreit, anbrüllt, nicht aus Gereiztheit oder Empörung,<br />

sondern weil er weitgehend von den Verstan<strong>des</strong>- und gefühlsmäßigen<br />

Hemmungen, die ihn bisher eingeengt haben, befreit ist und<br />

in zunehmendem Maße die physischen und psychischen Kräfte, die<br />

in ihm geschlummert haben, aufbieten kann. Wenn sein Zazen sich<br />

vertieft und sein Sinn von falschen Werten und Vorstellungen geläutert<br />

wird, wird er vielleicht plötzlich den Meisterstab <strong>des</strong> Rôshi<br />

packen und als Antwort auf eine zugespitzte Frage damit auf die<br />

Tatami schlagen. Wenn er dazu aufgefordert wird, sein Verständnis<br />

eines Kôan konkret zu demonstrieren, wird er vielleicht spontan<br />

Bewegungen machen, als schlüge er den Rôshi 3 . Wer gedankenfrei<br />

solcherart reagieren kann, schwebt am Rande <strong>des</strong> Satori, obgleich er<br />

es selbst nicht weiß. Allein der Rôshi kann aus seiner jahrelangen<br />

Erfahrung heraus mit seinem Scharfblick genau den Grad seines Verständnisses<br />

beurteilen und ihm an diesem entscheidenden Punkt die<br />

notwendigen Anweisungen und Ermutigungen geben.<br />

Ein tüchtiger Rôshi wird kein Bedenken tragen, je<strong>des</strong> Mittel und<br />

jeden Kunstgriff, Schläge mit seinem allgegenwärtigen Meisterstab<br />

(kotsu) nicht ausgeschlossen, anwenden, wenn er meint, daß er damit<br />

den Geist <strong>des</strong> Schülers aus dem Schlaf der Unbewußtheit aufrütteln<br />

und zur plötzlichen Erkenntnis seines wahren Wesens erwecken kann.<br />

Es ist nicht selten, daß ein Anfänger bei einem Sesshin zögert, auch<br />

nur zu einem der täglichen Dokusan zu erscheinen. Anstatt beim<br />

Klang der Glocke mit lebhaftem Schwung zu der Stelle zu eilen, wo<br />

3. Aus Hochachtung wird kein Schüler den Rôshi wirklich schlagen, sondern er<br />

wird kurz vor der körperlichen Berührung einhalten.<br />

134


man sich anreiht 4 , sitzt er wie festgeklebt auf seinem Kissen, aus<br />

Furcht, zurechtgewiesen zu werden, wenn er keine fertige Antwort<br />

zu seinem Kôan hat. Wenn er von den Mönchs-Ältesten (in einem<br />

Kloster) oder von den Mahnern (in einem Tempel) seiner Widerwilligkeit<br />

wegen, durch die er sich sogar ermutigender Schläge als<br />

unwert erweist, nicht einfach kalt übersehen wird, so wird er in<br />

einem streng geführten Kloster höchst wahrscheinlich von seinem<br />

Sitz hochgerissen und zum Dokusan geschleift und geschoben. Wenn<br />

er schließlich ganz niedergeschlagen vor dem Rôshi erscheint, mag der<br />

Rôshi ihn wohl seiner Verzagtheit wegen züchtigen und ihn dann<br />

kurz und bündig entlassen, ohne eine Frage zu stellen oder eine<br />

Bemerkung zu machen. Vielleicht schlägt er den Schüler auch mit seinem<br />

Meisterstab, während jener sich gerade niederwirft, schickt ihn<br />

dann durch Läuten seiner Handglocke hinaus und überläßt ihn in<br />

quälender Verwirrung dem Nachdenken über die Gründe für diese<br />

gebieterische Abweisung.<br />

<strong>Die</strong>se Taktik, den Schüler in eine verzweifelte Lage zu treiben, indem<br />

man ihn von rückwärts unnachsichtig antreibt und von vorn energisch<br />

zurückweist, entwickelt oft einen solchen Überdruck in ihm,<br />

daß er zu jener inneren Explosion führt, ohne die sich echtes Satori<br />

selten ereignet.<br />

Solche extremen Maßnahmen sind jedoch keineswegs das Übliche.<br />

Im allgemeinen sind sie bei der Rinzai-Sekte verbreiteter als bei der<br />

Sôtô-Sekte, seltener in Tempeln als in Klöstern, in denen die äußere<br />

Disziplin streng, ja oft hart ist. Immerhin ist ein Tempel-Sesshin selten,<br />

in dem es nicht von den wilden Anfeuerungsrufen der Mahner<br />

und dem Dreschen <strong>des</strong> Kyosaku widerhallt. Menschen aus dem<br />

Westen, denen der Gedanke fremd ist, daß Stockschläge Kenshô her-<br />

4. Amerikaner und Europäer, die ihr erstes Sesshin besuchen, geraten bei diesem<br />

Anblick oft in Verlegenheit und Verwirrung und legen es als Teil eines vorgeschriebenen<br />

Rituals aus. In Wirklichkeit handelt es sich um nichts Derartiges. Der plötzliche<br />

Klang der Dokusan-Glocke bringt Erlösung von der durch die intensive<br />

Anstrengung der Konzentration angestauten Spannung. Gleichzeitig erhebt sich<br />

ein unbezwingbares Verlangen, um die Wette zu laufen, um nur schnell vom Rôshi<br />

geprüft zu werden. Gelegentlich wird ein Schüler, der die Glocke zuerst erreicht,<br />

nicht auf das Zeichen vom Rôshi warten, sondern sofort in <strong>des</strong>sen Zimmer eilen.<br />

135


eiführen können, sind immer erstaunt, wenn sie erfahren, daß der<br />

Kyosaku bei jenen Japanern, die beim Sesshin Satori erreichten, nicht<br />

allein unnachsichtig gebraucht worden war, sondern daß jene sogar<br />

darum gebeten hatten.<br />

Entgegen der Ansicht vieler ist die Anwendung solcher Gewaltmittel<br />

kein nur auf Japan beschränkter Ausdruck <strong>des</strong> Buddhismus. Wie wir<br />

in einem der folgenden Kapitel sehen werden, stammt der Kyosaku<br />

selbst aus China, nicht aus Japan, ebenso wie viele andere Gewaltmittel,<br />

die im <strong>Zen</strong> angewandt werden. DÔGENS Schüler Ejo führt an,<br />

daß sein Meister, während er in China war, folgen<strong>des</strong> von einem chinesischen<br />

<strong>Zen</strong>-Meister hörte:<br />

«... Als ich jung war, pflegte ich die Leiter der verschiedensten Klöster<br />

aufzusuchen, und einer von ihnen erklärte mir: ,Früher schlug ich schlafende<br />

Mönche so hart, daß mir schier die Hand brach. Jetzt bin ich alt und<br />

schwach und kann sie daher nicht hart genug schlagen. Deshalb ist es<br />

schwierig, gute Mönche zu erziehen. In vielen Klöstern legen die Oberen<br />

heutzutage nicht genug Nachdruck auf das Sitzen, und so befindet sich der<br />

Buddhismus im Niedergang. Je mehr ihr sie schlagt, <strong>des</strong>to besser', riet er<br />

mir 5 .»<br />

Alle großen Meister haben gelehrt, daß für die ungeheure Anstrengung,<br />

Erleuchtung zu erreichen, intensive innere Kräfte aufgerüttelt<br />

werden müssen, sei es von außen durch den Stock, sei es von innen<br />

durch reine Willenskraft. Das wurde vom Buddha selbst in einem<br />

frühen Sûtra betont:<br />

«Man muß mit zusammengebissenen Zähnen, die Zunge an den Gaumen<br />

gepreßt, den Geist durch den Geist bezwingen, niederschmettern und überwältigen,<br />

gleich wie ein Starker, der einen Schwachen an Kopf und Schultern<br />

gepackt hält, ihn bezwingt, niederschmettert und überwältigt. Dann<br />

werden die bösen, schädlichen Gedanken, die mit Begier, Haß und Verblendung<br />

verbunden sind, aufhören, verschwinden 6 .»<br />

5. Sources of Japanese Tradition, herausgegeben von WLLIAM THEODORE DE BARY,<br />

S. 254.<br />

6. Satipatthāna Sûtra <strong>des</strong> Majjhima Nikāya, ins Englische übersetzt von SOMA<br />

MAHĀ THERA, in seinem Büchlein Foundations of Mindfulness, S. III.<br />

136


<strong>Die</strong> Tatsache, daß es in Japan Rinzai-Meister gibt, die den Kyosaku<br />

selten anwenden, und Sôtô-Meister, die ihn hartnäckig gebrauchen,<br />

beweist nur, daß es letzten En<strong>des</strong> die Persönlichkeit <strong>des</strong> Rôshi und<br />

<strong>des</strong>sen eigene Ausbildung sind, die seine Methoden bestimmen, und<br />

nicht die Gegebenheiten der Sekte, zu der sein Tempel gehört.<br />

Ein echter Rôshi, der fähig ist, den Dharma <strong>des</strong> Buddha mit jener<br />

Überzeugung auszulegen, wie sie aus seinem eigenen tiefen Erlebnis<br />

der Wahrheit geboren wird, verkörpert die Weisheit und Macht von<br />

<strong>Zen</strong>. Solch ein Rôshi ist ein Führer und Lehrer, <strong>des</strong>sen Herz-Geist-<br />

Sinn mit dem <strong>des</strong> Buddha und der Patriarchen identisch ist, mögen<br />

sie zeitlich auch durch Jahrhunderte getrennt sein. Ohne ihn ist die<br />

Vergangenheit von <strong>Zen</strong> leblos und seine Zukunft «unfähig, geboren<br />

zu werden». <strong>Zen</strong>, als Übermittlung von Herzgeist-zu-Herzgeist, liebt<br />

die pulsierende, lebendige Wahrheit - Wahrheit im Wirken. Der<br />

Musik gleich, die, auf einer Schallplatte eingefangen, elektrische Energie<br />

und ein Wiedergabe-Gerät braucht, um leben zu können, bedarf<br />

der Herz-Geist <strong>des</strong> Buddha, der in den Sûtras vergraben ist, einer<br />

Lebendigen Kraft in Gestalt eines erleuchteten Rôshi, um wiedererschaffen<br />

zu werden.<br />

Beim Dokusan erfüllt der Rôshi die Doppelrolle, wie sie von alters<br />

her Vater und Mutter zugeschrieben wird. Er ist abwechselnd der<br />

strenge, tadelnde Vater, der anspornt und straft, und die sanfte,<br />

liebende Mutter, die tröstet und ermutigt. Läßt der Schüler in seinen<br />

Anstrengungen nach, wird ihm gut zugeredet, oder er wird angetrieben;<br />

zeigt er Stolz, wird er gescholten; und umgekehrt, wenn er von<br />

Zweifeln befallen wird oder in Verzweiflung gerät, so wird er ermutigt<br />

und aufgerichtet. Ein tüchtiger Rôshi verbindet solchermaßen<br />

strenge Abgelöstheit mit warmer Anteilnahme, Geschmeidigkeit und<br />

einer Ichlosigkeit, die niemals mit Schwäche oder Schlaffheit verwechselt<br />

werden kann. Zudem verfügt er über Selbstvertrauen und<br />

ist von gebieterischer Haltung. Da seine Worte mit der Kraft und<br />

Unmittelbarkeit seiner befreiten Persönlichkeit aufgeladen sind, hat<br />

das, was er sagt, die Macht, den erschlafften Sinn <strong>des</strong> Schülers zu<br />

beleben und seine Suche nach Erleuchtung trotz aller Schmerzen,<br />

Enttäuschungen und zeitweiser Langeweile von neuem zu stärken.<br />

137


Worauf aber der Schüler am lebhaftesten reagiert, das ist der sichtbare<br />

Beweis für den befreiten Geist <strong>des</strong> Rôshi: seine kindliche Ungezwungenheit<br />

und Einfachheit, seine Strahlkraft und sein Erbarmen,<br />

seine völlige Identifikation mit den von ihm, dem Schüler, angestrebten<br />

Zielen. Wenn ein Anfänger seinen achtundsiebzigjährigen Rôshi<br />

beobachtet, wie er mit blendender Geschwindigkeit ein Kôan demonstriert<br />

und dabei völlig darin aufgeht, oder wenn er die fließende,<br />

mühelose Anmut sieht, mit der er sich jeder Situation und allen<br />

Menschen anpaßt, dann weiß er, daß er eine der edelsten Schöpfungen<br />

eines einzigartigen Systems zur Entwicklung von Geist und Charakter<br />

vor sich hat, und er muß sich in Augenblicken der Verzweiflung<br />

sagen: «Wenn ich durch das Üben von Zazen lernen kann, das<br />

Leben mit gleicher Unmittelbarkeit und Bewußtheit zu erleben, so ist<br />

kein Preis zu hoch.»<br />

<strong>Die</strong> einzigartige Geschicklichkeit <strong>des</strong> Rôshi und sein Erbarmen kommen<br />

dann voll ins Spiel, wenn er spürt, daß der Geist <strong>des</strong> Schülers reif<br />

ist, d. h. bar allen unterscheidenden Denkens und von klarer innerer<br />

Bewußtheit, mit anderen Worten: im Zustand unbedingten Einsseins.<br />

Das zeigt sich auf mancherlei Weise: an der Art, wie der Schüler die<br />

Dokusan-Glocke anschlägt, wie er den Raum <strong>des</strong> Rôshi betritt, wie er<br />

sich niederwirft und wie er beim Dokusan aussieht und handelt. Der<br />

Rôshi wird diesen Geist mit den verschiedensten Mitteln anspornen<br />

und ihm jeden Anstoß geben, damit er selbst den letzten Sprung ins<br />

Satori macht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Rôshi hauptsächlich<br />

darum bemüht, den Schüler zu überreden und zu inspirieren,<br />

daß er sich mit Energie und Zielstrebigkeit seiner Konzentration<br />

widme und keiner Müdigkeit oder Mutlosigkeit nachgäbe. Jetzt aber<br />

schlägt er einen anderen Weg ein. Er feuert scharfe Fragen auf ihn ab<br />

und fordert augenblickliche Antworten, oder er versetzt ihm plötzlich<br />

mit seinem Meisterstab einen Hieb, oder er schlägt auf Matte oder<br />

Tisch - alles im Bemühen, den verblendeten Geist <strong>des</strong> Schülers aufzubrechen.<br />

<strong>Die</strong>se Eingebungen <strong>des</strong> Rôshi wirken auf den Geist <strong>des</strong> Schülers wie<br />

Sturzregen auf vertrocknetes Er<strong>drei</strong>ch oder wie Strahlenbündel von<br />

Licht in einem dunklen Raum. Sie dienen dazu, den Schüler geistig<br />

138


zum nächsten kritischen Punkt zu befördern, jener Stufe, da er das<br />

Gefühl hat, als sei er in einen «Eisblock» eingeschlossen oder in einen<br />

«Kristall-Palast 7 » eingemauert. Jetzt sieht er die Wahrheit dem<br />

Wesen nach, aber er kann nicht ausbrechen und ihrer habhaft werden.<br />

Der Schüler weiß, daß der Rôshi nicht den genauen Zeitpunkt <strong>des</strong><br />

Satori voraussagen kann, ebensowenig wie er ihm Satori «erteilen»<br />

kann. Auch er selbst kann nicht mehr tun, als mit aller Gewalt<br />

darum zu ringen, sein Denken zu erschöpfen und einen Zustand kindlicher<br />

Absichtslosigkeit (d. h. Leere <strong>des</strong> Geistes 8 ) zu erreichen. Doch<br />

irgendwie muß sich der endgültige Durchbruch, der plötzliche, entscheidende<br />

«Salto» <strong>des</strong> Geistes, der das Zeichen der Erleuchtung ist,<br />

ereignen. Zu diesem kritischen Zeitpunkt wird die Versuchung, die<br />

stets latent vorhanden ist, unwiderstehlich: vorauszuahnen, wann<br />

Satori wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf Gedeih und Verderb 9<br />

einschlagen wird. Das ist das letzte verzweifelte Manöver <strong>des</strong> zurückweichenden<br />

Ich, den konzentrierten Sinn zu sprengen, ihn mit Gedanken<br />

zu plagen und den letzten Sprung in die Freiheit, der volle und<br />

ganze Selbstaufgabe bedeutet, zu verhindern. Der Rôshi, der weiß,<br />

daß der Geist <strong>des</strong> Schülers nur dann durch einen Schlag, ein Wort<br />

oder ein Geräusch zu diesem Sprung aufgerüttelt werden kann, wenn<br />

er leer ist, wird sich bemühen, den Schüler auf diese Versuchung hinzuweisen,<br />

und ihn gemahnen, daß sich die leichteste Abweichung von<br />

seinem Kôan (oder einer anderen geistigen Übung) verhängnisvoll<br />

gegen sein Satori-Erwachen auswirken kann.<br />

Erleuchtung kann sich überall ereignen, nicht allein im Dokusan-<br />

Raum. Ja, einige Schüler erleben sie, während sie das Teishô <strong>des</strong><br />

Rôshi hören. Ihr Geist heftet sich an eine bestimmte Redewendung,<br />

7. Es ist möglich, an diesem Punkt wochenlang, monatelang und sogar jahrelang<br />

steckenzubleiben. <strong>Die</strong>se Metaphern werden bei <strong>Zen</strong> oft gebraucht, um dieses Stadium<br />

<strong>des</strong> «Vorgeschmacks» zu beschreiben.<br />

8. Mit aller Gewalt darum zu ringen, Absichtslosigkeit zu erreichen, das scheint<br />

ein Widerspruch zu sein. Aber dieser Widerspruch ist nur ein logischer, kein<br />

existentieller.<br />

9. Manche haben ein unbewußtes Grauen vor Satori, da sie meinen, daß es einen<br />

verderblichen Einfluß auf ihren Verstand haben könnte. Es ist klar, daß das eine<br />

unberechtigte Furcht ist.<br />

139


die sie vielleicht schon unzählige Male gelesen oder vom Rôshi gehört<br />

haben, die aber jetzt, da ihr Geist reif ist, eine neue und verblüffende<br />

Bedeutung für sie annimmt und als der Funke dient, der die innere<br />

Explosion auslöst, die Satori verkündet. Einige kamen im Zug oder<br />

Bus auf dem Heimweg von einem Sesshin zur Erleuchtung. Satori<br />

erfolgt meistens nach einer Zeit intensiver Konzentration und Versenkung,<br />

aber nicht immer.<br />

<strong>Die</strong> fesselnden Worte, mit denen manche Kôans oder mondô schließen,<br />

wie «Damit kam der Mönch plötzlich zur Erleuchtung» oder<br />

«Da wurde das Geistige Auge <strong>des</strong> Mönchs geöffnet», werden angesichts<br />

<strong>des</strong> oben Gesagten weniger phantastisch erscheinen, als es<br />

auf den ersten Blick scheinen mag. Schüler, denen das ein Rätsel<br />

war, haben häufig gefragt: «Wie ist es nur möglich, Satori derart<br />

schnell und leicht zu erreichen, wie uns diese Kôans glauben machen?»<br />

Hierbei ist jedoch zu beachten, daß <strong>des</strong> Meisters entscheidender<br />

Satz oder Hieb, der <strong>des</strong> Schülers verblendeten Geist aufbrach,<br />

nur <strong>des</strong>halb wirksam war, weil er zu eben jener Zeit kam, da <strong>des</strong>sen<br />

Geist für einen solchen Impuls reif war, und daß solche Reife zweifellos<br />

die Folge von lange geübtem Zazen und einer ganzen Reihe<br />

von Dokusan mit seinem Meister war. Mit anderen Worten: «<strong>Die</strong><br />

Kôans enthüllen in ihrer Formulierung lediglich die jäh einsetzenden<br />

Ereignisse, erwähnen aber nicht die Jahre einer hartnäckigen,<br />

eifrigen Wahrheitsuche, die schließlich zu diesem krönenden Erlebnis<br />

führten.<br />

Der Beweis für das Satori <strong>des</strong> Schülers liegt in seiner Fähigkeit, auf<br />

Fragen 10 , die eine konkrete Demonstration <strong>des</strong> geistigen Gehalts seines<br />

Kôan erfordern, augenblicklich in lebendiger Art zu erwidern.<br />

Was den Rôshi überzeugt, das sind nicht allein Worte, Gebärden oder<br />

Schweigen (was ebenso wirksam sein kann) <strong>des</strong> Schülers, sondern die<br />

Gewißheit und Sicherheit, von denen sie beseelt sind, also der begreifende<br />

Blick der Augen, die Entschiedenheit in der Stimme und die<br />

Ungezwungenheit, Freiheit und Vollständigkeit der Gebärden und<br />

Bewegungen selber. Es ist daher möglich, daß zwei verschiedene<br />

10. Einiges über die Art solcher Fragen siehe S. 314.<br />

140


Schüler, von denen einer gerade Erleuchtung gefunden hat, der<br />

andere aber noch nicht, beim Dokusan mit denselben Worten und<br />

Gebärden antworten, und der Rôshi die Antworten <strong>des</strong> einen annimmt<br />

und die <strong>des</strong> anderen zurückweist.<br />

Billigt der Rôshi die Darstellung <strong>des</strong> Schülers, so ist das die stillschweigende<br />

Bestätigung, daß jener echte Erleuchtung gefunden hat 11 ,<br />

mag sie auch nicht sehr tief sein, wie es viele der ersten Erfahrungen<br />

sind. <strong>Zen</strong> unterscheidet sich von anderen buddhistischen Disziplinen<br />

eben dadurch so gründlich, daß es darauf besteht, daß der Schüler<br />

sein Begreifen «jenseits allen Begreifens» demonstriert und nicht nur<br />

Worte darüber macht. Worauf <strong>Zen</strong> Wert legt, das sind ausdrucksvolle<br />

Gebärden, Bewegungen, sind Worte, die spontan aus tiefster Tiefe <strong>des</strong><br />

gesamten Seins aufsteigen, und nicht dürre Erklärungen, wie scharfsinnig<br />

sie auch sein mögen. Ein erfahrener Rôshi kann durch eine einzige<br />

Frage - bei einem tiefgreifenden Erlebnis sogar durch einen Blick<br />

allein - feststellen, daß der Schüler Erleuchtung gefunden hat.<br />

Dadurch aber, daß er von dem Schüler verlangt, daß dieser sich einer<br />

Prüfung unterwirft, ist er zu <strong>des</strong> Schülers wie seiner eigenen Befriedigung<br />

imstande, Tiefe und Grenzen solch eines Satori festzustellen.<br />

Es wird häufig behauptet, daß das Erlebnis echter Erleuchtung für<br />

sich selber sprechen sollte und daß daher eine Prüfung unnötig sei.<br />

Aber Selbsttäuschung ist hierbei genau so stark wie in anderen Bereichen<br />

<strong>des</strong> menschlichen Verhaltens, ja, auf Grund eben <strong>des</strong> Wesens von<br />

Satori vielleicht sogar noch größer. Nur allzu leicht hält der Anfänger<br />

Gesichte, Trance-Zustände, Halluzinationen, Einsichten, Offenbarungen,<br />

Ekstasen oder sogar Heiterkeit <strong>des</strong> Geistes für Satori. Das<br />

ozeanische Gefühl, wie es bei gewissen Neurotikern auftritt, ist ebenfalls<br />

mit Erleuchtung verwechselt worden, da es ein Gefühl der Identität<br />

mit dem Weltall vermittelt. Aus all diesen Gründen und besonders<br />

auch, weil die Gefahr, die sich durch solche Selbsttäuschung für<br />

die Persönlichkeit ergibt, sehr real ist, hat man bei der <strong>Zen</strong>-Lehre stets<br />

darauf bestanden, daß Satori von einem Meister geprüft und besta-<br />

11. Unglücklicherweise trifft das keineswegs durchgehend zu. Ein Rôshi, der es<br />

leicht nimmt, wird oft Schüler bestehen lassen, die keine echte Satori-Erfahrung<br />

hatten.<br />

141


tigt werden muß, einem Meister, <strong>des</strong>sen eigene Erleuchtung ihrerseits<br />

von einem erleuchteten Meister bestätigt worden war.<br />

Wenn es möglich ist, sich solchermaßen über Satori zu täuschen, so ist<br />

es gleichfalls möglich, die Geistesverfassung <strong>des</strong> Satori zu erleben<br />

und sie nicht für Satori zu halten. YASUTANI Rôshi erzählt die Geschichte<br />

eines seiner Schüler, der im südlichen Teil Japans lebte und<br />

den er nur einmal im Jahr bei einem Sesshin sah. In der Zeit zwischen<br />

den jährlichen Besuchen <strong>des</strong> Rôshi hatte dieser Mann Wesensschau<br />

erlebt. Da das aber nicht von Gefühlserhebungen, gefolgt von Freudentränen,<br />

begleitet war, glaubte er nicht, daß das, was er erlebt<br />

hatte, Satori sein könnte. Als der Rôshi ihn beim Dokusan befragte,<br />

spürte er, daß intuitive Erkenntnis und inneres Verständnis seines<br />

Schülers derart waren, daß Grund gegeben sei, ihn zu prüfen. So<br />

legte er ihm einige Testfragen vor. Zu seinem eigenen Erstaunen<br />

merkte der Mann, daß er vollständige und richtige Antworten geben<br />

konnte, und der Rôshi bestätigte seine Wesensschau. Zwar war sie<br />

zugestandenermaßen noch nicht tief; aber es war doch ein wirkliches<br />

Satori. Hierbei ist auch zu beachten, daß die Reaktion auf die<br />

eigene Erleuchtung nicht allein von der Tiefe <strong>des</strong> Erleuchtungs-<br />

Erlebnisses abhängt, sondern auch von der gefühlsmäßigen und verstan<strong>des</strong>mäßigen<br />

Struktur eines Menschen.<br />

<strong>Die</strong>se Art der Prüfung muß man von jener unterscheiden, die als<br />

«Dharma-Gefecht» (hossen) bezeichnet wird, wie es früher in China<br />

und Japan unter <strong>Zen</strong>-Mönchen stattfand, ja, bis zur Zeit von HAKUIN,<br />

also bis vor etwa zweihundert Jahren. Mönche und Laien 12 von verschiedener<br />

Geisteskraft pflegten auf geistigen Pilgerfahrten durch das<br />

Land zu reisen auf der Suche nach <strong>Zen</strong>-Meistern und tief erleuchteten<br />

Mönchen, gegen die sie ihre Dharma-«Geschicklichkeit» einsetzen<br />

könnten als ein Mittel, ihre eigene Erleuchtung zu vertiefen und<br />

abzurunden und um durch solches Prüfen der Geistesstärke ihrer<br />

«Gegner» gleichzeitig Lehrmethoden zu entwickeln. <strong>Die</strong> Worthiebe<br />

und Gegenhiebe, die diese Wettkämpfe ausmachten, wurden später<br />

12. Unter ihnen ist der Laie Ho der berühmteste. Um sein faszinieren<strong>des</strong> Leben<br />

haben sich viele Geschichten und Legenden gebildet. Als Anhaltspunkt siehe eines<br />

seiner «Dharma-Duelle» auf S. 242 und außerdem unter «Hô-koji» im 10. Kapitel.<br />

142


aufgeschrieben und zu Kôan-Sammlungen zusammengestellt, die noch<br />

immer bei <strong>Zen</strong>-Schülern in Japan im Gebrauch sind.<br />

Wenn der Schüler sein erstes Kôan gelöst hat, tritt er in eine neue<br />

Phase <strong>des</strong> Dokusan. Das angespannte, intensive Ringen, das mit Stimmungen<br />

von Unsicherheit, Niedergeschlagenheit und Verzweiflung<br />

abwechselte und bisher sein Erscheinen vor dem Rôshi kennzeichnete,<br />

weicht nun Selbstvertrauen und einer entspannten Beziehung<br />

zum Rôshi, näher einer echten Partnerschaft. Jetzt ist der Rôshi nicht<br />

mehr Vater und Mutter, sondern ein weiser älterer Bruder. <strong>Die</strong> Bewegungen<br />

<strong>des</strong> Schülers sind freilich noch tastend und unsicher wie die<br />

eines jungen Hun<strong>des</strong>, der gerade erst seine Augen der Welt geöffnet<br />

hat und seine ersten Schritte macht, aber «Eisenwall» und «Silberberg»<br />

stehen ihm nicht mehr bei jeder Wendung gegenüber. War<br />

Dokusan bisher nicht schrecklich, so war es doch langweilig. Jetzt<br />

aber, da er sich von Kôan zu Kôan fort bewegt, ganze Flüsse in einem<br />

Zug austrinkt und Himmel und Erde durch Aufheben eines Fingers 13<br />

neu erschafft, hat er ein Gefühl von Macht und Freiheit, das sich<br />

stetig ausweitet. Indem er den geistigen Gehalt der Kôans erfaßt und<br />

sich mit ganzem Herzen in die durch sie geschaffenen Rollen einlebt,<br />

kann er die Wahrheit, deren er innegeworden ist, in bestimmten<br />

Situationen anschaulich und kraftvoll ausdrücken. Aber das größte<br />

Wunder ist wohl sein Dankbarkeitsgefühl seinem Lehrer, den Buddhas<br />

und Bodhisattvas und allen gegenüber, die ihm in Stunden der Not<br />

eine helfende Hand gereicht haben, ein ermutigen<strong>des</strong> Wort sagten.<br />

Jetzt nimmt sein oft wiederholtes Gelübde, zum Wohl der ganzen<br />

Menschheit vollkommene Erleuchtung zu erlangen, eine neue, tiefsinnige<br />

Bedeutung an.<br />

Aus all dem Gesagten geht klar hervor, daß die Rolle <strong>des</strong> Rôshi bei<br />

der <strong>Zen</strong>-Schulung eine transzendente ist. Niemand und nichts kann<br />

einen tief erleuchteten Rôshi ersetzen, und glücklich fürwahr ist der<br />

Schüler, den sein Karma mit ihm in Verbindung bringt. Aber heut-<br />

13. Ein Hinweis auf das dritte Beispiel im Mumon-Kan, gemeinhin «GUTEIS Finger»<br />

genannt. In der Einführung zu diesem Kôan wird festgestellt: «Wird ein Staubkörnchen<br />

aufgehoben, ist das Weltall darin enthalten, öffnet sich eine Blüte,<br />

manifestiert sich die ganze Welt.»<br />

143


zutage ist es schwer, weise, erbarmungsvolle Meister zu finden - und<br />

war es vielleicht immer. Ist es demnach unmöglich, <strong>Zen</strong> ohne Lehrer<br />

zu üben? Keineswegs. Der Schüler, dem es ernst ist, wird in diesem<br />

Kapitel im Grunde jede Frage, die sich im Zusammenhang mit seinem<br />

Üben erheben dürfte, von einem hervorragenden zeitgenössischen<br />

Rôshi beantwortet finden. Jeder, der dieses Kapitel gründlich und im<br />

Zusammenhang mit den anderen Kapiteln, in denen alle Stufen der<br />

Übung deutlich erklärt werden, liest, wird seine Wanderung auf dem<br />

Wege zur Erleuchtung beginnen können.<br />

Es dürfte angebracht sein, noch einiges darüber zu sagen, wie die<br />

Unterlagen dieser Dokusan-Sammlung zusammengetragen wurden.<br />

Ich hatte den Vorzug, mehrere Jahre lang als Dolmetscher für YASU-<br />

TANI Rôshi zu wirken, ein Umstand, der mich in die einzigartige Lage<br />

versetzte, in die Probleme von Menschen aus dem Westen, die in<br />

Japan unter YASUTANI Rôshi Zazen übten, eingeweiht zu werden, und<br />

ebenso in Rat und Anleitung, die er ihnen gab. Es wurde mir klar,<br />

daß es für Schüler im Westen und in anderen Teilen der Welt, die<br />

sich im <strong>Zen</strong> schulen wollen, jedoch keinen befähigten Lehrer haben,<br />

von unschätzbarem Wert sein würde, wenn diese Fragen und Antworten<br />

aufgezeichnet werden könnten. Zudem, so schien es mir, würden<br />

sie wesentlich dazu beitragen, die weitverbreitete Ansicht zu widerlegen,<br />

daß <strong>Zen</strong> eine vorsätzliche Mystifikation oder ein «sadistischer<br />

Ausdruck der japanischen Kultur» sei, wie einige schlecht unterrichtete<br />

Kritiker es genannt haben.<br />

<strong>Die</strong> Verwendung eines Band- oder anderen Aufnahmegeräts kam<br />

nicht in Frage; das hätte die Schüler unfrei gemacht und ihr Dokusan<br />

gestört und wäre <strong>des</strong>halb niemals von YASUTANI Rôshi erlaubt worden.<br />

Aus dem gleichen Grunde hätten sich Einwände erhoben, hätte<br />

ich versucht, während <strong>des</strong> Dokusan Notizen zu machen. Das wäre<br />

schon <strong>des</strong>halb unmöglich gewesen, da ich ja in erster Linie dolmetschen<br />

sollte. So verfiel ich auf die Idee, am Ende eines jeden Dokusan,<br />

solange mir der Dialog noch frisch im Gedächtnis war, in Kurzschrift<br />

zu vermerken, was dabei geäußert worden war. Ich glaube, daß ich<br />

trotz meiner nicht vollkommenen Beherrschung <strong>des</strong> Japanischen eine<br />

getreue Übertragung <strong>des</strong> Inhalts jener Dialoge zwischen YASUTANI<br />

144


Rôshi und den westlichen Schülern gegeben habe. Wo immer ich im<br />

Zweifel war, prüfte ich die Richtigkeit mit dem Rôshi nach. Es ist<br />

in<strong>des</strong>sen möglich, daß ich hie und da nicht alle Schattierungen und<br />

die ganze Würze einer Bemerkung <strong>des</strong> Rôshi habe einfangen können;<br />

für je<strong>des</strong> derartige Versäumnis trage ich die Verantwortung.<br />

YASUTANI Rôshi gab zu dieser Veröffentlichung nur <strong>des</strong>halb seine<br />

Zustimmung, weil ich ihm versicherte, daß sie sehr dazu beitragen<br />

würde, die zahlreichen Entstellungen der <strong>Zen</strong>-Lehre, wie sie im<br />

Westen kursieren, zu widerlegen. Er stellte nur eine Bedingung: daß<br />

die Lösung von Kôans nicht verraten werde, was Schülern, die künftighin<br />

unter einem Rôshi üben, zum Hindernis werden würde. <strong>Die</strong>se<br />

Bedingung wurde erfüllt.<br />

Dokusan<br />

Schülerin A (60 Jahre alt)<br />

Schülerin: Ich komme mir als Gefangene meines Ich vor und möchte<br />

dem entrinnen. Kann ich das durch Zazen? Würden Sie mir bitte den<br />

Zweck von Zazen erklären?<br />

Rôshi: Sprechen wir zuerst einmal über den Geist. Ihr Geist kann mit<br />

einem Spiegel 14 verglichen werden, der alles, was davor erscheint,<br />

widerspiegelt. Von dem Zeitpunkt an, da Sie zu denken, zu fühlen<br />

und Ihre Willenskraft anzuwenden beginnen, werden Schatten auf<br />

Ihren Geist geworfen, die die Spiegelung verzerren. <strong>Die</strong>sen Zustand<br />

nennt man Verblendung, und sie ist die Grund-Krankheit <strong>des</strong> Menschen.<br />

<strong>Die</strong> gefährlichste Wirkung dieser Krankheit liegt darin, daß sie<br />

14. Der Rôshi vergleicht den Geist hier in gleicher Weise mit einem Spiegel wie<br />

der Sechste Patriarch ENÔ in seiner berühmten Stanze; also nicht mit der Form,<br />

sondern mit der Spiegelkraft. ENÔS Vers lautet:<br />

«Im Grunde gibt es keinen Bodhi-Baum,<br />

noch ist der klare Spiegel ein Gestell.<br />

Da alles Leere ist von Anbeginn,<br />

Wo heftete sich Staub denn hin?»<br />

145


ein Gefühl der Dualität hervorruft, demzufolge Sie «Ich» und<br />

«Nicht-Ich» als gegeben voraussetzen. In Wahrheit ist alles Eins.<br />

Dabei handelt es sich natürlich um keine zahlenmäßige Eins. Was<br />

Feindschaft, Habgier und damit unausweichlich Leiden schafft, ist<br />

die irrtümliche Anschauung, daß man sich einer Welt von Einzeldingen<br />

gegenüber sieht. Zweck von Zazen ist es nun, diese Schatten<br />

und Verunreinigungen vom Geiste abzuwischen, so daß wir unseren<br />

Einklang mit allem Leben zuinnerst erleben können. Dann wallen<br />

Liebe und Erbarmen ganz natürlich und spontan in uns auf.<br />

Schülerin: Ich sitze Shikantaza, wie Sie angewiesen haben. Ich habe<br />

Schmerzen in den Beinen, aber sie sind erträglich. Ich werde nicht von<br />

vielen Gedanken geplagt, und meine Konzentration ist ziemlich gut.<br />

Aber ich weiß wirklich nicht, was ich mir von diesem Sitzen verspreche.<br />

Rôshi: Das erste Ziel beim Sitzen ist, den Geist zur Einheit zu bringen.<br />

Für den Durchschnittsmenschen, <strong>des</strong>sen Aufmerksamkeit in viele<br />

Richtungen gezerrt wird, ist ununterbrochene Konzentration einfach<br />

unmöglich. Durch das Üben von Zazen wird der Geist in einen Punkt<br />

gesammelt, so daß er überwacht werden kann. <strong>Die</strong>sen Vorgang kann<br />

man damit vergleichen, daß man Sonnenstrahlen mittels eines Vergrößerungsglases<br />

nutzbar macht. Wenn die Sonnenstrahlen in einen<br />

Brennpunkt gesammelt werden, wirken sie natürlich intensiver. Auch<br />

der menschliche Geist arbeitet wirksamer, wenn er gesammelt und<br />

geeint ist. Ob Sie nun das Verlangen haben, Ihr Selbst-Wesen zu<br />

schauen oder nicht, so werden Sie doch die Wirkung geistiger Sammlung<br />

auf Ihr Wohlbefinden zu schätzen wissen.<br />

Schülerin: Ja, natürlich. Also, ich saß ruhig Zazen und hatte dabei<br />

beträchtliche Schmerzen. Ich wußte nun nicht, ob ich versuchen<br />

sollte, diese Schmerzen zu ertragen, oder lieber aufgeben sollte, wenn<br />

sie zu schlimm wurden. Mein eigentliches Problem ist mit anderen<br />

Worten: Soll ich es mit meinem Willen dahinbringen, das auszuhalten,<br />

oder soll ich passiv dasitzen, ohne mich zu zwingen?<br />

Rôshi: Das ist eine wichtige Frage. Schließlich werden Sie den Punkt<br />

146


erreichen, da Sie bequem, ohne Anstrengung und Schmerzen, sitzen<br />

können. Aber durch langen gewohnheitsmäßigen Mißbrauch von<br />

Körper und Geist müssen wir anfangs unsere Willenskraft anspannen,<br />

ehe wir mit müheloser Ausgewogenheit sitzen können. Und das bringt<br />

unvermeidlich Schmerzen mit sich.<br />

Wenn der Schwerpunkt <strong>des</strong> Körpers auf die Stelle unterhalb <strong>des</strong><br />

Nabels verlagert wird, funktioniert der ganze Körper mit größerer<br />

Stabilität. Beim Durchschnittsmenschen liegt der Schwerpunkt in<br />

Schulterhöhe. Anstatt mit aufrechtem Rücken zu sitzen und zu gehen,<br />

haben die meisten Menschen auch eine schlaffe Haltung, durch die auf<br />

alle Körperteile ein übermäßiger Druck ausgeübt wird.<br />

Unseren Geist mißbrauchen wir gleichermaßen, indem wir alle möglichen<br />

unnützen Gedanken hegen und damit spielen. Deshalb müssen<br />

wir entschlossene Anstrengungen machen, Körper und Geist richtig zu<br />

gebrauchen. Das bringt anfangs unvermeidlich Schmerzen mit sich;<br />

wenn Sie aber beharrlich sind, werden die Schmerzen allmählich<br />

einem Gefühl der Heiterkeit weichen. Sie werden körperlich kräftiger<br />

und im Denken flinker werden. Das ist die Erfahrung aller, die<br />

Zazen regelmäßig und hingebungsvoll üben.<br />

Rôshi: Haben Sie eine Frage?<br />

Schülerin: Ja, ich habe mehrere Fragen. <strong>Die</strong> erste ist: Warum haben<br />

Sie über meinem Platz ein Zeichen anbringen lassen, das besagt, daß<br />

ich nicht mit dem Kyosaku geschlagen werden soll? Geschah das, weil<br />

Sie mich für einen hoffnungslosen Fall halten?<br />

Rôshi: Ich hatte den Eindruck, daß Sie ebenso wie die meisten Menschen<br />

aus dem Westen nicht geschlagen werden mögen. Der Haupt-<br />

Mahner hat alle heftig geschlagen, und ich dachte, es würde Ihr Zazen<br />

stören, wenn Sie geschlagen würden. Es macht Ihnen nichts aus,<br />

geschlagen zu werden?<br />

Schülerin (lächelnd): Nein, meist nicht, solange ich nicht zu kräftig<br />

geschlagen werde.<br />

Rôshi: Gestern wurde die junge Frau, die Ihnen gegenüber sitzt, mit<br />

großer Kraft geschlagen, natürlich, um sie anzuspornen. Es war das<br />

147


erste Mal, daß sie geschlagen wurde, und sie war derart überrascht<br />

und verwirrt, daß sie das Sesshin sofort verließ. Glücklicherweise ist<br />

sie heute zurückgekommen und hat mir erzählt, was vorgefallen war.<br />

So ließ ich ein Zeichen über ihr anbringen, das besagt, daß sie nicht<br />

geschlagen werden solle.<br />

Schülerin: Nun, jedenfalls bin ich froh, zu erfahren, daß Sie mich nicht<br />

für einen hoffnungsvollen Fall halten. - Meine nächste Frage ist: Als<br />

ich mich heute morgen voller Kraft fühlte, dachte ich: ,Ich muß mich<br />

von allen unnützen Gedanken frei machen, so daß Weisheit einziehen<br />

kann.' Als mir dann klar wurde, daß das ein Werk <strong>des</strong> Ich war,<br />

wurde ich ganz mutlos. Ich kam mir wie ein Esel vor, der nur durch<br />

eine vor seiner Nase baumelnde Karotte in Bewegung gesetzt werden<br />

kann.<br />

Rôshi: Wollen Sie Erleuchtung finden?<br />

Schülerin: Ich weiß nicht, was Erleuchtung ist. Gestern habe ich zu<br />

Ihnen gesagt, daß ich mein Ich austreiben möchte, damit ich ein<br />

bißchen weiser werden kann. Mir scheint, ich bin mehr daran interessiert,<br />

mein Ich loszuwerden, als Erleuchtung zu finden.<br />

Rôshi: Im Grunde gibt es kein Ich - das ist etwas, was wir selbst<br />

erschaffen. In<strong>des</strong>sen ist es dieses selbstgeschaffene Ich, das uns zum<br />

Zazen führt; es ist also nicht zu verachten. Es ist Ihnen wahrscheinlich<br />

klar, daß Zazen zu einer Zermürbung <strong>des</strong> Ich führt. Sie können<br />

von Ihrem Ich auch dadurch loskommen, daß Sie sich an die Regeln<br />

<strong>des</strong> Sesshin halten, anstatt Ihren eigenen Neigungen zu folgen. Wenn<br />

Sie sich z. B. nicht erheben wollen, wenn das Glockenzeichen zum<br />

Aufstehen und Herumgehen ertönt, dann päppeln Sie Ihr Ich auf und<br />

vergrößern es damit. Das Gleiche trifft auf das Essen zu. Sie unterwerfen<br />

sich je<strong>des</strong>mal Ihrem Ich, wenn Sie den gemeinsamen Mahlzeiten<br />

fernbleiben und weggehen, um allein zu essen. Da nun das Ich<br />

im Unterbewußtsein verwurzelt ist, ist tiefgreifende Erleuchtung das<br />

einzige Mittel zu seiner Ausrottung.<br />

Schülerin: Ich bin sehr müde, und meine Beine tun mir schrecklich weh.<br />

Ich kann Zazen nicht mehr gut üben. Ich weiß nicht, was ich tun soll.<br />

148


Rôshi: Zazen erfordert beträchtliche Energie. Wenn der Körper nicht<br />

in guter Verfassung ist, dann ist intensives Zazen schwierig. Sitzen Sie<br />

bequem und ohne sich abzumühen, bis Sie wieder zu Kräften kommen.<br />

Wenn Sie sich gekräftigt fühlen, können Sie sich wieder anstrengen.<br />

Danach ist es dann eine Sache der Entschlußkraft, sich zum Aushalten<br />

zu zwingen. Energie und unerschütterliche Entschlossenheit,<br />

bei<strong>des</strong> ist dazu erforderlich.<br />

Schülerin: Ich habe für mich selbst an dem Kôan «Was ist mein Ur-<br />

Angesicht 15 ?» gearbeitet. Ich glaube, ich habe die Antwort, aber ich<br />

hätte gern, wenn Sie es mir bestätigen würden. Ich habe z. B. darüber<br />

nachgesonnen, wie ich vor meiner Geburt war und wie meine Eltern<br />

waren. Ich habe auch darüber nachgedacht, wie ich nach meinem<br />

Tode sein würde. Ja, in meiner Vorstellung habe ich schon meine<br />

Asche an einem Lieblingsplatz bestattet. Habe ich an diesem Kôan<br />

richtig gearbeitet?<br />

Rôshi: Nein, das haben Sie nicht getan. Was Sie mir hier geben, ist<br />

ein hypothetisches Bild von diesem Kôan. Wenn Sie es wirklich<br />

behandeln, dann müssen Sie imstande sein, Fragen zu beantworten<br />

wie: Wenn die Welt vernichtet würde, würde das Ur-Angesicht auch<br />

vernichtet werden? Wenn ja, auf welche Weise?<br />

Schülerin: Ich kann solche Fragen nicht beantworten.<br />

Rôshi: <strong>Die</strong>ses Kôan ist nicht anders als Mu. Fahren Sie vorerst mit<br />

Shikantaza fort, bis Sie den Punkt erreichen, da Sie den heftigen<br />

Wunsch nach Kenshô haben. Dann wird ein Kôan wie «Was ist mein<br />

Ur-Angesicht?» oder «Was ist Mu?» angebracht sein.<br />

Schülerin: Als Sie über Makyô sprachen, haben Sie gesagt, daß sogar<br />

psychologische Einsichten über einen selbst Makyô sind. Das ist nicht<br />

allein verwirrend, sondern auch entmutigend. Ich bin bei diesem<br />

15. Ur-Angesicht: In der englischen Übersetzung «One's Face before one's parents'<br />

birth» (= Unser Gesicht vor der Geburt unserer Eltern); auf japanisch «Honrai-no<br />

memmoku» s. im 10. Kapitel.<br />

149


Sesshin zu verschiedenen Einsichten über mich selbst gekommen und<br />

fühlte mich dadurch außerordentlich gehoben. Aber jetzt bin ich ganz<br />

verwirrt und weiß nicht, was ich davon halten soll.<br />

Rôshi: Wenn Sie in Ihren Übungen Fortschritte machen, werden viele<br />

Makyô erscheinen. An sich sind sie nicht schädlich, sie können sogar<br />

bis zu einem gewissen Grade nützlich sein. Wenn Sie jedoch daran<br />

haften oder sich davon verführen lassen, können sie Ihnen zum Hindernis<br />

werden. Man könnte sogar sagen, daß im tiefsten Sinne selbst<br />

der Bodhisattva Kannon am Erbarmen haftet; sonst wäre er ein<br />

Buddha, frei von allem Anhaften. Wer von der Idee besessen ist,<br />

anderen zu helfen, fühlt sich gedrängt, auch jenen beizustehen, die<br />

ohne solche Hilfe vielleicht viel besser daran wären. Stellen Sie sich<br />

einen Menschen mit wenig Geld vor, der ein einfaches Leben führt.<br />

Man würde ihm jenes Leben zerstören, wollte man ihm materielle<br />

Dinge geben, die für seine schlichte Lebensweise unwesentlich sind.<br />

Das wäre keineswegs Güte. Ein Buddha ist erbarmungsvoll, aber er<br />

ist nicht besessen von dem Verlangen, andere zu retten.<br />

Einsichten über uns selbst sind natürlich wertvoll. Aber Ihr Ziel ist<br />

es, darüber hinauszugehen. Wenn Sie innehalten, um sich zu diesen<br />

Einsichten zu gratulieren, wird Ihr Vorankommen auf dem Wege zur<br />

Verwirklichung Ihres Buddha-Wesens verlangsamt. Im umfassendsten<br />

Sinn ist alles, was nicht an Erleuchtung heranreicht, Makyô.<br />

Lassen Sie sich durch Makyô weder bekümmern, noch erheben. Lassen<br />

Sie sich nicht durch Dinge ablenken, die im Grunde doch nur<br />

vergängliche Erlebnisse sind. Fahren Sie lediglich hingebungsvoll mit<br />

Ihrem Üben fort.<br />

Schülerin: Vor ungefähr einer Stunde verschwanden ganz plötzlich<br />

die Schmerzen in meinen Beinen, und ehe ich wußte, wie mir geschah,<br />

strömten mir die Tränen aus den Augen, und ich spürte, wie ich innerlich<br />

schmolz. Gleichzeitig hüllte mich ein Gefühl großer Liebe ein.<br />

Was bedeutet das?<br />

Rôshi: Wenn wir Zazen mit Energie und Hingabe üben, löst es unser<br />

Gefühl der Entfremdung von Menschen und Dingen auf. Das Den-<br />

150


ken <strong>des</strong> gewöhnlichen Menschen ist dualistisch. Er denkt in Begriffen<br />

von «er selbst» und «ihm Entgegengesetztes»; das ist es, was sein<br />

Elend verursacht, denn es ruft Feindschaft und Habgier hervor, was<br />

wiederum zu Leiden führt. Aber mit Hilfe von Zazen verschwindet<br />

diese Zwiegespaltenheit allmählich. Dadurch vertieft sich natürlich<br />

Ihre Barmherzigkeit und weitet sich aus, da Ihre Gefühle und Gedanken<br />

nicht mehr auf den nicht-existenten Brennpunkt «Ich» gerichtet<br />

sind. Das ist es also, was mit Ihnen vorgeht. Das ist natürlich höchst<br />

erfreulich, aber Sie müssen weitergehen. Fahren Sie von ganzem Herzen<br />

in Ihrer Konzentration fort.<br />

Schülerin: Ich übe Shikantaza.<br />

Rôshi: Haben Sie eine Frage?<br />

Schülerin: Ja. Als ich gestern auf Ihr Drängen hin mit aller Kraft zu<br />

sitzen versuchte, spürte ich, daß meine Anstrengungen mechanisch<br />

waren; ich mußte mich sozusagen antreiben, um diesen Zustand zu<br />

erreichen. In<strong>des</strong>sen saß ich wie befohlen, und der Stock-Schwinger<br />

sagte mir mehrmals, als er mir mit dem Kyosaku Hiebe versetzte,<br />

daß mein Sitzen sehr gut sei. Ich selber aber spürte, daß ich zu jener<br />

Zeit nur mechanisch saß. Heute morgen fühlte ich mich sozusagen<br />

angetrieben, anstatt mich selber anzutreiben. Ganz von allein wuchs<br />

mir Kraft zu, und ich hatte das Gefühl, daß ich besser saß, als da ich<br />

mich «antreiben» mußte. Aber als ich heute morgen von dem Mahner<br />

geschlagen wurde, sagte er mir: «Sie lassen in Ihren Anstrengungen<br />

nach! Raffen Sie sich zusammen!» Das hat mich ganz verwirrt.<br />

Rôshi: Vor allem, merken Sie sich nicht, was jemand, der Sie ermutigen<br />

will, zu Ihnen sagt. Hören Sie zu, was er sagt, und vergessen Sie<br />

es dann. Natürlich ist jene Art zu sitzen, bei der Ihnen ganz natürlich<br />

Kraft zuströmt, ohne daß Sie sich «antreiben» müssen, besser. Leider<br />

ist es nicht immer möglich, solche Kraft aufrechtzuerhalten. Daher<br />

ist es nötig, daß Sie sich dazu zwingen, unerschütterlich zu sitzen,<br />

wenn Ihnen nicht spontan Energie zufließt. Vergessen Sie nicht, daß<br />

zwischen Ihrem mechanischen Sitzen, wie Sie es nennen, und dem<br />

natürlichen, mühelosen Sitzen, das Sie später erlebten, eine Kausal-<br />

151


eziehung besteht. Jedenfalls kann der Sitzende nicht immer die Art<br />

seines Sitzens am besten beurteilen. Wichtig ist, daß Sie in Ihren<br />

Anstrengungen nicht nachlassen und nicht Trägheit oder Müdigkeit<br />

nachgeben.<br />

Schülerin: Ich hatte das Gefühl, daß ein Ding auf meiner Stirn zwischen<br />

den Augen saß. Es war so stark, daß es meine Aufmerksamkeit<br />

automatisch fesselte. Da Sie mich aber unterwiesen haben, meine Aufmerksamkeit<br />

in meiner Bauchhöhle zu konzentrieren, lenkte ich sie<br />

wieder dorthin zurück. Soll ich auf diese Weise weitermachen?<br />

Rôshi: Wenn sich Ihre Aufmerksamkeit ganz natürlich und spontan<br />

auf einen Punkt zwischen Ihren Augen richtet, dann ist es ganz richtig,<br />

wenn Sie Ihre Konzentration dorthin lenken. Das ist eine andere<br />

Art der Konzentration.<br />

Rôshi: Ist Ihnen irgend etwas Besonderes widerfahren?<br />

Schülerin: Ich hatte ein Gefühl, als würde mein Hinterkopf durch<br />

den Atem nach oben geschoben, und als würde mein Atem bis zu den<br />

Lenden hinuntergehen. Ist das ein Makyô? Wenn ja, was soll ich tun?<br />

Rôshi: Ja, das ist auch eine Art Makyô. <strong>Die</strong>se Dinge haben keine<br />

besondere Bedeutung - sie sind weder nützlich noch schädlich. Lassen<br />

Sie sich nicht darauf ein; üben Sie einfach ernsthaft weiter. Makyô<br />

entstehen, wie ich schon erklärt habe, wenn man sich intensiv konzentriert.<br />

Schülerin: Aber warum entstehen sie überhaupt?<br />

Rôshi: Als Folge der Funktionen unserer sechs Sinne 16 tauchen<br />

dauernd zahllose Gedanken gleich Meereswogen an der Oberfläche<br />

unseres Bewußtseins auf. In unserem Unbewußten finden sich Rückstände<br />

unserer Lebenserfahrungen, einschließlich solcher aus vergangenen<br />

Existenzen bis in Urzeiten zurück. Wenn Zazen so tief dringt,<br />

daß die Oberfläche und die Zwischenschichten <strong>des</strong> Bewußtseins zur<br />

16. Dem Buddhismus zufolge ist der unterscheidende Intellekt der sechste Sinn.<br />

152


Ruhe kommen, steigen Teilchen dieser Rückstände wie Blasen in unserem<br />

Bewußtsein auf. Das nennt man Makyô.<br />

Verlieben Sie sich also nicht in sie, wenn sie angenehm sind, und<br />

fürchten Sie sich nicht vor ihnen, wenn sie unheimlich sind. Wenn<br />

Sie sich daran klammern - sie bewundern oder fürchten -, können sie<br />

zum Hindernis werden.<br />

Schülerin: Mir tun die Beine sehr weh. Was kann ich dagegen tun?<br />

Rôshi: Wenn Sie zu große Schmerzen haben, dann ist es schwer, sich<br />

zu konzentrieren. Aber wenn Ihre Konzentration besser wird, dann<br />

werden Schmerzen Sie anspornen, anstatt Ihnen im Wege zu sein,<br />

sofern Sie sich die Schmerzen nur tapfer zunutze machen.<br />

Schülerin: Ich habe noch eine Frage. Was soll ich tun, wenn ich<br />

schläfrig werde?<br />

Rôshi: Das kommt auf die Art Ihrer Schläfrigkeit an. Wenn es sich<br />

nur um leichte Schläfrigkeit handelt, dann können Sie folgen<strong>des</strong> tun:<br />

Wiegen Sie den Körper mehrmals leicht hin und her, oder reiben Sie<br />

sich die Augen. Wenn es sich um tiefe Müdigkeit handelt, weil Sie die<br />

Nacht zuvor nicht geschlafen haben, dann versuchen Sie es damit, Ihr<br />

Gesicht in kaltes Wasser zu tauchen und es kräftig zu reiben. Folgen<strong>des</strong><br />

hilft, um einen ermatteten Sinn wieder anzuregen: Denken Sie<br />

daran, daß der Tod jeden Augenblick eintreten kann, sei es durch<br />

einen plötzlichen Unfall, sei es durch schwere Krankheit, und<br />

beschließen Sie, unverzüglich Erleuchtung zu erlangen.<br />

Schülerin: Ich fürchte, ich habe es bei meinem ersten Sesshin recht<br />

schlecht gemacht. Ich konnte mich überhaupt nicht konzentrieren.<br />

Meine Aufmerksamkeit wurde von dem Schreien der Leitenden, die<br />

den Kyosaku schwingen, abgelenkt und gestört und ebenso durch das<br />

Krachen der Kyosaku-Hiebe selber, durch Autos und Lastwagen,<br />

durch das Baby, das nebenan schrie, und durch bellende Hunde. Ich<br />

hatte mir irgendwie vorgestellt, daß ich zu einem stillen Tempel in<br />

idyllischer Umgebung käme, aber es hat sich als ganz anders erwiesen.<br />

153


Abgesehen von meiner Enttäuschung, bin ich auch beschämt, daß ich<br />

es nicht habe besser machen können.<br />

Rôshi: <strong>Die</strong>ses Gefühl brauchen Sie nicht zu haben. Am Anfang ist es<br />

für jeden schwierig, sich zu konzentrieren, weil sein Sinn so leicht<br />

abgelenkt wird. Natürlich ist es der Idealfall, an einem ruhigen Ort<br />

zu üben, wenn man mit Zazen beginnt. Aus diesem Grunde zogen<br />

und ziehen sich viele <strong>Zen</strong>-Mönche in die Einsamkeit der Berge<br />

zurück. Es ist jedoch nicht gut, lange in solcher Atmosphäre zu bleiben.<br />

Wenn sich die Konzentrationskraft entwickelt und immer stärker<br />

wird, kann man in jeder Umgebung Zazen üben - ja, je lärmiger<br />

<strong>des</strong>to besser. Wenn man starke Konzentrationskräfte entwickelt<br />

hat, kann man zum lautesten Teil der Ginza 17 gehen und dort Zazen<br />

üben.<br />

Schülerin: Ich habe eine lange Frage, und es wird einige Zeit in<br />

Anspruch nehmen, sie zu stellen. Ich weiß, daß andere darauf warten,<br />

Sie zu sprechen. Da es aber sehr wichtig für mich ist, hoffe ich, daß<br />

Sie mir erlauben, sie zu stellen.<br />

Rôshi: Fangen Sie nur an.<br />

Schülerin: Seit dem letzten Sesshin wurde ich bei meiner Meditation<br />

von einer Vielfalt unangenehmer Gedanken und Gefühle - und das<br />

waren keine Makyô - über mich befallen, über das, was ich mein<br />

unwahres Wesen nenne. Heute morgen sagten Sie bei Ihrem Vortrag,<br />

daß wahre Weisheit einzieht, wenn wir uns aller Gedanken entledigen.<br />

Sie sprachen auch darüber, daß wir einfach nur schauen sollen,<br />

wenn wir sehen, einfach nur hören, wenn wir etwas hören. Ich habe<br />

das nicht tun können, weil sich mein Ich immer dazwischenschob.<br />

Nun weiß ich zwar nicht, was Kenshô ist; wenn es aber bedeutet, daß<br />

man in sein wahres Wesen schaut, dann scheint mir, daß ich genau das<br />

Umgekehrte tue, nämlich in mein unwahres Wesen schaue.<br />

Rôshi: Ehe wir Zazen üben, halten wir uns für höhere Lebewesen;<br />

wenn wir uns aber deutlicher zu sehen bekommen, dann macht uns<br />

17. Das belebteste Viertel der Innenstadt von Tokio.<br />

154


das Wissen um unsere bösen Gedanken und Taten bescheiden. Solche<br />

Einsicht aber ist die Widerspiegelung unseres Wahren Wesens. Nehmen<br />

wir einmal an, wir gingen im Dunkel spazieren; wenn wir dann<br />

zu einer Kiefer kämen, könnten wir überhaupt nichts von ihr sehen.<br />

Dann steigt der Mond auf, und wir unterscheiden zunächst Kiefernadeln<br />

auf dem Boden; wenn er weiter emporsteigt, sehen wir den<br />

Baumstamm und schließlich bei vollem Mondschein den ganzen<br />

Baum. Unsere Wahrnehmung all <strong>des</strong>sen ist eine Spiegelung unseres<br />

Wahren Selbst.<br />

Schülerin: Darf ich noch etwas fragen? Ich habe Menschen getroffen<br />

und mit ihnen gesprochen, die, glaube ich, irgendein Kenshô-Erlebnis<br />

hatten. Dennoch schienen sie oft durch das, was ich das «unwahre<br />

Wesen» nenne, beunruhigt. Wie ist das möglich?<br />

Rôshi: Es ist wahr, daß es Menschen gibt, die ein Kenshô-Erlebnis<br />

hatten und dennoch moralisch jenen unterlegen scheinen, die solche<br />

Erfahrung nicht hatten. Sie fragen: Wie geht das zu? <strong>Die</strong>se Erleuchteten<br />

haben die Wahrheit geschaut, daß alles Leben seinem innersten<br />

Wesen nach unteilbar ist; da sie sich aber noch nicht von ihren verblendeten<br />

Gefühlen und Neigungen, deren Wurzeln tief im Unbewußten<br />

eingebettet sind, befreit haben, können sie noch nicht im<br />

Einklang mit ihrer inneren Schau handeln. Wenn sie jedoch mit<br />

Zazen fortfahren, wird sich allmählich ihr Charakter bessern, da sie<br />

zunehmend mehr von diesen Verunreinigungen gereinigt werden, und<br />

mit der Zeit werden sie zu hervorragenden Menschen.<br />

Da sind andererseits diejenigen, die niemals ein Kenshô-Erlebnis<br />

hatten, und dennoch bescheiden und selbstlos zu sein scheinen. Sie<br />

verbergen sozusagen die wahre Beschaffenheit ihres Charakters. Oberflächlich<br />

gesehen, scheinen diese letzteren charakterlich besser und<br />

standhafter zu sein. Da sie aber niemals die Wahrheit geschaut haben<br />

und daher das Weltall und sich selbst als isoliert und voneinander<br />

geschieden sehen, hält ihr anscheinend so guter Charakter großem<br />

Druck oft nicht stand, und ihr Benehmen läßt dann viel zu wünschen<br />

übrig.<br />

Natürlich gibt es auch einige Menschen, die, obgleich sie nicht erleuchtet<br />

sind, in den schwierigsten Lagen mit besonnener Kraft han-<br />

155


deln. Das ist zweifellos darauf zurückzuführen, daß sie mit ungeheurem<br />

Jôriki begabt zur Welt kamen. Wenn solche Menschen ihr Wahres<br />

Wesen schauen, werden sie die anderen weit überragen.<br />

Schülerin (weinend): Gerade vor ungefähr fünf Minuten hatte ich ein<br />

schreckliches Erlebnis. Plötzlich war mir, als ob mir das ganze Weltall<br />

in den Bauch gefahren sei, und ich brach in Tränen aus. Ich kann<br />

jetzt noch nicht aufhören zu weinen.<br />

Rôshi: Wenn man Zazen übt, erlebt man manches Seltsame - manches<br />

davon ist angenehm und manches furchterregend, wie jetzt bei Ihnen.<br />

Aber das hat keine besondere Bedeutung. Wenn ein angenehmes Vorkommnis<br />

Sie freudig stimmt und ein schreckliches Sie in Furcht versetzt,<br />

dann können Ihnen solche Erlebnisse allerdings zum Hindernis<br />

werden. Wenn Sie sich aber nicht daran klammern, gehen sie ganz<br />

von selbst vorüber.<br />

Schülerin: Gestern habe ich Ihnen mein Erlebnis beschrieben, wie sich<br />

mir das ganze Weltall kopfüber in den Bauch gestürzt hat und ich die<br />

schrecklichen Weinkrämpfe hatte. Ich habe darüber nachgedacht und<br />

glaube, das ist nur dadurch gekommen, daß ich mich gewaltsam angestrengt<br />

habe. Ich denke, es wäre nicht geschehen, wenn ich mich nicht<br />

so gewaltsam angestrengt hätte.<br />

Rôshi: Wenn Sie Zazen auf mühelose, entspannte Weise üben wollen,<br />

dann ist es auch recht. Wir können diesen Vergleich anstellen: Drei<br />

Leute wollen auf einen Berggipfel steigen, von dem aus man einen<br />

ungewöhnlich großartigen Ausblick hat. Der Erste will sich nicht<br />

anstrengen, sondern möchte dahinschlendern; so wird er natürlich<br />

lange Zeit brauchen, bis er den Gipfel erreicht. Der Zweite, der es eiliger<br />

hat, greift mit großen Schritten aus, die Arme im Gehen schwingend.<br />

Der Dritte gelangt gleichsam hüpfend und springend schnell<br />

zum Gipfel und ruft aus: «Ach, was für ein herrlicher Ausblick!»<br />

Schülerin: Welche Art ist am besten?<br />

Rôshi: Das hängt ganz von Ihrer Gemütsverfassung ab. Wenn Sie viel<br />

156


Zeit haben, ist die erste Art zufriedenstellend. Aber wenn Sie voller<br />

Eifer sind und den Gipfel schnell erreichen möchten, ist natürlich eine<br />

der beiden anderen besser. Es ist klar, daß es mehr Kraft erfordert,<br />

sich schnell zu bewegen. Wenn Sie sich mit leidenschaftlicher Intensität<br />

anstrengen, können Sie außerdem widriger Vorkommnisse gewärtig<br />

sein, erschreckender wie auch angenehmer - mit anderen Worten<br />

das, was Sie gerade erlebt haben.<br />

Schülerin: Ich möchte Ihnen herzlich danken. Ich möchte auch noch<br />

sagen, daß das mein letztes Sesshin ist, da ich nächste Woche in die<br />

Vereinigten Staaten zurückfahre. Obgleich diese Sesshin in vieler<br />

Hinsicht schmerzhaft waren, waren sie doch auch äußerst aufschlußreich.<br />

Besonders ohne dieses letzte würde ich mich selbst nicht so gut<br />

verstehen, wie jetzt, und ich wüßte auch nicht, wie ich weitermachen<br />

sollte. Ich bin Ihnen sehr dankbar für die ungeheure Hilfe, die Sie<br />

mir haben zuteil werden lassen.<br />

Schüler B (45 Jahre alt)<br />

Schüler: Mein Kôan ist Mu.<br />

Rôshi: Um den geistigen Gehalt von Mu klar zu erkennen, müssen<br />

Sie, ohne sich ablenken zu lassen, eine Eisenschiene, die sich ins<br />

Unendliche erstreckt, entlangwandern. Eine Rast wird der Erleuchtung<br />

entgegenwirken, und viele Pausen werden es umso mehr. <strong>Die</strong><br />

geringste Abweichung von Mu wird zu einer Entfernung von Meilen.<br />

Passen Sie also auf! Seien Sie auf der Hut! Lassen Sie Mu auch nicht<br />

für einen Augenblick los, weder beim Sitzen, noch beim Stehen,<br />

Gehen, Essen oder Arbeiten.<br />

Schüler: Mir scheint, daß ich mit Mu überhaupt nicht weiterkomme.<br />

Ich weiß nicht, was ich verstehen oder nicht verstehen soll.<br />

Rôshi: Wenn Sie nach tiefer Kontemplation wahrhaft sagen könnten:<br />

«Ich verstehe nicht», dann wäre das überzeugend, denn es gibt wirklich<br />

nichts zu verstehen. Im tiefsten Sinne verstehen wir nichts. Was<br />

157


durch logische Gedankengänge von Philosophen und Wissenschaftlern<br />

erkannt werden kann, ist nur ein Bruchteil <strong>des</strong> Universums.<br />

Wenn wir uns vorstellen, daß dieser Füller, den ich hier in der Hand<br />

halte, das gesamte Universum ist, so ist das intellektuell Erkennbare<br />

gerade nur die Spitze der Feder. Kann irgendein Philosoph oder Wissenschaftler<br />

wirklich sagen, warum Blumen blühen oder warum auf<br />

den Winter der Frühling folgt? Wenn wir nicht in Begriffen denken,<br />

kommt das Tiefste in uns ins Spiel –<br />

Schüler (unterbricht ihn): Ja, das ist mir ganz klar, aber –<br />

Rôshi (fährt fort): Wenn Sie also in aller Aufrichtigkeit sagen können:<br />

«Ich verstehe nicht», dann verstehen Sie sehr viel. Gehen Sie<br />

jetzt, und arbeiten Sie intensiver an diesem Kôan.<br />

Schüler (aufgeregt): Ich weiß, was Mu ist! In einer Situation ist dies<br />

Mu (er hebt den Meisterstab <strong>des</strong> Rôshi auf). In einer anderen würde<br />

dies Mu sein (er nimmt etwas anderes auf). Etwas anderes weiß ich<br />

nicht.<br />

Rôshi: Das ist nicht so schlecht. Wenn Sie wirklich wüßten, was Sie<br />

mit «Ich weiß nicht» meinen, dann wäre Ihre Antwort sogar noch<br />

besser. Es ist offensichtlich, daß Sie sich immer noch für eine Einzelwesenheit<br />

halten, die von anderen Einzelwesenheiten gesondert ist.<br />

Wie ich höre, hat man allen Ausländern eine Zusammenfassung meiner<br />

Darlegungen von heute morgen auf Englisch gegeben. Waren<br />

Sie da?<br />

Schüler: Ja, ich war da.<br />

Rôshi: Dann wissen Sie, wie gebieterisch die Forderung ist, die Vorstellung<br />

von einem «ich selbst» im Gegensatz zu «anderem» aufzugeben.<br />

Das ist eine Täuschung, die durch eine falsche Sicht der Dinge<br />

hervorgerufen wird. Um zur Selbst-Wesensschau zu kommen, müssen<br />

Sie sich und das Weltall unmittelbar als Eins erleben. Natürlich verstehen<br />

Sie das in der Theorie. Aber theoretisches Verständnis ist wie<br />

ein Bild: Es ist nicht das Ding selbst, sondern nur <strong>des</strong>sen Darstellung.<br />

Lassen Sie die logischen Gedankengänge fahren, und packen Sie das<br />

wahre Ding!<br />

158


Schüler: Das kann ich tun - ja, das kann ich!<br />

Rôshi: Gut denn; sagen Sie mir auf der Stelle, welche Größe Ihr<br />

Wahres Ich hat!<br />

Schüler (nach kleiner Pause): Also ... das hängt von den Umständen<br />

ab. In einer Situation kann es ein Ding sein, in einer anderen etwas<br />

anderes.<br />

Rôshi: Wenn Sie die Wahrheit geschaut hätten, dann hätten Sie mir<br />

augenblicklich eine konkrete Antwort geben können.<br />

Wenn ich beide Arme ausstrecke, so - (demonstriert es) - wie weit reichen<br />

sie? Antworten Sie sofort!<br />

Schüler (zögernd): Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich manchmal<br />

spüre, ich bin dieser Stock, und manchmal, daß ich etwas anderes bin<br />

- ich weiß nicht, was.<br />

Rôshi: Sie haben es beinahe erreicht. Lassen Sie jetzt nicht nach -<br />

tun Sie Ihr Äußerstes.<br />

Schüler C (43 Jahre alt)<br />

(Es ist üblich, daß jeder Schüler seine Übung nennt, sobald er zum<br />

Dokusan vor dem Rôshi erscheint. <strong>Die</strong> Übung dieses Schülers ist Mu.<br />

Um ermüdende Wiederholungen zu vermeiden, haben wir diese<br />

Bemerkung <strong>des</strong> Schülers zu Beginn der Dokusan meist weggelassen.)<br />

Schüler: Ich habe das Gefühl, daß Mu alles und nichts ist. Ich habe<br />

das Gefühl, daß es wie der Widerschein <strong>des</strong> Mon<strong>des</strong> auf einem See<br />

ist - ohne Mond und ohne See - nur Widerschein.<br />

Rôshi: Sie haben ein scharfes, theoretisches Verständnis für Mu, ein<br />

klares Bild davon im Sinn. Jetzt müssen Sie sich seiner unmittelbar<br />

bemächtigen. Es gibt eine Zeile, die ein berühmter <strong>Zen</strong>-Meister<br />

schrieb, als er Erleuchtung fand. Sie lautet:<br />

«Als ich die Tempelglocke läuten hörte, gab es plötzlich keine Glocke<br />

und kein Ich, nur Klang.»<br />

Mit anderen Worten: Er war sich keines Unterschie<strong>des</strong> mehr zwischen<br />

sich, der Glocke, dem Klang und dem Weltall bewußt. Das ist der<br />

159


Zustand, den Sie erreichen müssen. Lassen Sie nicht nach - ringen Sie<br />

weiter!<br />

Schüler: Ich muß mich über etwas beklagen. Als ich gestern abend<br />

darauf wartete, zum Dokusan zu gehen, wurde ich barsch herumgestoßen,<br />

geschoben und angebrüllt. Ich weiß, diese Püffe sollten mich<br />

anspornen, aber ich nahm es trotzdem übel.<br />

Rôshi: Das kommt daher, daß Sie sich als ein «Ich» ansehen; <strong>des</strong>halb<br />

nehmen Sie solche Behandlung übel. Wenn Sie mit Leib und Seele<br />

hundertprozentig mit Mu vereint wären, wer sollte dann das Übelnehmen<br />

besorgen? Auf jener Stufe sind Sie wie ein Einfaltspinsel, wie<br />

ein Punching-Ball: Wohin Sie gepufft werden, dahin gehen Sie, da Ihr<br />

Ich, Ihr Eigenwille ausgetrieben wurde. Das ist der Zeitpunkt, da<br />

Sie Mu unmittelbar schauend erkennen. Wenn Sie jene Verfassung<br />

erreicht haben, sind Sie frei von allem Groll.<br />

Schüler: Gestern hatte ich den Höhepunkt meiner Anstrengungen<br />

erreicht; mein Eifer war, wie Sie sagten, auf fünfundneunzig Prozent<br />

gestiegen. Aber heute hat mich das brennende Verlangen plötzlich<br />

verlassen. Ich bin ganz mutlos. Ich weiß nicht, warum.<br />

Rôshi: Lassen Sie sich nicht entmutigen. Das geht allen so. Wenn Sie<br />

ein Stück Maschine wären, könnten Sie dauernd auf hohen Touren<br />

laufen, aber ein Mensch kann das nicht. Stellen Sie sich jemanden vor,<br />

der reitet. Wenn er ein guter Reiter ist, galoppiert er nicht in einem<br />

Augenblick und verlangsamt im nächsten die Gangart plötzlich zum<br />

Schritt. Wenn er sein Pferd in einem stetigen Trab hält, ist er eher in<br />

der Lage, einen plötzlichen Spurt herauszuholen, wenn es nötig ist.<br />

Wenn Sie ganz nachlassen und endlos im Schritt weitergehen oder,<br />

was noch schlimmer ist, von Zeit zu Zeit anhalten, werden Sie lange<br />

Zeit brauchen, bis Sie Ihr Ziel erreichen. Der Haken dürfte sein, daß<br />

Sie bewußt oder unbewußt meinen: «Wenn ich bei diesem Sesshin<br />

nicht Erleuchtung finde, so werde ich es das nächste Mal erreichen.»<br />

Wenn das aber Ihr letztes Sesshin in Japan wäre, würden Sie in Ver-<br />

160


zweiflung geraten, und die Verzweiflung würde Sie geradewegs in<br />

die Erleuchtung hineinjagen.<br />

Sehen Sie einmal die Menschen hier, die dieses besondere Sesshin 18<br />

mit Ihnen zusammen besuchen. Sie haben nur einmal im Jahr die<br />

Gelegenheit, an einem Sesshin teilzunehmen, und sie wissen, daß sie<br />

ein weiteres Jahr warten müssen, wenn sie Kenshô nicht in dieser<br />

Woche erlangen. So üben sie Zazen mit gewaltiger Energie und Hingabe.<br />

Drei der Gruppe haben schon Kenshô erreicht.<br />

Lassen Sie in Ihren Anstrengungen nicht nach, sonst werden Sie lange<br />

brauchen, um das zu erreichen, worauf Sie aus sind.<br />

Schüler: Mir gehen jetzt weniger Gedanken durch den Sinn, als bisher<br />

beim größten Teil <strong>des</strong> Sesshin; aber ich werde immer noch von<br />

einigen geplagt, die immer wieder auftauchen. Ich meine, das liegt<br />

wohl daran, daß ich früher so viel über <strong>Zen</strong> gelesen und darüber<br />

nachgedacht habe.<br />

Rôshi: Ja. Sie werden Ihr Wahres Wesen erst dann verwirklichen,<br />

wenn Sie sich aller Gedanken entschlagen haben, so daß Ihr Geist<br />

einem reinen, weißen fleckenlosen Blatt Papier gleicht. Es geht einfach<br />

darum, daß Sie sich so völlig in Mu versenken, daß für irgendwelche<br />

Gedanken gar kein Raum mehr ist, nicht einmal für Gedanken<br />

über Mu.<br />

Rôshi: Seien Sie auch nicht einen Augenblick unachtsam. Wenn Sie<br />

beim Zazen-Sitzen aufmerksam sind, aber beim Aufstehen Augen und<br />

Geist herumwandern lassen, unterbrechen Sie Ihre geistige Konzentration.<br />

Folgen Sie meinen Worten?<br />

Schüler: Ja, das tue ich; aber all das betrifft mich wirklich gar nicht.<br />

Ich bin immer aufmerksam.<br />

Rôshi: Nun, es ist möglich, daß Sie unaufmerksam sind, ohne daß Sie<br />

es merken. Außerdem gibt es verschiedene Grade der Aufmerksamkeit.<br />

Wenn Sie in einem überfüllten Zug aufpassen, daß Ihnen Ihre<br />

Brieftasche nicht gestohlen wird, so ist das eine Art der Achtsamkeit.<br />

18. YASUTANI Rôshi hält dieses einwöchige Sesshin einmal im Jahr in Hokkaido,<br />

der nördlichen Insel Japans.<br />

161


Wenn Sie aber in einer Situation sind, da Sie jeden Augenblick getötet<br />

werden können - sagen wir im Krieg -, wird Ihre Aufmerksamkeit<br />

bei weitem größer sein.<br />

Wenn Sie auch nur eine Sekunde schlapp machen, bedeutet das, daß<br />

Sie sich von Mu trennen. Versenken Sie sich in Mu, selbst wenn<br />

Sie zu Bett gehen, und wenn Sie aufwachen, halten Sie den Geist<br />

auf den Brennpunkt Mu gerichtet. Ihre gesamte Aufmerksamkeit<br />

muß darauf konzentriert sein, Mu zu ergründen - so daß Sie davon<br />

so besessen sind wie ein Liebender. Nur dann können Sie Erleuchtung<br />

finden.<br />

Rôshi: Sie wissen, wie man Zazen richtig übt. Sie haben auch ein ausgezeichnetes<br />

Bild von Mu im Kopf. Wenn Sie aber Mu wirklich<br />

erleben wollen, müssen Sie dieses Bildnis, das sich in Ihrem begrifflichen<br />

Denken festgesetzt hat, wegwerfen. <strong>Die</strong> Wurzeln der ich-bildenden<br />

Ideen stecken tief im Unbewußten, außer Reichweite der normalen<br />

Bewußtheit; daher sind sie schwer auszurotten. Um sie loszuwerden,<br />

müssen Sie beim Gehen, Essen, Arbeiten, Schlafen und Ausscheiden<br />

mit Mu völlig Eins werden. Sie sollen nicht allein Ihren<br />

Geist sammeln, sondern auch die Augen überwachen, denn wenn die<br />

Augen nicht auf den Boden geheftet sind, entstehen Gedanken, der<br />

Geist gerät in Bewegung, und ehe Sie sich's versehen, haben Sie sich<br />

schon von Mu getrennt.<br />

Sie wissen, wie ich schon gesagt habe, wie man sich richtig konzentriert,<br />

aber Ihre Konzentration ist noch schwach. Sie neigen dazu,<br />

zeitweise zu trödeln und sich mit Dingen zu beschäftigen, die nicht<br />

dazu gehören. An sich ist das zwar nicht so schlimm; aber für jemanden,<br />

der danach strebt, sein Wahres Wesen schauend zu erkennen, ist<br />

es verhängnisvoll, da sein Sinn dauernd abgelenkt wird. Sie werden<br />

erst dann Erleuchtung finden, wenn Sie sich mit der ganzen Kraft<br />

Ihres Seins in Mu ergossen haben.<br />

162


Schüler: Ich ringe aus Leibeskräften darum, mit Mu Eins zu werden.<br />

Da aber das, was nicht Mu ist, ebenso stark ist, gewinnt Mu nicht die<br />

Oberhand. Ja, die Gegenkräfte werden sogar umso stärker, je stärker<br />

Mu wird; und allmählich kommt es mir vor, als sei ich «zwischen<br />

zwei Welten, die eine tot, die andere unfähig, geboren zu werden».<br />

Offen gesagt, ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich tun soll. Dazu<br />

ist größere Kraft, als ich sie besitze, erforderlich - davon bin ich<br />

überzeugt.<br />

Rôshi: Was Sie zu tun versuchen, das kann man leicht hiermit vergleichen<br />

(er preßt beide Hände gegeneinander). Wenn Sie Mu erst<br />

geschaut haben, werden Sie wissen, daß ihm nichts entgegenstehen<br />

kann, da alles Mu ist.<br />

Jetzt werden Sie allmählich einsehen, warum der Kyosaku angewandt<br />

wird - um Ihnen nämlich zu helfen, sich über Ihr normales Vermögen<br />

hinaus anzustrengen. Da Sie aber den Kyosaku nicht leiden können,<br />

werde ich den Haupt-Mahner bitten, Ihnen von Zeit zu Zeit einen<br />

heftigen Klaps auf den Rücken zu versetzen. So angespornt, können<br />

Sie größere Kraft und Energien mobilisieren, als Ihnen bisher zur<br />

Verfügung standen.<br />

Rôshi: Wenn das hier ein bestimmtes großes Kloster wäre, und Sie<br />

würden vor dem Rôshi zum Dokusan so erscheinen, wie Sie es jetzt<br />

tun, so würde er Sie anherrschen: «Zeigen Sie mir Mu!» Wenn Sie es<br />

ihm nicht zeigen könnten, würde er Sie warnen, nicht eher wiederzukommen,<br />

als bis Sie es ihm zeigen könnten. In Ihrer Verzagtheit<br />

würden Sie Ausreden finden, um dem Dokusan fernzubleiben aus<br />

Furcht, ausgescholten zu werden, weil Sie noch keine wirkliche Antwort<br />

auf Mu wissen. Wenn Sie aber nicht freiwillig gingen, würden<br />

Sie von den Mönchs-Ältesten von Ihrem Sitz hochgerissen und zum<br />

Dokusan geschoben und geschleift. Da Sie nicht mehr aus noch ein<br />

wüßten, könnte es geschehen, daß Sie aus schierer Verzweiflung die<br />

Antwort auf Mu hervorbringen.<br />

Aus mancherlei Gründen wenden wir hier keine derartigen Methoden<br />

an. Üben Sie jedoch diesen Druck selbst auf sich aus. Erscheinen Sie<br />

163


hier vor mir mit dem Gefühl, daß Sie die Wahrheit von Mu demonstrieren<br />

werden, komme, was da wolle. Gehen Sie jetzt auf Ihren<br />

Platz zurück, und tun Sie Ihr Bestes!<br />

Rôshi: Ich sehe, Sie haben Mu noch immer nicht ergründet... Warum<br />

nicht?... Sie fangen mit intensiver Konzentration an, dann lassen<br />

Sie nach. Eine Zeitlang halten Sie an Mu fest, wie ich hier meinen<br />

Stab festhalte (umklammert den Meisterstab mit beiden Händen).<br />

Dann lassen Sie los, so (läßt den Meisterstab fallen)! So kommen Sie<br />

nie weiter! Wenn Sie gehen, dann geht nur Mu; wenn Sie essen, ißt<br />

nur Mu; wenn Sie arbeiten, arbeitet nur Mu; und wenn Sie vor mir<br />

erscheinen, so erscheint nur Mu. Wenn Sie sich niederwerfen, so ist es<br />

Mu, das sich niederwirft. Beim Sprechen ist es Mu, das spricht. Beim<br />

Zu-Bett-Gehen ist es Mu, das sich schlafen legt, und es ist Mu, das<br />

erwacht. Wenn Sie den Punkt erreicht haben, da Ihr Sehen, Ihr<br />

Hören, Ihr Berühren, Ihr Riechen, Ihr Schmecken und Ihr Denken<br />

nichts als Mu sind, werden Sie plötzlich Mu unmittelbar gewahren.<br />

Rôshi: Um Mu schauend zu erkennen, müssen Sie in die Verfassung<br />

eines Liebenden geraten, der einzig seine Geliebte im Sinn hat. Der<br />

Durchschnittsmensch kümmert sich um eine Menge Nebensächlichkeiten:<br />

die Tageszeit, seine tägliche Kleidung, zufällige Gedanken,<br />

die ihm in den Sinn kommen. Ein Liebender jedoch, <strong>des</strong>sen Sinn ganz<br />

auf seine Geliebte gerichtet ist, ist in einem tranceartigen Zustand.<br />

Er gleicht darin, daß er seinen Sinn nur auf eines richtet, einem<br />

Einfaltspinsel. Sie werden bestimmt Erleuchtung finden, wenn Sie im<br />

Hinblick auf Mu zu solch zielstrebiger Ausschließlichkeit kommen.<br />

Schüler: Sie haben mir verschiedentlich gesagt, daß je<strong>des</strong> einzelne<br />

Ding Mu ist, daß ich Mu bin usw. Was soll ich mit diesen Hinweisen<br />

anfangen? Beim Zazen darüber nachdenken? Und wenn ja, auf welche<br />

Weise?<br />

164


Rôshi: Nein, denken Sie nicht beim Zazen daran. <strong>Die</strong>se Hinweise sind<br />

nur für den Augenblick. Wenn Sie Ihren Geist zu unmittelbarer<br />

Erkenntnis von Mu öffnen, gut und recht. Wenn nicht, vergessen Sie<br />

sie, und wenden Sie sich wieder der Frage zu: «Was ist Mu?»<br />

Schüler: Als ich mich vor kurzem einfach nur auf Mu konzentrierte,<br />

war meine Konzentration recht gut. Ich konnte meine Aufmerksamkeit<br />

mit Leichtigkeit auf Mu richten, ohne daß sich die verschiedensten<br />

Gedanken dazwischenschoben. Seit Sie mir aber sagten, daß ich<br />

an die Bedeutung von Mu denken müsse, daß ich mich zweifelnd fragen<br />

müsse: «Was ist Mu?» - ist mein Sinn einem Sperrfeuer von<br />

Gedanken geöffnet, die meine Konzentration behindern.<br />

Rôshi: Zweck Ihres Zazen-Übens ist das Erlebnis von Satori. Satori<br />

und Jôriki - das japanische Wort für die aus Zazen erwachsende<br />

Kraft - sind zwar eng miteinander verbunden, in<strong>des</strong>sen sind es doch<br />

zwei ganz verschiedene Dinge. Es gibt Menschen, die jahrelang Zazen<br />

üben - mit starkem Jôriki -, aber nie zum Satori kommen. Warum<br />

nicht? Weil sie sich in ihrem tiefsten Unbewußten nicht von der Vorstellung<br />

befreien können, daß die Welt außerhalb von ihnen besteht,<br />

daß sie souveräne Persönlichkeiten sind, unabhängig von anderen<br />

Persönlichkeiten und ihnen entgegengesetzt. Solche Begriffe aufzugeben,<br />

bedeutet im «Dunkeln 19 » zu stehen. Nun kommt Satori gerade<br />

aus diesem «Dunkel» und nicht aus dem «Licht» der Vernunft und<br />

weltlichen Wissens. Durch intensives Fragen «Was ist Mu?» führen<br />

Sie das Vernunftdenken in eine Sackgasse, werden aller Gedanken<br />

bar, wobei Sie auch allmählich die zähen Wurzeln von Ich und<br />

Nicht-Ich im Unbewußten vernichten. <strong>Die</strong>se dynamische Selbsterforschung<br />

ist der schnellste Weg zum Satori.<br />

Jôriki ist natürlich wichtig; aber wenn Ihr Ziel nicht darüber hinaus<br />

liegt, können Sie jahrelang Zazen üben, ohne Ihrem Endzweck Satori<br />

näher zu kommen. Andererseits gibt es viele Menschen, deren Jôriki<br />

verhältnismäßig schwach ist und die dennoch Satori erlangen.<br />

Schüler: Warum soll ich mich dann überhaupt damit plagen, Jôriki<br />

zu entwickeln?<br />

19. Im <strong>Zen</strong> sagt man: «Der große runde Spiegel der Weisheit ist pechschwarz.»<br />

165


Rôshi: Nur, weil Sie geistige Übungen nicht durchhalten können,<br />

wenn Sie Ihre Gedanken und Gefühle nicht in natürlicher Zucht halten.<br />

Wenn Sie erst einmal diese natürliche Kontrolle durch Jôriki<br />

gewonnen haben, werden Sie nicht mehr zwanghaft getrieben. Sie<br />

haben die Freiheit, sagen wir, reizende Ausblicke oder Töne zu genießen<br />

oder zu ignorieren, ohne als Nachwirkung Reue zu empfinden.<br />

In<strong>des</strong>sen wird Ihre Weltsicht und Ihre Beziehung zur Welt bis zur<br />

Erleuchtung verschwommen sein - mit anderen Worten, noch immer<br />

von der Idee eines «Eigen» und «Anderes» beherrscht sein - und Sie<br />

werden von Ihrer unvollkommenen Sicht irregeführt.<br />

Selbst-Wesensschau kann, wie ich schon gesagt habe, nach wenig<br />

Zazen und bei entsprechend schwachem Jôriki eintreten; aber ganz<br />

ohne Jôriki ist es schwierig, seine gewohnheitsmäßigen Handlungen<br />

so umzustellen, daß sie sich im Einklang mit der erlebten Wahrheit<br />

befinden. Erst nach der Erleuchtung, wenn man die Welt und sich<br />

nicht mehr als zweierlei sieht, entfalten sich die inneren Kräfte voll<br />

und ganz, vorausgesetzt, daß man mit Zazen und der Entwicklung<br />

von Jôriki fortfährt.<br />

Schüler: All das kann ich einsehen. Mein Problem aber bleibt: Wie<br />

soll ich die Frage «Was ist Mu?» behandeln, wenn ich sie für vollkommen<br />

sinnlos halte? Ich kann die Frage für mich selbst nicht einmal<br />

stellen, geschweige denn, sie beantworten. Wenn ich zu Ihnen sagte<br />

«Was ist Baba 20 ?», dann hätte das keinen Sinn für Sie. Ich halte Mu<br />

für ebenso sinnlos.<br />

Rôshi: Haargenau das ist es, was Mu zu solch ausgezeichnetem Kôan<br />

macht! Um Ihres Selbst-Wesens innezuwerden, müssen Sie aus der<br />

Sackgasse von Logik und Analyse ausbrechen. Gewöhnliche Fragen<br />

erfordern vernünftige Antworten, aber der Versuch, auf «Was ist<br />

Mu?» vernünftig zu antworten, ist wie der Versuch, mit der Faust<br />

durch eine Eisenwand zu fahren. <strong>Die</strong>se Frage zwingt Sie in einen<br />

Bereich jenseits aller Vernunftgründe hinein. Ihre Anstrengungen,<br />

das Problem zu lösen, sind jedoch nicht ohne Sinn. Was Sie in Wirklichkeit<br />

herauszufinden versuchen, ist «Was ist mein Wahres Selbst?».<br />

20. Unwissentlich wählt der Schüler ein Wort, das im Japanischen verschiedene<br />

Bedeutungen hat.<br />

166


Sie können das auf die Art, die ich Ihnen im einzelnen geschildert<br />

habe, entdecken. Wenn es Ihnen lieber ist, so fragen Sie sich: «Was ist<br />

mein Wahres Selbst?»<br />

Schiller: Oder: Was bin ich? oder: Wer bin ich?<br />

Rôshi: Ja, genau.<br />

Schüler (kommt keuchend hereingestürzt): Ich muß Ihnen erzählen,<br />

was mir eben passiert ist. Mir wurde einfach schwarz vor den Augen.<br />

Rôshi: Meinen Sie, daß alles schwarz wurde und Sie überhaupt nichts<br />

sehen konnten?<br />

Schüler: Nicht ganz. Alles wurde dunkel, aber es gab kleine Lichtlöcher<br />

in der Schwärze. Was bedeutet das?<br />

Rôshi: Das ist ein Makyô, und es beweist, daß Sie einen wichtigen<br />

Punkt auf halbem Wege erreicht haben. Makyô treten nicht auf,<br />

wenn man trödelt. Sie entstehen auch nicht bei gereifter Übungsweise.<br />

Solche Vorkommnisse sind ein Zeichen für die Intensität Ihrer Konzentration.<br />

Es ist äußerst wichtig, daß Sie sich auch nicht um Haaresbreite<br />

von Ihrem Kôan trennen. Sie dürfen auch nicht einen Augenblick<br />

unachtsam sein. Lassen Sie sich in Ihrer Konzentration durch<br />

nichts und gar nichts unterbrechen. Sie müssen Mu jetzt unmittelbar<br />

erkennen! Nur noch ein Schritt!<br />

Schüler: Ich bin geistig ganz konzentriert. Ich war in tiefem samâdhi.<br />

Mit Herz und Seele habe ich gefragt: «Was ist Mu?»<br />

Rôshi: Ausgezeichnet!<br />

Schüler: Aber ich habe folgende Schwierigkeiten: Ganz plötzlich<br />

fängt mein Herz an, sehr schnell zu schlagen. Ein andermal verschwindet<br />

mir der Atem aus der Nase, und ich spüre ihn in der<br />

Magengrube. Ich weiß nicht, ob das besorgniserregend ist oder nicht.<br />

Und wenn ich höre, wie der Haupt-Mahner alle mit dem Kyosaku<br />

schlägt und sie anbrüllt, daß sie sich mit letzter Energie konzentrieren<br />

sollen, und höre, wie alle schnaufen und keuchen, dann<br />

weiß ich nicht, ob ich auf meine Art mit ruhiger Meditation fortfahren<br />

oder mich auch so abquälen soll wie die anderen um mich<br />

herum.<br />

167


Rôshi: Ich kann nur wiederholen: Sie haben einen entscheidenden<br />

Punkt erreicht. Als ich vor vielen Jahren im Hosshin-Ji übte, erreichte<br />

auch ich jenes Stadium, da mein Herz heftig zu klopfen begann, und<br />

ich wußte nicht, was tun. Wie Sie wissen, wird in jenem Kloster der<br />

Kyosaku unbarmherzig gebraucht, und jeder wird dauernd dazu<br />

gedrängt, sein Äußerstes zu leisten. Als ich mit dem Problem zu<br />

HARADA Rôshi kam, sagte er nichts - gar nichts. Das hieß, daß ich<br />

meinen eigenen Weg erfühlen müßte, denn niemand könnte mir sagen,<br />

was zu tun wäre. Ich spürte, daß ich vielleicht ohnmächtig würde,<br />

wenn ich so fortführe. Andererseits wußte ich, daß ich zurückfallen<br />

würde, wenn ich in meinen Anstrengungen nachließe.<br />

Ich will Ihnen folgen<strong>des</strong> sagen: Wenn Sie ruhig sitzen und nicht vom<br />

Fleck kommen, werden Sie niemals zur Selbst-Wesensschau gelangen.<br />

Zur Erleuchtung ist es erforderlich, daß Sie mit Ihrem letzten bißchen<br />

Kraft in Mu eindringen. Ihre Versunkenheit muß vollkommen und<br />

unerschütterlich sein. <strong>Die</strong> tief in unserem Unbewußten steckende<br />

Begriffsvorstellung «ich» und «anderes» ist sehr stark. Wir denken:<br />

Ich bin hier; was nicht ich ist, das ist da draußen. Das ist eine Täuschung.<br />

Von Natur gibt es keine solche Zweigeteiltheit. Theoretisch<br />

wissen Sie das natürlich alles, aber dieses «Ich» ist so fest eingebettet,<br />

daß es durch Vernunftgründe nicht entwurzelt werden kann. Wenn<br />

Ihre Konzentration zielbewußt ausschließlich auf Mu gerichtet ist,<br />

sind Sie sich eines «Ich», das einem «Nicht-Ich» entgegensteht, nicht<br />

bewußt. Hält diese Versunkenheit ununterbrochen an, so stirbt die<br />

«Ich-heit» im Unbewußten aus. Und plötzlich «Klapp!» - und es<br />

gibt keine Dualität mehr. Das unmittelbar zu erleben, ist Kenshô.<br />

Werden Sie jetzt nicht wankend. Sie stehen an einem entscheidenden<br />

Punkt. Sitzen Sie hingebungsvoll!<br />

Rôshi: Sie haben Mu noch immer nicht geschaut, nicht wahr?...<br />

Schüler: Ich spüre, daß die Glocke da neben Ihnen, der Baum da<br />

draußen und ich eins sein sollten, aber irgendwie kann ich mir dieses<br />

Einssein nicht unmittelbar vergegenwärtigen. Es kommt mir vor, als<br />

sei ich in Ketten geschmiedet, in einem Gefängnis, aus dem ich nicht<br />

168


entkommen kann. Ich kann einfach aus der Dualität nicht ausbrechen.<br />

Rôshi: Eben diese Vorstellungen sind es, die Ihre Wesensschau von<br />

Mu vereiteln. Machen Sie sich frei davon! Sie können Einssein nur<br />

durch gedankenfreie Versunkenheit in Mu erreichen.<br />

Ich möchte Sie etwas fragen: Wenn Sie sterben, stirbt dann alles um<br />

Sie her auch?<br />

Schüler: Das weiß ich nicht - das habe ich noch nicht erlebt.<br />

Rôshi: Wenn Sie sterben, so sterben alle Dinge mit Ihnen, da Sie sich<br />

ihrer nicht mehr bewußt sind. Sie existieren nur in Beziehung zu<br />

Ihnen, nicht wahr?<br />

Schüler: Ja, ich glaube.<br />

Rôshi: Deshalb verschwindet auch das ganze Weltall, wenn Sie verschwinden;<br />

und wenn das Weltall vergeht, vergehen Sie mit ihm.<br />

Denken Sie daran, jeder Anreiz kann plötzlich die Wesensschau von<br />

Mu hervorrufen, vorausgesetzt, daß Ihr Geist leer ist und Sie sich<br />

Ihrer selbst nicht bewußt sind. Es sind noch fünf Stunden bis zum<br />

Ende <strong>des</strong> Sesshin. Wenn Sie sich mit ganzer Seele konzentrieren, werden<br />

Sie gewiß Erleuchtung erringen.<br />

Rôshi: Sie sehen aus, als hätten Sie Mu beinahe erfaßt.<br />

Sehen Sie sich diesen Ventilator an. Ich schalte ihn ein (tut es). <strong>Die</strong><br />

Flügel drehen sich. Woher kommt diese Drehung? Jetzt schalte ich<br />

den Ventilator aus. Was ist mit der Drehung geschehen? Ist das nicht<br />

Mu? Wenn ich Schüler auffordere, mir Mu zu zeigen, ergreifen einige<br />

meinen Stab, andere halten einen Finger in die Höhe, wieder andere<br />

umarmen mich, so (umarmt den Schüler).<br />

Schüler: Das weiß ich alles, aber wenn ich das täte, käme es auf<br />

Grund vorheriger Überlegung und nicht von innen heraus.<br />

Rôshi: Das stimmt natürlich. Wenn Sie Mu wirklich erleben, werden<br />

Sie spontan reagieren können. Aber Sie müssen aufhören nachzudenken<br />

und sich einzig und allein in Mu vertiefen.<br />

Schüler: Auch das verstehe ich, und ich versuche, es zu tun.<br />

Ich erlebte neulich eine Kostprobe von Mu, als ich den Mahner<br />

169


anschrie, als er mich schlug, obgleich doch ein Zeichen «Nicht schlagen»<br />

über mir ist.<br />

Rôshi: <strong>Die</strong>ses Gefühl von Mu war wundervoll, nicht wahr? In dem<br />

Augenblick, da Sie ihn anschrien, gab es keine Dualität, keine<br />

Bewußtheit Ihrer selbst oder seiner - nur den Schrei. Da aber Ihre<br />

Erkenntnis nur eine teilweise war, verschwand sie wieder. Wäre sie<br />

vollständig gewesen, so wäre sie geblieben.<br />

Lassen Sie nicht locker, halten Sie Mu fest, was auch kommen mag.<br />

Ringen Sie weiter!<br />

Schüler: Ich habe keine besondere Frage. Ich möchte nur sagen, daß<br />

ich mich heute ganz flau fühle. Mein Sinn ist ganz zerfasert, und ich<br />

kann mich überhaupt nicht konzentrieren.<br />

Rôshi: Das ist nun mal so bei den Menschen. Manchmal ist unser Sinn<br />

scharf und klar und dann wieder stumpf und teilnahmslos. Wichtig<br />

ist nur, daß Sie sich davon nicht bekümmern und hemmen lassen.<br />

Setzen Sie einfach Ihre Zazen-Übungen entschlossen fort.<br />

Rôshi: Sie sind noch immer nicht zur Wesensschau gekommen - ich<br />

möchte wohl wissen, warum ...<br />

Ich habe Ihnen wiederholt gesagt, daß Sie das Schlußfolgern preisgeben<br />

sollen, mit dem Analysieren aufhören und überhaupt alles<br />

Denken aufgeben müssen. Befreien Sie sich von allen Vorstellungen,<br />

Glaubensanschauungen und Postulaten. Ich schlage Sie mit meinem<br />

Stab (schlägt den Schüler). Sie rufen «Autsch!» <strong>Die</strong>ses «Autsch!» ist<br />

das gesamte Weltall. Was gibt es denn sonst noch? Ist Mu etwas<br />

anderes als das? Wenn das hier Feuer wäre und Sie es berührten,<br />

dann würden Sie ebenfalls aufschreien und die Hand wegziehen,<br />

nicht wahr? <strong>Die</strong> meisten Menschen denken sich Feuer als etwas, das<br />

Hitze schafft, oder als einen Vorgang, der durch Verbrennung entsteht<br />

und so weiter. Aber Feuer ist einfach Feuer, und wenn Sie sich<br />

daran verbrennen und laut aufschreien «Autsch!», dann gibt es nur<br />

«Autsch!».<br />

170


Schüler: Was fehlt mir nur? Sie sind erleuchtet und ich nicht. Worin<br />

liegt der Unterschied, wenn Sie Feuer berühren und wenn ich es tue?<br />

Rôshi: Es gibt überhaupt keinen Unterschied, absolut keinen! Ein<br />

Vers im Mumon-Kan lautet:<br />

«Wenn die Sonne scheint, breiten sich ihre Strahlen über die ganze Erde<br />

aus; und wenn es regnet, wird die Erde naß.»<br />

Hierin liegt weder Schönheit noch Häßlichkeit, weder Gutes noch<br />

Böses, nichts Unumschränktes und nichts Eingeschränktes.<br />

Schüler: Ich möchte es auch so sehen und das ganze Leben auf diese<br />

Weise hinnehmen, aber ich kann es nicht.<br />

Rôshi: Da gibt es nichts hinzunehmen. Sie brauchen einfach nur zu<br />

schauen, wenn Sie sehen, nur zu hören, wenn Sie lauschen. Der<br />

Durchschnittsmensch aber kann das nicht. Er webt um das, was er<br />

erlebt, dauernd Ideen und schmückt es mit Vorstellungen aus. Aber<br />

wenn Sie einen rotglühenden Ofen anfassen und «Autsch!» schreien,<br />

so ist die einfache und offensichtliche Tatsache eben «Autsch!». Gibt<br />

es darüber hinaus noch irgendeine Bedeutung?<br />

Schüler: Mit dem Verstand verstehe ich das alles, aber das hilft mir<br />

nichts.<br />

Rôshi: Nehmen Sie Ihr Verstehen einfach als Verstehen. Sie müssen<br />

von allen Ideen loskommen -<br />

Schüler (unterbricht ihn): Ich hatte gar keine Ideen, ehe ich herkam.<br />

Ich konzentrierte mich nur mit aller Gewalt auf Mu und dachte an<br />

nichts anderes.<br />

Rôshi: Also gut. Wenn Sie auf Ihren Platz zurückkehren, hören Sie<br />

auf, sich um Einssein mit Mu zu bemühen, und fragen Sie sich aus<br />

tiefstem Grunde: «Warum kann ich mir nicht vergegenwärtigen, daß<br />

es nichts als Hören gibt, wenn ich höre? Warum kann ich nicht<br />

erkennen, daß es nichts als Schauen gibt, wenn ich sehe?»<br />

Schüler: Ich weiß, was man von mir erwartet, aber ich kann es einfach<br />

nicht tun.<br />

Rôshi: Es gibt nichts, was man von Ihnen erwartet, nichts, was Sie<br />

tun oder verstehen sollten. Sie brauchen nur die Tatsache zu erfassen,<br />

daß der Boden naß wird, wenn es regnet, und daß die Welt strahlend<br />

171


hell wird, wenn die Sonne scheint. Nehmen Sie Verstehen als Verstehen<br />

und als sonst nichts.<br />

Wenn Sie denken: «Ich soll nicht verstehen» oder «ich soll verstehen»,<br />

so fügen Sie dem Kopf, den Sie schon haben, einen weiteren «Kopf»<br />

hinzu 21 . Warum können Sie die Dinge nicht hinnehmen, wie sie sind<br />

(ihrem wahren Wesen nach) ?<br />

Schüler: Ich glaube, das ist der Haken bei mir: Im Unterbewußtsein<br />

denke ich: «Ich bin ein Individuum und Sie dort sind ein anderes.»<br />

Rôshi: Wenn Sie sich von diesem Grund-Irrtum befreien, wird Satori<br />

plötzlich aufblitzend eintreten, und Sie werden ausrufen: «Ach, ich<br />

hab's!».<br />

Rôshi: Was ist das? (Er klopft dem Schüler mit dem Meisterstab auf<br />

die Schulter.) (Keine Antwort.)<br />

Das ist Mu - nur Mu! Wenn ich in die Hände klatsche (klatscht), so<br />

ist es einfach Mu. Es gibt nichts «herauszufinden», nichts zu grübeln.<br />

Wenn Sie versuchen, auch nur die kleinste Schlußfolgerung zu ziehen,<br />

oder im geringsten analysieren, werden Sie niemals zur Wesensschau<br />

von Mu gelangen.<br />

Schüler: Es kommt mir vor, als ginge ich die ganze Zeit gegen mich<br />

selber an.<br />

Rôshi: Lassen Sie das Nachgrübeln darüber! Hören Sie auf, Ihren<br />

Kopf zu gebrauchen. Werden Sie einfach mit Mu ganz und gar eins,<br />

dann kommen Sie bestimmt zur Selbst-Wesensschau.<br />

In Wirklichkeit gibt es kein «ich selbst», gegen das man angehen kann.<br />

Mu ist alles. Mu ist Nichts. Solange Sie bewußt oder unbewußt glauben,<br />

daß Sie Sie sind und alles Übrige von Ihnen verschieden ist,<br />

werden Sie Mu niemals ergründen. Sie sind Kenshô nahe. Nur noch<br />

ein Schritt! Seien Sie auf der Hut! Entfernen Sie sich auch nicht um<br />

die Dicke <strong>des</strong> dünnsten Papierblattes von Mu!<br />

21. Das heißt: Gedanken unnötig vervielfältigen.<br />

172


Schüler: Als Ergebnis der Erklärungen, die Sie mir gestern gaben,<br />

verbinde ich mit «ich» nicht mehr meinen Körper oder meine Handlungen.<br />

Aber wenn ich mich frage: «Wer ist es, der das alles weiß?»,<br />

dann schließe ich, daß ich der Wisser bin. Bin ich wieder zum Ausgangspunkt<br />

zurückgekommen?<br />

Rôshi: Das Folgende ist für Sie lebenswichtig, also hören Sie gut zu.<br />

Ihr Geist reflektiert gleich einem Spiegel alles: diesen Tisch, diese<br />

Matte - alles, was Sie sehen. Wenn Sie nichts wahrnehmen, spiegelt<br />

der Spiegel sich selbst. Nun ist der Geist eines jeden Menschen verschieden.<br />

<strong>Die</strong> Art, in der mein Geist die Dinge spiegelt, weicht von<br />

der <strong>des</strong> Ihren ab. Was immer in Ihrem Geist ist, ist die Spiegelung<br />

Ihres Geistes, und <strong>des</strong>halb sind Sie das. Wenn Sie also diese Matte<br />

oder diesen Tisch wahrnehmen, nehmen Sie sich selber wahr. Und<br />

wiederum, wenn Ihr Geist leer von allen Begriffen ist - das heißt von<br />

Meinungen, Ideen, Gesichtspunkten, Wertungen, Vorstellungen, Annahmen<br />

- spiegelt Ihr Geist sich selbst. Das ist der Zustand der Nicht-<br />

Unterschiedenheit, von Mu.<br />

Nun ist das alles nur ein Bild. Was Sie zu tun haben, ist, die Wahrheit<br />

unmittelbar selber zu erfassen, so daß Sie sagen können «Ach, natürlich!».<br />

Das ist Erleuchtung.<br />

Rôshi: Sie haben sich Mu noch immer nicht zu eigen gemacht – zu<br />

schade!<br />

Schüler: Das stimmt; es tut mir leid.<br />

Rôshi: Mu ist nichts, was Sie fühlen oder schmecken oder anfassen<br />

oder riechen können. Und wenn es Gestalt oder Form hat, so ist es<br />

nicht Mu. Was Sie da im Innern haben, ist nur ein Bild von Mu. Sie<br />

müssen das wegwerfen -<br />

Schüler (unterbricht ihn): Ich kann Ihnen versichern, daß ich keine<br />

Bilder im Innern habe!<br />

Rôshi: Mu ist jenseits von Sinn und Nicht-Sinn. Man kann es weder<br />

durch die Sinne noch durch logischen Verstand erleben. Lassen Sie<br />

Ihre falschen Vorstellungen fahren, und Ihnen wird jählings die große<br />

Erkenntnis kommen. Aber Sie müssen sich mit größerem Feuereifer<br />

173


darauf werfen. Sie müssen sich hartnäckiger an Mu klammern, wie<br />

ein hungriger Hund an seinen Knochen. Konzentrieren Sie sich von<br />

ganzem Herzen: Mu! Mu! Mu!<br />

Rôshi: Aus der Art, wie Sie hier hereinkommen, kann ich sehen, daß<br />

Sie noch immer nicht eins sind mit Mu. Sie wanken - Sie sind zerstreut.<br />

Wären Sie eins mit Mu, dann würden Sie hier ohne Eile, doch<br />

festen Schrittes vor mir erscheinen, vollkommen vertieft, so als trügen<br />

Sie den kostbarsten Schatz der Welt.<br />

Schüler: Immerhin bin ich nicht mehr in solcher Dualität, wie ich es<br />

war. Wenn ich lache, denke ich nicht «ich lache», sondern einfach nur<br />

«lachen». Genau so, wenn ich Schmerzen habe und bei allem übrigen.<br />

Rôshi: Das ist schön und recht; wenn Sie aber Ihr Wahres Wesen<br />

erkennen wollen, dürfen Sie nicht pausieren und darin schwelgen, sich<br />

zu beglückwünschen. Wenn Sie das tun, trennen Sie sich von Mu und<br />

landen in eben jener Dualität, der Sie gerade entkommen wollen. Zur<br />

Erleuchtung brauchen Sie nur vollkommenes Einssein mit Mu zu<br />

erreichen, weiter nichts. Sie müssen sich von allen trügerischen Vorstellungen<br />

leer machen und zu einer Art Schlafwandler werden, der<br />

einen zerbrechlichen Schatz trägt, der bei jedem Fehltritt zerbrechen<br />

kann. Es darf kein Wanken und Straucheln geben, nicht im min<strong>des</strong>ten.<br />

Schüler: Ich spüre, daß ich der Erleuchtung nicht fern bin, aber<br />

irgendwie kann ich die letzte Stoßkraft nicht aufbringen.<br />

Rôshi: <strong>Die</strong> Schau Ihres Selbst-Wesens kann hiermit verglichen werden<br />

(legt die Handfläche der einen Hand auf die der ändern). <strong>Die</strong><br />

obere Hand ist wie ein schwerer Stein. Sie stellt den Geist <strong>des</strong> Durchschnittsmenschen<br />

dar, einen Geist, der von verblendetem Denken<br />

beherrscht wird. <strong>Die</strong> untere Hand stellt Erleuchtung dar. In Wirklichkeit<br />

sind das nur zwei Aspekte <strong>des</strong> Einen. Um nun die obere Hand<br />

umzuwenden, brauchen Sie ungeheure Kraft, denn dieser Geist ist<br />

schwer von Verblendung. Dabei bedeutet «Kraft» unablässige Konzentration.<br />

Wenn Sie diesen Geist, der obenauf liegt, nur ein wenig<br />

«anheben» und ihn dann wieder «fallen» lassen, werden Sie niemals<br />

174


Ihr Wahres Wesen erleben. Sie müssen ihn in einem Schwung über den<br />

Haufen werfen, so (demonstriert mit schneller kraftvoller Bewegung)!<br />

Und siehe da! Da ist der Geist der Erleuchtung, lebendig und makellos!<br />

Lassen Sie nicht nach - tun Sie Ihr Äußerstes!<br />

Rôshi: Sie möchten etwas sagen, nicht wahr?<br />

Schüler: Ja.<br />

Rôshi: Nur los.<br />

Schüler: Sie haben mir gesagt, ich solle mich fragen: «Warum kann<br />

ich nicht einfach schauen, wenn ich sehe? Warum kann ich nicht einfach<br />

hören, wenn ich lausche? Warum kann ich nicht begreifen, daß,<br />

wenn ich mit Ihrem Meisterstab geschlagen werde und ,Autsch!' rufe,<br />

jenes ,Autsch!' das ganze Weltall ist?» Meine Antwort ist, daß ich<br />

diesen Meisterstab z. B. als Meisterstab in seiner begrenzten Erscheinung<br />

sehe und weiter nichts. Ich sehe diese Matte einfach als Matte.<br />

Ich höre einen Ton als Ton und als nichts sonst.<br />

Rôshi: Sie sehen die Dinge einseitig. Nehmen Sie einmal an, daß ich<br />

meinen Kopf mit meinem Gewand verhülle und die Hände in die<br />

Luft strecke. Wenn Sie nur meine Hände sehen, denken Sie wahrscheinlich,<br />

daß da eben einfach zwei Dinge sind. Wenn ich mich aber<br />

enthülle, sehen Sie, daß ich auch ein Mensch bin und nicht nur zwei<br />

Hände. In gleicher Weise müssen Sie sich vergegenwärtigen, daß es<br />

nur die halbe Wahrheit ist, wenn man die Dinge als abgelöste Wesenheiten<br />

ansieht.<br />

Lassen Sie uns noch einen Schritt weitergehen. Betrachten Sie einmal<br />

diesen Ventilator hier neben mir. Er steht in Verbindung mit seinem<br />

Ständer, der Ständer mit dem Tisch, der Tisch mit dem Fußboden,<br />

der Fußboden mit dem Raum, der Raum mit dem Haus, das Haus mit<br />

dem Erdboden, der Erdboden mit dem Himmel, der Himmel mit dem<br />

Weltall, und wenn er sich bewegt, so bewegt sich das Weltall. Natürlich<br />

ist das, was ich Ihnen hier sage, nicht der Ausdruck der Wirklichkeit,<br />

sondern nur eine Erklärung dafür.<br />

Und weiter: Stellen Sie sich einen Kreis mit einem Mittelpunkt vor.<br />

175


Ohne den Mittelpunkt gibt es keinen Kreis, ohne Kreis keinen Mittelpunkt.<br />

Sie sind der Mittelpunkt, das Universum ist der Kreis. Wenn<br />

Sie existieren, so existiert das Universum, und wenn Sie verschwinden,<br />

so verschwindet das Weltall gleichermaßen 22 . Alles steht miteinander<br />

in Verbindung und wechselseitiger Abhängigkeit. <strong>Die</strong>ser<br />

Kasten auf dem Tisch existiert nicht unabhängig. Er existiert in Beziehung<br />

zu meinen Augen, die ihn anders sehen als die Ihren und wiederum<br />

anders als die eines Dritten. Demnach würde der Kasten für<br />

mich aufhören zu existieren, wenn ich blind wäre.<br />

Nehmen wir ein anderes Beispiel. Stellen Sie sich einmal vor, Sie<br />

äßen Zucker, wenn Sie krank sind. Er schmeckt bitter, und so sagen<br />

Sie: «Er ist bitter»; aber ein anderer sagt: «Es ist Zucker, er ist süß.»<br />

Für Sie ist Zucker nichts<strong>des</strong>toweniger bitter. <strong>Die</strong> Bitterkeit <strong>des</strong> Zukkers<br />

ist also auch bedingt durch Ihren Geschmackssinn; seine Eigenschaften<br />

hängen von Ihnen ab.<br />

Alle Existenz ist relativ. Doch jeder von uns schafft sich seine eigene<br />

Welt. Und ein jeder wird gewahr, was seiner Geistesverfassung entspricht.<br />

Schüler: Das verstehe ich alles theoretisch. Ich kann einsehen, daß ich<br />

verschwinde, wenn die Sonne verschwindet, aber ich kann mir nicht<br />

denken, daß ich die Sonne oder das ganze Weltall bin.<br />

Rôshi: Aber das sind Sie. Wenn bei Ihrem Tode das Weltall mit Ihnen<br />

stirbt, dann sind doch Sie und das Weltall nicht getrennt und isoliert.<br />

Erleuchtung ist nichts weiter als das Innewerden <strong>des</strong>sen, daß die Welt<br />

der Unterschiedenheit und die Welt der Nicht-Unterschiedenheit<br />

nicht zwei sind. Wenn Sie das unmmitelbar und überzeugend erleben,<br />

dann sind Sie erleuchtet.<br />

Schüler: Was ist dann also Mu? Ist es das Innewerden der Nicht-<br />

Unterschiedenheit ?<br />

Rôshi: Es ist ein notwendiger erster Schritt, die Nicht-Unterschiedenheit<br />

intuitiv zu erkennen. Aber es ist eine unvollständige Erkenntnis,<br />

22. Vergleiche: «Weil ich bin, wölbt sich der Himmel, und die Erde wird gehalten.<br />

Weil ich bin, bewegen sich Sonne und Mond. <strong>Die</strong> vier Jahreszeiten folgen einander,<br />

alle Dinge werden geboren, weil ich bin, das heißt, zufolge <strong>des</strong> Bewußtseins.»<br />

(EISAI ZENJI im Kôzen Gokoku-Ron.)<br />

176


wenn sie nicht darüber hinausgeht. Wenn Sie Ihr Wahres Wesen<br />

geschaut haben werden - also Erleuchtung gefunden haben -, werden<br />

Sie alle Dinge als vorübergehende Phänomene ansehen, die endloser<br />

Wandlung unterworfen sind, aber Sie werden sie im und durch den<br />

Aspekt der Gleichheit sehen. Dann verstehen Sie, daß es ohne Nicht-<br />

Unterschiedenheit keine individuellen Existenzen geben kann.<br />

Was ich hier sage, kann ich mit diesem Fächer anschaulich machen.<br />

Eine Seite hat viele Streifen, wie Sie sehen; die andere ist rein weiß.<br />

<strong>Die</strong> weiße Seite kann man die Nicht-Unterschiedenheit nennen, die<br />

gestreifte die der Unterschiedenheit. Was die Streifen als Streifen<br />

erscheinen läßt, ist die weiße oder nicht-unterschiedene Seite <strong>des</strong><br />

Fächers. Und umgekehrt sind es die Streifen, die die weiße Seite sinnvoll<br />

machen. Das sind zwei Aspekte <strong>des</strong> Einen. Während nun der<br />

Aspekt der Unterschiedenheit unaufhörlichen Wandlungen unterworfen<br />

ist, ist das, was nicht unterschieden ist, unwandelbar.<br />

Da Sie ein philosophisch gesinnter Mensch sind, halte ich es auf dieser<br />

Stufe für besser für Sie, wenn Sie über das, was ich gerade gesagt<br />

habe, nachsinnen, bis Sie plötzlich Ihres Wahren Wesens innewerden.<br />

Ist das klar? Das wird von nun an Ihre Übung sein.<br />

Schülerin D (40 Jahre alt)<br />

Schülerin: Ich übe Shikantaza.<br />

Rôshi: Ich habe gestern abend bemerkt, wie Sie dasaßen, die Hände<br />

im Schoß zusammengepreßt, und sich sehr anstrengten. Bei Shikantaz'a<br />

ist es unnötig, sich anzustrengen.<br />

Schülerin: Alle um mich herum strengten sich an und quälten sich ab,<br />

und da dachte ich, ich müßte das auch tun.<br />

Rôshi: <strong>Die</strong> meisten von ihnen sind Anfänger, die an ihrem ersten<br />

Kôan arbeiten. Wenn sie sich nicht anstrengen, verliert sich jede Konzentrationskraft,<br />

die sie entwickeln, schnell wieder, und so mühen sie<br />

sich ab, sie aufrechtzuerhalten. Es ist wie beim Schreibenlernen der<br />

chinesischen Schriftzeichen. Anfangs muß man sich gewaltig anstrengen,<br />

wenn man mühevoll die Schriftzeichen malt. Aber später, wenn<br />

177


man gelernt hat, wie man es macht, kann man sie natürlich mühelos<br />

schreiben. Sie haben Erfahrung im Zazen; Sie brauchen sich also nicht<br />

dermaßen anzustrengen.<br />

Schülerin: Ich muß zugeben, daß zuweilen meine Konzentration gut<br />

ist, ohne daß ich mich dazu zwinge. Aber ist es für Satori nicht erforderlich,<br />

Zazen mit aller Kraft zu üben?<br />

Rôshi: Man übt Shikantaza im Glauben, daß solch ein Zazen selbst<br />

die Verwirklichung <strong>des</strong> eigenen reinen Buddha-Wesens ist. Daher ist<br />

es unnötig, im Bewußtsein seiner selbst um Satori zu ringen 23 . Sie<br />

müssen wachsamen und gleichzeitig gelassenen Geistes sitzen und<br />

ohne ein Gefühl der Eile. Der Geist muß wie eine gut gestimmte Klaviersaite<br />

sein: gespannt, aber nicht überspannt. Denken Sie auch<br />

daran, daß Sie bei einem Sesshin durch das gemeinschaftliche Sitzen<br />

von allen Hilfe erhalten; Sie brauchen sich also nicht abzumühen.<br />

Gestern abend beobachtete ich, daß Sie lachten und weinten. Haben<br />

Sie irgend etwas Ungewöhnliches erlebt?<br />

Schülerin: Ich war vollkommen willenlos. Es kam mir vor, als hätte<br />

ich alles zermalmt, nichts blieb übrig, und ich war froh.<br />

Rôshi: Sagen Sie, haben Sie jemals Angst vor dem Tode gehabt?<br />

Schülerin: Nein, nie.<br />

Rôshi: Menschen, die der Gedanke ans Sterben beunruhigt, werden<br />

oft durch solch ein Erlebnis, wie Sie es schilderten, von ihren Ängsten<br />

befreit.<br />

Hat sich die Art, wie Sie die Dinge ansehen, überhaupt geändert?<br />

Schülerin: Nein. Nachdem es vorüber war, fühlte ich mich nicht<br />

anders als zuvor - es tut mir leid, daß ich das sagen muß (sie lächelt<br />

gezwungen).<br />

Rôshi: Verschwand das Gefühl <strong>des</strong> Gegensatzes, das Gefühl, daß Sie<br />

einer äußeren Welt gegenüberstehen, überhaupt, wenn auch nur für<br />

einen Moment?<br />

Schülerin: Ich hatte nur das Gefühl eines ungeheuer freudigen Gehobenseins,<br />

weil ich spürte, daß alles auf nichts reduziert worden war.<br />

Rôshi: Und danach kehrte Ihre frühere Geistesverfassung zurück?<br />

23. Vergleiche «Erleuchtung und Übung sind eins.» DÔGEN<br />

178


Schülerin: Ja.<br />

Rôshi: Also gut, sitzen Sie einfach fleißig, ohne sich anzustrengen.<br />

Schüler E (44 Jahre alt)<br />

Schüler: Ich übe Shikantaza.<br />

Rôshi: Möchten Sie irgend etwas sagen oder fragen?<br />

Schüler: Ja. Als ich von einem bestimmten Mahner geschlagen wurde,<br />

war meine Reaktion höchst widrig. Ich hatte das Gefühl, daß er es<br />

in sadistischer Weise genoß, mich zu schlagen, und so konnte ich<br />

meine Hände nicht in Dankbarkeit zu ihm erheben wie zu den<br />

anderen. Ich möchte <strong>des</strong>halb darum ersuchen, daß ich bei diesem<br />

Sesshin nicht mehr von ihm geschlagen werde. Es macht mir nichts<br />

aus, von den anderen geschlagen zu werden, da ihre Hiebe anspornend<br />

und ermutigend sind. Wenn mich aber dieser Mensch schlägt, ist<br />

die Wirkung gerade umgekehrt.<br />

Rôshi: Wenn Sie geschlagen werden, sollten Sie nicht denken: «Sound-So<br />

hat mich auf diese oder jene Weise geschlagen». Sie sollten<br />

auch nicht versuchen, Ihre Reaktion zu bewerten. Erheben Sie lediglich<br />

Ihre Hände in Dankbarkeit, die Handflächen gegeneinandergelegt.<br />

Es gibt viele Menschen, die es als unangenehm empfinden,<br />

geschlagen zu werden, und die nicht gut Zazen üben können, wenn<br />

man sie schlägt. Wenn sie darum ansuchen, wird über ihrem Sitzplatz<br />

ein Zeichen angebracht, das besagt, daß sie nicht geschlagen werden<br />

sollen. Das läßt sich auch bei Ihnen tun, wenn Sie es wünschen.<br />

Schüler: Es macht mir nichts aus, von den anderen geschlagen zu<br />

werden. Um meine Reaktion zu prüfen, gab ich einem anderen Mahner<br />

ein Zeichen, mich zu schlagen. Als er es tat, erlebte ich keine solch<br />

widrige Reaktion wie bei jenem bestimmten Menschen. Ja, es fiel mir<br />

leicht, meine Hände, Handfläche gegen Handfläche, zu ihm zu erheben.<br />

Aber mit dem anderen war es ganz anders.<br />

Rôshi: Natürlich sollten die Mahner darauf achten, daß sie nur auf<br />

den weichen Teil der Schulter schlagen und nicht auf den Knochen. Da<br />

es jetzt Sommer ist, sollten sie nicht zu heftig schlagen, da alle leichte<br />

179


Kleidung tragen. Als wir gestern neue Stäbe machen ließen, haben wir<br />

sie sogar eigens aus Weichholz machen lassen, damit sie nicht weh<br />

tun. Aber man kann natürlich zu heftig geschlagen werden.<br />

Schüler: Ich kann mir nur denken, daß meine Reaktion eine Art<br />

Makyô war. Natürlich werde ich alles tun, was Sie empfehlen. Aber<br />

ich dachte, ich sollte es Ihnen sagen.<br />

Rôshi: Wichtig ist nur, daß man daraus kein Problem macht.<br />

Schüler: Ich übe, wie Sie mich angewiesen haben. Ich habe keine<br />

Fragen. Ich komme nur, weil es mein letztes Dokusan ist und ich<br />

Ihnen für Ihre Güte danken wollte.<br />

Rôshi: Auch wenn Sie keine Fragen haben, ist es gut, zum Dokusan<br />

zu kommen, und zwar aus diesem Grunde: Wenn man allein sitzt,<br />

neigt man dazu, nachlässig zu werden. Es strafft Ihr Üben, wenn Sie<br />

hier vor mir erscheinen, und Sie können mit größerer Energie und<br />

Entschlossenheit wieder darangehen.<br />

Schülerin F (45 Jahre alt)<br />

Schülerin: Wenn ich hier vor Ihnen erscheine, bin ich ganz verkrampft.<br />

Ich möchte wohl wissen, was ich falsch mache.<br />

Rôshi: Das ist Sache der geistigen Einstellung. Denken Sie beim Zazen<br />

nicht über sich nach, und machen Sie sich keine Sorgen um sich. Üben<br />

Sie einfach mit ruhigem, tief konzentriertem Geist ohne besondere<br />

Anstrengung. Dann wird Ihre Gespanntheit weichen, und Sie werden<br />

sich entspannt fühlen. Können Sie Shikantaza gut üben?<br />

Schülerin: Nein, ganz und gar nicht gut.<br />

Rôshi: In diesem Falle sollten Sie auf die Übung, bei der Sie dem<br />

Atem folgen, zurückgehen, bis Sie das gut machen können. Danach<br />

können Sie auf Shikantaza zurückkommen.<br />

Schülerin: Das habe ich versucht, aber es war zu schmerzhaft. Ich<br />

hatte beträchtliche Schmerzen in der Brust, als ich das tat. Wissen Sie,<br />

ich hatte jahrelang Atembeschwerden.<br />

180


Rôshi: Also greifen Sie darauf zurück, Ihre Atemzüge zu zählen.<br />

Können Sie das ohne Schwierigkeiten machen?<br />

Schülerin: Ja, ich glaube.<br />

Rôshi: Wenn Sie sich auf diese Übung ohne Schmerzen oder Unbehagen<br />

konzentrieren können, dann versuchen Sie es mit der Übung, bei<br />

der Sie Ihrem Atem folgen. Wenn Sie das gemeistert haben, kehren<br />

Sie zu Shikantaza zurück.<br />

Schülerin: Würden Sie mir bitte nochmals sagen, wie ich die Atemzüge<br />

zählen oder dem Atem folgen soll?<br />

Rôshi: Es gibt verschiedene Arten, die Atemzüge zu zählen, wie ich<br />

bereits erklärt habe, aber die beste Art ist folgende: Beim ersten Ausatmen<br />

zählen Sie «eins», beim zweiten Ausatmen «zwei» und so fort<br />

bis zehn. Dann gehen Sie auf eins zurück und zählen wieder bis<br />

zehn. Wann immer Sie den Faden verlieren, gehen Sie auf eins<br />

zurück und fangen wieder von vorn an.<br />

Man folgt dem Atem auf diese Weise: Sie versuchen, sich den einziehenden<br />

Atem mit dem geistigen Auge anschaulich sichtbar zu machen,<br />

und dann versuchen Sie, sich den ausströmenden Atem zu veranschaulichen.<br />

Das ist das Ganze.<br />

Schülerin: Gestern abend haben Sie zu uns allen gesagt: «Wenn Sie<br />

zu Bett gehen, fahren Sie fort, Ihre Atemzüge zu zählen, - diejenigen<br />

von Ihnen, die die Atemzüge zählen, und so wird das Zählen in Ihrem<br />

Unterbewußtsein weitergehen.» Ich merke jedoch, daß ich das Zählen<br />

naturgemäß vergesse, wenn meine Atmung rhythmisch ist, und wenn<br />

sie es nicht ist, dann muß ich die Atemzüge zählen, um sie wieder<br />

in einen harmonischen Rhythmus zu bringen. Soll ich selbst dann<br />

fortfahren zu zählen, wenn es für mich viel natürlicher ist, damit<br />

aufzuhören?<br />

Rôshi: Fahren Sie mit dem Zählen fort, wenn Sie zu Bett gehen, und<br />

Sie werden ganz natürlich einschlafen. Aber es ist kein natürlicher<br />

Geisteszustand, Atemzüge zu zählen. Es ist nur der erste Schritt zur<br />

Sammlung <strong>des</strong> Geistes. Der nächste Schritt ist, dem Atem zu folgen,<br />

also je<strong>des</strong> Einatmen und je<strong>des</strong> Ausatmen klar zu sehen. Das ist<br />

181


schwieriger, da Sie nicht mehr das Zählen als Anhaltspunkt haben,<br />

auf das Sie zurückgreifen können, wenn Ihr Geist abzuirren beginnt.<br />

<strong>Die</strong> Absicht ist, Ihren Geist durch allmählich gesteigerte Konzentration<br />

zur Sammlung zu bringen, bis Sie jenen Punkt erreichen, da Sie<br />

Shikantaza üben können, was, wie Sie wissen, weder Zählen noch<br />

Verfolgen der Atemzüge einschließt. Es ist die reinste Form <strong>des</strong> Zazen,<br />

und die Atmung ist dabei ganz natürlich. Aber Shikantaza ist auch<br />

das schwierigste Zazen, da man dabei keinerlei Krücken mehr hat,<br />

auf die man sich stützen kann. Wenn Ihre Übungsweise gereift und<br />

Ihre Konzentration einigermaßen stark ist, dann können Sie damit<br />

beginnen.<br />

Wenn Sie den Bildern von Buddha im Nirvana sorgfältige Beachtung<br />

schenken, so werden Sie sehen, daß er auf der rechten Seite ruht, eine<br />

Hand unter dem Kopf, die Gliedmassen geschlossen beisammen. Das<br />

ist die beste Stellung zum Schlafen. Wichtig ist, sich beim Zu-Bett-<br />

Gehen nicht mit einem Seufzer der Erleichterung hinzulegen mit dem<br />

Ausruf: «Ach, ich bin froh, daß der Tag vorbei ist; jetzt kann ich das<br />

ganze Zazen vergessen!» Das ist eine falsche Einstellung. Um noch<br />

direkt auf Ihre Frage zu antworten: Sie brauchen mit dem Zählen<br />

nicht fortzufahren, wenn Sie sich ohne das konzentrieren können.<br />

Schülerin: Ich fürchte, ich habe mich nicht klar ausgedrückt. Was<br />

ich meine, ist dies: Wenn mein Atem rhythmisch wird, vergesse ich<br />

zu zählen. Ist es richtig, es dann zu lassen?<br />

Rôshi: Ja. In ähnlicher Weise verfolgen Sie Ihren Atem nur so lange,<br />

wie es für Sie nötig ist. Danach üben Sie reines Shikantaza. Das<br />

schließt weder ein Zählen, noch ein Verfolgen der Atemzüge ein, sondern<br />

nur die natürliche Atmung.<br />

Schüler G (25 Jahre alt)<br />

Schüler: Worin besteht die Beziehung zwischen Zazen und den<br />

Geboten? Ich möchte das gern besser verstehen.<br />

Rôshi: Buddhistische Lehren und Übungen haben, der Sekte ungeachtet,<br />

<strong>drei</strong> Grundzüge gemeinsam: kai oder die Gebote; jo oder Zazen<br />

182


und e oder Satori-Weisheit. Im Bommo-Sûtra wird die Beziehung dieser<br />

<strong>drei</strong> zueinander erklärt. <strong>Die</strong> Gebote werden mit den Fundamenten<br />

eines Hauses verglichen. Bei unrichtiger Lebensweise, durch die man<br />

Unrast und Verwirrung bei sich und anderen schafft, werden die<br />

Grundlagen unserer Bemühungen um geistige Erkenntnis untergraben.<br />

Zazen stellt den Lebensraum, die Räumlichkeiten dar. Es ist der Ort,<br />

da man Ruhe findet. Satori-Weisheit ist Ausstattung und Hausrat<br />

vergleichbar. <strong>Die</strong> <strong>drei</strong> stehen in Wechselbeziehung zueinander. Beim<br />

Zazen beobachtet man naturgemäß die Gebote, und durch Zazen<br />

gelangt man zur Satori-Weisheit. So sind also alle Aspekte <strong>des</strong><br />

Buddhismus in diesen <strong>drei</strong> Dingen inbegriffen.<br />

Schüler: Ehe ich herkam, übte ich Shikantaza - zumin<strong>des</strong>t glaube ich,<br />

daß es das war. Würden Sie mir bitte sagen, was Shikantaza ist?<br />

Rôshi: Wenn Sie zum nächsten Sesshin kommen und die allgemeinen<br />

Unterweisungen alle hören, werden Sie die Einzelheiten über Shikantaza<br />

erfahren. Einstweilen will ich Ihnen hier schon einiges darüber<br />

sagen.<br />

Shikantaza ist die reinste Form <strong>des</strong> Zazen, die Übung, auf die die<br />

Sôtô-Sekte Nachdruck legt. <strong>Die</strong> Atemzüge zu zählen und dem Atem<br />

zu folgen, das sind zweckdienliche Hilfsmittel. Wer nicht gut gehen<br />

kann, braucht Stützen, und all die anderen Methoden stellen solche<br />

Stützen dar. Schließlich aber müssen Sie darauf verzichten und einfach<br />

laufen. Shikantaza ist jenes Zazen, bei dem Sie geistig nichts<br />

mehr zum Anlehnen haben und allein vom Sitzen in Anspruch genommen<br />

werden. Daher ist es eine schwierige Übung. Wenn Sie die Atemzüge<br />

zählen oder ihnen mit Ihrem geistigen Auge folgen, merken Sie<br />

gleich, wenn Sie es nicht richtig machen. Beim Shikantaza aber läßt<br />

man leicht nach, da man keinen Maßstab mehr hat, mit dem man<br />

sich überprüfen kann.<br />

<strong>Die</strong> Art <strong>des</strong> Sitzens ist bei Shikantaza von höchster Wichtigkeit. Der<br />

Rücken muß absolut gerade aufgerichtet sein, der Körper gespannt,<br />

aber nicht überspannt. Der Schwerpunkt soll gerade unterhalb <strong>des</strong><br />

Nabels liegen. Wenn Sie können, sitzen Sie mit zum halben oder gan-<br />

183


zen Lotussitz verschränkten Beinen. Dadurch werden Sie vollkommene<br />

Stabilität und Balance erreichen und auch die Würde und<br />

Hoheit eines Buddha haben.<br />

Schüler: Wie kann man sein Selbst-Wesen verwirklichen? Ich weiß so<br />

wenig darüber.<br />

Rôshi: Vor allem müssen Sie davon überzeugt sein, daß Sie es können.<br />

<strong>Die</strong> Überzeugung schafft Entschlossenheit und die Entschlossenheit<br />

Eifer. Wenn Ihnen aber diese Überzeugung schon von vornherein<br />

fehlt, wenn Sie denken: Vielleicht kann ich es erreichen, vielleicht<br />

auch nicht, oder was noch schlimmer ist: Das liegt jenseits meiner<br />

Möglichkeiten, so werden Sie nie zu Ihrem Wahren Wesen erwachen,<br />

wie oft Sie auch zu Sesshin kommen und wie lange Sie auch Zazen<br />

üben mögen.<br />

Schüler: Worin liegt der Unterschied zwischen Kôan-Zazen und Shikantaza?<br />

Rôshi: Kôan-Zazen hat zwei Ziele: Satori und <strong>des</strong>sen Verwirklichung<br />

in Ihrem alltäglichen Leben. Kôans sind wie Süßigkeiten, um<br />

ein widerwilliges Kind zu überreden. Shikantaza andererseits muß<br />

man fünf, zehn und mehr Jahre hindurch auf sich selbst gestellt<br />

üben, da es keine solchen Ermunterungen gibt. Beim Shikantaza gibt<br />

es kein absichtsvolles Ringen um Satori, da Sie dabei in der Überzeugung<br />

sitzen, daß Ihr essentielles Wesen von dem <strong>des</strong> Buddha nicht<br />

verschieden ist. Sie müssen jedoch daran glauben, daß Ihr Sitzen<br />

eines Tages in Satori einmünden wird.<br />

Beim Kôan-Zazen wird Ihnen durch die Erleuchtung klar, daß Zazen,<br />

wenn es recht geübt wird, die Verwirklichung <strong>des</strong> Buddha-Wesens ist.<br />

In dieser Hinsicht läuft es auf das Gleiche hinaus wie Shikantaza -<br />

das heißt, wenn Shikantaza in der Erleuchtung kulminiert.<br />

Bei Shikantaza muß Ihre Konzentration von absoluter Ausschließlichkeit<br />

sein. Ihre Aufmerksamkeit muß gleich der eines Menschen, der<br />

ein Gewehr in Anschlag bringt, scharf auf den Zielpunkt gerichtet<br />

184


sein, ohne daß sich irgendein abliegender Gedanke dazwischenschiebt.<br />

<strong>Die</strong> geringste Abweichung wäre verhängnisvoll.<br />

Schüler: Sie haben soeben gesagt, daß zu Shikantaza tadellose Konzentration<br />

und rechte Sitzhaltung gehören. Das ist auch beim Yoga<br />

so. Gibt es dabei also keinen Unterschied?<br />

Rôshi: Ich weiß nicht viel über Yoga. Ich höre, daß das Ziel von<br />

Yoga, wie es heutzutage allgemein geübt wird, die Entwicklung körperlicher<br />

und geistiger Gesundheit ist, oder auch dem Erreichen eines<br />

langen Lebens gilt, und daß es verschiedene Körperstellungen gibt,<br />

die dazu dienen, zu diesen Zielen zu gelangen. Zweifellos gehört zu<br />

den höheren Formen <strong>des</strong> Yoga auch Erleuchtung dieser oder jener<br />

Art. Aber diese Erleuchtung ist notwendigerweise anders als buddhistische<br />

Erleuchtung. Der Unterschied liegt vor allem im Ziel.<br />

Bei Shikantaza ringen Sie nicht im Bewußtsein Ihrer selbst um Satori.<br />

Sie üben vielmehr Zazen in dem unerschütterlichen Glauben, daß Ihr<br />

Zazen die Vergegenwärtigung Ihres makellosen Ursprünglichen Geistes<br />

ist und daß Sie eines Tages das Wesen dieses Buddha-Geistes<br />

unmittelbar gewahren werden.<br />

Rôshi: Können Sie die Atemzüge gut zählen?<br />

Schüler: Ich kann es, aber ich weiß nicht, wie gut. Was meinen Sie<br />

mit «gut»?<br />

Rôshi: Es gut machen heißt, daß man beim Zählen von jeder Zahl<br />

einen klaren und deutlichen Eindruck hat. Außerdem heißt es, daß<br />

man nicht aus dem Text kommt.<br />

Schüler: Ich kann es, ohne aus dem Text zu kommen, aber es ist nicht<br />

immer deutlich.<br />

Rôshi: Am Anfang ist es schwer, da man die Neigung hat, es mechanisch<br />

zu tun. Sie müssen sich ganz und gar in das Zählen versenken.<br />

Ich kenne einen Mann, der das Rechnen mit dem Rechenbrett lehrt.<br />

Er ist ein Experte darin, aber es fällt ihm schwer, die Atemzüge gut<br />

zu zählen. Wenn Sie sich dieser Übung mit Energie und Hingabe<br />

widmen, werden Sie sie allmählich mühelos tun können.<br />

185


Schüler: Ich zähle die Atemzüge.<br />

Rôshi: Sind Sie imstande, mit Klarheit und Genauigkeit zu zählen?<br />

Schüler: Nein, das kann ich nicht. Ich möchte Sie fragen, ob ich die<br />

Atemzüge zählen und zu gleicher Zeit Shikantaza üben kann.<br />

Rôshi: Nein, das können Sie nicht. Sie können höchstens während der<br />

halben Sitzdauer die Atemzüge zählen und während der anderen<br />

Hälfte Shikantaza üben, aber Sie können nicht bei<strong>des</strong> gleichzeitig tun.<br />

Schüler: Eben das habe ich versucht - ohne Erfolg, muß ich hinzufügen.<br />

Ich habe auch versucht, bloß meine Atemzüge zu zählen, aber<br />

ich konnte nicht einmal das tun.<br />

Rôshi: Sie dürfen nicht geistesabwesend zählen, als seien Sie halb<br />

betäubt. Sie müssen sich mit ganzer Seele hineinlegen. Sie müssen jede<br />

Zahl klar und scharf sehen. Haben Sie manchmal den Faden verloren?<br />

Schüler: Ja. Vielleicht liegt die Schwierigkeit für mich darin, daß ich<br />

die Verbindung zwischen dem Zählen der Atemzüge und dem<br />

Buddhismus nicht sehe.<br />

Rôshi: Zweck <strong>des</strong> Zählens der Atemzüge ist es, die unaufhörlichen<br />

Gedankenwogen zu glätten, die durch lang geübte, hartnäckige Denkgewohnheiten<br />

in Bewegung gesetzt wurden. Wenn sie zur Ruhe kommen,<br />

so wird der Geist auf einen Punkt gesammelt, und wir können<br />

dann unseres Unmittelbaren Wesens innewerden. Das Zählen der<br />

Atemzüge ist ein notwendiger erster Schritt. Eine andere Methode ist<br />

es, sich anhaltend zu fragen «Was ist mein Wahres Wesen?» oder «Wo<br />

ist mein Wahres Wesen?». Aber solange Sie nicht die feste Überzegung<br />

haben, daß Sie auf diese Weise Ihr Wahres Wesen entdecken können,<br />

wird Ihr Üben auf eine bloß mechanische Wiederholung herabsinken,<br />

und Ihre Mühe wird vergeudet sein.<br />

Sie haben gesagt, daß Sie die Verbindung zwischen dem Zählen der<br />

Atemzüge und dem Buddhismus nicht sehen können. Der Buddha<br />

lehrte, daß wir nur durch unmittelbares Innewerden unseres Selbst-<br />

Wesens wirklich wissen können, wer und was wir sind. <strong>Die</strong> zugrundeliegende<br />

Lauterkeit und Klarheit <strong>des</strong> Geistes wird von unaufhörlich<br />

darin auf- und niederwogenden Gedankenwellen verdeckt. <strong>Die</strong> Folge<br />

ist, daß wir uns irrigerweise für individuelle Existenzen halten, die<br />

186


von einem Weltall der Vielheit konfrontiert werden. Zazen ist ein<br />

Mittel, diese Wogen zu glätten, so daß unsere innere Schau genau auf<br />

den Brennpunkt gerichtet wird. Das Zählen der Atemzüge ist eine<br />

Art <strong>des</strong> Zazen.<br />

Schüler: Sie haben mir gesagt, ich solle mit mehr Energie sitzen. Das<br />

habe ich versucht, aber ich kann mich nicht länger als fünfzehn Minuten<br />

konzentrieren; dann beginnen meine Gedanken zu wandern. Am<br />

Ende <strong>des</strong> letzten Sesshin konnte ich mich ziemlich gut konzentrieren,<br />

aber als ich allein saß, war ich zerstreut und konnte mich um alles<br />

in der Welt nicht konzentrieren.<br />

Rôshi: Es ist schwierig, allein zu sitzen, besonders wenn man erst<br />

angefangen hat. Deshalb haben wir Sesshin. Gemeinschaftliches Zazen<br />

ist leichter, denn man hat dabei gegenseitige Hilfe und Unterstützung.<br />

Wenn Sie Zazen üben und nicht nur Vorträge darüber hören, bekommen<br />

Sie zum ersten Mal einen Geschmack von <strong>Zen</strong>. Durch diese<br />

Erfahrung kommen Sie zu wahrem Verständnis Ihrer selbst. Sitzen<br />

Sie also hingebungsvoll. Ihre Konzentration wird besser werden, und<br />

Sie werden sich geistig und körperlich wohler fühlen.<br />

Schüler: Ich möchte Sie noch einmal etwas über die Atmung fragen.<br />

Sie haben mir erklärt, wie ich die Atemzüge zählen soll, aber Sie<br />

haben mir bisher noch nicht erklärt, wie ich ihnen folgen soll. Würden<br />

Sie das bitte tun?<br />

Rôshi: Wenn Sie das Zählen der Atemzüge aufgeben, dann ist der<br />

nächste Schritt, ihnen zu folgen. Dabei folgen Sie einfach jeder Einatmung<br />

mit Ihrem geistigen Auge, ohne sich von Ihrer Aufmerksamkeit<br />

ablenken zu lassen. Wenn Sie ausatmen, tun Sie das Gleiche. Das<br />

ist das Ganze.<br />

Schüler: Und wie steht es mit dem Magen? Soll er sich aus- und einbewegen?<br />

Ich habe gehört, daß der Magen sich aus- und einbewegen<br />

soll, anstatt auf und ab.<br />

Rôshi: Natürlich gibt es mancherlei Atemtechniken. Was Sie beschrei-<br />

187


en, ist, glaube ich, die Atemweise bei bestimmten Yoga-Arten. Das<br />

mag befriedigend sein, aber es ist nicht die Atemweise, die man hier<br />

befürwortet. Sie sollten stets Ihre Aufmerksamkeit auf die Stelle<br />

unterhalb <strong>des</strong> Nabels konzentrieren. Ihr Geist ist an der Stelle, auf<br />

die Sie Ihre Aufmerksamkeit richten. Wenn Sie sich auf Ihren Finger<br />

konzentrieren, ist Ihr Geist im Finger, wenn auf Ihr Bein, so ist er<br />

dort. Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Stelle unterhalb <strong>des</strong><br />

Nabels konzentrieren, wird Ihre Lebenskraft allmählich an eben jener<br />

Stelle stabilisiert.<br />

Fühlen Sie hier (zeigt auf seinen Unterleib).<br />

(Der Schüler legt seine Hand auf die vom Rôshi bezeichnete Stelle.)<br />

Wenn ich dort Druck gebe, fühlt es sich hart an, nicht wahr?<br />

Schüler: Ja, allerdings!<br />

Rôshi: Wenn Sie lange Zeit hindurch Ihre Aufmerksamkeit auf diese<br />

Stelle konzentrieren, setzt sich Ihre Kraft dort mühelos und natürlich<br />

fest, weil der Schwerpunkt nicht mehr im Bereich von Kopf und<br />

Schultern sitzt, und Sie können nach Belieben Druck auf diese Stelle<br />

ausüben. Da wir dann nach unten verankert sind, werden wir nicht<br />

ärgerlich und regen uns nicht auf. Unsere Gedanken und Gefühle stehen<br />

unter natürlicher Kontrolle.<br />

Schüler: Ich habe noch eine Frage. Stimmt es, daß das Gehen bei der<br />

Sôtô-Sekte in Harmonie mit dem Atem steht?<br />

Rôshi: Ja. Bei einer vollständigen Ein- und Ausatmung bewegt man<br />

den linken Fuß um etwa die halbe Länge <strong>des</strong> rechten vor und beim<br />

nächsten Atemzug den rechten Fuß um die halbe Länge <strong>des</strong> linken.<br />

Nach der Rinzai-Art geht man sehr schnell.<br />

Schüler: Aber bei diesem Sesshin scheint die Art und Weise etwa in<br />

der Mitte zwischen der von Sôtô und Rinzai zu liegen.<br />

Rôshi: Das stimmt. Hier wenden wir die Methode meines Lehrers<br />

HARADA Rôshi an, der beide vereinte, nachdem er eine ausgiebige<br />

Schulung im Rinzai durchgemacht hatte, während er doch der Sôtô-<br />

Sekte angehörte.<br />

188


Rôshi: Haben Sie eine Frage?<br />

Schüler: Ich kann nur sagen, daß ich ganz verwirrt bin.<br />

Rôshi: Worin besteht Ihre Verwirrung?<br />

Schüler: Ich sehe keine Verbindung zwischen dem Zählen der Atemzüge<br />

und Shikantaza.<br />

Rôshi: Das sind zwei ganz verschiedene Dinge; warum eine Verbindung<br />

suchen? Liegt Ihre Schwierigkeit vielleicht darin, daß Sie das<br />

Zählen der Atemzüge zu mechanisch und uninteressant finden?<br />

Schüler: Ja, ich glaube, das ist es.<br />

Rôshi: Es geht vielen so. Anstatt die Atemzüge zu zählen oder Shikantaza<br />

zu üben, dürfte es besser für Sie sein, über eine Frage wie<br />

«Was bin ich?» oder «Woher komme ich?» oder auch «Der Buddhismus<br />

lehrt, daß wir alle von Natur vollkommen sind; in welcher Weise<br />

bin ich vollkommen?» nachzusinnen. In der <strong>Zen</strong>-Sprache heißt das<br />

für all solche Fragen: Honrai-no Memmoku, also «Was ist mein<br />

Ur-Angesicht?»<br />

Schüler: Ist das ein Kôan?<br />

Rôshi: Ja. Hören Sie von jetzt an mit dem Zählen der Atemzüge auf,<br />

und widmen Sie sich ernsthaft diesem Kôan.<br />

Rôshi: Haben Sie eine Frage?<br />

Schüler: Ich habe keine Frage, aber ich möchte Ihnen etwas berichten.<br />

Gestern abend sagte ich mir: «Glücklicherweise muß ich nicht um<br />

Erleuchtung ringen, da ich schon erleuchtet bin.»<br />

Rôshi: Es ist zwar wahr, daß Sie von Natur ein Buddha sind; aber<br />

ehe Sie nicht Ihres Buddha-Wesens konkret innegeworden sind, sprechen<br />

Sie in geborgten Phrasen, wenn Sie über Erleuchtung reden.<br />

Zweck Ihrer Übungen ist es, Sie zu dieser Erfahrung zu bringen.<br />

Schüler: Ich würde gern nur mit dem Gefühl echter Dankbarkeit sitzen,<br />

ohne über ein Kôan nachdenken zu müssen.<br />

Rôshi: Also gut, versuchen Sie, in Shikantaza zu sitzen. Wenn Sie das<br />

voller Aufrichtigkeit tun, werden Sie dieses Gefühl der Dankbarkeit<br />

erleben. Es ist eine Tatsache, daß eine allmähliche Entfaltung Ihres<br />

Buddha-Herzens stattfindet, wenn Sie in der Lotushaltung sitzen, wie<br />

189


der Buddha saß, und sich zielstrebig konzentrieren. Das ist Ausdruck<br />

<strong>des</strong> lebendigen Buddhismus, aus dem wahre Dankbarkeit erwächst.<br />

Obgleich Sie kein Verlangen nach Erleuchtung haben, werden Sie<br />

zudem durch ernstes und eifriges Sitzen Ihre Konzentrationskräfte<br />

entwickeln und Kontrolle über Gedanken und Gefühle gewinnen, mit<br />

dem Ergebnis, daß sich Ihre körperliche und geistige Gesundheit<br />

beträchtlich bessert.<br />

Schüler: Ehe ich zu diesem Tempel kam, dachte ich immer: «Wenn<br />

ich zu einem Sesshin gehe und Zazen übe, werde ich gutes Karma<br />

anhäufen.» Jetzt, da ich hier bin, sehe ich nicht, wodurch ich irgendein<br />

Verdienst erwerbe.<br />

Rôshi: Ob Sie sich <strong>des</strong>sen bewußt sind oder nicht, so schaffen Sie doch<br />

gutes Karma in all der Zeit, die Sie hier sind. Das Sitzen schließt die<br />

<strong>drei</strong> Grundlagen <strong>des</strong> Buddhismus ein, nämlich die Gebote, die Kraft<br />

der Konzentration und Satori-Weisheit. Es wird natürlich offenbar,<br />

wie sich die Konzentration bessert und geistige Standhaftigkeit sich<br />

entwickelt. Es mag für Sie jedoch weniger offensichtlich sein, wie allmählich<br />

Ihr Auge wahrer Weisheit geöffnet wird, während Ihr im<br />

Grunde reines Wesen von Verblendung und Unreinheit geläutert<br />

wird, wenn Sie voller Aufrichtigkeit und von ganzem Herzen sitzen.<br />

Was nun die Gebote betrifft, so können Sie beim Zazen klarerweise<br />

weder töten, noch stehlen oder lügen. Doch das Halten der Gebote<br />

ist in noch tiefgründigerem Sinn im Zazen verankert; durch Zazen<br />

befreien Sie sich nämlich nach und nach von jenem Grund-Irrtum,<br />

der die Menschen dazu führt, Böses zu tun, und zwar von der verblendeten<br />

Vorstellung, daß die Welt und man selbst getrennt und verschieden<br />

seien. Solche Zweigeteiltheit gibt es von Natur aus nicht. <strong>Die</strong><br />

Welt befindet sich nicht außerhalb von mir - sie ist ich! Das ist die<br />

Erkenntnis Ihres Buddha-Wesens, aus der heraus sich naturgemäß und<br />

spontan das Halten der Gebote ergibt. Freilich wird all das für Sie<br />

erst dann Sinn ergeben, wenn Sie Ihr Wahres Selbst erkennend<br />

geschaut haben; ohne jenes Erlebnis ist das, was ich gerade gesagt<br />

habe, schwer zu verstehen.<br />

190


Schüler: Nun, ich habe nicht die Absicht, auch nur zu versuchen,<br />

Erleuchtung zu finden!<br />

Rôshi: Auch das ist recht. Es lohnt sich auch, um der Stärkung der<br />

Konzentrationskraft willen zu sitzen.<br />

Schüler: Ich glaube, es ist besser, wenn ich nicht Erleuchtung suche.<br />

Rôshi: Zazen ist Ausdruck <strong>des</strong> lebendigen Buddhismus. Da Sie von<br />

Natur ein Buddha sind, ist Ihr Sitzen, wenn es inbrünstig und zielstrebig<br />

ist, die Vergegenwärtigung Ihres Buddha-Wesens. Das ist freilich<br />

wahr.<br />

Schüler: Mir scheint, wir können über gar nichts uneins sein, nicht<br />

wahr? (lacht)<br />

Rôshi: Kehren Sie jetzt auf Ihren Platz zurück, und strengen Sie sich<br />

ernsthafter an.<br />

Schüler: Können Sie mir sagen, was bei Shikantaza am wichtigsten ist?<br />

Rôshi: Ihre Sitzweise ist von größter Wichtigkeit. Der Rücken muß<br />

gerade aufgerichtet sein und der Geist gespannt - immer auf der Hut.<br />

Ein schlaffer Körper bringt einen schlaffen Geist hervor und umgekehrt.<br />

Sie müssen geistig ganz wachsam, aber nicht allzu angespannt<br />

sein. Wenn Sie sich das von SESSHÛ gemalte Bild BODHIDHARMAS<br />

ansehen und sorgfältig die Augen betrachten, werden Sie verstehen,<br />

was ich meine. BODHIDHARMA übt Shikantaza. Für den Grad der<br />

erforderlichen Aufmerksamkeit hier ein Beispiel: Wenn Sie in einer<br />

Ecke eines Raumes Shikantaza übten und am anderen Ende würde<br />

eine Tür geräuschlos einen <strong>Zen</strong>timeter weit geöffnet, so würden Sie es<br />

augenblicklich merken.<br />

Schüler: Das ist mein letztes Sesshin, da ich nächsten Monat in die<br />

Vereinigten Staaten zurückkehren muß. Wird es gut sein, wenn ich<br />

dort unter einem Sôtô-Priester übe?<br />

Rôshi: Ja, aber ich möchte Ihnen raten, sich nicht im Hinblick auf<br />

Satori von ihm anleiten zu lassen, wenn Sie nicht ganz sicher sind,<br />

daß er selbst erleuchtet ist. Heutzutage haben nur sehr wenige Sôtô-<br />

191


Priester ihr Wahres Wesen schauend erkannt, und <strong>des</strong>halb rümpfen<br />

sie die Nase über dieses Erlebnis und sagen sogar: «Warum ist Satori<br />

notwendig, wenn wir doch alle immanent erleuchtet sind, da wir den<br />

Buddha-Geist besitzen?» Aber dieses Argument ist trügerisch, da sie,<br />

ehe sie ihres Buddha-Geistes nicht unmittelbar innegeworden sind, gar<br />

nicht wirklich wissen, daß sie ihn besitzen.<br />

Schüler: Kann ich dann also meine Übungen ohne Lehrer weiterführen?<br />

Rôshi: Ob Sie in Amerika nun gar keinen Lehrer oder nur einen mittelmäßigen<br />

haben, so können Sie doch fortfahren, sich im <strong>Zen</strong> zu<br />

schulen, indem sie sich an das halten, was Sie in diesem Tempel hier<br />

gelernt haben. Jeder Lehrer, sogar ein nicht erleuchteter, kann Ihre<br />

Übungen überwachen. Er kann z. B. Ihre Haltung und Atmung überprüfen<br />

und Sie auch in anderer Hinsicht anleiten. Er sollte jedoch<br />

nur dann versuchen, Satori zu beurteilen, wenn er selbst es erlebt und<br />

von seinem Lehrer die Bestätigung dafür erhalten hat.<br />

Schüler: Ach ja, das erinnert mich an etwas, was ich fragen wollte.<br />

Heute morgen haben Sie bei Ihren Darlegungen darüber gesprochen,<br />

daß es notwendig sei, daß Erleuchtung durch den Lehrer bestätigt<br />

werde, weil nur auf diese Weise rechtes Zazen weitergegeben werden<br />

könne. Das verstehe ich nicht ganz. Warum ist es nötig, daß es von<br />

jemandem beglaubigt wird?<br />

Rôshi: Von der Zeit <strong>des</strong> Buddha SHAKYAMUNI an ist der rechte<br />

Buddhismus von Lehrer zu Schüler weitergegeben worden. Wenn die<br />

Erleuchtung <strong>des</strong> Lehrers authentisch und von <strong>des</strong>sen Lehrer bestätigt<br />

worden war, war er seinerseits in der Lage, die Erleuchtung seiner<br />

eigenen Schüler zu bestätigen, wobei er sich von dem Erlebnis seiner<br />

eigenen Erleuchtung leiten ließ.<br />

Sie fragen, warum das nötig sei. Das ist vor allem erforderlich, um die<br />

Übermittlung <strong>des</strong> wahren Buddhismus von Lehrer auf Schüler zu<br />

gewährleisten. Wäre das nicht geschehen, so würde es heute kein verbürgtes<br />

Zazen geben. Zudem können Sie selbst in Wahrheit niemals<br />

sicher sein, daß das, was Sie für Satori halten, auch wirklich Satori<br />

ist. Bei einem ersten Erlebnis ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß<br />

man es falsch beurteilt.<br />

192


Schüler: Aber weist sich Erleuchtung nicht selbst als echt aus?<br />

Rôshi: Nein, das geschieht nicht. Ja, es gibt sogar viele Beispiele von<br />

Menschen, die Lehrer wurden, ohne überhaupt Erleuchtung gefunden<br />

zu haben. Es ist, wie wenn jemand allein in den Bergen nach Diamanten<br />

suchte. Wenn er niemals einen echten Diamanten gesehen hat und<br />

er findet Glas oder Quarz oder ein anderes Mineral, so denkt er vielleicht,<br />

er habe einen echten Diamanten gefunden. Könnte er seinen<br />

Fund von jemandem, der Erfahrung mit Diamanten hat, auf seine<br />

Echtheit prüfen lassen, so würde er sichergehen. Kann er das aber<br />

nicht, so kann er leicht einen Fehler machen, wenn sein Stein auch<br />

noch so hell glitzern mag.<br />

Schüler: <strong>Die</strong>se Sache mit der Übermittlung vom Buddha bis in unsere<br />

Zeit - das stimmt doch nicht wirklich, nicht wahr? Das ist ein<br />

Mythos, nicht wahr?<br />

Rôshi: Nein, es ist wirklich wahr. Schade, daß Sie es nicht glauben<br />

können.<br />

Schülerin H (37 Jahre alt)<br />

Schülerin: Ich bin schwanger und wahrscheinlich bis nach der Geburt<br />

meines Kin<strong>des</strong> in ein paar Monaten nicht imstande, noch irgendein<br />

Sesshin zu besuchen. Wie soll ich während meiner restlichen Schwangerschaft<br />

Zazen bei mir zu Hause üben?<br />

Rôshi: Konzentrieren Sie sich weiterhin auf Ihr derzeitiges Kôan.<br />

Wenn Ihnen eine Lösung kommt, legen Sie sie sozusagen zurück, wie<br />

Sie es mit den anderen Kôans gemacht haben, und greifen wieder auf<br />

Shikantaza, bis Sie erneut vor mir erscheinen. Dann können Sie<br />

demonstrieren, daß Sie den geistigen Gehalt <strong>des</strong> Kôan verstanden<br />

haben.<br />

Sitzen Sie allzeit bequem, tief versunken, doch schmiegsamen Geistes<br />

und ohne jede Anspannung der Bauchpartie. Das letztere ist<br />

besonders wichtig. Es ist in Japan bekannt, daß Zazen eine äußerst<br />

günstige Wirkung auf Seele und Geist der Leibesfrucht hat. Es wäre<br />

noch besser, wenn Sie ein Bild <strong>des</strong> Kannon vor sich aufstellten, wenn<br />

193


Sie mit Zazen beginnen. So werden sich die wirksamen Kräfte dieses<br />

Bodhisattva, über die Sie nachsinnen, dem Geist <strong>des</strong> ungeborenen Kin<strong>des</strong><br />

einprägen.<br />

Schülerin: Mein Kôan lautet: «Halte das entfernte Boot, das sich über<br />

das Wasser bewegt, von dort aus auf, wo du bist.»<br />

Rôshi: Demonstrieren Sie, wie Sie dieses Kôan verstehen!<br />

(<strong>Die</strong> Schülerin demonstriert es.)<br />

Das ist gut, aber versuchen Sie es auf diese Weise (demonstriert es).<br />

Verstehen Sie den geistigen Gehalt dieses Kôans?<br />

Schülerin: Ja, das Boot und ich sind nicht zwei.<br />

Rôshi: Das stimmt. Wenn Sie mit dem Boot eins werden, hört es auf,<br />

ein Problem für Sie zu sein. Das Gleiche gilt für Ihr alltägliches<br />

Leben. Wenn Sie sich von den Gegebenheiten Ihres Lebens nicht<br />

distanzieren, leben Sie ohne Angst. Im Sommer passen Sie sich der<br />

Hitze an und im Winter der Kälte. Wenn Sie reich sind, so leben Sie<br />

das Leben einer Reichen; sind Sie arm, so leben Sie mit Ihrer Armut.<br />

Sollten Sie in den Himmel kommen, so würden Sie ein Engel sein;<br />

müßten Sie in die Hölle fahren, so würden Sie ein Teufel werden. In<br />

Japan leben Sie wie eine Japanerin und in Kanada wie eine Kanadierin.<br />

Wenn man so lebt, ist das Leben kein Problem. Tiere haben diese<br />

Anpassungsfähigkeit in hohem Maße. Menschen besitzen sie ebenfalls;<br />

da sie aber meinen, sie seien dieses oder jenes, da sie sich Vorstellungen<br />

und Begriffe von dem bilden, was sie sein sollten, oder wie<br />

sie leben sollten, liegen sie mit sich und ihrer Umwelt ständig im<br />

Kampf.<br />

Zweck dieses Kôan ist es also, Sie zu lehren, mit jedem Aspekt Ihres<br />

Lebens eins zu sein.<br />

Schüler I (30 Jahre alt)<br />

Rôshi: Das ist Ihr erstes Sesshin, nicht wahr?<br />

Schüler: Ja.<br />

Rôshi: Warum möchten Sie Zazen üben?<br />

194


Schüler: Ich möchte den Sinn <strong>des</strong> menschlichen Lebens erkennen, wissen,<br />

warum wir geboren werden und warum wir sterben.<br />

Rôshi: Das ist ein ausgezeichneter Beweggrund. Es gibt verschiedene<br />

Wege zur Lösung dieses Problems. Ehe ich darauf eingehe, lassen Sie<br />

mich jedoch erklären, was Kenshô ist. Es bedeutet das Schauen Ihres<br />

Wahren Wesens, das unmittelbare Erkennen, daß Sie und das Weltall<br />

im Grunde Eins sind. Wenn Sie <strong>des</strong>sen einmal innegeworden sind,<br />

dann werden Sie bis in Ihre Eingeweide hinein den Sinn <strong>des</strong> menschlichen<br />

Daseins erkennen und dadurch jenen Seelenfrieden finden, wie<br />

er aus solch einer umwälzenden Einsicht erwächst.<br />

Der Weg zu solchem Wissen ist Zazen. Wie Sie wissen, gibt es viele<br />

Übungsweisen. Sie haben Ihre Atemzüge gezählt, Sie sind dem Atem<br />

gefolgt und haben Shikantaza geübt. Es ist möglich, allein durch<br />

diese Übungen zum Satori-Erwachen zu kommen, aber der schnellste<br />

Weg ist: durch ein Kôan.<br />

In alten Zeiten gab es noch kein Kôan-System, und dennoch gelangten<br />

viele zur Selbst-Wesensschau. Aber es war schwer und dauerte<br />

lange. Vor etwa tausend Jahren begann man, Kôans anzuwenden, und<br />

hält es damit bis heute so. Eines der besten Kôans ist Mu, weil es das<br />

einfachste ist. <strong>Die</strong>s hier ist seine Vorgeschichte:<br />

Ein Mönch kam zu JÔSHÛ, der vor Jahrhunderten als berühmter <strong>Zen</strong>-<br />

Meister in China lebte, und fragte: «Hat ein Hund Buddha-Wesen<br />

oder nicht?» JÔSHÛ versetzte: «Mu!» Wörtlich übersetzt bedeutet das<br />

«nein» oder «nicht», aber die Bedeutung von JÔSHÛS Antwort liegt<br />

nicht hierin. Mu ist der Ausdruck <strong>des</strong> lebendigen, wirkenden, dynamischen<br />

Buddha-Wesens. Was Sie also tun sollen, besteht darin, daß Sie<br />

Geist und innerstes Wesen dieses Mu entdecken, nicht durch intellektuelle<br />

Analysen, sondern indem Sie in Ihrem tiefsten Sein danach forschen.<br />

Dann müssen Sie vor mir demonstrieren, konkret und anschaulich<br />

und ohne Rückhalt an begrifflichen Vorstellungen, Theorien und<br />

abstrakten Erklärungen, daß Sie Mu als lebendige Wahrheit begriffen<br />

haben. Denken Sie daran: Sie können Mu nicht mit Hilfe gewöhnlicher<br />

Kenntnisse begreifen; Sie müssen es mit Ihrem gesamten Sein<br />

unmittelbar erfassen.<br />

Sie üben also folgendermaßen: Wenn möglich sitzen Sie in voller<br />

195


oder halber Lotushaltung. Wenn Sie weder Voll- noch Halb-Lotus<br />

sitzen können, so kreuzen Sie die Beine auf bequemste Weise. Ist<br />

Ihnen sogar das Kreuzen der Beine unmöglich, so benutzen Sie einen<br />

Stuhl. Ihr Rücken muß gerade aufgerichtet sein. Nachdem Sie ein<br />

paarmal tief Atem geholt haben, wiegen Sie Ihren Körper hin und<br />

her, zuerst in großen, dann in immer kleineren Bögen, bis der Körper<br />

auf der Mittelachse zur Ruhe kommt. Danach atmen Sie ganz natürlich.<br />

Nun sind Sie bereit, mit Zazen zu beginnen. Vor allem wiederholen<br />

Sie also das Wort «Mu», nicht hörbar, sondern im Geiste. Konzentrieren<br />

Sie sich darauf, eins mit Mu zu werden. Denken Sie nicht<br />

über seine Bedeutung nach. Ich wiederhole: Konzentrieren Sie sich<br />

einfach mit ganzem Herzen darauf, eins mit Mu zu werden. Zuerst<br />

werden Ihre Anstrengungen nur mechanisch sein, aber das ist unvermeidlich.<br />

Nach und nach wird jedoch alles an Ihnen einbezogen<br />

werden.<br />

Da der menschliche Geist von Kindheit an gewöhnt ist, nach außen<br />

zu wirken, so wie die Strahlen einer Glühbirne, die fächerförmig<br />

nach außen dringen, muß jetzt Ihr erstes Ziel sein, Ihren Geist in<br />

einen Brennpunkt zu sammeln. Erst wenn Sie fähig sind, sich auf<br />

Mu zu konzentrieren, fragen Sie sich: «Was ist Mu? Was kann es<br />

nur sein?» Sie müssen diese Frage geradezu von Ihren Eingeweiden<br />

her stellen. Wenn die Fragestellung jenen Punkt erreicht, da sie Sie<br />

wie ein Schraubstock umklammert hält, so daß Sie an gar nichts<br />

anderes mehr denken können, dann werden Sie plötzlich Ihres Wahren<br />

Wesens innewerden und ausrufen: «Ach, jetzt weiß ich es!»<br />

Durch echte Erleuchtung wird das Problem <strong>des</strong> Leidens und Sterbens<br />

gelöst.<br />

Rôshi: Möchten Sie irgend etwas sagen?<br />

Schüler: Ja. Als für uns alle die Glocke zum Aufstehen und Herumgehen<br />

erklang, begann eine alte Frau zu schluchzen. Ich weiß nicht<br />

warum; aber der Mahner fing an, sie mit dem Kyosaku heftig zu<br />

schlagen. In dem Augenblick mußte ich plötzlich an den Sinn <strong>des</strong><br />

Lebens denken und warum Menschen leiden. Ohne zu wissen, wie<br />

196


mir geschah, fing auch ich an zu weinen, und dann strömten die Tränen<br />

nur so. Seit ich ein siebenjähriges Kind war, habe ich nicht mehr<br />

so geweint. Was bedeutet das nur?<br />

Rôshi: Im Körper-Geist gehen viele Veränderungen vor sich, wenn<br />

Sie Zazen mit Eifer und Hingabe üben. Ihr Empfinden wird feinfühliger,<br />

Ihr Denken schärfer und klarer, Ihr Wille stärker. Vor allem<br />

erleben Sie ein Gefühl der Dankbarkeit. Als Sie jene Frau weinen<br />

hörten, fingen Sie auch an zu weinen, weil Ihr Empfinden bereits<br />

feinfühliger und empfänglicher geworden ist. Vermutlich wußte<br />

auch sie nicht, weshalb sie weinte. Man schlug sie zu jenem Zeitpunkt,<br />

um sie dazu anzutreiben, daß sie ihre stärkste Kraft aufbiete.<br />

Was geschehen ist, zeigt mir, daß Sie mit Ernst und Eifer Zazen<br />

üben.<br />

Schülerin J (33 Jahre alt)<br />

Schülerin: Mein voriger Lehrer hat mir vor zwei Jahren das Kôan<br />

Mu zugewiesen. Ich habe damit geübt, aber offengestanden weiß ich<br />

nicht, was ich tue. Mir scheint, ich wiederhole es nur mechanisch.<br />

Man hat mir gesagt, ich solle damit eins werden, und ich würde auf<br />

diese Weise Kenshô erlangen. Aber ich bin nicht einmal sicher, daß<br />

ich weiß, was Kenshô ist. Bevor ich zu diesem Tempel hier gekommen<br />

bin, hatte ich Schwierigkeiten, mich verständlich zu machen und zu<br />

verstehen, was man mir sagte, da es keinen rechten Dolmetscher gab.<br />

Daran dürfte es wohl liegen, daß ich so schlecht unterrichtet bin.<br />

Rôshi: Es ist nutzlos, Mu mechanisch zu wiederholen.<br />

Kenshô ist die unmittelbare Erkenntnis, daß Sie mehr sind als dieser<br />

kümmerliche Körper und dieser begrenzte Verstand. Negativ ausgedrückt,<br />

ist es die Vergegenwärtigung, daß das Weltall nicht außerhalb<br />

von Ihnen besteht. Positiv gesagt, erleben Sie das Weltall als sich<br />

selbst. Solange Sie noch bewußt oder unbewußt zwischen sich und<br />

anderen einen Unterschied machen, solange sind Sie im Dualismus<br />

von Ich und Nicht-Ich gefangen. <strong>Die</strong>ses Ich ist unserem Wahren<br />

Wesen nicht eingeboren, sondern lediglich eine durch unsere sechs<br />

197


Sinne hervorgerufene Täuschung. Da aber dieses illusorische Ich in<br />

diesem Dasein wie in vorangegangenen Daseinsformen als etwas von<br />

echtem Eigenwert behandelt wurde, ist es dazu gekommen, daß es die<br />

tiefste Schicht <strong>des</strong> Unbewußten einnimmt. Ihre zielstrebige Konzentration<br />

auf Mu wird allmählich diesen Ich-Begriff aus Ihrem Bewußtsein<br />

tilgen. Bei seiner vollständigen Verbannung erleben Sie plötzlich<br />

das Einssein. Das ist Kenshô.<br />

<strong>Die</strong> traditionelle Rinzai-Methode bei der Behandlung <strong>des</strong> Kôan ist<br />

es, Sie mit diesem Kôan wohl oder übel ringen zu lassen. Immer wieder<br />

fragen Sie sich: «Was ist Mu? Was kann es nur sein?» Sie kommen<br />

mit der ersten Antwort, die Ihnen in den Sinn kommt, zum Rôshi;<br />

der fegt sie prompt weg. «Nein, das ist nicht Mu! Forschen Sie<br />

weiter!» schreit er. Beim nächsten Mal bringen Sie etwas vor, was im<br />

Grunde genommen genau auf dieselbe Antwort hinausläuft. Jetzt<br />

wird der Rôshi Sie schelten: «Ich habe Ihnen doch gesagt, daß das<br />

nicht Mu ist. Bringen Sie mir Mu!» Sie versuchen es wieder und wieder.<br />

Aber der Rôshi weist jede Lösung, die Sie sich nur denken oder<br />

vorstellen können, zurück. Solche Begegnungen dauern gewöhnlich<br />

nur ein bis zwei Minuten. Nach Monaten oder Jahren erschöpfender<br />

Auseinandersetzung erreicht Ihr Geist schließlich jenen Punkt, da er<br />

von allen Gedankenformen entleert ist und Sie plötzlich zur Wesensschau<br />

von Mu kommen.<br />

<strong>Die</strong>se Methode war bei Schülern, die nach Wahrheit dürsten, wirksam.<br />

Heutzutage aber zeigen die Schüler weniger Eifer; sie bleiben<br />

auch kaum längere Zeit bei der Stange. Und was noch schlimmer<br />

ist: Unfähige Lehrer lassen Schüler bestehen, die den geistigen Gehalt<br />

<strong>des</strong> Kôan nicht wahrhaft erlebt haben, nur um sie zum Weitermachen<br />

zu ermutigen. Mein eigener Lehrer HARADA Rôshi, der viele Jahre<br />

lang Rinzai-<strong>Zen</strong> studiert und geübt hat, suchte aus übergroßer Güte<br />

diesem qualvollen Ringen vergangener Tage ein Ende zu machen,<br />

indem er seinen Schülern von vornherein sagte, daß jede Begriffsvorstellung<br />

von Mu, wie scharfsinnig und geistreich sie auch sein möge,<br />

unbrauchbar sei und daß sie sich <strong>des</strong>halb aufs äußerste anstrengen<br />

müßten, um mit Mu eins zu werden. <strong>Die</strong> Gefahr hierbei liegt jedoch<br />

darin, daß man in ein mechanisches Wiederholen abgleitet. Von all<br />

198


dem ganz abgesehen, gibt es jedoch Menschen, denen das Kôan Mu<br />

zuwider ist. Wie sehr sie sich auch mühen, es sich zu eigen zu machen,<br />

es packt sie niemals. Vielleicht sind Sie solch ein Mensch?<br />

Schülerin: Es ist mir ganz zuwider.<br />

Rôshi: In diesem Falle ist es besser, das Kôan zu wechseln. Ich könnte<br />

Ihnen Sekishu, «Was ist der Ton einer klatschenden Hand?» zuweisen<br />

oder Honrai-no Memmoku, «Was ist mein Ur-Angesicht?» oder einfach<br />

«Was bin ich?» oder «Wer bin ich?» was auch immer für Sie am<br />

fesselndsten ist.<br />

Schülerin: Das letzte wäre das sinnvollste.<br />

Rôshi: Also gut. Von nun an wird das Ihr Kôan sein.<br />

Schülerin: Soll ich es genau so behandeln wie Mu?<br />

Rôshi: Ja, aber Sie dürfen die Frage nicht so mechanisch wie eine<br />

Stanzmaschine stellen. Beim Essen fragen Sie sich: «Was ißt?» mit<br />

dem sehnlichen Verlangen, diese Frage zu lösen. Beim Hören forschen<br />

Sie in sich: «Wer hört?», beim Sehen: «Wer sieht?», beim Gehen:<br />

«Wer geht?»<br />

(Von nun an wird die Feststellung «Mein Kôan ist: ,Wer bin ich?'»<br />

zu Beginn eines jeden Dokusan dieser Schülerin weggelassen.)<br />

Rôshi: Haben Sie eine Frage?<br />

Schülerin: Ja. Wenn ich mich frage: «Wer bin ich?», sage ich mir: «Ich<br />

bin Knochen, ich bin Blut, ich bin Haut.» Wie mache ich von da aus<br />

weiter?<br />

Rôshi: Dann fragen Sie sich: «Was ist es, das dieses Blut hat? Was<br />

ist es, das diese Knochen hat? Was ist es, das diese Haut hat?»<br />

Schülerin: Mir scheint, ich muß zwei Dinge tun: zum Beispiel mit<br />

Essen eins werden, und mich dabei zugleich auch fragen: «Wer ißt?»<br />

Stimmt das?<br />

Rôshi: Nein, fragen Sie sich nur danach, wer ißt. Ihr Geist muß zu<br />

einer einzigen tiefsten Fragestellung werden. Das ist der schnellste<br />

Weg zur erkennenden Schau Ihres Wahren Wesens. Sich zu fragen:<br />

«Wer bin ich?» ist im Grunde nichts anderes, als sich zu fragen: «Was<br />

ist Mu?»<br />

199


Schülerin: Ehrlich gesagt, habe ich kein brennen<strong>des</strong> Verlangen nach<br />

Kenshô. Ich möchte wohl wissen, warum. Das beunruhigt mich.<br />

Rôshi: Menschen, die genötigt waren, qualvollen Lebenslagen ins<br />

Gesicht zu sehen, z. B. dem Tod eines Geliebten, werden oft jählings<br />

in die tiefgreifendsten Fragen über Leben und Tod gestürzt. Aus<br />

diesem forschenden Fragen entsteht ein heftiger Durst nach dem Verständnis<br />

ihres Selbst, auf daß sie die eigenen Leiden wie die der<br />

Menschheit lindern könnten. Durch echte Erleuchtung treten innere<br />

Freudigkeit und Heiterkeit an die Stelle von Unruhe und Angst.<br />

Wenn Sie bei meinen Darlegungen die Lehren <strong>des</strong> Buddha hören,<br />

wird sich in Ihnen die Sehnsucht nach Selbst-Wesensschau entwikkeln<br />

und immer tiefer werden.<br />

Schülerin: Heute nacht wurde ich beim Zazen von dem Gedanken<br />

geplagt, daß mein Verlangen nach Erleuchtung nur schwach ist. Ich<br />

fragte mich immer wieder: «Warum strenge ich mich denn nicht<br />

intensiver an, wie so viele um mich herum?» Um ein Uhr nachts<br />

wollte ich aufgeben, obgleich ich erst vier Stunden vorher beschlossen<br />

hatte, die ganze Nacht aufzubleiben und Zazen zu üben. Als ich<br />

in die Küche kam, um etwas zu trinken, sah ich die alte Nonnen-<br />

Köchin Wäsche waschen. Als ich sie beobachtete, schämte ich mich<br />

meiner schwächlichen Bemühungen.<br />

Neulich haben Sie mir gesagt, daß die Menschen, die das stärkste<br />

Verlangen nach Erleuchtung haben, meist solche sind, die in ihrem<br />

Leben viel gelitten haben. Sie sagten, daß sie sich Kenshô so sehr<br />

wünschten, um ihre Leiden und die der anderen zu erleichtern. Offen<br />

gesagt, habe ich zwischen zehn und zwanzig beträchtlichen Kummer<br />

erlebt. Vielleicht hatte ich <strong>des</strong>halb mit anderen solches Mitgefühl, und<br />

vielleicht kamen <strong>des</strong>halb Freunde und Bekannte oft um Rat und<br />

Hilfe zu mir.<br />

Als ich ein paar Jahre später etwas über <strong>Zen</strong> hörte, fing ich in den<br />

Vereinigten Staaten so halb und halb an, etwas zu üben. Dann kam<br />

ich vor ein paar Jahren nach Japan, nachdem ich meine Arbeit in<br />

Amerika aufgegeben hatte, und fing auf traditionelle Weise zu üben<br />

an. Sympathie und Mitgefühl, die ich gegenüber Menschen stets empfunden<br />

hatte, ehe ich Zazen zu üben begann, sind in mir ausgetrock-<br />

200


net. Ich habe beim Zazen so viel Schmerzen ausgestanden, daß ich<br />

nicht mehr daran denke, andere zu retten, sondern nur noch mich<br />

selbst. Ich hasse es zu leiden! So hat also mein Leben im <strong>Zen</strong>, weit<br />

davon entfernt, mich den Leiden anderer gegenüber feinfühliger zu<br />

machen, oder in mir den Wunsch zu entfachen, sie zu retten, jedwede<br />

altruistischen Gefühle in mir vernichtet und mich kalt und eigennützig<br />

zurückgelassen.<br />

Rôshi: Wenn ich Ihr Gesicht und Ihr Benehmen beobachte, sehe ich<br />

weder Gefühllosigkeit noch Selbstsucht darin - im Gegenteil, viel<br />

Kannon-haftes. Ich bin sicher, daß die meisten Menschen, die mit<br />

Ihnen in Berührung kommen, Ihre natürliche Wärme spüren und<br />

Ihnen wohlgesinnt sind. Was Sie mir beschrieben haben, zeigt, daß<br />

sich Ihr natürliches Mitgefühl eher vertieft hat, als daß es Sie als kalt<br />

und selbstsüchtig auswiese. Aber all das liegt außerhalb Ihres Bewußtseins.<br />

Wer sich selbst für gütig und mitfühlend hält, ist sicher keins<br />

von beiden 24 . Daß Sie sich dieser Gefühle nicht mehr bewußt sind,<br />

zeigt nur, wie tief sie in Sie eingedrungen sind.<br />

Es gibt viele Menschen, die ihre ganze Zeit damit verbringen, den<br />

Bedürftigen zu helfen und sich Bewegungen zur Verbesserung der<br />

sozialen Zustände anzuschließen. Freilich sollte man das nicht für<br />

gering achten. Aber ihre Ur-Angst, die aus einer falschen Sicht ihrer<br />

selbst und <strong>des</strong> Weltalls erwächst, findet keine Linderung, sie nagt an<br />

ihrem Herzen und läßt sie nicht zu einem reichen, freudigen Leben<br />

kommen. Menschen, die solche Tätigkeiten zur Hebung der sozialen<br />

Verhältnisse fördern und sich daran beteiligen, halten sich bewußt<br />

oder unbewußt für moralisch überlegen und machen sich <strong>des</strong>halb nie<br />

die Mühe, sich innerlich zu läutern, indem sie sich von Habgier,<br />

Ärger und Verblendung befreien. Es kommt aber die Zeit, da sie von<br />

all ihrer rastlosen Tätigkeit erschöpft sind und ihre Ur-Angst um<br />

Leben und Tod vor sich selbst nicht mehr verbergen können. Dann<br />

24. Vergleiche LAOTZE: «Der wahrhaft Tugendhafte ist sich seiner Tugend nicht<br />

bewußt. Der Mensch geringerer Tugend aber ist stets um seine Tugend besorgt<br />

und ist darum ohne wahre Tugend. Wahre Tugend ist spontan und macht keine<br />

Ansprüche auf Verdienst.» Zitiert in Grundlagen tibetischer Mystik, von Lama<br />

ANAGARIKA GOVINDA, Rascher Verlag, Zürich, 1956, S. 265.<br />

201


fangen sie ernsthaft an zu fragen, warum das Leben nicht mehr Sinn<br />

und Würze habe. Nun fragen sie sich zum ersten Mal, ob sie sich<br />

nicht vor allem selber retten sollten, anstatt zu versuchen, andere zu<br />

retten.<br />

Ich versichere Ihnen, daß Sie keinen Fehler gemacht haben, als Sie<br />

den Entschluß faßten, diesen Weg zu gehen; und eines Tages wird<br />

Ihnen das klar werden. Es ist nicht Selbstsucht zu vergessen, andere<br />

zu retten, und sich nur darauf zu konzentrieren, die eigene geistige<br />

Kraft zu entwickeln, wenn es auch so aussehen mag. Es ist die heilige<br />

Wahrheit, daß Sie niemanden retten können, ehe Sie nicht durch das<br />

Erlebnis der Selbst-Wesensschau selber rund und ganz geworden sind.<br />

Wenn Sie das Wesen Ihres Wahren Selbst und <strong>des</strong> Weltalls geschaut<br />

haben, werden Ihre Worte Überzeugungskraft haben, und die Menschen<br />

werden auf Sie hören.<br />

Schülerin: Aber ich werde so leicht müde und lasse mich so leicht<br />

entmutigen - der Weg ist schrecklich lang und schwer.<br />

Rôshi: Der Weg <strong>des</strong> Buddha verlangt kraftvolle Hingabe und Beharrlichkeit.<br />

Wenn Sie jedoch daran denken, daß die Philosophen seit<br />

zwei- bis <strong>drei</strong>tausend Jahren erfolglos darum gerungen haben, das<br />

Problem <strong>des</strong> menschlichen Daseins zu lösen, daß Ihnen aber gelingen<br />

kann, was jenen fehlschlug, einfach indem Sie sich fragen: «Wer bin<br />

ich?», haben Sie dann Grund, mutlos zu sein? Welche Tätigkeit, welche<br />

Arbeit könnte im Leben dringender und zwingender sein als<br />

diese? Im Vergleich dazu verblaßt alles übrige zu Bedeutungslosigkeit.<br />

Schülerin: Das meine ich auch; <strong>des</strong>halb bin ich nach Japan gekommen,<br />

um Zazen zu üben.<br />

Rôshi: Sie sind anders als die meisten hier. Jene kommen zu einem<br />

Sesshin her, weil sie gehört haben, daß <strong>Zen</strong> etwas Bemerkenswertes<br />

sei, und sie möchten es so schnell wie möglich an sich reißen und sich<br />

dann wieder ihren Angelegenheiten zuwenden. Deshalb strengen sie<br />

sich so an. Sie fallen über Zazen her wie ein Sturmwind, bei dem es in<br />

Strömen gießt und das Wasser rasch wieder abläuft. Sie aber haben<br />

ungeheure Opfer gebracht, um den Weg <strong>des</strong> Buddha zu betreten und<br />

sollten sich nicht so abquälen. Ihr Üben sollte wie ein Regen sein, der<br />

sanft vom Himmel fällt und tief in das Er<strong>drei</strong>ch einsickert. In sol-<br />

202


cher Geistesverfassung können Sie geduldig vier bis fünf Jahre oder<br />

noch länger sitzen, bis Sie die Wahrheit in ihrer Fülle schauend<br />

erkannt haben.<br />

Schülerin: Liegt die Unfähigkeit der Philosophen, das Problem der<br />

menschlichen Existenz zu lösen, darin, daß sie immer fragten<br />

«Warum?» und «Wie?».<br />

Rôshi: Ihre Untersuchungen führen die meisten neuzeitlichen Philosophen<br />

von sich selbst weg in den Bereich der Vielheit - auf solche<br />

Weise arbeiten sowohl Schulphilosophen wie Wissenschaftler. <strong>Die</strong><br />

Frage «Wer bin ich?» hingegen bringt Sie jählings zur Erkenntnis<br />

Ihres grundsätzlichen Einsseins mit dem Weltall.<br />

Schülerin: Ich bin bereit, alles zu tun, was Sie sagen.<br />

Rôshi: Ich habe das Gefühl, daß Ihre bisherige Schulung Ihrer Veranlagung<br />

nicht ganz angemessen war. Sie brauchen jedoch nicht zu<br />

denken, daß die Zeit, die Sie mit <strong>Zen</strong> verbracht haben, vergeudet ist.<br />

Sie war in vieler Hinsicht wertvoll, weit mehr, als Ihnen bewußt ist.<br />

Mir scheint auch, daß Sie, zumin<strong>des</strong>t vorläufig, nicht mit dem Kyosaku<br />

geschlagen werden sollten.<br />

Schülerin: Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie nervös mich das<br />

gemacht hat. Im vorigen Tempel, in dem ich Zazen übte, verbrachte<br />

ich fünfundneunzig Prozent der Zeit damit, meine Reaktion darauf<br />

niederzukämpfen.<br />

Rôshi: Wenn es Ihnen möglich gewesen wäre, sich mit Ihrem vorigen<br />

Lehrer derart zu verständigen, wie Sie und ich es jetzt dank dieses<br />

Dolmetschers können, wäre Ihnen sicher eine andere Übung zugewiesen<br />

worden. Jedenfalls fragen Sie sich von nun an mit aufmerksamer,<br />

jedoch gelassener Eindringlichkeit: «Wer bin ich?»<br />

Rôshi: Möchten Sie irgend etwas sagen?<br />

Schülerin: Ja. Ein paar Tage nach dem letzten Sesshin wurde mir<br />

plötzlich auf neue Weise klar, daß es sinnlos ist, Anregungen und<br />

Vergnügungen zu suchen und Schmerzen aus dem Wege zu gehen, wie<br />

es der Gang meines Lebens war; denn auf all das folgte immer nur<br />

ein schmerzliches Gefühl der Hohlheit. Obgleich mir diese Einsicht<br />

203


mit großer Wucht kam, begleitet von einer Heiterkeit, die den ganzen<br />

Tag anhielt, kehrte innerhalb einer Woche doch das alte Gefühl der<br />

Flachheit und Sinnlosigkeit <strong>des</strong> Lebens zurück und damit auch die<br />

Sehnsucht nach Erregungen. Ist das nun natürlich oder unnatürlich -?<br />

Rôshi: Es ist natürlich und empfehlenswert, sich ein volleres, glücklicheres<br />

Leben, als das Ihre es gegenwärtig ist, zu wünschen. Es ist<br />

jedoch nicht löblich, wenn Sie Ihre gegenwärtige Lage geringschätzen,<br />

während Sie nach einer gehobeneren verlangen. Wenn Sie sich allem,<br />

was Sie gerade tun, ganz hingeben, können Sie zu einer tieferen und<br />

reicheren Gemütsverfassung gelangen. Habe ich damit Ihre Frage<br />

beantwortet?<br />

Schülerin: Ich bin noch gar nicht zu meiner Hauptschwierigkeit<br />

gekommen. Also, wenn ich dieses Gefühl habe, möchte ich vor mir<br />

weglaufen, in ein Kino rennen oder mich mit gutem Essen vollstopfen.<br />

Meine Frage ist also: Soll ich diesem Begehren nachgeben oder es<br />

bekämpfen und unterdrücken und mit Zazen fortfahren?<br />

Rôshi: Das ist eine äußerst wichtige Frage. Es ist weder weise, Ihre<br />

Gefühle zu unterdrücken, noch ihnen rückhaltslos zu frönen. Es gibt<br />

Menschen, die sich, wenn sie das gleiche Gefühl wie Sie haben, entweder<br />

sinnlos betrinken oder krankessen. Natürlich gehören Sie nicht<br />

zu dieser Art Menschen. <strong>Die</strong> Sache ist die: Es ist durchaus in Ordnung,<br />

gelegentlich in ein Kino zu gehen, wenn Sie sich einen Film<br />

ansehen, der Ihnen wirklich Freude macht, und nicht einfach irgendeinen.<br />

Und gleichermaßen: Wenn Sie den unwiderstehlichen Drang<br />

verspüren, sich ein Festessen zu leisten, dann essen Sie etwas, was<br />

Ihnen nicht allein gut schmeckt, sondern das auch nahrhaft ist; und<br />

überessen Sie sich nicht, damit Sie nicht am nächsten Tag krank sind.<br />

Wenn Sie dabei Mäßigkeit und Vernunft walten lassen, werden Sie<br />

nachher keine Reue empfinden und brauchen sich keine Vorwürfe zu<br />

machen, daß Sie kostbare Zeit, die Sie nützlicher auf Zazen hätten<br />

verwenden können, töricht vergeudet haben. So werden Sie Ihrer<br />

Verdrießlichkeit entrissen, bekommen neuen Auftrieb und können<br />

Ihre Übungen mit größerem Eifer wieder aufnehmen. Wenn Sie sich<br />

aber selbst zum Ekel werden, werden solche Gefühle ein Heer von<br />

Gedanken hervorrufen, die Ihre Übungen störend beeinflussen. Wenn<br />

204


sich Ihr Zazen vertieft, wird all das jedoch aufhören, ein Problem für<br />

Sie zu sein.<br />

Schülerin: Wenn ich Sie recht verstanden habe, sagten Sie mir einmal,<br />

ich solle meinen Geist in die Handfläche verlagern, ein andermal, ihn<br />

auf die Stelle unterhalb <strong>des</strong> Nabels richten, und dann wieder, ich solle<br />

ihn auf die Stelle zwischen den Augen lenken, wenn ich schläfrig<br />

werde. Das hat mich ganz verwirrt. Ich weiß nicht einmal, was mein<br />

Geist ist, wie also könnte ich ihn auf eine dieser Stellen richten?<br />

Rôshi: Wenn ich Ihnen gesagt habe, Sie sollten Ihren Geist in die<br />

Handfläche verlagern, meinte ich, daß Sie Ihre Aufmerksamkeit auf<br />

jenen Punkt richten sollten. Sie dürfen den Brennpunkt Ihrer Aufmerksamkeit<br />

nicht dauernd wechseln. DÔGEN und HAKUIN haben<br />

beide empfohlen, die Aufmerksamkeit auf die Handfläche zu richten.<br />

Wenn Sie die Intensität Ihres Zazen steigern wollen, können Sie das<br />

dadurch tun, daß Sie die Aufmerksamkeit auf den Hara konzentrieren.<br />

Ein gutes Mittel, um Schläfrigkeit zu überwinden, ist es, die Aufmerksamkeit<br />

auf die Stelle zwischen den Augen zu konzentrieren.<br />

Schülerin: Aber was ist Geist überhaupt? Ich meine, ich weiß theoretisch,<br />

was er ist, weil ich viele Sûtras und andere Bücher über<br />

Buddhismus gelesen habe. Kann ich aber wirklich herausfinden, was<br />

Geist ist, indem ich mich frage: «Wer bin ich?»<br />

Rôshi: Geist theoretisch zu verstehen, ist nicht genug, um die Frage<br />

«Wer bin ich?» und damit auch das Problem von Geburt und Tod<br />

zu lösen. Solch ein Verstehen ist lediglich ein Abbild der Wirklichkeit,<br />

nicht die Wirklichkeit selbst. Wenn Sie sich hartnäckig voller<br />

Hingabe und Eifer fragen: «Wer bin ich?» - also erfüllt von echtem<br />

Verlangen nach Selbst-Wesensschau - werden Sie unbedingt das<br />

Wesen <strong>des</strong> Geistes erkennen.<br />

Nun ist Geist mehr als Ihr Körper und mehr als das, was man gemeinhin<br />

«Geist» nennt. <strong>Die</strong> innere Erkenntnis <strong>des</strong> Geistes ist die schauende<br />

Erkenntnis, daß Sie und das Weltall nicht zweierlei Dinge sind. <strong>Die</strong>ses<br />

Innewerden muß Ihnen mit solch überwältigender Sicherheit kommen,<br />

daß Sie sich auf den Schenkel schlagen und ausrufen: «Ach, natürlich!»<br />

205


Schülerin: Aber ich weiß nicht, wer fragt: «Wer bin ich?» Und da ich<br />

das nicht weiß und auch nicht, wer gefragt wird, wie kann ich da<br />

herausfinden, wer ich bin?<br />

Rôshi: Derjenige, der die Frage stellt, sind Sie, und Sie müssen antworten.<br />

In Wahrheit sind es nicht zwei. <strong>Die</strong> Antwort kann nur aus<br />

hartnäckig forschendem Fragen, mit dem intensiven Verlangen zu<br />

wissen, kommen. Bis jetzt sind Sie ziellos gewandert, im Ungewissen<br />

über Ihr Ziel. Aber jetzt, da Sie eine Landkarte bekommen haben und<br />

die Wegrichtung kennen, halten Sie nicht inne, um die Aussicht zu<br />

bewundern - marschieren Sie weiter!<br />

Schülerin: Sie haben gesagt, daß wir alle von eingeborener Vollkommenheit<br />

sind - ohne Makel. Ich kann noch glauben, daß wir das im<br />

Mutterschoß sind, aber nach der Geburt sind wir alles andere als<br />

vollkommen. <strong>Die</strong> Sûtras sagen, daß wir alle von Habgier, Zorn und<br />

Torheit durchsetzt sind. Das glaube ich gern, denn es ist bestimmt<br />

wahr in bezug auf mich.<br />

Rôshi: Ein Blinder ist im Grunde ganz und vollkommen, sogar bei<br />

seiner Blindheit. Das Gleiche gilt für einen Taubstummen. Würde ein<br />

Taubstummer plötzlich sein Gehör wiedererlangen, so wäre seine<br />

Vollkommenheit nicht mehr die eines Taubstummen. Würde man den<br />

Teller hier auf dem Tisch zerbrechen, so wäre je<strong>des</strong> Bruchstück die<br />

Ganzheit selber. Was dem Auge sichtbar ist, ist nur die Gestalt, die<br />

sich dauernd verändert, nicht aber die Substanz. In Wirklichkeit ist<br />

das Wort «vollkommen» überflüssig. Dinge sind weder vollkommen<br />

noch unvollkommen; sie sind, was sie sind. Alles hat absoluten Wert;<br />

<strong>des</strong>halb kann nichts mit irgend etwas anderem verglichen werden.<br />

Ein großer Mensch ist groß, ein kleiner klein; das ist alles, was zu<br />

sagen ist. Es gibt ein Kôan, bei dem der Meister auf die Frage «Was<br />

ist Buddha?» antwortet:<br />

«Hoher Bambus ist hoch, niedriger Bambus niedrig.»<br />

Kenshô ist nichts anderes, als das in einem Aufflammen zu gewahren.<br />

206


Schülerin: Es macht mir noch immer Mühe, meine Aufmerksamkeit in<br />

die Handfläche zu verlagern.<br />

Rôshi: Warum denn?<br />

Schülerin: Es ist für mich sehr mühsam, meine Aufmerksamkeit bei<br />

der Ausatmung dorthin zu richten. Meine Konzentration wird unterbrochen.<br />

Rôshi: Sie sollen sich nicht abmühen. Anstatt zu versuchen, Ihre Aufmerksamkeit<br />

irgendwohin zu verlagern, konzentrieren Sie sich einfach<br />

auf die Frage: «Wer bin ich?»<br />

Schülerin: Wenn ich mich vor Ihnen oder vor dem Buddhabild niederwerfe<br />

oder Sûtras rezitiere oder herumgehe, dann bin ich nicht geneigt,<br />

mich zu fragen: «Wer bin ich?» Ist es richtig, wenn ich es dann lasse?<br />

Rôshi: Sie müssen die Frage allzeit stellen. Wenn Sie gehen, müssen<br />

Sie sich fragen: «Wer geht?» Wenn Sie sich niederwerfen, müssen Sie<br />

fragen: «Wer wirft sich nieder?»<br />

Schülerin: Oder auch: «Wer bin ich?»<br />

Rôshi: Ja. Das läuft auf dasselbe hinaus.<br />

Schülerin: Als Sie gestern abend zu uns allen gesprochen haben, sagten<br />

Sie, daß wir uns beim Zu-Bett-Gehen nicht von unserem Kôan<br />

trennen, sondern auch im Schlaf mit dem Fragen fortfahren sollten.<br />

Ich stelle fest, daß ich mein Kôan im Schlaf schnell vergesse, denn ich<br />

träume eine Menge. <strong>Die</strong> Traumwelt scheint eine andere Welt als die<br />

<strong>des</strong> «Wer bin ich?» zu sein. Das Träumen ist solche Vergeudung an<br />

Zeit und Kraft; wie kann ich das nur unterbinden?<br />

Rôshi: Im allgemeinen träumen tätige Menschen, die wenig Zeit zum<br />

Schlafen haben, nur gelegentlich, wohingegen solche, die viele Stunden<br />

schlafen, viele Träume haben. So neigen auch Menschen, die viel<br />

Zeit haben, oder jene, die auf dem Rücken schlafen, dazu, eine Menge<br />

zu träumen. Ein Mittel, das Träumen zu unterbinden, ist natürlich,<br />

weniger zu schlafen. Aber wenn Sie sich nicht genügend ausruhen,<br />

werden Sie vermutlich beim Zazen einnicken. Sie können auf Bildern<br />

<strong>des</strong> liegenden Buddha sehen, daß er auf der rechten Seite ruht. Das<br />

ist aus vielen Gründen eine gute Schlafhaltung.<br />

207


Schülerin: Ich merke oft, daß ich bei meiner Arbeit - sei es nun<br />

Wäschewaschen oder Saubermachen - vor mich hinträume. Was kann<br />

ich dagegen tun?<br />

Rôshi: Fahren Sie beim Saubermachen fort zu fragen: «Wer bin ich?»<br />

Wenn dies forschende Fragen genügend intensiv ist, werden Ihnen<br />

keine anderen Gedanken mehr durch den Sinn gehen. <strong>Die</strong> Wachträume<br />

haben Sie nur, weil Sie sich von Ihrem Kôan trennen.<br />

Rôshi: Möchten Sie etwas sagen oder fragen?<br />

Schülerin: Von heute früh um fünf Uhr an habe ich mich bis jetzt<br />

(15 Uhr) ununterbrochen gefragt: «Wer bin ich?» Manchmal hielt<br />

mich die Frage gefangen, aber die meiste Zeit hat sie mich einfach<br />

gelangweilt. Warum wird es mir langweilig?<br />

Rôshi: Wahrscheinlich, weil Sie noch nicht davon überzeugt sind, daß<br />

Sie durch solches Fragen Ihres Wahren Wesens innewerden und damit<br />

dauernden inneren Frieden finden können. Wenn Menschen, die in<br />

ihrem Leben viel Kummer erlebten, die Wahrheit <strong>des</strong> Buddhismus<br />

hören und Zazen zu üben beginnen, möchten sie im allgemeinen<br />

schnell Kenshô erreichen und dadurch ihre eigenen Leiden wie auch<br />

die der anderen lindern.<br />

Schülerin: Daß ich mich so schwer konzentrieren kann, liegt zum Teil<br />

auch daran, daß der neue Mahner, den wir jetzt haben, uns alle<br />

anbrüllt und jeden heftig schlägt.<br />

Rôshi: Sie brauchen sich nur zu fragen: «Wer hört all das Geschrei?»<br />

Machen Sie kein Problem daraus; es geht Sie nichts an.<br />

Schülerin: Es ist mir unmöglich, dem gegenüber gleichgültig zu sein.<br />

Rechts und links von mir werden die Sitzenden so heftig geschlagen,<br />

daß ich je<strong>des</strong>mal, wenn ich den Kyosaku höre, zusammenschaudere.<br />

Ich habe versucht, mich zu fragen: «Wer hört all dies schreckliche<br />

Gebrüll?» Aber es hat mich so aufgeregt, daß ich nicht weitermachen<br />

konnte.<br />

Rôshi: <strong>Die</strong>se Menschen um Sie herum stehen dicht vor Kenshô, und<br />

<strong>des</strong>halb werden sie so heftig geschlagen - um sie zu einer letzten<br />

verzweifelten Anstrengung anzuspornen. Wenn Sie nicht geschlagen<br />

208


werden wollen, weil es Sie beim Zazen stört, kann ich ein Zeichen<br />

«Nicht schlagen» über Ihrem Platz anbringen lassen.<br />

Schülerin: Als mich Herr K. gestern schlug, hat es mir geholfen, da er<br />

weiß, wie und wann er schlagen soll; aber dieser Mensch versetzt<br />

Hiebe ohne Sinn und Verstand, und sein Geschrei ist derart erschrekkend,<br />

daß mir ganz übel wird.<br />

Rôshi: Natürlich sind einige von denen, die den Kyosaku führen,<br />

tauglicher als andere. Herr K., der viel Erfahrung hat, ist sehr tüchtig.<br />

Möchten Sie, daß ein Zeichen über Ihnen angebracht wird?<br />

Schülerin: Das Komische ist, daß meine eine Hälfte wünscht, geschlagen<br />

zu werden, da ich glaube, daß ich dann schneller Kenshô erreiche,<br />

und die andere Hälfte sich davor fürchtet. Wenn Herr K. zurückkommt,<br />

hätte ich gern, daß er mich ab und zu schlägt.<br />

Rôshi: Wir können ein Zeichen über Ihrem Platz anbringen lassen,<br />

und wenn Sie geschlagen werden wollen, können Sie ein Zeichen<br />

geben, indem Sie die Hände, Handfläche gegen Handfläche gelegt,<br />

bis in Höhe <strong>des</strong> Kopfes erheben. Aber kümmern Sie sich nicht um das,<br />

was um Sie herum vorgeht. Konzentrieren Sie sich einzig und allein<br />

auf Ihr eigenes Problem.<br />

Von nun an können Sie die Frage «Wer bin ich?» einfach auf «Wer?»<br />

beschränken, da die ganze Frage in Ihr Unterbewußtsein gesunken ist.<br />

Ebenso kann auch ein Schüler, der am Kôan «Was ist Mu?» arbeitet,<br />

mit der Zeit die Frage einfach auf «Mu?» beschränken, da der ganze<br />

Wortlaut in seinem Unterbewußtsein widerhallt.<br />

Rôshi (scharf): Wer sind Sie?<br />

(Keine Antwort.)<br />

Wer sind Sie!<br />

Schülerin (zögernd): Ich weiß es nicht.<br />

Rôshi: Gut! Wissen Sie, was Sie mit dem «Ich weiß es nicht» meinen?<br />

Schülerin: Nein.<br />

Rôshi: Sie sind Sie! Ich bin ich! Sie sind einzig Sie - das ist alles.<br />

Schülerin: Was meinten Sie mit «gut!», als ich antwortete: «Ich weiß<br />

es nicht?»<br />

209


Rôshi: Im tiefsten Sinne können wir gar nichts wissen.<br />

Schülerin: Als Sie mir gestern sagten, daß Sie mich fragen würden,<br />

wer ich bin, schloß ich daraus, daß ich einige Antworten vorbereiten<br />

müsse, und so dachte ich mir verschiedene Antworten aus; aber<br />

gerade jetzt, da Sie mich fragten: «Wer sind Sie?» konnte ich an<br />

überhaupt nichts denken.<br />

Rôshi: Ausgezeichnet! Das zeigt, daß Ihr Kopf aller Ideen entleert ist.<br />

Nun können Sie mit Ihrem ganzen Sein reagieren, nicht nur mit Ihrem<br />

Kopf. Als ich Ihnen sagte, ich würde Sie fragen, wer Sie sind, meinte<br />

ich nicht, daß Sie sich Antworten ausdenken sollten, sondern nur, daß<br />

Sie sich mit dem «Wer bin ich?» tiefer und tiefer ergründen sollten.<br />

Wenn Sie zur inneren Erkenntnis Ihres Wahren Wesens gelangen,<br />

werden Sie augenblicklich antworten können, ohne sich erst zu<br />

besinnen.<br />

Was ist das? (schlägt plötzlich mit dem Meisterstab auf die Tatami.)<br />

(Keine Antwort.)<br />

Forschen Sie weiter! Ihr Geist ist beinahe reif.<br />

Schülerin: Ich habe mich gefragt und gefragt: «Wer bin ich?», bis<br />

ich das Gefühl hatte, daß es auf diese Frage einfach keine Antwort<br />

gibt.<br />

Rôshi: Sie werden keine Wesenheit finden, die man «ich» nennt.<br />

Schülerin (hitzig): Warum stelle ich denn dann diese Frage?<br />

Rôshi: Weil Sie in Ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht anders können.<br />

Der gewöhnliche Mensch fragt immer und ewig: Warum? Was?<br />

Wer? Es gibt viele Kôans, bei denen ein Mönch fragt: «Was ist<br />

Buddha?» oder: «Warum kam BODHIDHARMA von Indien nach<br />

China?» <strong>Die</strong> Antwort <strong>des</strong> Meisters hat den Zweck, den verblendeten<br />

Geist <strong>des</strong> Mönchs aufzubrechen, auf daß er erkenne, daß seine Frage<br />

eine Abstraktion ist.<br />

Schülerin: Ich habe heute morgen während Ihrer Unterweisungen<br />

die Briefe von BASSUI 25 auf Englisch gelesen, wie Sie mir geraten<br />

haben. An einer Stelle sagt BASSUI: «Wer ist der Meister, der die<br />

Hände bewegt?»<br />

210


Rôshi: Es gibt keine wirkliche Antwort auf Wer? Was? Warum?<br />

Warum ist Zucker süß? Zucker ist Zucker. Zucker!<br />

Schülerin: Sie haben mir neulich gesagt: «Sie sind Sie!» Also gut, ich<br />

bin ich - ich akzeptiere das. Ist das denn nicht genug? Was brauche ich<br />

noch weiter zu tun? Warum muß ich weiter mit dieser Frage ringen?<br />

Rôshi: Weil dieses Verstehen für Sie etwas Äußerliches ist. Sie wissen<br />

gar nicht wirklich, was Sie mit dem «Ich bin ich» meinen. Sie müssen<br />

mit der Kraft einer Bombe gegen diese Frage anprallen, und all Ihre<br />

verstan<strong>des</strong>mäßigen Vorstellungen und Ideen müssen vernichtet werden.<br />

Das einzige Mittel, dieses Problem zu lösen, ist, zu der explosionsartigen<br />

inneren Erkenntnis zu kommen, daß alles (letzten En<strong>des</strong><br />

auf) Nichts (reduzierbar) ist. Wenn Sie es nur theoretisch verstehen,<br />

werden Sie immer und ewig fragen Wer? Was? Warum?<br />

Schülerin: Bei dem Fragen: «Wer bin ich?» bin ich zu der Folgerung<br />

gekommen, daß ich dieser Körper bin, d. h. diese Augen, diese Beine<br />

und so fort. Dabei ist mir klar, daß diese Teile nicht unabhängig von<br />

mir existieren. Wenn ich z. B. mein Auge herausnehmen und es hier vor<br />

mich hinlegen würde, so könnte es nicht als Auge funktionieren. Auch<br />

mein Bein könnte nicht als Bein wirken, wenn es von meinem Körper<br />

abgetrennt wäre. Zum Gehen braucht mein Bein nicht nur meinen<br />

Körper, sondern auch den Boden, ebenso wie mein Auge Dinge zum<br />

Wahrnehmen braucht, um den Sehvorgang zu vollziehen. Und weiter:<br />

Was meine Augen sehen und worauf meine Beine gehen, das ist Teil<br />

<strong>des</strong> Weltalls. Deshalb bin ich das Weltall. Stimmt das?<br />

Rôshi: Gewiß sind Sie das Weltall. Aber was Sie mir gerade gesagt<br />

haben, ist nur eine Abstraktion, eine bloße Rekonstruktion der Wirklichkeit,<br />

nicht die Wirklichkeit selbst. Sie müssen die Wirklichkeit<br />

unmittelbar erfassen.<br />

Schülerin: Aber wie soll ich das denn bloß tun?<br />

Rôshi: Einfach, indem Sie sich fragen: «Wer bin ich?», bis Sie jählings<br />

mit voller Klarheit und Sicherheit Ihres Wahren Wesens inne-<br />

25. Siehe S. 233 ff.<br />

211


werden. Denken Sie daran: Sie sind weder Ihr Körper noch Ihr Geist.<br />

Und Sie sind auch nicht Ihr Körper plus Ihr Geist. Also was sind<br />

Sie? Wenn Sie Ihr wirkliches Selbst erfassen wollen und nicht nur eine<br />

Fiktion, dann müssen Sie sich beharrlich mit unbedingter Hingabe<br />

fragen: «Wer bin ich?»<br />

Schülerin: Beim letzten Mal sagten Sie, daß ich nicht mein Geist und<br />

nicht mein Körper bin. Das verstehe ich nicht. Wenn ich keins von<br />

beidem bin, noch eine Kombination davon, was bin ich denn dann?<br />

Rôshi: Wenn Sie einen Durchschnittsmenschen fragen wollten, was er<br />

sei, so würde er sagen: «Mein Geist» oder «Mein Körper» oder «Mein<br />

Geist und mein Körper» - aber nichts davon stimmt. Wir sind mehr<br />

als unser Geist oder Körper oder bei<strong>des</strong>. Unser Wahres Wesen liegt<br />

jenseits aller Kategorien. Was immer Sie sich nur ausdenken oder vorstellen<br />

können, ist nur ein Bruchstück Ihrer selbst. Deshalb kann Ihr<br />

Wahres Selbst nicht durch logische Schlußfolgerungen, intellektuelle<br />

Analysen oder endlose Vermutungen gefunden werden.<br />

Wenn ich meine Hand oder mein Bein abschnitte, so würde mein<br />

Wahres Selbst um keinen Deut vermindert. Genau genommen, sind<br />

dieser Körper und Geist ebenfalls Sie, jedoch nur ein Bruchteil von<br />

Ihnen. <strong>Die</strong> Essenz Ihres Wahren Wesens ist von der dieses Stabes<br />

hier vor mir oder dieses Tisches oder dieser Uhr nicht verschieden -<br />

ja, von keinem einzigen Ding im ganzen Universum. Wenn Sie die<br />

Wahrheit <strong>des</strong>sen unmittelbar erleben, wird sie so überzeugend sein,<br />

daß Sie ausrufen werden: «Wie wahr!» Denn nicht nur Ihr Gehirn,<br />

sondern Ihr gesamtes Sein wird an diesem Wissen beteiligt sein.<br />

Schülerin (plötzlich in Tränen ausbrechend): Aber ich fürchte mich!<br />

Ich fürchte mich so! Ich weiß nicht, warum, aber ich fürchte mich so!<br />

Rôshi: Es gibt nichts zu fürchten. Gehen Sie einfach mit der Frage<br />

immer und immer tiefer, bis all Ihre vorgefaßten Meinungen über<br />

das, was oder wer Sie sind, verschwinden, und Sie werden augenblicklich<br />

erkennen, daß das gesamte Weltall nichts anderes ist als Sie.<br />

Sie sind in einem entscheidenden Stadium. Weichen Sie nicht zurück<br />

- dringen Sie weiter vor!<br />

212


Schülerin: Sie haben kürzlich gesagt, daß ich nicht mein Körper und<br />

nicht mein Geist bin. Ich habe mich immer als Körper und Geist<br />

angesehen. Es erfüllt mich mit Schrecken, mir etwas anderes vorzustellen.<br />

Rôshi: Es stimmt, daß die Mehrzahl der Menschen sich für Körper<br />

und Geist hält, aber <strong>des</strong>halb sind sie nicht weniger im Irrtum. Es steht<br />

fest, daß alle Geschöpfe ihrer Wesens-Essenz nach ihren Körper und<br />

Geist, die nicht zwei, sondern eins sind, überragen. Der Grund für die<br />

Leiden der Menschen liegt darin, daß es ihnen nicht gelingt, diese<br />

Grund-Wahrheit einzusehen.<br />

Wie ich heute morgen in den Darlegungen sagte, ist der Mensch<br />

immer auf der Suche und am Erraffen. Warum? Er will die Welt<br />

erraffen, weil er sich intuitiv danach sehnt, sich mit dem, dem er sich<br />

aus Verblendung entfremdet hat, wieder zu vereinen. Infolge dieser<br />

Entfremdung sehen wir, daß der Starke den Schwachen überwältigt<br />

und der Schwache die Versklavung als Alternative <strong>des</strong> To<strong>des</strong> hinnimmt.<br />

Wenn die Menschen aber nicht verblendet sind, so fühlen sie<br />

sich naturgemäß zueinander hingezogen. <strong>Die</strong> Menschen von starkem<br />

Charakter möchten die Schwachen beschützen, während die Schwachen<br />

sich danach sehnen, von ihnen umsorgt zu werden. So haben wir<br />

den Buddha, der uns, die wir schwach sind, in seiner geistigen Machtfülle<br />

umfängt, und wir verneigen uns vor ihm in dankbarer Annahme<br />

seines überwältigenden Erbarmens. Wie bei einer Mutter, die ihr kleines<br />

Kind liebkost, gibt es auch hier keine Isolierung, nur Harmonie<br />

und Einssein. Alles in der Natur sucht diese Einheit. Wenn Sie eine<br />

Lotus-Schote sorgfältig beobachten, werden Sie sehen, daß die Regenoder<br />

Tautropfen, wenn sie über die kleinen Kammhaare fließen, in<br />

eins verfließen.<br />

Da wir uns aber der Verblendung hingeben, das Ich als Wirklichkeit<br />

anzusehen, sind Entfremdung und Hader die unausweichliche Folge.<br />

In seiner Erleuchtung erschaute der Buddha, daß das Ich dem<br />

ursprünglichen Wesen <strong>des</strong> Menschen nicht immanent ist. Bei voller<br />

Erleuchtung erkennen wir, daß wir das Weltall besitzen; warum also<br />

etwas erraffen wollen, was unser Eigen ist?<br />

Wenn Sie die Wahrheit <strong>des</strong>sen, was ich gesagt habe, erleben wollen,<br />

213


auchen Sie sich nur weiterhin beharrlich zu fragen: «Wer bin ich?»<br />

Schülerin: Vielen Dank für Ihre ausführliche Erklärung.<br />

Schülerin: Mit meinen Augen ist etwas merkwürdig. Es fühlt sich an,<br />

als sähen sie nicht nach außen, sondern nach innen und fragten: «Wer<br />

bin ich?»<br />

Rôshi: Ausgezeichnet!<br />

(Plötzlich) Wer sind Sie?<br />

(Keine Antwort.)<br />

Sie sind Sie! Ich bin ich!<br />

Es gibt im Hekigan-roku ein Kôan, bei dem ein Mönch namens<br />

ETCHÔ fragt: «Was ist der Buddha?» und der Meister antwortet:<br />

«Du bist ETCHÔ 26 .»<br />

Begreifen Sie?<br />

(Keine Antwort.)<br />

Sie müssen sich <strong>des</strong>sen unmittelbar bemächtigen. Sie kommen näher.<br />

Konzentrieren Sie sich so stark wie möglich.<br />

Schülerin: Ich hatte verschiedene Fragen, aber mir ist nicht danach<br />

zumute, sie zu stellen.<br />

Rôshi: Gut! Wenn es nichts gibt, was Sie beunruhigt oder um das Sie<br />

sich Sorgen machen, dann ist es besser, keine Fragen zu stellen, denn<br />

ihrer ist kein Ende. Sie führen Sie weiter und weiter von Ihrem Selbst<br />

weg, wohingegen die Frage «Wer bin ich?» Sie zu dem strahlenden<br />

Kern Ihres Wesens bringt.<br />

Schülerin: Augenblicklich beunruhigt mich nichts.<br />

Rôshi: Trennen Sie sich nicht von «Wer bin ich?». Alle Fragen werden<br />

sich von selbst beantworten, wenn Sie erst Ihr Wahres Wesen<br />

schauend erkennen.<br />

26. Siehe Bi-Yän-Lu (japanisch: Hekigan-roku), aus dem Chinesischen übersetzt<br />

von WILHELM GUNDERT, Carl Hanser Verlag, München, 1960. Siebentes Beispiel,<br />

S. 166 ff.<br />

214


Rôshi: Möchten Sie etwas sagen?<br />

Schülerin: Nein, aber würden Sie mir bitte durch den Dolmetscher<br />

sagen lassen, was Sie heute früh um halb fünf gesagt haben, als Sie zu<br />

allen Sitzenden gesprochen haben?<br />

Rôshi: Im wesentlichen habe ich folgen<strong>des</strong> gesagt: Der Mensch bildet<br />

sich ein, das höchst entwickelte Lebewesen zu sein, aber vom Standpunkt<br />

<strong>des</strong> Buddhismus aus steht er in der Mitte zwischen einer Amöbe<br />

und einem Buddha. Und da er sich irrigerweise für nicht mehr als<br />

diesen kümmerlichen Körper hält 27 , einen bloßen Tupfen im Weltall,<br />

ist er beständig bestrebt, sich durch Besitztümer und Macht auszuweiten.<br />

Wenn er aber zu der Tatsache erwacht, daß er das ganze<br />

Weltall umfaßt, hört er auf zu raffen, da er in sich selbst nicht länger<br />

einen Mangel verspürt. Im Lotus-Sûtra berichtet der Buddha, daß<br />

er bei seiner Erleuchtung innewurde, daß er das Weltall besitze, daß<br />

alle Geschöpfe seine Kinder seien und daß er nicht mehr brauche als<br />

seine Bettelschale. So war er wahrlich der reichste Mensch der Welt.<br />

Solange Sie sich noch für diesen kleinen Körper halten, werden Sie<br />

rastlos und unzufrieden sein. Wenn Sie aber durch Erleuchtung tatsächlich<br />

erfahren, daß das Weltall mit Ihnen identisch ist, werden Sie<br />

dauernden Frieden finden.<br />

Schülerin: Ehe ich mit den <strong>Zen</strong>-Übungen begonnen habe, hatte ich<br />

dauernd versucht, Besitz zu erwerben, aber jetzt ersehne ich nur<br />

inneren Frieden.<br />

Rôshi: Und das ist schließlich das Einzige, was wert ist, erlangt zu<br />

werden. Wahrer Friede, wahre Freude können nur durch Erleuchtung<br />

gefunden werden; tun Sie also Ihr Äußerstes.<br />

Schülerin: Sie haben mir gesagt, daß jemand, der Erleuchtung findet<br />

und gewahr wird, daß er das ganze Weltall ist, aufhört, nach Dingen<br />

27. Siehe auch die oft zitierten Worte <strong>des</strong> Buddha: «Wahrlich ich sage euch, daß<br />

eben in diesem Körper, sterblich wie er ist und nur einen Klafter groß, aber bewußt<br />

und mit Geist begabt, die Welt ist und ihr Werden und ihr Vergehen und der Weg<br />

ihres Dahinscheidens.» Anguttara Nikaya II, Samyutta-Nikaya I, zitiert von<br />

Lama ANAGARIKA GOVINDA in Foundations of Tibetan Mysticism, Rider & Co.,<br />

London 1962, S. 66. In der deutschen Fassung nicht enthalten.<br />

215


zu haschen. Also, ich habe mit Menschen zusammengelebt, die Erleuchtung<br />

gefunden hatten. Anstatt aber weniger gierig, selbstsüchtig und<br />

egoistisch zu werden, werden sie es manchmal nur noch mehr. Wenn<br />

das bei der Erleuchtung herauskommt, dann will ich sie nicht!<br />

Rôshi: Bei der ersten Erleuchtung ist die Erkenntnis <strong>des</strong> Einsseins<br />

gewöhnlich nicht tief. Wenn aber jemand zu echter Schau kam, wenn<br />

auch nur zu einer undeutlichen, und dann fünf oder zehn weitere<br />

Jahre hingebungsvoll weiterübt, wird seine innere Schau an Tiefe<br />

und Großartigkeit zunehmen und sein Charakter an Schmiegsamkeit<br />

und Reinheit gewinnen.<br />

Man kann von jemandem, <strong>des</strong>sen Handlungen noch vom Ich beherrscht<br />

werden, nicht sagen, daß er gültige Erleuchtung gefunden<br />

hat. Ein echtes Erlebnis enthüllt nicht allein unsere Unzulänglichkeiten,<br />

sondern erweckt auch den Entschluß, sie zu beseitigen.<br />

Schülerin: Aber der Buddha übte nach seiner Erleuchtung nicht<br />

dauernd, nicht wahr?<br />

Rôshi: Seine Übung war sein unaufhörliches Lehren und Predigen.<br />

Der Buddha ist einzigartig. Er war lange, ehe er in diese Welt geboren<br />

wurde, erleuchtet. Er kam, um uns, die wir unwissend sind, zu lehren,<br />

wie wir Erleuchtung finden, weise leben und in Frieden sterben können.<br />

Er unterzog sich verschiedener Askesen, nicht weil er das nötig<br />

hatte, sondern um uns anschaulich zu zeigen, daß die Abtötung <strong>des</strong><br />

Fleisches nicht der wahre Weg zur Befreiung ist. Er wurde geboren,<br />

lebte und starb in dieser Welt, einzig um der ganzen Menschheit ein<br />

Beispiel zu geben 28 .<br />

Schülerin: Aber brauchen wir gewöhnlichen Menschen nicht Selbstzucht?<br />

28. Siehe auch: «Im Lotus-Sûtra (Ch. XV und XVI) stellt der Buddha in Beantwortung<br />

einer zweifelnden Frage <strong>des</strong> Bodhisattva Maitreya fest: ,<strong>Die</strong> Welt meint,<br />

daß Prinz SHAKYAMUNI, nachdem er das Haus der SHAKYA verlassen hatte, zu<br />

höchster Erleuchtung gelangte.' <strong>Die</strong> Wahrheit aber ist, daß ich vor vielen hunderttausend<br />

Myriaden von kotis von Äonen zu vollkommener Erleuchtung gelangte . ..<br />

Dem Tathâgata, der vor so langer Zeit vollkommen erleuchtet war, ist keine Grenze<br />

der Lebensdauer gesetzt, da er ewig ist. Niemals dahingeschieden, gibt er zum<br />

Heil jener, die er zur Erlösung führt, das Schauspiel <strong>des</strong> Dahinscheidens.» Zitiert<br />

in Honen the Buddhist Samt, von COATES und ISHIZUKA, Chion-In, Kyoto, 1925,<br />

S. 98.<br />

216


Rôshi: Natürlich brauchen wir das. Selbstzucht besteht im Halten<br />

der Gebote, und das ist die Grundlage von Zazen. Zudem ist Genußsucht<br />

- also übermäßiges Essen, Schlafen und so fort - genau so<br />

schlecht wie Selbstquälerei. Bei<strong>des</strong> entspringt dem Ich und versetzt<br />

<strong>des</strong>halb die Seele in Unruhe. So sind sie gleichermaßen ein Hindernis<br />

auf dem Weg zur Erleuchtung.<br />

Schülerin: Obgleich ich mein Wahres Wesen noch nicht aus Erfahrung<br />

kenne, bin ich mir meiner Unzulänglichkeiten doch bewußt und<br />

entschlossen, sie los zu werden. Wie ist das möglich?<br />

Rôshi: Lassen Sie mich auf das zurückgreifen, was Sie vorhin über<br />

Ihr Zusammenleben mit Menschen gesagt haben, die ihr Selbst<br />

erkannt hatten und dennoch selbstsüchtig und hochmütig erschienen.<br />

Solche Leute üben gewöhnlich nach Kenshô nicht mehr hingebungsvoll,<br />

obgleich es so scheinen mag. Sie schieben eine gewisse Anzahl<br />

von Stunden für Zazen ein, aber das ist nur Formsache. Wenn wir es<br />

in Prozenten angeben, beträgt ihre Beteiligung ungefähr zwanzig bis<br />

<strong>drei</strong>ßig Prozent. Infolge<strong>des</strong>sen umwölkt sich allmählich ihre Erleuchtung,<br />

und mit der Zeit wird ihnen ihr Erlebnis zur bloßen Erinnerung.<br />

Andererseits werden jene, die sich hundertprozentig auf Zazen<br />

werfen, äußerst feinfühlig ihren Unzulänglichkeiten gegenüber und<br />

entwickeln die Stärke und Entschlußkraft, darüber zu triumphieren,<br />

obgleich sie noch nicht erleuchtet sind.<br />

Schülerin: Ich bin heute früh etwas reizbar. Es regt mich auf, wenn<br />

ich den Stock höre.<br />

Rôshi: Haben Sie die ganze Nacht hindurch Zazen geübt?<br />

Schülerin: Ich bin bis zwei Uhr aufgeblieben; aber ich bin nicht müde.<br />

Rôshi: Viele denken, daß wirksames Zazen nicht möglich sei, wenn<br />

man müde ist. Aber das ist eine falsche Vorstellung. Wenn Sie müde<br />

sind, so ist es auch Ihr «Feind» - d. h. der Geist der Unwissenheit -,<br />

und wenn Sie voller Energie sind, so ist er es auch. In Wirklichkeit<br />

sind es nicht zwei.<br />

Schülerin: Würden Sie mir bitte durch den Dolmetscher sagen lassen,<br />

worüber Sie heute früh bei den Unterweisungen gesprochen haben?<br />

217


Rôshi: Im wesentlichen habe ich folgen<strong>des</strong> gesagt: Es sind jetzt noch<br />

fünf bis sechs Stunden Zeit bis zum Ende <strong>des</strong> Sesshin. Sie brauchen<br />

sich keine Sorgen zu machen, daß das für eine Erleuchtung nicht<br />

mehr ausreichte - im Gegenteil, es ist mehr als genug. Kenshô braucht<br />

nur eine Minute - ja, sogar nur einen Augenblick!<br />

Wenn wir den Vergleich mit einer Schlacht heranziehen, so haben Sie<br />

heute nacht den Feind im Nahkampf angegriffen und auf jede nur<br />

erdenkliche Art gekämpft. Jetzt kommt der letzte Angriff, das letzte<br />

Ausräumen der Widerstandsnester. Sie brauchen jedoch nicht zu denken,<br />

daß es zur Erleuchtung unerläßlich ist, sich abzuplagen. Sie<br />

müssen sich einzig und allein von der trügerischen Vorstellung eines<br />

«Selbst» und «Anderes» leer machen.<br />

Viele sind dadurch zur Wesensschau gekommen, daß sie das Klingeln<br />

einer Glocke oder irgendeinen anderen Ton hörten. Gemeinhin denken<br />

Sie bewußt oder unbewußt beim Hören eines Glockentons: «Ich<br />

höre eine Glocke.» Drei Dinge sind beteiligt: ich, eine Glocke und<br />

Hören. Wenn aber der Geist reif ist, d. h. so frei von diskursivem<br />

Denken, wie ein reines, weißes Blatt Papier frei von jedem Makel ist,<br />

dann gibt es nur den Ton der erklingenden Glocke. Das ist Kenshô.<br />

Schülerin: Wenn ich auf Töne horchte, habe ich mich gefragt: «Wer<br />

horcht?» Ist das falsch?<br />

Rôshi: Ich verstehe Ihr Problem. Wenn Sie sich fragen: «Wer<br />

horcht?», sind Sie sich einmal der Frage und zudem noch <strong>des</strong> Klanges<br />

bewußt. Wenn die Fragestellung tiefer dringt, hören Sie auf, sich<br />

<strong>des</strong>sen bewußt zu sein. Wenn dann eine Glocke läutet, gibt es nur die<br />

Glocke, die auf den Klang der Glocke horcht. Oder anders ausgedrückt:<br />

Sie erklingen selbst in diesem Ton. Das ist der Augenblick<br />

der Erleuchtung.<br />

Betrachten Sie diese Blumen in der Schale auf dem Tisch. Sie sehen<br />

sie an und rufen aus: «Ach, wie schön sind diese Blumen!» Das ist eine<br />

Art zu sehen. Wenn Sie sie aber nicht von sich getrennt sehen, sondern<br />

als Teil von sich selbst, dann sind Sie erleuchtet.<br />

Schülerin: Es fällt mir schwer, das zu verstehen.<br />

Rôshi: Es ist nicht schwer, es rein intellektuell zu verstehen. Wenn<br />

man die vorangegangenen Erklärungen hört, kann man wahrheitsge-<br />

218


mäß sagen: «Ja, ich verstehe.» Aber solch ein Verstehen ist lediglich<br />

ein intellektuelles Anerkennen und etwas ganz anderes als die Erfahrung<br />

aus der Erleuchtung heraus, durch die Sie die Blumen unmittelbar<br />

als sich selbst erleben.<br />

Aber es ist besser, wenn ich jetzt nicht mehr sage, sonst werden diese<br />

Erklärungen Ihnen zum Hindernis. Gehen Sie auf Ihren Platz zurück,<br />

und konzentrieren Sie sich intensiv auf ihr Kôan.<br />

Rôshi: Möchten Sie etwas sagen?<br />

Schülerin: Ja. Beim letzten Mal gebrauchten Sie Ausdrücke wie<br />

«Feind» und «Schlacht». Das verstehe ich nicht. Wer ist mein Feind,<br />

und was für eine Schlacht ist das?<br />

Rôshi: Ihr Feind ist ihr begriffliches Denken, das Sie dazu führt, sich<br />

selbst diesseits einer imaginären Grenze, im Unterschied zu etwas auf<br />

der anderen Seite dieser nicht vorhandenen Linie, das nicht Sie sind,<br />

zu sehen. Oder in Worten ausgedrückt, die Ihnen sinnvoller erscheinen<br />

mögen: Ihr Feind ist Ihr eigenes persönliches Ich. Wenn Sie aufgehört<br />

haben werden, sich selbst als abgelöste Individualität anzusehen<br />

und das Einssein allen Daseins schauend erkannt haben, dann<br />

haben Sie Ihrem Ich einen tödlichen Schlag versetzt.<br />

Das Ende <strong>des</strong> Sesshin nähert sich. Lassen Sie nicht locker!<br />

219


Viertes Kapitel<br />

Bassuis Dharma-Worte<br />

und Briefe an seine<br />

Schüler<br />

Einführung<br />

Gegen Ende der Kamakura-Zeit, jener von Kämpfen zerrissenen, von<br />

Ängsten beherrschten Periode der japanischen Geschichte, die so viele<br />

bemerkenswerte religiöse Gestalten hervorgebracht hat, wurde im<br />

Jahr 1327 der Rinzai-Meister BASSUI TOKUSHÔ geboren. Seine Mutter<br />

hatte eine Vision, daß das Kind, das sie trug, eines Tages ein<br />

Unhold werden und seine beiden Eltern erschlagen würde, und so<br />

setzte sie ihn nach seiner Geburt in einem Feld aus, wo ein <strong>Die</strong>ner der<br />

Familie ihn fand. Er rettete ihn und zog ihn auf.<br />

Als BASSUI sieben Jahre alt war, begann sich sein empfänglicher religiöser<br />

Sinn zu zeigen. Bei einer Gedenkfeier für seinen toten Vater<br />

fragte er plötzlich den zelebrierenden Priester: «Für wen sind diese<br />

Opfergaben an Reis und Kuchen und Früchten?» «Für deinen Vater<br />

natürlich», erwiderte der Priester. «Aber Vater hat jetzt keine Gestalt<br />

und keinen Körper mehr 1 , wie kann er das denn essen?» Darauf antwortete<br />

der Priester: «Obgleich er keinen sichtbaren Körper hat, wird<br />

doch seine Seele diese Opfergaben empfangen.» «Wenn es so etwas<br />

wie eine Seele gibt», drängte das Kind weiter, «dann muß auch ich<br />

eine in meinem Körper haben. Wie sieht sie aus?»<br />

Freilich sind das keine ungewöhnlichen Fragen für ein nachdenkliches,<br />

feinfühliges Kind von sieben Jahren. Für BASSUI waren sie<br />

jedoch nur der Beginn seiner intensiven, unermüdlichen Selbst-Erfor-<br />

1. In Japan werden die Toten gewöhnlich verbrannt.<br />

221


schung, die sich bis ins höhere Mannesalter fortsetzte - ja, bis er volle<br />

Erleuchtung erlangt hatte. Sogar beim Spielen mit anderen Kindern<br />

war er niemals frei vom Gefühl der Ungewißheit im Hinblick auf die<br />

Existenz einer Seele.<br />

Natürlich kam ihm dadurch, daß er ganz von der Beschäftigung<br />

mit der Seele ausgefüllt war, der Gedanke an die Hölle. In qualvoller<br />

Angst rief er oft aus: «Wie schrecklich, von den Flammen<br />

der Hölle verzehrt zu werden!» und die Tränen kamen ihm. Er<br />

berichtet, daß er mit zehn Jahren oft aufgeweckt wurde durch ein<br />

Aufflammen strahlenden Lichts, das seinen Raum erfüllte, und dem<br />

eine alles einhüllende Dunkelheit folgte. Voll ängstlichen Eifers<br />

suchte er nach irgendeiner Erklärung für diese seltsamen Vorkommnisse,<br />

aber die Antworten, die er erhielt, milderten seine Furcht<br />

kaum.<br />

Wieder und wieder fragte er sich: «Wenn die Seele nach dem Tode die<br />

Qualen der Hölle erleidet oder sich der Wonne <strong>des</strong> Paradieses erfreut,<br />

was ist denn dann das Wesen dieser Seele? Und wenn es keine Seele<br />

gibt, was ist denn das da in mir, das in eben diesem Augenblick sieht<br />

und hört?»<br />

Sein Biograph 2 berichtet, daß BASSUI oft stundenlang über dieser<br />

Frage brütete, in solch völliger Selbstvergessenheit, daß er nicht<br />

mehr wußte, daß er einen Körper und einen Geist hatte. Bei solcher<br />

Gelegenheit - es wird uns nicht gesagt, in welchem Alter - erkannte<br />

BASSUI plötzlich unmittelbar, daß das Substrat aller Dinge eine<br />

fruchtbare Leere ist und daß es im Grunde nichts gibt, was man Seele,<br />

Körper oder Geist nennen kann. <strong>Die</strong>se intuitive Erkenntnis ließ ihn in<br />

tiefes Lachen ausbrechen, und er fühlte sich nicht mehr von seinem<br />

Körper und Geist bedrückt.<br />

In dem Bestreben zu erfahren, ob das echtes Satori war, fragte BASSUI<br />

eine Anzahl wohlbekannter Priester, aber keiner konnte ihm eine<br />

zufriedenstellende Antwort geben. «Wenigstens», so sagte er sich,<br />

«habe ich keinen Zweifel mehr an der Wahrheit <strong>des</strong> Dharma.» Aber<br />

2. Ein gewisser MYÔDÔ, Schüler BassuiS, der im To<strong>des</strong>jahr BASSUIS, 1387, am 5.<br />

Mai diese Biographie veröffentlichte. <strong>Die</strong>se Einführung stützt sich auf den Inhalt<br />

dieser Schrift.<br />

222


seine tiefste Verwirrung hinsichtlich <strong>des</strong>sen, der sieht und hört, war<br />

noch nicht beseitigt. Und als er in einem volkstümlichen Buch las:<br />

«Geist ist Wirt und Körper Gast», lebten all seine stummen Zweifel<br />

plötzlich wieder auf. «Ich habe gesehen, daß die Grundlage <strong>des</strong> Weltalls<br />

Leere ist; doch was ist dieses Etwas in mir, das sehen und hören<br />

kann?» fragte er sich verzweifelt von neuem. Trotz aller Anstrengungen<br />

konnte er diesen Zweifel nicht loswerden.<br />

BASSUI war nominell ein Samurai, da er in einer Samurai-Familie<br />

geboren worden war. Sein Biograph verrät nicht, ob er tatsächlich<br />

den Pflichten eines Samurai nachgekommen ist. Aber man kann mit<br />

Sicherheit annehmen, daß BASSUIS dauernde Suche nach <strong>Zen</strong>-Meistern<br />

ihm wenig Gelegenheit für das Leben eines Samurai und vermutlich<br />

ebensowenig Geschmack daran gegeben hat.<br />

Auf jeden Fall wissen wir, daß BASSUI sich mit neunundzwanzig Jahren<br />

den Kopf scheren ließ, was seine Aufnahme ins buddhistische<br />

Mönchstum symbolisiert. Mit den zeremoniellen Riten eines Mönchs<br />

und Priesters konnte er jedoch wenig anfangen. Er meinte vielmehr,<br />

daß ein Mönch ein einfaches Leben führen sollte, ganz dem Streben<br />

hingegeben, höchste Wahrheit zu finden, auf daß er andere zur<br />

Befreiung führen könne, und daß er sich nicht an Zeremonien und<br />

luxuriösem Leben beteiligen solle, ganz zu schweigen von den politischen<br />

Intrigen, denen die Priesterschaft seiner Tage nur allzu sehr<br />

geneigt war. Auf seinen zahlreichen Pilgerfahrten weigerte er sich<br />

hartnäckig, auch nur über Nacht in einem Tempel zu bleiben, und<br />

bestand darauf, daß er in einer abgelegenen Hütte hoch oben in den<br />

Bergen oder auf einem Hügel übernachten wolle, wo er Stunde um<br />

Stunde abseits von den Zerstreuungen <strong>des</strong> Tempellebens Zazen zu<br />

üben pflegte. Um wach zu bleiben, kletterte er oft auf einen Baum,<br />

setzte sich in den Zweigen zurecht und sann bis spät in die Nacht<br />

über sein natürliches Kôan «Wer ist der Meister?» nach, unempfindlich<br />

gegen Wind und Regen. Am Morgen ging er dann, buchstäblich<br />

ohne Schlaf und Essen, zum Tempel oder Kloster, um Dokusan beim<br />

Meister zu erhalten.<br />

BASSUIS Widerwille gegen all das Zeremonientum der Tempel war<br />

so stark, daß er viele Jahre später, nachdem er Meister <strong>des</strong> Kôga-<br />

223


ku-ji 3 geworden war, auf der Bezeichnung Kôgaku-an bestand, wobei<br />

das Suffix an «Einsiedelei» bedeutet, im Gegensatz zu dem großartigen<br />

ji, das «Tempel» oder «Kloster» heißt.<br />

Im Laufe seiner Wanderfahrten um geistiger Dinge willen traf BASSUI<br />

schließlich jenen <strong>Zen</strong>-Meister, durch den sein Geistiges Auge vollständig<br />

geöffnet werden sollte: KOHÔ <strong>Zen</strong>ji, ein großer <strong>Zen</strong>-Rôshi seiner<br />

Zeit. <strong>Die</strong> geringeren Meister, bei denen BASSUI Anleitung gesucht<br />

hatte, hatten alle seine Erleuchtung bestätigt. KOHÔ aber, der die<br />

Schärfe und Sensibilität von BASSUIS Geist und die Stärke und Reinheit<br />

seines Verlangens nach Wahrheit spürte, gab ihm nicht das Siegel<br />

der Bestätigung, sondern forderte ihn nur auf zu bleiben. BASSUI seinerseits<br />

erkannte in KOHÔ einen bedeutenden Rôshi, lehnte es aber<br />

ab, im Tempel zu bleiben; er erwählte für die nächsten Monate eine<br />

einsame Hütte in den nahen Hügeln zum Aufenthalt und kam jeden<br />

Tag, um KOHÔ zu sprechen.<br />

Eines Tages fragte KOHÔ, der die Reife von BASSUIS Geist spürte:<br />

«Sag mir, was ist JÔSHÛS Mu?» BASSUI antwortete mit einem Vers:<br />

«Berge und Flüsse,<br />

Gräser und Bäume<br />

Offenbaren gleichermaßen Mu.»<br />

KOHÔ erwiderte: «Deine Antwort zeigt Spuren von Selbstbewußtsein.»<br />

Urplötzlich, so berichtet der Biograph, hatte BASSUI das Gefühl, als<br />

hätte er «seines Lebens Wurzel verloren, einem Faß gleich, dem der<br />

Boden ausgeschlagen war». In Strömen floß ihm der Schweiß aus<br />

jeder Pore seines Körpers, und als er KOHÔS Raum verließ, war er in<br />

solcher Betäubung, daß er bei dem Versuch, das äußere Tempeltor zu<br />

finden, mehrmals mit dem Kopf an die Mauern stieß. Als er in seiner<br />

Hütte angekommen war, weinte er stundenlang aus tiefstem Innern.<br />

<strong>Die</strong> Tränen strömten ihm nur so und «rannen wie Regen an seinem<br />

Gesicht herab». Es wird uns berichtet, daß BASSUIS vorherige Begriffe<br />

3. Wörtlich: «Dem Berge zugewandtes Kloster», also dem Fujiyama. Der Fujiyama<br />

ist ein Symbol für Wahren Geist; so bedeutet Kôgaku-ji auch die Auseinandersetzung<br />

mit dem eigenen Wahren Geist.<br />

224


und Glaubensanschauungen durch den Feuerbrand seines überwältigenden<br />

Erlebnisses völlig vernichtet wurden.<br />

Am nächsten Abend kam BASSUI zu KOHÔ, um ihm zu erzählen, was<br />

geschehen war. Er hatte kaum den Mund geöffnet, als KOHÔ, der<br />

schon daran verzweifelt war, je einen echten Nachfolger unter seinen<br />

Mönchen zu finden, in einer Art, als wendete er sich an alle seine<br />

Anhänger, erklärte:<br />

«Mein Dharma wird nicht vergehen. Nun mögen sich alle glücklich schätzen.<br />

Mein Dharma wird nicht verloren gehen.»<br />

KOHÔ erteilte seinem Schüler in aller Form Inka, Siegel der Bestätigung,<br />

und gab ihm den <strong>Zen</strong>-Namen «BASSUI», also «Hoch-über-dem<br />

Durchschnitt». BASSUI blieb noch zwei Monate in KOHÔS Nähe und<br />

erhielt seine Unterweisung und Führung. Aber BASSUI, der einen starken,<br />

unabhängigen Charakter hatte, wünschte, sein tiefgreifen<strong>des</strong><br />

Erlebnis durch «Dharma-Gefechte» mit befähigten Meistern ausreifen<br />

zu lassen, um auf diese Weise sein Erlebnis seinem Bewußtsein und<br />

jeder seiner Handlungen einzuverleiben und um die Fähigkeit zu entwickeln,<br />

andere zu lehren. So verließ er KOHÔ und setzte sein abgesondertes<br />

Leben in Wäldern, Hügeln und Bergen nicht weitab von<br />

Tempeln berühmter Meister fort. Wenn er sie nicht in «Dharma-<br />

Gefechte» verwickelte, übte er weiter stundenlang hintereinander<br />

Zazen.<br />

Wo immer er sich aufhielt, entdeckten eifrige Sucher schnell seinen<br />

Aufenthalt und suchten seine Belehrung. Da er aber das Gefühl hatte,<br />

daß es ihm an jener Geistesstärke mangle, wie sie erforderlich ist, um<br />

andere zur Befreiung zu führen, widersetzte er sich ihren Bemühungen,<br />

ihn zu ihrem Lehrer zu machen. Wenn ihm ihre dringenden Bitten<br />

lästig wurden, nahm er seine bescheidene Habe und verschwand<br />

in der Nacht. Von den inständigen Bitten seiner Möchte-gern-Scbüler<br />

abgesehen, beschränkte er seinen Aufenthalt an jedem Ort sowieso<br />

auf kurze Zeit, damit er ihn nicht liebgewänne.<br />

Schließlich baute sich BASSUI - jetzt fünfzig Jahre alt - tief im<br />

Gebirge eine Hütte, unweit der Stadt Enzan im Yamanashi-Bezirk.<br />

Und wie es zuvor geschehen war, so verbreitete sich auch hier in den<br />

225


nahegelegenen Dörfern schnell die Kunde von der Anwesenheit eines<br />

Bodhisattva in den Bergen; und die Sucher begannen, sich buchstäblich<br />

einen Pfad zu seiner Hütte zu schlagen. Nun, da seine Erleuchtung<br />

ausgereift war und er spürte, daß er andere zur Befreiung führen<br />

konnte, wandte er sich nicht mehr von diesen Suchern ab, sondern<br />

nahm bereitwillig alle auf, die kamen. Bald wurde daraus eine<br />

stattliche Schar, und als der Gouverneur der Provinz anbot, Grund<br />

und Boden für ein Kloster zu stiften, und BASSUIS Anhänger sich<br />

erboten, es zu bauen, erklärte er sich einverstanden, <strong>des</strong>sen Rôshi zu<br />

werden.<br />

Obgleich BASSUI eine Abneigung gegen die Bezeichnungen «Tempel»<br />

und «Kloster» hatte, konnte man Kôgaku-ji in seiner Blütezeit mit<br />

mehr als tausend Mönchen und Laien-Anhängern kaum als Einsiedelei<br />

bezeichnen. BASSUI war ein strenger Zuchtmeister. Von den <strong>drei</strong>und<strong>drei</strong>ßig<br />

Regeln, die er für das Verhalten seiner Schüler aufstellte, verbot<br />

die erste interessanterweise das Genießen von Alkohol in jeglicher<br />

Form.<br />

Kurz ehe BASSUI im Alter von sechzig Jahren dahinging, setzte er sich<br />

aufrecht in Lotushaltung hin und sagte zu denen, die um ihn versammelt<br />

waren:<br />

«Laßt euch nicht irreführen! Schaut genau her! Was ist das?»<br />

Er wiederholte das laut und starb ruhig.<br />

<strong>Die</strong> Lehrmethoden je<strong>des</strong> großen Meisters erwachsen unvermeidlich<br />

aus seiner Persönlichkeit, aus der Weise, wie er sein eigenes geistiges<br />

Problem erlebte, und aus der Art <strong>des</strong> Zazen, die seiner Erleuchtung<br />

zum Leben verhalf. Für DÔGEN, <strong>des</strong>sen religiöses Ringen auf ein<br />

völlig anderes Problem als das BASSUIS gerichtet war und zu <strong>des</strong>sen<br />

Großem Erwachen es ohne Kôan kam, wurde Shikantaza zum Hauptmittel<br />

der Unterweisung. BASSUIS natürliches Kôan war hingegen:<br />

«Wer ist der Meister 4 ?» Und <strong>des</strong>halb drängte er seine Schüler, diese<br />

4. Das japanische Wort, das wir als «Meister» wiedergegeben haben, lautet sbujinkô<br />

(oder nushi). Shujin bedeutet Gatte (d. h. Hausherr), Inhaber, Wirt und Arbeitgeber.<br />

Kô ist eine Bezeichnung, die große Achtung ausdrückt; man benutzte sie im<br />

alten Japan bei der Anrede eines Fürsten. In diesem Sinne bedeutet «Meister»<br />

den Obersten, den Mittelpunkt der Macht, die lenkende Gewalt.<br />

226


Art <strong>des</strong> Zazen anzuwenden, wie wir in den nachstehenden Briefen<br />

sehen werden. Da BASSUI zudem ebenso wie DÔGEN sein tiefes inneres<br />

Verlangen nach Befreiung durch wenig tiefe Erleuchtung nicht voll<br />

hatte stillen können, ist das Ziel, das er in diesen Briefen setzt, nichts<br />

Geringeres als volle Erleuchtung.<br />

BASSUI war kein fruchtbarer Schreiber. Außer den Dharma-Worten<br />

und diesen Briefen schrieb er ein einziges umfangreiches Werk,<br />

Wadeigassui betitelt, in dem die Grundbegriffe und Übungsweisen <strong>des</strong><br />

<strong>Zen</strong>-Buddhismus dargelegt werden, und außerdem noch ein kleines<br />

Buch. Es ist nicht bekannt, zu welcher Zeit genau BASSUI die Dharma-<br />

Worte und die Briefe geschrieben hat, da nichts ein Datum trägt. Sie<br />

sind vermutlich aber geschrieben worden, als er schon Meister <strong>des</strong><br />

Kôgaku-ji war. Offenbar waren die Briefschreiber seine Schüler, und<br />

sie waren entweder zu krank oder lebten zu weit entfernt, als daß sie<br />

zu Sesshin und Dokusan zum Kôgaku-ji hätten kommen können. Nur<br />

solch «mildernde Umstände» und die offenbare Inbrunst und Aufrichtigkeit<br />

seiner Briefpartner konnten BASSUI dazu bringen, sie brieflich<br />

zu belehren, anstatt mittels der traditionellen Methoden.<br />

Einige Briefe bringen zwar Wiederholungen, aber das ist unvermeidlich,<br />

da BASSUI ja im wesentlichen jedem Briefschreiber die gleiche<br />

Lehre erteilt. Aber gerade durch solche Wiederholungen klärt BASSUI<br />

als Meister seinen Gegenstand: den Einen Geist, und hämmert es<br />

ihnen gut ein. In der <strong>Zen</strong>-Literatur gibt es unter den Schriften hervorragender<br />

Meister nur wenig, was so geradenwegs auf die Praxis<br />

abzielt und derart inspirierend ist wie diese Schriften. BASSUI spricht<br />

den heutigen Leser ebenso unmittelbar an wie seine Briefpartner im<br />

vierzehnten Jahrhundert; er belehrt und inspiriert ihn mit jeder Wendung.<br />

Hinzu kommt noch sein ausgeprägter Sinn für das Paradoxe,<br />

gepaart mit tiefster Schlichtheit, wodurch seine Dharma-Worte und<br />

die Briefe in Japan ungeheuer populär wurden und es bis heute<br />

sind. TAKUSUI <strong>Zen</strong>ji, ein bekannter <strong>Zen</strong>-Meister der Tokugawa-Zeit<br />

(1603-1868), der wie JÔSHÛ bis zum hohen Alter von hundertzwanzig<br />

Jahren gelebt haben soll und der selbst mehrere <strong>Zen</strong>-Briefe geschrieben<br />

hat, rühmte diese Schriften lebhaft und bezeichnete sie als<br />

wertvoll nicht allein für Anhänger, sondern sogar für <strong>Zen</strong>-Meister.<br />

227


Es ist zu hoffen, daß sie durch diese Übersetzung, der ersten ins Englische<br />

5 , gleichermaßen die Gunst der amerikanischen und europäischen<br />

Leser, die <strong>Zen</strong> gern verstehen und üben möchten, finden werden.<br />

Dharma -Worte<br />

Wollt ihr der Pein <strong>des</strong> «Rad-<strong>des</strong>-Lebens» 6 entrinnen, müßt ihr<br />

unmittelbar den Weg, ein Buddha zu werden, erlernen. <strong>Die</strong>sen Weg,<br />

ein Buddha zu werden, müßt ihr im Eigenen Geiste durch Satori verwirklichen.<br />

Was denn ist dieser Geist? Ehedem vor der Geburt von<br />

Vater und Mutter und also auch vor der eigenen Geburt bestand er<br />

und besteht immerdar bis heute unwandelbar und ewig als das<br />

ursprüngliche Wesen aller Geschöpfe. Also wird er Ur-Antlitz 7<br />

genannt. <strong>Die</strong>ser Geist ist von Anbeginn von lauterster Reinheit. Wird<br />

dieser Leib geboren, so wird jener nicht neu erschaffen; und stirbt dieser<br />

Leib, geht er nicht zu Grunde. Er trägt kein Merkmal von männlich<br />

oder weiblich, noch hat er eine Färbung von gut oder böse. Da<br />

kein Gleichnis ihn erreicht, wird er Buddha-Wesen genannt. In<strong>des</strong>sen,<br />

Zehntausende von Gedanken-Vorstellungen 8 entstehen aus diesem<br />

Selbst-Wesen gleich wie Wogen im großen Meer, gleich wie Abbilder<br />

in einem Spiegel.<br />

Wollt ihr zur Erleuchtung gelangen, müßt ihr daher vor allem in den<br />

Urquell blicken, dem die Gedanken entspringen. Beim Schlafen und<br />

Wachen und allen Verrichtungen, im Stehen und Sitzen, fragt euch<br />

einzig zutiefst: «Was ist mein Eigener Geist?» voller Verlangen, das<br />

zu begreifen. <strong>Die</strong>s nennt man «Schulung» oder «Erforschen» oder<br />

«Wille zur Wahrheit» oder «Verlangen nach Erkenntnis». Und dies<br />

Erforschen <strong>des</strong> eigenen Geistes, das eben ist Zazen! Es ist weit besser,<br />

5. Der Text wurde unter Heranziehung der englischen Übersetzung aus dem<br />

Japanischen ins Deutsche übersetzt. D. U.<br />

6. Auf Japanisch: rinne; im Englischen: «Six Realms». Siehe im 10. Kapitel unter<br />

«Rad-<strong>des</strong>-Lebens» und «Sechs Bereiche».<br />

7. Siehe Fußnote S. 149.<br />

8. Das japanische Wort nen bedeutet sowohl «Gedanke» als auch «Idee», «Vorstellung».<br />

Im weiteren wurde es hier mit «Gedanke» wiedergegeben.<br />

228


festen Willens in den eigenen Geist zu blicken, denn tausend, zehntausend<br />

Jahre lang täglich voll Eifer tausend, zehntausend Sûtras und<br />

Dhāranī zu lesen und anzustimmen. Solche Bemühungen sind doch<br />

nur Äußerlichkeiten und bringen nur auf kurze Zeit Glück und Frieden.<br />

Dann erlischt solch Glück und Frieden wieder, und abermals<br />

erleidet ihr die Pein der Drei Bösen Pfade. Da das Erforschen <strong>des</strong><br />

eigenen Geistes schließlich zur Erleuchtung führt, ist es Anlaß-Grund-<br />

Ursache 9 , ein Buddha zu werden. Auch wer die zehn bösen Werke<br />

und die fünf Todsünden begangen hat, wird, wenn er sich entschlossen<br />

umkehrt und sich zur Erleuchtung bringt, in einem Nu ein<br />

Buddha. Aber es geht nicht an, Böses zu tun und sich auf (die rettende<br />

Wirkung von) Satori zu verlassen. Wer sich solchem Wahn hingibt<br />

und böse Pfade wandelt, den kann (keine Erleuchtung), kein Buddha<br />

und kein Patriarch retten.<br />

Ein Beispiel: Ein kleines Kind liegt schlafend neben seinem Vater. Es<br />

träumt, daß es geschlagen wird oder krank wurde und Schmerzen<br />

leidet. Wie sehr das Kind auch leiden mag, so kann doch niemand in<br />

den träumenden Sinn eines anderen blicken, auch Vater und Mutter<br />

nicht, und sie können ihm also nicht helfen. Könnte das Kind sich allein<br />

aus dem Traum aufwecken, so wären seine Leiden augenblicklich von<br />

selbst zu Ende. Das heißt: Wer durch Erleuchtung erkennt, daß der<br />

Eigene Geist Buddha ist, befreit sich auf der Stelle vom Rad-<strong>des</strong>-<br />

Lebens (d. h. von den Leiden, die sich aus der Unwissenheit über das<br />

Gesetz unaufhörlicher Wandlungen in den Sechs Bereichen <strong>des</strong><br />

Daseins ergeben). Das ist genau dasselbe. Könnte der Buddha es helfend<br />

verhindern, welches Geschöpf denn ließe er in die Hölle fahren?<br />

Doch nicht eines 10 ! Ohne Selbst-Wesensschau aber kann man solches<br />

nicht wirklich verstehen.<br />

Was für ein Meister ist es, der eben jetzt mit den Augen Farben sieht,<br />

9. Im Japanischen innen; auf englisch mit «prerequisite» wiedergegeben. Siehe im<br />

10. Kapitel unter: innen, in-nen.<br />

10. Hierbei klingt mit, daß Buddhas keine übernatürlichen Wesen sind, die einen<br />

davor bewahren können, in die Hölle zu fahren, indem sie Erleuchtung erteilen,<br />

sondern daß Erleuchtung, durch die wir von den Leiden eines solchen Geschicks<br />

errettet werden können, einzig und allein durch unsere eigenen Anstrengungen<br />

erlangt werden kann.<br />

229


mit den Ohren Stimmen hört, der die Hände aufhebt und die Füße<br />

bewegt? Ein jeder weiß, daß es das Werk <strong>des</strong> eigenen Geistes ist, doch<br />

weiß er nicht genau, zufolge welcher Vernunft eigentlich solches<br />

geschieht. Man kann zwar behaupten, daß es solchen Geist (hinter<br />

diesen Werken) nicht gibt, doch werden sie willkürlich-frei vollzogen.<br />

Man kann auch behaupten, daß es doch das Werk dieses Geistes ist;<br />

in<strong>des</strong>sen ist dieser unsichtbar. Wenn man das einzig für etwas ganz<br />

und gar Unausdenkbares hält, kann man sich nichts mehr ausdenken,<br />

das Nachdenken erlischt vollends, und man weiß überhaupt nicht mehr<br />

was tun. In dieser dem Forschen günstigen Lage vertieft immer mehr<br />

den Willen 11 ohne Überdruß bis zum Äußersten! Wenn das tiefschürfende<br />

Fragen bis zum tiefsten Grunde dringt und dieser Grund ausgeschlagen<br />

wird, dann bleibt auch nicht der kleinste Zweifel, daß der<br />

Eigene Geist Buddha ist. Das Fragen verstummt. Es gibt keine Besorgnis<br />

mehr um Leben und Tod und keine Wahrheit mehr, danach man<br />

suchen müßte -, nur Leere-Weite von Himmel-und-Welt, und das ist<br />

einzig der Eigene Geist.<br />

Ein Beispiel: Im Traum hat einer sich verirrt und den Weg in die<br />

Heimat verloren; er fragt einen anderen nach dem Wege, und er betet<br />

zu Gott und betet zu Buddha um Hilfe. Doch immer noch findet er<br />

nicht heim. Rüttelt er sich aber aus dem Traumzustand auf, so findet<br />

er sich auf der eigenen Lagerstätte und begreift, daß der einzige Weg<br />

heimzukehren der war, sich zu erwecken. <strong>Die</strong>s (geistige Erwachen)<br />

nennt man «Rückkehr zum Ursprung» oder «Wiedergeburt in der<br />

Buddha-Welt <strong>des</strong> Friedens-und-der-Freude 12 ». Bis zu diesem Erlebnis<br />

kann es ein jeder mit etwas kraftvollem Üben bringen. Ja, alle, die<br />

Zazen lieben und auch angestrengt üben, können, ob sie nun Mönche<br />

oder Laien sind, solche Wirkung erleben. Doch selbst dies (teilweise<br />

Erwachen) kann nur durch Üben von Zazen erreicht werden. Wolltet<br />

ihr dies für wahres Satori halten, ihr würdet einen schweren Irrtum<br />

begehen. Ihr wäret gleich einem, der Kupfer gefunden hat und das<br />

Verlangen nach Gold aufgibt.<br />

11. Im Japanischen kokorozashi; auf englisch «yearning». Siehe im 10. Kapitel.<br />

12. Im Japanischen anraku sekai; auf englisch «paradise». Siehe im 10. Kapitel<br />

unter «Buddha-Welt».<br />

230


Nach solcher Erkenntnis befragt euch noch eindringlicher solchermaßen:<br />

«Mein Leib ist einem Wahngebilde gleich, gleich einer Wasserblase,<br />

gleich einem Schatten. Mein Geist, der in sich selber blickt,<br />

ist formlos gleich Leerer Weite. Doch irgendwo im Innern werden<br />

Töne gehört. Wohlan denn, wer ist der Meister, der die Laute vernimmt?»<br />

Fragt ihr euch also auf tiefster Ebene in völliger Versunkenheit,<br />

ohne im geringsten in euren Anstrengungen nachzulassen, so<br />

gibt es gar nichts mehr zu wissen, das Vernunftdenken ist restlos<br />

zunichte geworden. Ihr vergeßt vollends, daß ihr einen Leib habt.<br />

Alle bisherigen Begriffe und Vorstellungen vergehen, wie wenn einem<br />

Bottich der Grund ausgeschlagen wurde und jeder Tropfen Wassers<br />

ausgelaufen ist. Wenn das fragende Forschen mächtig genug geworden<br />

ist, so wird auch die Erleuchtung mächtig sein. Es ist, als brächen an<br />

verdorrten Bäumen plötzlich Blumen auf. Wenn es also geworden ist,<br />

könnt ihr zum Frei-Sein in der Wahrheit gelangen, zu voll erlösten<br />

Menschen werden. Doch selbst nach solchem Satori-Erlebnis werft<br />

wieder und wieder von euch, was ihr in der Erleuchtung erkannt<br />

habt. Kehrt euch abermals dem Meister, der erkennt, das heißt dem<br />

Ursprung zu, und dringt entschlossen vor. In dem Maße, wie Verblendung<br />

und Eigenwille von euch weichen, wird euer Selbst-Wesen strahlend<br />

und durchscheinend - gleich wie ein Edelstein durch wiederholtes<br />

Schleifen an Glanz gewinnt -, bis es am Ende wirklich und<br />

wahrhaftig das gesamte Weltall strahlend erleuchtet. Zweifelt nicht<br />

daran!<br />

Wessen Wille nicht so tief reicht, um in diesem Leben solche Erleuchtung<br />

zu gewinnen, der wird doch gewißlich im nächsten Leben mit<br />

Leichtigkeit zur Selbst-Wesensschau kommen, sofern er auch noch in<br />

der To<strong>des</strong>stunde von diesem Forschen ganz erfüllt ist - gleich wie die<br />

gestern nicht vollendete Arbeit heute leicht beendet wird.<br />

Beim Üben von Zazen dürft ihr die Gedanken, die sich erheben,<br />

weder hassen noch lieben. Durchdringt einzig und allein forschend<br />

den eigenen Geist, Ursprung dieser Gedanken, bis zum Äußersten.<br />

Wisset, daß alles, was in eurem Bewußtsein auftaucht, alles, was ihr<br />

mit Augen seht, ein Wahngebilde ohne jede Wirklichkeit ist. Also sollt<br />

ihr solches weder fürchten, noch schätzen, weder lieben, noch ver-<br />

231


abscheuen. Wenn ihr euren Geist im Zustand Leerer Weite haltet,<br />

von all solchem ungefärbt, so kann selbst in der To<strong>des</strong>stunde kein<br />

böser Geist euch einen Schaden tun. Beim Üben von Zazen jedoch<br />

behaltet auch nicht einen dieser Ratschläge im Sinn. Ihr müßt einzig<br />

zu der Frage werden: «Was ist mein Eigener Geist?» oder auch: «Was<br />

nur ist dieser Meister, der in diesem Augenblick all die Laute vernimmt?».<br />

Wenn ihr durch Erleuchtung dieses Geistes innewerdet,<br />

wißt ihr, daß er der Ursprung aller Buddhas und Geschöpfe ist. Der<br />

Bodhisattva KANNON wird, da er zur Erleuchtung gelangte, indem<br />

er der Laute der Welt um sich her inneward, eben KANZEON 13 genannt.<br />

Beim Ruhen und bei allen Verrichtungen höret nimmer auf, erkennen<br />

zu wollen, was denn da hört. Auch wenn das Forschen selbst nahezu<br />

unbewußt geworden ist, findet ihr doch auch jetzt nicht den, der da<br />

hört, und alle Anstrengungen werden zunichte. Doch auch jetzt können<br />

Laute gehört werden. Also dringt ohne Unterlaß immer mehr und<br />

mehr in die Tiefe mit Fragen. Am Ende schwindet jede Spur von<br />

Bewußtsein eurer selbst; (ihr fühlt euch) einem klaren Himmel ohne<br />

eine einzige Wolke gleich. Darin findet man nichts, das «Ich» genannt<br />

werden kann, und auch keinen Meister, der hört. <strong>Die</strong>ser Geist ist<br />

gleich der Leeren Weite aller Zehn Weltrichtungen; doch hat er keine<br />

Stelle, die man leer nennen kann. <strong>Die</strong>ser Zustand wird oft fälschlich<br />

für (große) Selbst-Wesensschau gehalten. Doch muß man abermals<br />

aufs eindringlichste zu ergründen suchen: «Wer denn ist es, der diese<br />

Laute hört?» Wenn ihr euch, blind für alles andere, mit unerschütterlichem<br />

Willen ausschließlich in diese Frage einbohrt, so wird selbst<br />

das Gefühl Leerer Weite zunichte, und ihr seid euch keines einzigen<br />

Dinges mehr bewußt. Vollkommene Finsternis herrscht. (Haltet hier<br />

nicht inne, sondern) fragt euch ohne Überdruß: «Wohlan denn! Was<br />

nur ist es, das diese Laute hört?» Braucht eure Kräfte bis zum Letzten!<br />

Erst wenn das Fragen mächtig genug geworden ist, wird die<br />

13. Kannon ist eine Vereinfachung von Kanzeon, und das bedeutet «Hörer (oder<br />

Empfänger) der Stimmen (oder Schreie, Laute) der Welt». BASSUI verwendet<br />

manchmal Kanzeon und manchmal Kannon. Mit Ausnahme der obigen Stelle<br />

haben wir durchwegs Kannon gesetzt, um Verwirrung zu vermeiden.<br />

232


Frage völlig zerbersten. Ihr fühlt euch wie Einer, der von den Toten<br />

auferstanden ist. Das also ist Wahre Wesensschau. Zu jener Zeit werdet<br />

ihr zum ersten Mal die Buddhas aller Welten von Angesicht zu<br />

Angesicht sehen und auch die ganze Reihe der Patriarchen von einst<br />

bis jetzt. Prüft euch mit diesem Kôan:<br />

«Ein Mönch fragte JÔSHÛ: ,Was ist der Sinn von BODHIDHARMAS Kommen<br />

aus dem Westen?' JÔSHÛ erwiderte: ,<strong>Die</strong> Eiche da im Garten.' 15 »<br />

Solltet ihr bei diesem Kôan auch nur den geringsten Zweifel haben,<br />

so müßt ihr euch dem Fragen: «Was ist es, das hört?» wieder zuwenden.<br />

Wenn ihr in diesem Leben nicht zur Erleuchtung gelangt, wann denn<br />

werdet ihr es? Wenn ihr einmal gestorben seid, werdet ihr einer langen<br />

Zeit der Leiden auf den Drei Bösen Pfaden nicht entrinnen können<br />

16 . Was denn verhindert Erleuchtung? Einzig euer laues Verlangen<br />

nach Wahrheit. Denkt daran! Kämpft ungestüm auf Leben und<br />

Tod!<br />

<strong>Die</strong> Briefe<br />

1. An einen Mann aus Kumasaka<br />

Du fragst, wie Du bei Deiner Krankheit <strong>Zen</strong> üben sollst. Wer ist der,<br />

der krank ist? Wer ist der, der <strong>Zen</strong> übt? Weißt Du, wer Du bist?<br />

Unser gesamtes Sein ist Buddha-Wesen. Unser gesamtes Sein ist der<br />

Große Weg. <strong>Die</strong> Substanz dieses Großen Weges ist von Anbeginn von<br />

lauterster Reinheit und jenseits aller Form. Wie sollte es daran etwas<br />

15. Mumon-Kan, Beispiel 37. Mehr über JÔSHÛ, siehe Seite 62 und im 10. Kapitel<br />

unter «JÔSHÛ».<br />

16. Nach buddhistischer Lehre kann man nur mit einem menschlichen Körper<br />

Erleuchtung erlangen. Was hier und im vorangehenden Text gemeint ist, bedeutet,<br />

daß man lange Leiden in untermenschlichen Daseinsformen durchmachen muß,<br />

wenn man seine menschliche Gestalt und damit die Gelegenheit, zu Erleuchtung<br />

und höheren Bewußtseinslagen zu gelangen, verpaßt hat.<br />

233


Krankes geben? <strong>Die</strong> Substanz <strong>des</strong> Großen Weges, der Ursprung aller<br />

Buddhas, ist der allen Menschen Eigene Geist, ihr Ur-Antlitz. Das ist<br />

der Meister, der da sieht und mit den Sinnen wahrnimmt. Wer das<br />

voll erkennt, ist ein Buddha. Wer sich darüber uneins ist, ist ein<br />

gewöhnliches Geschöpf. Daher weisen alle Buddhas und Patriarchen<br />

geradewegs auf den Herz-Geist <strong>des</strong> Menschen hin, auf daß der<br />

Mensch sein Selbst-Wesen erkenne und Buddhaschaft erlange; ist es<br />

doch für den, der von Schatten verwirrt wird, das Beste, das wahre<br />

Ding zu sehen.<br />

Ein Beispiel: In alter Zeit lebte ein Mann. Als er (im Hause eines<br />

Freun<strong>des</strong>) im Begriff war, Reiswein zu trinken, glaubte er, im Wein<br />

(-becher) eine (kleine) Schlange zu sehen. Doch trank er den Wein.<br />

Als er danach nach Hause ging, hatte er arge Leibschmerzen. Man<br />

wandte viele Heilmittel an, doch ohne Wirkung. Als das Leben <strong>des</strong><br />

Mannes zu Ende ging, hörte der Gastgeber von seinem Zustand und<br />

lud ihn abermals zu sich ein. Er ließ ihn auf der gleichen Stelle Platz<br />

nehmen wie beim vorigen Mal und bot ihm abermals Reiswein an;<br />

dabei sagte er ihm, daß es eine Arznei sei. Als er (der Kranke) trinken<br />

wollte, war wieder wie beim vorigen Male eine (kleine) Schlange im<br />

Wein, und diesmal machte er seinen Gastgeber darauf aufmerksam.<br />

Da wies der Gastgeber auf die Decke über seinem Gast, und als der<br />

Mann hinaufblickte, sah er dort eine Armbrust hängen. Da wußte er,<br />

daß die (kleine) Schlange, die er auch beim vorigen Mal gesehen<br />

hatte, die Spiegelung der Armbrust war. <strong>Die</strong> Blicke der beiden Männer<br />

trafen sich, und sie lachten. Gesprochen wurde nichts. <strong>Die</strong><br />

Schmerzen <strong>des</strong> Kranken verschwanden auf der Stelle, und er ward<br />

wie ehedem (gesund).<br />

Also ist es auch mit dem Erwachen zum Buddha-Wesen. Der<br />

Patriarch YÔKA hat gesagt:<br />

«Wenn ihr das Wahre Wesen klar erkennt, so gibt es weder menschliches<br />

Bewußtsein noch Dinge 17 , und im gleichen Augenblick werden höllische<br />

Werke ausgelöscht 18 .»<br />

17. also: weder subjektive noch objektive Wirklichkeit.<br />

18. Gemeint sind die karmischen Wirkungen böser Taten.<br />

234


Eben dieses Wahre Wesen ist der Ursprung aller Geschöpfe. Der<br />

Mensch jedoch will nicht glauben, daß der Eigene Geist eben die<br />

Große Vollkommenheit <strong>des</strong> Nyorai-Buddha 19 ist; er klammert sich<br />

an oberflächliche Formen und sucht die Wahrheit außerhalb (dieses<br />

Geistes), indem er durch Askese trachtet, ein Buddha zu werden. Da<br />

durch solches aber die trügerische Vorstellung eines Ich nicht beseitigt<br />

wird, muß der Mensch in den Wechselfällen der Drei Welten schwere<br />

Pein erleiden, gleich jenem, der im Gefäß eine Schlange zu sehen<br />

glaubte. <strong>Die</strong> verschiedensten Heilmittel halfen alle nicht, doch als<br />

er <strong>des</strong> wahren Grun<strong>des</strong> gewahr wurde, wurde er alsbald geheilt.<br />

Blicke also einzig in die Eigene Seele - mit Geheimmitteln ist dem<br />

Menschen nicht zu helfen. In einem Sûtra heißt es:<br />

«Wenn ihr erkennt, daß euer Feind Verblendung ist, so kann dieser Feind<br />

euch nichts mehr anhaben.»<br />

Alle Erscheinungsformen sind Wahn und ohne Wirklichkeit. Buddhas<br />

und Geschöpfe sind Spiegelbildern im Wasser gleich. Wer das Wahre<br />

Wesen der Dinge nicht schaut, hält Schatten irrtümlich für Wirklichkeit.<br />

So wird auch der Zustand der Leere und Ruhe (beim Zazen),<br />

der sich aus der Verminderung der Gedanken ergibt, immer wieder<br />

fälschlich für das Ur-Antlitz gehalten; doch ist auch das nur eine<br />

Spiegelung im Wasser. Du mußt über den Zustand, da Verstan<strong>des</strong>kräfte<br />

noch helfen, hinausgehen. Wenn Du überhaupt nicht mehr aus<br />

noch ein weißt, dann blicke ihn genau an. Was denn ist er nur? Er<br />

wird erst dann Dein Vertrauter, wenn Du einen Wanderstab aus dem<br />

Horn eines Hasen zerbrochen oder einen Eisklumpen im Feuer zerstoßen<br />

hast. So sage nun, was für ein Vertrauter ist das denn?<br />

Heute ist der achte, morgen ist der <strong>drei</strong>zehnte.<br />

19. ein höchst vollkommener Buddha.<br />

235


2. An die Äbtissin <strong>des</strong> Shinryu-ji<br />

Um ein Buddha zu werden, muß man erkennen, wer es ist, der ein<br />

Buddha werden will. Um diesen Meister zu erkennen, muß man eben<br />

hier und jetzt entschlossenen Willens danach forschen: «Was ist es,<br />

das alles als Gut-und-Böse auffaßt, das Farben sieht und Laute hört?»<br />

Wenn Ihr Euch tiefschürfend also erforschet, werdet Ihr gewißlich<br />

Erleuchtung finden und, erleuchtet, seid Ihr in einem Nu ein Buddha.<br />

Der Geist, den die Buddhas in ihrer Erleuchtung erkannten, ist der<br />

Geist aller Geschöpfe. Das Wesen dieses Geistes ist lauter und steht<br />

mit der Umwelt nicht in Widerspruch. Im Leibe einer Frau hat er<br />

keine weibliche Gestalt; im Leibe eines Mannes auch hat er kein<br />

Merkmal <strong>des</strong> Männlichen. Im Leibe <strong>des</strong> Geringen ist er nicht gering,<br />

im Leibe <strong>des</strong> Vornehmen ist er nicht vornehm. Gleich der Leeren<br />

Weite hat er auch keine Spur von Farbe. Himmel und Erde können<br />

zunichte werden, doch Leere Weite ohne Form und Farbe ist unzerstörbar.<br />

Der Geist ist allumfassend gleich der Leeren Weite. Werden<br />

wir im Fleische geboren, so wird der Geist nicht neu erschaffen, und<br />

stirbt dieser Leib, geht jener nicht zugrunde. Und ist er auch gleich<br />

unsichtbar, so durchflutet er doch unseren Leib und jegliche Verrichtung;<br />

daß wir mit den Augen Farben sehen, mit den Ohren Laute<br />

hören, mit der Nase Gerüche wahrnehmen und mit dem Munde sprechen<br />

können, daß wir die Hände bewegen und die Füße setzen, ist<br />

nichts als das Wirken dieses Geistes. Wer da nach Buddha und der<br />

Wahrheit außerhalb <strong>des</strong>sen (dieses Geistes) sucht, den kann man nur<br />

als verblendetes Geschöpf bezeichnen; wer unmittelbar innewird, daß<br />

sein Ursprüngliches Wesen Buddha ist, den kann man als Buddha<br />

bezeichnen. Da war nie ein Buddha, der diesen Geist nicht erkannt<br />

hätte, und ein jegliches Geschöpf in den Sechs Bereichen <strong>des</strong> Daseins<br />

ist damit vollkommen ausgestattet, gleich wie auch Leere Weite allüberall<br />

davon erfüllet ist. Darin gibt es keine Geschiedenheit. <strong>Die</strong><br />

Worte (in einem Sûtra)<br />

«In Buddha gibt es keine Unterschiedenheit»<br />

bestätigen das.<br />

236


Wer erkannt hat, daß der Eine Geist Buddha ist, möchte es den<br />

Geschöpfen kund und zu wissen tun. Da sich die Geschöpfe aber in<br />

ihrer Stumpfsinnigkeit an oberflächliche Gebilde klammern, können<br />

sie nicht an diesen makellosen Dharma-kāya, diesen reinen, wahren<br />

Buddha glauben. Und so greifen Buddhas beim Predigen zu Metaphern<br />

und bezeichnen diesen Geist als «Kostbaren Edelstein <strong>des</strong> freien<br />

Willens», nennen ihn «Großer Weg», nennen ihn «Amida», nennen<br />

ihn «Buddha höchster Weisheit» oder auch «Jizô» oder «Kannon»<br />

oder auch «Fugen», oder sie nennen ihn «Ur-Antlitz vor Geburt von<br />

Vater und Mutter». Der Bodhisattva Jizô 20 wird als Verkörperung<br />

der Sechs Bereiche <strong>des</strong> Daseins bezeichnet, da er der Meister der sechs<br />

Sinne aller Geschöpfe in den Sechs Bereichen ist. <strong>Die</strong> Bezeichnungen<br />

aller Buddhas und Bodhisattvas sind nur (verschiedene) Namen für<br />

den Einen Geist. Glaubt einer an den Eigenen Buddha-Geist, so ist es<br />

daher das Gleiche, als glaubte er an alle Buddhas. In einem Sûtra<br />

heißt es:<br />

«<strong>Die</strong> Drei Welten sind nur Ein Geist; außer diesem Geiste gibt es keine<br />

andere Wahrheit; Geist, Buddha und Geschöpfe, diese Drei sind nicht<br />

unterschieden.»<br />

Da sich nun alle Sûtras 21 mit diesem Geiste befassen, ist es für den<br />

Menschen, der dieses Geistes inne wird, gleich, als läse und verstünde<br />

er alle Sûtras auf einen Schlag. In einem Sûtra heißt es:<br />

«<strong>Die</strong> Lehren der Sûtras sind gleich wie ein Finger, der zum Monde weist.»<br />

Nun sind diese Lehren die Predigten aller Buddhas. «Zum Monde weisen»<br />

heißt, auf den Einen Geist der Geschöpfe weisen. Gleich wie man<br />

sagt, daß der Mond (beide Seiten der) Welt bescheint, so durchstrahlt<br />

gleichermaßen der Eine Geist die innere und äußere Welt. Wenn es da<br />

heißt, daß einer durch Rezitieren der Sûtras eine Fülle guter Werke<br />

täte, so bedeutet das eben das, was gerade gesagt worden ist, und wei-<br />

20. Jizô hat stets einen besonderen Platz im Herzen der japanischen Buddhisten<br />

eingenommen; vielleicht ist das der Grund, weshalb BASSUI, anscheinend ziemlich<br />

unberechtigt, diesen Bodhisattva heraushebt.<br />

21. Issaikyô, der Name der Sammlung aller Sûtras.<br />

237


ter nichts 22 . Und wiederum heißt es, daß man durch Buddha-<strong>Die</strong>nst<br />

Buddhaschaft erlange; aber Buddhaschaft erlangen, heißt einfach,<br />

dieses Geistes innewerden. Den Namen <strong>des</strong> Buddha anrufen und<br />

Sûtras lernen und rezitieren, das ist nur, als nähme man ein kleines<br />

Boot oder Floß, um den Fluß zu überqueren und das Ufer <strong>des</strong> Satori<br />

zu erreichen; doch hernach muß man schnell aus dem Boot aussteigen<br />

und sich eilen. (In einem Augenblick) vollkommener innerer Sammlung<br />

<strong>des</strong> Einen Geistes gewahr zu werden, ist daher ein unendlich<br />

viel besseres Werk, als tausend, zehntausend Tage lang Sûtras zu rezitieren,<br />

wie es auch unvergleichlich größer ist, gesammelten Willens <strong>des</strong><br />

Eigenen Geistes innezuwerden, als tausend, zehntausend Jahre lang zu<br />

hören, warum das so ist. Wie man aber vom Seichten ins Tiefe fortschreiten<br />

muß, so ist es für Verblendete und Stumpfe ein segensvolles<br />

Geschick, wenn sie mit Begeisterung Sûtras rezitieren und den Namen<br />

<strong>des</strong> Buddha anrufen. Das ist gleich, als bestiegen sie für den Anfang<br />

ein Boot oder Floß. Wenn sie aber <strong>des</strong>sen zufrieden sind, für immer<br />

auf dem Floß zu bleiben und kein Verlangen tragen, das Ufer der<br />

Selbst-Wesensschau zu erreichen, so wird das zu einem großen Irrtum.<br />

SHAKYAMUNI Buddha unterzog sich vieler Askesen, konnte am Ende<br />

aber dadurch doch nicht Buddhaschaft gewinnen. Darauf warf er<br />

all das von sich, übte sechs Jahre lang Zazen und ward schließlich <strong>des</strong><br />

Einen Geistes inne. Nach seiner Vollkommenen Erleuchtung predigte<br />

er die Lebendige Wahrheit (die er erkannt hatte) allen Geschöpfen.<br />

All diese Predigten eben werden Sûtras genannt und sind die Worte,<br />

die aus dem erleuchteten Geiste <strong>des</strong> Buddha strömten.<br />

<strong>Die</strong>ser Eine Geist ist eben jetzt im Innern eines jeglichen Menschen<br />

vorhanden; er ist der Meister der sechs Sinne. Erkennt man diesen<br />

Meister, so werden in einem Nu Wirkungen und Ursachen aller Sünden<br />

zunichte, gleich wie Eis, das man in kochen<strong>des</strong> Wasser wirft. Erst<br />

nach solch unmittelbarer Erkenntnis kann man behaupten, daß der<br />

Eigene Geist Buddha ist. Das Wesen dieses Geistes ist strahlend von<br />

Anbeginn. Niemals gab es darin eine Unterschiedenheit von Buddha<br />

und den Geschöpfen. Doch durch Wahnvorstellungen, verblendete<br />

22. Nämlich, daß die Sûtras sagen, daß sie selbst nicht die Wahrheit sind, sondern<br />

einem Pfeil gleichen, der auf die Wahrheit hinweist.<br />

238


Gedanken wird solche Unterschiedenheit geschaffen, gleich wie Wolken<br />

den Schein von Sonne und Mond verbergen. In<strong>des</strong>sen lassen sich<br />

solche Wahnvorstellungen durch die Kraft <strong>des</strong> Zazen-Übens verscheuchen,<br />

gleich wie Wolken vom Winde vertrieben werden. Sind<br />

solch verblendete Gedanken einmal verschwunden, so kommt das<br />

Buddha-Wesen zum Vorschein, gleich wie der Mond sich zeigt, sobald<br />

die Wolken verschwinden. Damit offenbart sich einzig das ursprüngliche<br />

Licht und nichts, was man von außen neu gewonnen hätte.<br />

Wollt Ihr der Pein <strong>des</strong> Kreislaufs von Geburt-und-Tod entkommen,<br />

so müßt Ihr Euch der Verblendung, <strong>des</strong> Eigenwillens entschlagen. Um<br />

Euch ihrer zu entschlagen, müßt Ihr den Geist erkennen. Um den<br />

Geist zu erkennen, müßt Ihr Zazen üben. <strong>Die</strong> Art <strong>des</strong> Übens ist von<br />

größter Bedeutung. Ihr müßt zutiefst forschend in Euer Kôan eindringen.<br />

<strong>Die</strong> Grundlage eines jeden Kôan ist der Eigene Geist. Das<br />

brennende Verlangen nach Erkenntnis dieses Geistes nennt man<br />

«Wille zur Wahrheit» oder auch «Durst nach Erkenntnis». Der ist<br />

weise, der voll tiefer Furcht ist, in die Hölle zu fahren 23 . Einzig weil<br />

die Schrecken der Hölle den Menschen so wenig bekannt sind, verlangt<br />

es sie nicht nach dem Weg <strong>des</strong> Buddha.<br />

In alter Zeit gab es einen Bodhisattva, der Erleuchtung fand, indem<br />

er ergriffen allen Tönen lauschte. So nannte SHAKYAMUNI Buddha ihn<br />

Kanzeon (Kannon). Will ein heutiger Mensch gleichfalls die Substanz<br />

von Geist-an-sich, der Buddha-an-sich 24 ist, erkennen, so forsche er<br />

im gleichen Augenblick, da er einen Laut vernimmt, nach dem, der<br />

hört. Solchermaßen werdet Ihr gewißlich erkennen, daß das Selbst<br />

nichts anderes als Kannon ist. <strong>Die</strong>ser Geist ist weder Sein, noch<br />

Nicht-Sein. Er ist von allen Formen gesondert, und doch ist er von<br />

allen Formen nicht gesondert.<br />

Trachtet nicht zu verhindern, daß Gedanken aufsteigen, und klammert<br />

Euch nicht an Gedanken, die aufgestiegen sind. Laßt die Gedan-<br />

23. Das bedeutet, daß jene Daseinsebene oder Bewußtseinsverfassung, die man<br />

Hölle nennt, voll qualvoller Martern ist und daß es die Furcht vor solch elendiglichem<br />

Leben ist, die das tiefe Verlangen nach Selbst-Wesensschau hervorruft;<br />

denn Erleuchtung ist es, die der Hölle die Schrecken nimmt.<br />

24. Es gilt zu erkennen, daß Sprechen-an-sich Buddha ist, Hören-an-sich Buddha<br />

ist.<br />

239


ken kommen und gehen, wie sie wollen; ringt nicht mit ihnen. Ihr<br />

müßt einzig und allein von ganzem Herzen forschen: «Was ist mein<br />

Eigener Geist?» Ich dringe immer wieder darauf, weil ich Euch zur<br />

Selbst-Wesensschau bringen möchte. Wenn Ihr (hartnäckig) zu verstehen<br />

trachtet, was (mit dem Verstande) nicht begriffen werden<br />

kann, so gelangt Ihr an einen toten Punkt, und Ihr wißt überhaupt<br />

nicht mehr, was tun. Aber Ihr dringt immer tiefer.<br />

Im Sitzen und Stehen, beim Schlafen und Wachen fragt Euch solchermaßen<br />

voller Zweifel bis zum tiefsten Grunde, und fürchtet nichts,<br />

als daß Ihr den Eigenen Geist nicht erkennen könntet. Solch Forschen<br />

eben heißt, Zazen üben. Wenn dieses eindringliche Fragen jeden Zoll<br />

an Euch durchdringt und bis zum Grunde vorstößt, so bricht die<br />

Frage plötzlich auf, und die Wesenssubstanz von Buddha-an-sich<br />

wird offenbar - gleich wie ein Spiegel erst dann spiegeln kann, wenn<br />

der Kasten (darin er war) aufgebrochen ward - und durchstrahlt alle<br />

Zehn Weltrichtungen, ein Weltall, frei von jedem Makel. Zu jener<br />

Zeit werdet Ihr zum erstenmal losgelöst sein vom Gang <strong>des</strong> Rads<strong>des</strong>-Lebens<br />

in den Sechs Bereichen, da die (Wirkungen aller) bösen<br />

Werke zunichte wurden. <strong>Die</strong> innerste Wonne dieses Augenblicks läßt<br />

sich nicht in Worte fassen.<br />

Ein Beispiel: Stellt Euch einen vor, der im Traum in die Hölle gefahren<br />

ist und, von Höllendienern gepeinigt, über alle Maßen leidet.<br />

Seine Leiden enden im Nu, sobald er aus dem Traum erwacht; von all<br />

den Leiden bleibt auch nicht das Geringste übrig. Gleichermaßen<br />

befreit sich von (den Leiden durch) Geburt-und-Tod (wer geistig<br />

erwacht). Um solchermaßen Erleuchtung zu finden, bedarf man keiner<br />

besonderen Anlagen, sondern einzig <strong>des</strong> festen Willens. Buddhas<br />

und die Geschöpfe sind gleich wie Wasser und Eis. Eis kann ebenso<br />

wenig fließen wie Stein oder Ziegel. Schmilzt es aber, so ist es nichts<br />

als das ursprüngliche Wasser und strömt in zwangloser Anpassung an<br />

die Umwelt dahin. Im Zustand der Verblendung gleichen wir dem<br />

Eis: durch Erleuchtung gelangen wir zu der ursprünglichen wunderbaren<br />

Substanz. Und merke denn: Es gibt kein Eis, das nicht wieder<br />

zu Wasser wird. Also auch gibt es keine Unterschiedenheit von<br />

Buddha und den Geschöpfen. Einzig und allein verblendetes Denken<br />

240


trennt sie. Ist die Verblendung aufgelöst, sind Geschöpfe und Buddha<br />

gleich.<br />

Gebt nie und nimmer dem Überdruß nach. Ist Euer Verlangen zu<br />

seicht, um in diesem Leben zur Erleuchtung zu gelangen, so werdet Ihr<br />

doch gewißlich im nächsten Leben zur Erleuchtung kommen, sofern<br />

Ihr gläubig ohne Unterlaß mit dem <strong>Zen</strong>-Üben fortfahrt - auch im<br />

Sterben noch -, gleich wie das, was heute begonnen ward, morgen<br />

leicht getan ist. Doch seid nicht nachlässig. Stellt Euch vor, Ihr läget<br />

in diesem Augenblick im Sterben. Was denn kann Euch einzig helfen?<br />

Was denn kann Euch davor bewahren, Eurer bösen Werke halber in<br />

die Hölle zu fahren? Zum Glück jedoch gibt es den Großen Weg zur<br />

Erlösung.<br />

Mancherlei zuvor gesagte Worte sind nur wie Zweige und Blätter.<br />

Einzig und allein betrachtet diese Worte in Eurem Innern: «Was ist<br />

mein Buddha-Geist?» Wollt Ihr mit einem Blick die Essenz aller<br />

Buddhas schauen, so müßt Ihr einzig die Gestalt <strong>des</strong> Eigenen-Einen-<br />

Geistes erkennen.<br />

Ist das, was ich sage, wahr oder falsch? Heftet stracks Euren Blick<br />

darauf und seht: «Was ist mein Buddha-Geist?» Wenn Ihr den Geist<br />

in der Erleuchtung gut erkennt, so wird sich der Lotus inmitten <strong>des</strong><br />

Feuers entfalten und in alle Ewigkeit nicht welken. Der Mensch ist<br />

von Anbeginn in diesem Lotus. Warum könnt Ihr das nicht begreifen?<br />

3. An Fürst NAKAMURA, Gouverneur der Provinz Aki<br />

«Geist hat keine feste Stätte und sollte dahinströmen», führt Ihr an<br />

und fragt dabei, wie Ihr <strong>Zen</strong> üben sollt. Nun gibt es keine besondere<br />

Weise, um Erleuchtung zu finden. Wenn Ihr nur unmittelbar in Euer<br />

Selbst-Wesen blickt und Euch nicht ablenken laßt, so wird die Herz-<br />

Blume erblühen. Daher denn heißt es in dem Sûtra, daß Geist keine<br />

feste Stätte habe und dahinströmen solle. Tausende und Zehntausende<br />

von Worten, die von Buddhas und Patriarchen gesprochen wurden,<br />

laufen einzig auf diesen einen Satz hinaus. Geist ist das Wahre<br />

Wesen der Dinge und übersteigt jegliche Form. Das Wahre Wesen ist<br />

241


der Weg. Der Weg ist Buddha. Buddha ist Geist. Geist ist nicht drinnen;<br />

Geist ist nicht draußen; Geist ist nicht dazwischen. Er ist nicht<br />

Sein; er ist nicht Nichts; er ist nicht Nicht-Sein; er ist nicht Nicht-<br />

Nichts. Er ist nicht Geist, er ist nicht Buddha, er ist nicht Materie.<br />

Also wird er «Geist ohne feste Stätte» genannt. <strong>Die</strong>ser Geist sieht mit<br />

den Augen Farben, hört Töne mit den Ohren. Forscht einzig geradewegs<br />

nach diesem Meister!<br />

Ein <strong>Zen</strong>-Meister alter Zeit (RINZAI) hat gesagt:<br />

«Unser aus den vier Grundelementen 25 gebildeter Leib kann diese Predigt<br />

nicht hören noch verstehen. Milz oder Magen, Leber oder Gallenblase können<br />

diese Predigt nicht hören noch verstehen. Leere Weite kann diese Predigt<br />

nicht hören noch verstehen. Was also hört und versteht diese Predigt?»<br />

Ringt darum, <strong>des</strong>sen unmittelbar innezuwerden. Bleibt Euer Sinn an<br />

irgendeiner Form, irgendeinem Gefühl haften, oder wird er von Vernunft<br />

oder begrifflichem Denken abgelenkt, so seid Ihr (von wahrer<br />

Wesensschau) so weit entfernt wie der Himmel von der Erde.<br />

Wie nun könnt Ihr mit einem Streich Geburt-und-Tod abschlagen?<br />

Dringt man vor ins Vernunftdenken, so verliert man sich in Wahn,<br />

doch weicht man zurück, so steht man dem höchsten Sinn entgegen.<br />

Wer es vermag, weder vorzudringen, noch zurückzuweichen, der ist<br />

ein «lebender Leichnam». Macht Ihr in dieser trostlosen Lage Euer<br />

Denken zunichte, und dringt Ihr mit dem Forschen ohne Unterlaß<br />

weiter ein, so werdet Ihr gewißlich zur Erleuchtung kommen und die<br />

Worte «Geist hat keine feste Stätte und sollte dahinströmen» begreifen.<br />

Augenblicklich wird Euch dann der Sinn aller <strong>Zen</strong>-Dialoge und<br />

Kôans einleuchten, wie auch die tiefgründige Bedeutung der Hunderttausende<br />

von Sûtras.<br />

Der Laie Ho fragte BASO: «Was ist es, das alles im Weltall übersteigt?»<br />

BASO erwiderte: «Darauf werde ich antworten, wenn Du die Wasser<br />

<strong>des</strong> West-Flusses 26 in einem Zuge ausgetrunken hast.» Augenblicklich<br />

25. Nämlich: Festes (Erde), Flüssiges (Wasser), Heißes (Feuer), Gasförmiges (Luft)<br />

26. Der West-Fluß ist ein großer Strom in China. — Eine andere Fassung <strong>des</strong><br />

gleichen Kôan lautet: «Hô erwiderte: ,Ich habe bereits die Wasser <strong>des</strong> West-<br />

Flusses in einem Zuge ausgetrunken.' ,Dann habe ich es Dir auch schon gesagt",<br />

versetzte BASO.»<br />

242


fand Hô tiefe Erleuchtung. Seht her, was bedeutet das? Erklärt das<br />

die Worte: «Geist hat keine feste Stätte und sollte dahinströmen»,<br />

oder weist es auf eben den hin, der dieses hört? Begreift Ihr nun noch<br />

nicht, so wendet Euch wieder dem Fragen zu: «Was ist es, das jetzt<br />

hört?» Findet das in diesem Augenblick heraus! Das Problem von<br />

Geburt-und-Tod ist schwerwiegend, und die Welt bewegt sich schnell.<br />

Karge mit der Zeit; die Zeit harret nicht <strong>des</strong> Menschen 27 .<br />

Euer Eigener Geist ist von Anbeginn Buddha. Wer das in der Erleuchtung<br />

erkennt, wird Buddha genannt; wer hierüber im Irrtum ist, den<br />

nennt man ein gewöhnliches Geschöpf. Beim Schlafen und Wachen,<br />

im Stehen und Sitzen und beim Arbeiten fragt Euch einzig und allein:<br />

«Was ist mein Eigener Geist?» Dabei müßt Ihr in den Ursprung<br />

blicken, aus dem die Gedanken hervorgehen. Wohlan denn, was ist<br />

dieser Meister, der eben jetzt die Dinge wahrnimmt, denkt, diesen<br />

Leib bewegt, arbeiten läßt, vorangehen und zurückkehren läßt? Um<br />

das zu erkennen, müßt Ihr Euch mit ganzem Willen darein versenken,<br />

es unablässig im Sinn tragen und nie vergessen. Solltet Ihr in<br />

diesem Leben dennoch nicht Erleuchtung finden, so schafft Ihr doch<br />

damit die Ursache, um ohne jeden Zweifel im nächsten Leben leicht<br />

zur Erleuchtung zu kommen.<br />

Beim Zazen denkt nicht im geringsten (in Begriffen von) Gut und<br />

Böse. Trachtet auch nicht zu hindern, daß Gedanken aufsteigen,<br />

sondern fragt Euch einzig stracks: «Was ist mein eigener Geist?»<br />

Auch wenn Ihr solchermaßen zutiefst forscht, so werdet Ihr doch<br />

nichts zu wissen finden, und Euer Herz wird in eine Sackgasse<br />

geraten. Im eigenen Innern findet Ihr auch nichts, was man «Ich»<br />

oder «Geist» nennen könnte, und auch keinerlei Form. Wohlan denn,<br />

was nur ist es, das all diese Dinge versteht? Kehrt Ihr in tiefster Betrachtung<br />

ganz zu Euch selbst zurück, so vergeht auch jener Sinn, der<br />

wahrnimmt, daß es dort nichts gibt. Da gibt es keine Vernunft mehr,<br />

nur gleichsam Leere Weite noch. Wird auch jener Sinn, der sich der<br />

Leeren Weite bewußt ist, bis zum Grunde zunichte, so erkennt Ihr,<br />

daß es keinen Buddha außerhalb <strong>des</strong> Eigenen Geistes gibt und keinen<br />

27. Siehe jedoch auch S. 235: «Heute ist der achte; morgen ist der <strong>drei</strong>zehnte.»<br />

243


Geist außerhalb <strong>des</strong> Buddha. Dann begreift Ihr zum ersten Mal, daß<br />

Ihr, wenn Ihr nicht mit Ohren hört, erst wahrhaft hört, wenn Ihr<br />

nicht mit Augen seht, erst wahrhaft die Buddhas aus Vergangenheit,<br />

Gegenwart und Zukunft schaut. In<strong>des</strong>sen, heftet Euch nicht an diese<br />

Worte, sondern erlebt es selbst.<br />

Seht doch nur, was denn ist Euer Geist? Von Anbeginn ist der Mensch<br />

seinem Urwesen nach Buddha. Da die Menschen das aber nicht glauben<br />

wollen und Buddha und die Wahrheit außerhalb dieses Geistes<br />

suchen, können sie nicht Erleuchtung finden, und, von gutem und<br />

schlechtem Karma umgetrieben, vermögen sie nicht, dem Kreislauf<br />

von Geburt-und-Tod zu entrinnen. <strong>Die</strong> Wurzel all der verschiedenen<br />

Karma-Fesseln ist Verblendung (also Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen<br />

aus Unwissenheit). Entschlagt Euch <strong>des</strong>sen, und Ihr seid ein<br />

erlöster Mensch. Gleich wie Asche, die ein Holzkohlenfeuer bedeckt,<br />

auseinandergetrieben wird, wenn man das Feuer anfächelt, so schwindet<br />

alle Verblendung dahin, sobald Ihr Euer Selbst-Wesen erkennt.<br />

<strong>Die</strong> beim Zazen aufsteigenden Gedanken sollt Ihr durchaus nicht hassen,<br />

noch sollt Ihr sie lieben. Laßt solche Gedanken unbeachtet beiseite,<br />

und blickt einzig unbewegten Sinnes in den Quell, daraus sie<br />

entspringen; so wird alle Verblendung, darin die Gedanken wurzeln,<br />

vertrieben, gleich wie Asche, die man vom Feuer wegfächelt. Eine<br />

andere Weise gibt es nicht. Ob Ihr Euch nun gleich nicht mehr eines<br />

Innen und Außen bewußt seid und (Euer Inneres) gleich der Leeren<br />

Weite geworden ist und alle Zehn Weltrichtungen klar und strahlend<br />

geworden sind, so wäre es doch ein Irrtum, das für Selbst-Wesensschau<br />

zu halten. Es hieße eine Fata Morgana als Wirklichkeit ansehen,<br />

wollte man meinen, daß man damit das Buddha-Wesen klar erkannt<br />

hätte. Jetzt forschet mit gar noch mehr Kraft nach dem Eigenen<br />

Geiste, der alle Laute vernimmt. Euer fleischlicher Leib, aus den<br />

vier Grundelementen gebildet, ist einem Phantom gleich und hat<br />

keine Wirklichkeit, aber gesondert von diesem Leibe gibt es nichts,<br />

was man Geist nennen kann. <strong>Die</strong> Leere Weite der Zehn Weltrichtungen<br />

wiederum kann nicht Farben sehen, noch Laute hören. Und<br />

doch: Etwas im Innern hört all die Töne, vernimmt den Schall -<br />

wer ist es?<br />

244


Wohlan denn, was ist das nur? Erhebt sich in Euch groß dieser Zweifel,<br />

so vergehen Euch die Unterschiede von Gut und Böse, und Ihr<br />

vergeßt, Euch <strong>des</strong> Seins und <strong>des</strong> Nichts bewußt zu sein - gleich als<br />

würde ein Licht in finsterer Nacht ausgelöscht. Seid Ihr auch Eurer<br />

selbst nicht mehr gewahr, so wißt Ihr doch, da Ihr alle Laute vernehmt,<br />

daß Ihr lebt. Wie sehr Ihr auch trachten mögt, das, was die<br />

Töne hört, zu erkennen, so wird doch alles Erkennen zunichte, und<br />

Ihr geratet immer mehr und mehr in eine Sackgasse. Urplötzlich bricht<br />

Euer Geist in die Große Erleuchtung auf, und gleich wie ein von den<br />

Toten Auferstandener werdet Ihr in Lachen ausbrechen und in die<br />

Hände klatschen vor Entzücken. In jenem Augenblick erkennt Ihr<br />

zum ersten Mal, daß der Eigene Geist Buddha ist. Fürwahr wollte<br />

einer fragen: «Wie sieht unser Buddha-Geist aus?» so würde ich antworten:<br />

«In den Bäumen spielen die Fische; im tiefen Wasser fliegen<br />

die Vögel.» Was heißt das? Wenn Euch das noch nicht einleuchtet,<br />

blickt in Eure eigene Seele und fragt: «Was ist der Meister, der sieht<br />

und hört?»<br />

Karge mit der Zeit; die Zeit harret nicht <strong>des</strong> Menschen.<br />

4. An einen Sterbenden<br />

Das Wesen Deines Geistes ward nicht ins Leben gerufen und geht<br />

nicht in den Tod. Es ist nicht Sein, es ist nicht Nichts. Es ist nicht<br />

Leere Weite, es ist nicht Sinnenhaftigkeit. Es ist auch nichts, was<br />

Schmerz und Freude fühlt. Wie sehr Du auch das, was jetzt krank<br />

und voller Schmerzen ist, zu erkennen trachtest, so erkennst Du es<br />

(mit dem Verstand) doch nicht. Wohlan denn, was ist die Geist-<br />

Substanz <strong>des</strong>sen, der Krankheit und Schmerzen erleidet? Darüber<br />

sinne nach, und außer diesem habe nichts im Sinn, auch keinen anderen<br />

Wunsch. Wolle auch nichts verstehen, und verlasse Dich auf sonst<br />

nichts. Wenn Du also Deine Tage beschließt, gleich wie Wolken am<br />

Himmel vergehen, so wird der Gang Deines Karma enden, und Du<br />

wirst alsbald erlöst sein.<br />

245


5. An den Laien IPPÔ (HOMMA SHÔKEN)<br />

Du siehst ihn von Angesicht zu Angesicht; aber wer ist Er? Was<br />

immer Du auch sagen magst, ist falsch. Und wenn Du nichts sagst, so<br />

ist es gleichermaßen falsch. Auf der Spitze einer Fahnenstange gebiert<br />

eine Kuh ein Kalb. Kommst Du an diesem Punkte zur Selbst-Wesensschau,<br />

so brauchst Du nichts weiter zu tun. Vermagst Du es nicht, so<br />

blicke in Dich, um Deines Buddha-Wesens innezuwerden. Ein jeglicher<br />

ist voll und ganz mit diesem Buddha-Wesen begabt. Dessen<br />

Substanz ist bei den Geschöpfen die gleiche wie bei allen Buddhas -<br />

ohne jeden Gradunterschied. <strong>Die</strong> Weltmenschen aber, in Irrtum<br />

befangen, fesseln sich ohne Strick und sagen sich: «Wir können nicht<br />

an Selbst-Wesensschau und den Weg der Erleuchtung heranreichen.<br />

Wenn wir Sûtras rezitieren und uns vor den Buddhas verneigen und<br />

solchermaßen der Gnade aller Buddhas teilhaftig werden, können wir<br />

am Ende den Weg betreten.» <strong>Die</strong> meisten, die das hören, bejahen das.<br />

Das ist, als führte ein Blinder viele Blinde. <strong>Die</strong>se Menschen glauben<br />

nicht an Buddha, nicht an die Sûtras, ja sie verleumden sie. Wieso<br />

das? Eitel Rezitieren der Sûtras heißt, sie nur (von außen) betrachten.<br />

Von «Buddha» zu sprechen, das ist nur eine andere Art, über das<br />

Wesen <strong>des</strong> Geistes zu sprechen. Ein Sûtra sagt:<br />

«Geist, Buddha und Geschöpfe lassen sich nicht scheiden.»<br />

Wer da nicht an den Eigenen Geist glaubt, aber sagt, er glaube an<br />

Buddha, gleicht einem, der an einen Namen glaubt, dieweil er das<br />

wahre Ding verschmäht. Das Wesen <strong>des</strong> Geistes kann er solchermaßen<br />

nicht schauen. Wer nur Sûtras rezitieren will, gleicht einem Hungrigen,<br />

der die dargebotene Speise zurückweist und sagt, er wolle seinen<br />

Hunger durch Betrachten der Speisekarte stillen. Je<strong>des</strong> Sûtra ist nur<br />

ein Verzeichnis <strong>des</strong> Geist-Wesens. In einem Sûtra heißt es:<br />

«<strong>Die</strong> Lehren der Sûtras sind einem Finger gleich, der zum Monde weist.»<br />

Kann der Buddha gewollt haben, daß man den Finger erkenne und<br />

<strong>des</strong> Mon<strong>des</strong> nicht gewahr werde? Einem jeglichen Menschen wohnen<br />

die Sûtras inne. Erblickst Du Dein Selbst-Wesen auch nur einen Nu,<br />

246


kommt es dem Lesen und Verstehen aller Sûtras gleich, und auch<br />

der kleinste Punkt bleibt nicht ungelesen, und ohne daß Du dabei<br />

auch nur ein Sûtra in der Hand hieltest oder ein Schriftzeichen<br />

läsest. Ist das denn nicht wahrhaft «Sûtra-Lesen»? Siehe, der grüne<br />

Bambushain ist eben Dein Geist, und jene üppig wuchernden gelben<br />

Blumen alle sind nichts Geringeres als die erhabene Weisheit <strong>des</strong><br />

Weltalls.<br />

Was nun das Verneigen vor den Buddhas angeht, so ist das doch nur<br />

ein Mittel, den Mast <strong>des</strong> Ich umzulegen in die Waagerechte, auf daß<br />

man das Buddha-Wesen verwirkliche. Wer nach Buddhaschaft trachtet,<br />

muß sich selbst zur Erleuchtung bringen, wie es auch um seine<br />

Fähigkeiten bestellt sein mag. Leider fangen manche, die das zufällig<br />

verstehen und Zazen üben, doch noch nicht große Erleuchtung<br />

fanden, unterwegs an, nachlässig zu werden. Wieder andere halten<br />

es für Erleuchtung, wenn das Vernunftdenken zeitweilig aussetzt<br />

und Gedanken-Losigkeit, Gestalt-Losigkeit einsetzt. Dann sind da<br />

jene, die es als ausreichend ansehen, wenn sie kein einziges Kôan<br />

vergessen, und andere wieder meinen, daß es der Wahre Weg sei,<br />

wenn sie die Gebote nicht übertreten oder gar in Wäldern leben, um<br />

dem Gut und Böse der Welt zu entfliehen. Noch andere behaupten,<br />

daß es gar keine Wahrheit zu erkennen gäbe oder doch jedenfalls<br />

nur gälte, eben Tee zu trinken, wenn Tee angeboten wird, und zu<br />

essen, wenn Speisen gereicht werden, oder plötzlich «Katsu!» zu brüllen,<br />

wenn sie nach dem Buddhismus gefragt werden, oder, den<br />

Kimonoärmel schwenkend, plötzlich hinwegzugehen mit einer Miene,<br />

als scherten sie sich um nichts; und das halten sie für den Weg. Sie<br />

üben nicht Zazen und schelten jene Narren, die fähige <strong>Zen</strong>-Meister<br />

aufsuchen und ernsthaft üben. Wenn solche Leute Wahrheitssucher<br />

genannt werden können, kann man auch sagen, daß ein <strong>drei</strong>jähriges<br />

Kind <strong>Zen</strong> versteht. Dann sind da jene, die meinen, daß man zur Abgeschiedenheit<br />

<strong>des</strong> Geistes gelangt sei, wenn Bewußtsein und Gedanken<br />

aufgehört und einen gleich wie einen verdorrten Baum oder kalten<br />

Stein zurückgelassen haben. Andere wieder meinen, daß man einen<br />

wichtigen Punkt erreicht habe, wenn man im Innern tiefe Leere<br />

spürt, Innen und Außen nicht mehr geschieden sind, und der ganze<br />

247


Leib strahlend und durchscheinend wird gleich dem blauen Himmel<br />

an einem heiteren Tage.<br />

Das tritt dann ein, wenn unser Wahres Wesen sich zu zeigen beginnt,<br />

doch ist das noch keine wahre Erleuchtung. <strong>Zen</strong>-Meister alter Zeit<br />

haben das die «tiefe Grube der Schein-Befreiung» genannt. Menschen,<br />

die solches gewahr wurden, behaupten, daß es in der Wahrheit nichts<br />

(mehr) zu erforschen gäbe, und führen sich hochmütig auf, obgleich<br />

sie leer und ohne Gehalt sind, und lieben es, sich eifrig an Debatten<br />

über Religion zu beteiligen; sie treiben mit Vergnügen ihre Gegner in<br />

die Enge, doch erhebt sich der Zorn in ihnen, wenn sie selbst in die<br />

Enge getrieben werden. Im Herzen sind sie voller Groll. Sie verwerfen<br />

das Gesetz von Ursache und Wirkung. Sie gehen einher und erzählen<br />

Witze mit lauten, plappernden Stimmen; absichtlich stören sie<br />

jene, die ernsthaft üben und lernen, und schelten sie Tölpel, die nichts<br />

mit <strong>Zen</strong> zu tun haben. Das ist gleich, als wollte ein Wahnsinniger<br />

einen auslachen, der bei Verstand ist. Ihre Anmaßung wächst von<br />

Tag zu Tag, und sie fahren pfeilschnell zur Hölle.<br />

Der erste Patriarch (BODHIDHARMA) hat gesagt:<br />

«Wer da sagt, daß alles Leere sei, und nichts von Ursache und Wirkung<br />

weiß, fährt in eine immerwährende pechschwarze Hölle.»<br />

<strong>Die</strong>se Lippenredner hören sich manchmal ähnlich an (wie <strong>Zen</strong>-Meister),<br />

doch können sie sich nicht von Verblendung und Eigenwillen<br />

befreien.<br />

<strong>Die</strong> meisten Anfänger halten das geringste Anzeichen von Wahrem<br />

Wesen für Satori. Ein <strong>Zen</strong>-Meister alter Zeit (RINZAI) hat gesagt:<br />

«Der ,Leib <strong>des</strong> Wahren Wesens' und der ,Grund <strong>des</strong> Wahren Wesens', solches<br />

sind Schatten (d. h. Begriffe), wie ich gewißlich weiß. Ihr müßt den<br />

finden, der den Schatten wirft; das ist der Ursprung aller Buddhas.»<br />

Manche Menschen sagen: «Wenn wir <strong>Zen</strong> üben und erlernen, so kommen<br />

uns mancherlei Ideen 28 , und solche Ideen sind eine Krankheit der<br />

Seele (so sagt man uns). Aus diesem Grunde ist Selbst-Wesensschau<br />

(durch <strong>Zen</strong>) nicht leicht. Wie aber, wenn wir den Geist weder durch<br />

28. Das heißt Begriffe über Satori, Mu, Ku usw.<br />

248


Erleuchtung noch durch Studieren <strong>des</strong> Buddhismus klar erkennen?<br />

Kann es Vergeltung geben, wenn wir doch all die Sünden nicht<br />

begehen? Wie, wenn wir niemals zur Buddhaschaft gelangen? Solange<br />

wir nicht den Drei Bösen Pfaden verfallen, warum sollten wir da um<br />

Erleuchtung ringen?»<br />

Antwort: <strong>Die</strong> Wurzel aller Sünde ist Verblendung, und diese Wurzel<br />

kann ohne Selbst-Wesensschau nicht ausgerottet werden. Im Leib der<br />

Geschöpfe gibt es sechs Sinneswurzeln, und in einer jeden davon sitzt<br />

ein <strong>Die</strong>b 29 . Jeder dieser sechs <strong>Die</strong>be führt <strong>drei</strong>erlei Gifte: Habgier,<br />

Zorn und Torheit. Es gibt keinen Sterblichen, der diese <strong>drei</strong>erlei<br />

Gifte nicht in sich hätte. <strong>Die</strong>se <strong>drei</strong> Gifte bilden die Ursache, deren<br />

Wirkung die Drei Bösen Pfade sind. <strong>Die</strong> Wirkungen ergeben sich<br />

unvermeidlich aus den Ursachen. Wer da sagt: «Ich bin ohne Sünde»,<br />

weiß nichts von diesem Gesetz. Auch wer da einen ungewöhnlich<br />

guten Lebenswandel führt, der hat doch schon von vornherein diese<br />

<strong>drei</strong> Gifte in sich. Wie ist es dann um jene bestellt, die oben<strong>drei</strong>n noch<br />

zahlreiche Vergehen hinzufügen?<br />

Frage: Wenn ein jeglicher die <strong>drei</strong> Gifte in sich hat, haben dann auch<br />

Buddhas, Patriarchen und heilige Weise sie? Wer kann denn dann<br />

den Drei Bösen Pfaden entrinnen?<br />

Antwort: Einzig durch Selbst-Wesensschau werden die <strong>drei</strong> Gifte<br />

umgewandelt: (Habgier) in das Halten der Gebote, (Zorn) in geistige<br />

Festigkeit und (Torheit) in Weisheit. Buddhas, Patriarchen und heilige<br />

Weise sind alle erleuchtet; welche Sünde denn sollten sie begehen<br />

können (aus Habgier, Zorn und Torheit)?<br />

Frage: Wenn auch Erleuchtete die <strong>drei</strong> Gifte in das Halten der<br />

Gebote, in geistige Festigkeit und Weisheit umgewandelt haben, wie<br />

denn kann man die Seele von der Krankheit der zuvor erwähnten<br />

Verblendung heilen?<br />

Antwort: Selbst-Wesensschau ist die einzige Arznei für all die zehntausend<br />

Krankheiten. Verlasse Dich nicht auf irgendeine andere<br />

Arznei. Habe ich Dir nicht schon früher gesagt: Finde den, der die<br />

Schatten wirft. Das ist der Ursprung aller Buddhas. Dein Buddha-<br />

Wesen gleicht dem demantenen Schwert <strong>des</strong> Vajra-Königs: Wer da<br />

29. <strong>Die</strong>b im Sinne von: Verführer.<br />

249


(in das Schwert) hineinläuft, der ist ein toter Mann 30 . Auch ist es<br />

gleich einer großen Feuersbrunst: Ein jeglicher in der Nähe verliert<br />

das Leben. Schaust Du erst Dein Wahres Wesen, so wird in einem Nu<br />

jeder böse Hang aus dem seit kalpas aufgehäuften Karma zuschanden,<br />

gleich wie eine Schneeflocke über offenem Feuer. Betrachtungen über<br />

Buddha, Betrachtungen <strong>des</strong> Dharma bestehen nicht mehr. Welche<br />

Krankheit der Seele sollte denn da verbleiben? Warum können all die<br />

karmisch bedingte Unwissenheit 31 und all das verblendete Denken<br />

und Meinen nicht getilgt werden? Einfach, weil wahre Wesensschau<br />

nicht stattgefunden hat. Ehe Du nicht zur Erkenntnis Deines Selbst-<br />

Wesens gelangt bist, kannst Du nicht hoffen, dem Rad-<strong>des</strong>-Lebens zu<br />

entrinnen, gleich wie man Wasser nicht am Kochen hindern kann,<br />

solange man das Feuer darunter nicht löscht.<br />

Glücklicherweise glaubst Du daran, daß es außerhalb der Schrifttexte<br />

und scholastischen Lehren einen besonders übermittelten Sinn gibt.<br />

Also was verlangst Du dann von diesen Texten? Wirf alle Vernunft,<br />

alles Verstehen von Dir, und schaue den Meister unmittelbar. Wer ist<br />

es, der in diesem Augenblick sieht und hört? Sage doch endlich, was<br />

ist denn das? Wenn Du dem Althergebrachten folgend sagst: Man<br />

nennt es Geist, man nennt es Wesen, man nennt es Buddha, man nennt<br />

es Ur-Antlitz, man nennt es Ursprüngliche-Heimat, man nennt es<br />

Kôan, man nennt es Sein, man nennt es Nichts, man nennt es Leere,<br />

man nennt es Form-und-Farbe, man nennt es das Gewußte, man<br />

nennt es das Ungewußte, man nennt es Wahrheit, man nennt es<br />

Wahn; ja, wenn Du irgend etwas sagst oder auch schweigst, es als<br />

Erleuchtung oder Irrtum bezeichnest, kommst Du sofort zu Fall.<br />

Wenn Du hinwiederum töricht an der Wirklichkeit dieses Meisters<br />

zweifelst, fesselst Du Dich ohne Strick. Wie sehr Du auch trachten<br />

magst, es zu benennen, es zu sagen und zu erkennen, so erkennst Du<br />

doch nichts. Selbst wenn alles an Dir zu einer einzigen Frage geworden<br />

ist und Du, nach innen gekehrt, bis zum Grunde vordringst und<br />

30. Vergleiche hiermit die Aussage, die im Alten Testament Gott beigelegt wird:<br />

«Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich<br />

sieht.» (2. Mose 33, 20)<br />

31. Japanisch: mumyo; skt.: avidyā.<br />

250


forschest, so fin<strong>des</strong>t Du doch im Kern Deines Seins nicht das Geringste,<br />

das da Geist oder Wesen genannt werden könnte. Und doch -<br />

ertönt ein Laut, so hört etwas, ruft einer Dich bei Namen, so antwortest<br />

Du. Finde augenblicklich heraus, wer Es ist!<br />

Wenn Du - da der Weg Deines Denkens versperrt, Deine Kraft<br />

erschöpft ist und Du gar nicht mehr weißt, was tun - dennoch weiter<br />

vordringst und Dich in den ungeheuren Abgrund von Feuer stürzt,<br />

die Hände hoch in der Luft - in das immerdar brennende Vajra-<br />

Flammenmeer Deines eigenen Ur-Wesens - so werden alle trügerischen<br />

Gedanken, Gefühle und Vorstellungen, zusammen mit der<br />

Wurzel Deines Lebens, zunichte, und der Ursprung Deines Selbst-<br />

Wesens tritt in Erscheinung. Dir wird sein, gleich als seist Du von den<br />

Toten auferstanden, alle und jede Krankheit ist vollends vergangen,<br />

und Du erlebst Frieden, Stille und Freude. Du hast vollkommene<br />

Freiheit. Zu eben der Zeit kannst Du deutlich erkennen, daß das<br />

Wandeln auf dem Wasser gleich dem Wandeln auf dem Erdboden<br />

und das Wandeln auf dem Erdboden gleich dem Wandeln auf dem<br />

Wasser ist, daß von morgens bis abends geredet und doch niemals ein<br />

Wort gesprochen wird, daß von morgens bis abends gegangen und<br />

doch niemals ein Schritt gemacht wird; daß, während die Wolken<br />

über den Süd-Bergen aufsteigen, Regen auf die Nord-Berge fällt; daß<br />

beim Anschlagen der Teishô-Trommel in China das Teishô in Korea<br />

beginnt; daß Du, da Du allein in einer <strong>drei</strong> Quadratmeter großen<br />

Kammer sitzt, alle Buddhas der Zehn-Weltrichtungen triffst; daß Du,<br />

ohne ein Schriftzeichen zu sehen, die mehr als siebentausend Schriftrollen<br />

der Sûtras liest; daß, auch wenn Du der Verdienste aller guten<br />

Werke voll bist, es doch in Wahrheit gar keine gibt.<br />

Willst Du wissen, was dieser Geist ist? Der Laie Ho fragte BASO:<br />

«Was ist es, das alles im Weltall übersteigt?» BASO antwortete: «Das<br />

werde ich dir sagen, wenn du die Wasser <strong>des</strong> West-Flusses in einem<br />

Zuge ausgetrunken hast.» Bei diesen Worten fand Ho tiefe Erleuchtung.<br />

Wie denn nun schluckst Du all das Wasser <strong>des</strong> West-Flusses?<br />

Kommt Dir bei diesen Worten das Begreifen, so kannst Du gleichzeitig<br />

durch tausend, zehntausend Kôans gehen und wirst <strong>des</strong>sen<br />

inne, was es heißt, daß das Schreiten auf dem Wasser gleich dem<br />

251


Schreiten auf dem Erdboden ist und das Schreiten auf dem Erdboden<br />

gleich dem Schreiten auf dem Wasser ist. Verfällst Du wiederum in<br />

den Irrtum, (zu glauben) ich beschriebe hier ein übernatürliches Wirken,<br />

so wirst Du dereinst eine rot-glühende Eisenkugel vor Yama<br />

Rāja schlucken müssen. Doch wenn es kein übernatürliches Wirken<br />

ist, für was denn soll man es halten? Blicke dem stracks ins Gesicht!<br />

6. An einen Mönch in der Shôbô-Einsiedelei<br />

(auf seine dringende Bitte bin)<br />

Da ich noch klein war, beunruhigte mich eine Frage vor allem: Was<br />

denn antwortet, abgesehen von diesem Leib, auf die Frage: «Wer bist<br />

du?» mit «Ich bin der-und-der?». <strong>Die</strong>se Beunruhigung ward, da sie<br />

einmal angehoben hatte, mit jedem Lebensjahre tiefer, und ich beschloß,<br />

Mönch zu werden. Dann erhob sich in mir das eine große<br />

Gelübde: Nun, da ich Mönch werde, kann ich den WEG nicht einzig<br />

zum eigenen Heile suchen. Erst wenn ich die Erhabene Wahrheit<br />

aller Buddhas erkannt und ein jegliches Geschöpf errettet habe, darf<br />

ich selbst höchste Vollkommenheit (d. h. Buddhaschaft) gewinnen.<br />

Zudem werde ich nicht Buddhismus studieren und die Riten und<br />

Übungen eines Mönchs erlernen, ehe nicht dieser Zweifel in meinem<br />

Innern geklärt ist. Solange ich in der Menschenwelt lebe, werde ich<br />

nirgends als bei großen <strong>Zen</strong>-Meistern und in den Bergen weilen.<br />

Da ich Mönch geworden war, ward diese Beunruhigung noch tiefer,<br />

und auch das Gelübde vertiefte sich (und ich dachte): Der letzte<br />

Buddha (SHAKYAMUNI) ist schon dahingegangen, und der zukünftige<br />

Buddha (Miroku) ist noch nicht erschienen. Mag es mir in dieser Zeitspanne<br />

32 , da gültiger Buddhismus am Erlöschen ist, nicht am Willen<br />

32. Wie viele seiner Zeit glaubte auch BASSUI, daß er sich am Beginn der Epoche<br />

<strong>des</strong> Zerfalls <strong>des</strong> Wahren Gesetzes befände, wie sie von dem Buddha selbst prophezeit<br />

worden war. Das Mohasannipāta Candragarbha-Sûtra führt an, daß der<br />

Buddha gesagt habe, daß in den ersten fünf Jahrhunderten nach seinem Nirvana<br />

seine Schüler entsprechend dem Rechten Gesetz Befreiung erlangen würden; in den<br />

zweiten fünf Jahrhunderten wären sie nur sicher, samâdhi zu erlangen; in den<br />

dritten fünf Jahrhunderten, die Sûtras zu lesen und zu rezitieren und in den vierten<br />

252


zur Wahrheit gebrechen, um in dieser Buddha-losen Welt alle<br />

Geschöpfe zu retten. Und sollte ich gleich für diese Sünde <strong>des</strong> Anhaftens<br />

(am Retten) in eine nie endende Hölle fahren, so will ich doch<br />

in all meinen wiederholten Leben in alle Ewigkeit nicht dieses<br />

Gelübde brechen oder <strong>des</strong>sen überdrüssig werden, sofern ich nur die<br />

Leiden der Geschöpfe auf mich nehmen kann. Auch will ich mich<br />

beim Zazen nicht aufhalten mit Betrachtungen über Geburt-und-Tod,<br />

noch einen Augenblick durch Tändeln mit guten Werken vergeuden.<br />

Auch werde ich die Menschen nicht blind machen (für die Wahrheit),<br />

indem ich zu ihrem Wohle wirke, solange meine eigene Kraft noch<br />

unzulänglich ist.<br />

<strong>Die</strong>ses Gelübde lag mir beständig am Herzen und ward mir beim<br />

Üben ein Hindernis; doch konnte ich nicht anders. Beständig betete<br />

ich zu allen Buddhas 33 , daß ich unter bösen wie guten Bedingungen<br />

einzig unter diesem Gelübde handeln und mein Gelübde erfüllen möge<br />

und daß ich mir die Augen aller Himmel zu Freunden machte. So ist<br />

es bis heute geblieben.<br />

Doch ist es sinnlos fürwahr, über mein verblendetes Herz zu sprechen.<br />

Da Du aber gewagt hast, danach zu fragen, teile ich Dir hier<br />

meine Bestrebungen als Novize mit.<br />

7. An die Nonne FURUSAWA<br />

Du hast geschrieben, daß man Geist-an-sich offenbar machen solle.<br />

Wie aber offenbart er sich? Was man mit Augen sehen, mit dem Verstand<br />

erkennen kann, das kann man nicht Geist-an-sich nennen. Wer<br />

mit Zazen beginnt, muß vor allem in die eigene Seele blicken. Wenn<br />

es der Gedanken und Vorstellungen allmählich weniger werden, wirst<br />

fünf Jahrhunderten Tempel und Pagoden zu bauen. In den fünften fünf Jahrhunderten<br />

würde das Gesetz zerfallen. Wenn man das Datum von Buddhas Nirvana<br />

mit etwa 476 v. Chr. annimmt, würde BASSUIS Geburt 1327 in die vierte Epoche<br />

fallen.<br />

33. Bittgebete sind im <strong>Zen</strong> nicht unbekannt. Anfänger beten oft zu Buddhas und<br />

Patriarchen um Kraft, sich vom Bösen und von der Verblendung läutern zu können,<br />

damit sie ihre geistigen Übungen erfolgreich durchführen mögen.<br />

253


Du Dir ihrer bewußt. Doch ist es falsch, wenn man darum ringt, sie<br />

anzuhalten. Verabscheue sie weder, noch liebe sie; trachte einzig, die<br />

Quelle zu erkennen, daraus die Gedanken entspringen. Forschest Du<br />

(ohne Unterlaß), von wannen die Gedanken kommen, wird nach<br />

geraumer Weile Dein Verstand ganz hilflos, eines jeglichen Gedankens<br />

ledig sein. Doch auch wenn Du solchermaßen hingegeben lange<br />

Zeit die Frage betrachtest, bricht sie doch noch nicht auf. So forsche<br />

denn weiter bis zum Grunde: «Was ist dieser Geist?» Und plötzlich<br />

wird der fragende Sinn verschwinden, und in Deinem Innern gibt<br />

es gar nichts mehr, nicht anders als in der Leeren Weite der Zehn<br />

Weltrichtungen.<br />

Hat man solchermaßen den Weg betreten, so findet man zum ersten<br />

Mal etwas Ermutigung. Doch ist man dieses Seelenzustands teilhaftig<br />

geworden und hält ihn gar für Geist-an-sich oder für die Lebendige<br />

Wahrheit, so gleicht man einem, der Fischaugen für Perlen hält. Wer<br />

sich geraume Zeit bei dieser Vorstellung aufhält, <strong>des</strong>sen Herz verfällt<br />

der Anmaßung, wird hochmütig; er lästert Buddhas, lästert Patriarchen,<br />

verwirft das Gesetz von Ursache und Wirkung. Solch ein<br />

Mensch muß in diesem Leben mit bösen Geistern kämpfen und verfällt<br />

schlimmen Pfaden im nächsten Leben. Doch unter günstigen karmischen<br />

Bedingungen wird er am Ende Erleuchtung finden. Wer<br />

jedoch die Wahrheit von all dem nicht einsehen kann und nicht daran<br />

glaubt, daß der Eigene Geist Buddha ist, und Buddha und die Wahrheit<br />

außerhalb dieses Geistes sucht, um den ist es weit schlechter<br />

bestellt als um einen Nicht-Buddhisten, der von der Welt der Erscheinungsformen<br />

besessen ist.<br />

Wie ich schon früher gesagt habe: Suche einen fähigen <strong>Zen</strong>-Meister<br />

auf, sobald Dir eine Einsicht gekommen ist, und eröffne ihm als<br />

nackte Wahrheit, wessen Du innegeworden bist; sollte er (Deinen<br />

Zweifel) vollends auflösen, gleich als würde Eis in kochen<strong>des</strong> Wasser<br />

geworfen, so wird der helle Mond erstrahlen; und wird auch noch die<br />

Leere Weite durchbrochen, so kannst Du zu Deinem Ur-Antlitz<br />

zurückkehren. Dann begreifst Du zum ersten Mal, was es heißt: «<strong>Die</strong><br />

Säge tanzt den Sandai.» Nun ist Sandai der Name eines Tanzes. Da,<br />

sieh Dir das nur an: <strong>Die</strong> Säge tanzt den Sandai! Was hat denn das<br />

254


für einen Sinn? Stracks blicke das an voll zweifelnden Fragens, doch<br />

ohne Denkkraft, denn im üblichen Sinn hat es keinen Sinn. Erst<br />

durch Selbst-Wesensschau wirst Du das begreifen.<br />

Wie ich höre, willst Du fasten. Das Fasten ist ein Weg außerhalb <strong>des</strong><br />

Buddhismus. Laß ab davon, laß unbedingt ab davon! Mache in Deinem<br />

Innern Deine irrigen Gedanken, Deine falschen Ansichten zunichte,<br />

mit denen Du Gewinn und Verlust, Gut und Böse unterschei<strong>des</strong>t;<br />

das ist wahres Fasten. Wenn Du von ganzem Herzen Zazen übst<br />

und Dich dadurch Deiner verblendeten Gedanken und Vorstellungen<br />

entschlägst, so heißt das langes Fasten. Auch ist es verfehlt, sich<br />

außergewöhnlich Wunderbares 34 zu wünschen oder anders als andere<br />

Menschen sein zu wollen. Halte einzig Deinen Sinn standhaft, doch<br />

dabei gelockert. Hefte Deine Augen nicht auf Gut-und-Böse bei<br />

anderen Menschen, und schade ihnen nicht. Wenn Du bedenkst, daß<br />

alles und je<strong>des</strong> (in dieser Welt) Traum und Wahn ist, da es keinen<br />

Jammer zu fliehen, keine Freude zu begehren gibt, wird Deine Seele<br />

sichtlich still und friedevoll werden. Und mit dem Dahinschmelzen<br />

Deiner Verblendung wirst Du auch nach und nach von Deiner<br />

Krankheit geheilt werden. Auch was Du in der Erleuchtung erkennst,<br />

mußt Du von Dir werfen, und mehr noch Gesichte, die Dir erscheinen<br />

mögen, welcher Art sie auch seien, denn wisse, es ist alles Wahn.<br />

So hefte Dich denn nicht daran, und hasse sie auch nicht. Laß Dich<br />

keinesfalls darein verwickeln, sondern forsche einzig und allein: «Was<br />

ist der Meister, der all das sieht?»<br />

<strong>Die</strong> Fragen, die Du gestellt hast, habe ich ausführlich beantwortet.<br />

Nun lies diesen Brief, und wenn Du nicht im min<strong>des</strong>ten davon abweichst<br />

und also übst ohne irgendeinen anderen Gedanken, so wirst<br />

Du, falls Du dennoch in dieser Lebenszeit nicht Erleuchtung fin<strong>des</strong>t,<br />

ohne Zweifel in Deinem nächsten Leben einem vollkommen erleuchteten<br />

<strong>Zen</strong>-Meister begegnen und tausendmal hintereinander Satori<br />

erleben durch einmaliges Anhören (<strong>des</strong> <strong>Zen</strong>-Meisters).<br />

Nur ungern schreibe ich solchermaßen im einzelnen. Doch hast<br />

Du mir aus langer Krankheit heraus geschrieben, so kann ich<br />

34. Also Halluzinationen und Phantasien durch langes Fasten.<br />

255


nicht schweigen und habe so geantwortet, daß es Dir leicht faßlich<br />

ist.<br />

8. Erster Brief an den <strong>Zen</strong>-Priester IGUCHI<br />

Ich habe Deine Darstellung gründlich gelesen, aber sie geht am Kernpunkt<br />

<strong>des</strong> Kôan vorbei. Der Sechste Patriarch hat gesagt:<br />

«<strong>Die</strong> Fahne bewegt sich nicht. Der Wind bewegt sich nicht. Dein<br />

Geist bewegt sich 35 .»<br />

<strong>Die</strong>ses klar und deutlich schauen, heißt erkennen, daß Himmel und<br />

Erde und wir selbst aus einer Wurzel stammen, daß wir und all die<br />

zehntausend Dinge ein Leib sind. Und auch das kleinste Teilchen ist<br />

kein abgelöstes Ding. Das Murmeln <strong>des</strong> Baches, das Rauschen <strong>des</strong><br />

Win<strong>des</strong>, das sind die Stimmen <strong>des</strong> Meisters. Das Grün der Kiefer,<br />

das Weiß <strong>des</strong> Schnees, das sind die Farben <strong>des</strong> Meisters, eben genau<br />

<strong>des</strong>selben, der die Hände aufhebt, die Füße setzt, Farben sieht und<br />

Laute vernimmt. Hat einer alles Wissen erschöpft und alles Verstehen<br />

hinter sich gelassen, so hat er solchermaßen Erkenntnis erlangt und<br />

ein wenig von seinem Selbst erschaut; doch ist das noch nicht wahre<br />

Selbst-Wesensschau.<br />

Ein <strong>Zen</strong>-Meister alter Zeit (RINZAI) hat gesagt:<br />

«Beachtet nicht, daß ihr reiner Dharma-kāya seid.»<br />

Der gleiche <strong>Zen</strong>-Meister hat gesagt:<br />

«Euer aus den vier Grundelementen gebildeter Leib kann diese Worte nicht<br />

hören noch verstehen; Leere Weite kann diese Worte nicht hören noch verstehen;<br />

was denn ist es, das hört und versteht?»<br />

Darein versenkt Euch tief geradewegs. Bemächtigt Euch dieses Kôan,<br />

gleich als führtet Ihr das demantene Schwert <strong>des</strong> Vajra-Königs. Was<br />

auch immer Euch in den Sinn kommen mag, schlagt alles nieder; kommen<br />

Euch weltliche Angelegenheiten in den Sinn, haut sie ab; kommen<br />

35. Mumon-Kan, Beispiel 29.<br />

256


Gedanken über buddhistische Lehren daher, schlagt sie nieder; zeigen<br />

sich Wahnvorstellungen, schlagt sie ab; <strong>des</strong>gleichen schlagt ab<br />

(Gedanken über) Erleuchtung, Buddha, Teufel, und geht unablässig<br />

mit der Frage um, was es denn sei, das hört. Habt Ihr alle Begriffe<br />

ausgerottet und gar noch Leere Weite abgeschlagen, so wird Euer<br />

Geist plötzlich aufbrechen, und das, was hört, wird sich offenbaren.<br />

Haltet nie und nimmer auf halbem Wege inne, bis Ihr den Punkt<br />

erreicht, da Ihr gleichsam von den Toten aufersteht. Dann erst werdet<br />

Ihr diese bedeutsame Frage (Was ist es, das hört?) vollends<br />

begreifen.<br />

Ich fürchte, es mag Euch ungelegen sein, mir öfter zu schreiben. So<br />

habe ich Euch denn diesen (ins einzelne gehenden) Brief geschrieben.<br />

Habt Ihr ihn gelesen, so werft ihn ins Feuer.<br />

9. Zweiter Brief an den <strong>Zen</strong>-Priester IGUCHI<br />

Euren Brief habe ich sorgfältig gelesen.<br />

Seit langem schon bewundere ich Euren Entschluß (zur Selbst-<br />

Wesensschau zu kommen), erachte Euren Willen für höchst dankenswert<br />

und bin erfreut, daß Ihr die Große Frage nicht vergessen habt.<br />

Eure Antwort habe ich in allen Einzelheiten beachtet. Hier möchte<br />

ich nur sagen: Macht Euer eigenes Ur-Wesen zu Eurem Kôan. Mögen<br />

Euch bei der Suche nach dem Meister, der die Laute vernimmt und<br />

spricht, auch unzählige Gedanken und Vorstellungen kommen, verwickelt<br />

Euch nicht darein, sondern forschet einzig mit aller Kraft:<br />

«Was denn nur ist das?» Dann wird ein jeglicher Gedanke und jede<br />

Seelenregung zunichte; gleich einem wolkenlosen Himmel (werdet Ihr<br />

Euch fühlen). Was da Geist genannt werden kann, das hat selbst<br />

keine Form. Wohlan denn, was ist es, das solchermaßen hört, sich<br />

einherbewegt und arbeitet? Schürft tiefer und tiefer in Euch, bis Ihr<br />

alle Dinge der Welt vollends vergeßt, so werdet Ihr gewißlich Erleuchtung<br />

finden gleich einem, der tief geschlafen hat und aus einem Traum<br />

erwacht. Wahrlich, in jenem Augenblick werden an verdorrten Bäumen<br />

Blumen erblühen, und Feuer wird aus Eis aufflammen. Da ist<br />

257


kein zweifeln<strong>des</strong> Fragen mehr. Buddhismus und weltliche Angelegenheiten,<br />

alles Gut-und-Böse, all das ist dann gleich dem Traum der vergangenen<br />

Nacht, und einzig und allein Ur-Buddha-Wesen wird sich<br />

offenbaren. Auch dann aber darf die Vorstellung, daß der Eine Geist<br />

Buddha-Ur-Wesen sei, nicht in Eurem Herzen verweilen. Verweilt<br />

Ihr dabei, so schafft Ihr neue Vorstellungen.<br />

Da ich Euren Willen (zur Wahrheit) so hoch schätze, habe ich Euch<br />

so ins einzelne gehend geschrieben 36 .<br />

Über Eure Gabe von fünfhundert Päckchen Reisknödel und einem<br />

Pfund Tee habe ich mich sehr gefreut.<br />

10. Dritter Brief an den <strong>Zen</strong>-Priester IGUCHI<br />

Euren Brief habe ich in allen Einzelheiten gelesen. Ja, über den Stand<br />

Eurer <strong>Zen</strong>-Übungen zu hören, ist sehr erfreulich. Aber wenn ich Euch<br />

ausführlich schreibe, so werdet Ihr gewiß über die Worte nachdenken,<br />

sie auslegen, und das wird Euch ein Hindernis werden (Erleuchtung<br />

zu finden).<br />

Trachtet denn, den Meister, der da forscht, unmittelbar zu gewahren.<br />

Buddhas und Patriarchen haben gesagt, daß dieser Geist (Meister)<br />

von Urbeginn an Buddha sei; doch ist er gleich traumhaftem Wahn 37 .<br />

Was denn an Eurem Leibe könnt Ihr Geist oder Buddha nennen?<br />

Befragt Euch einzig aufs eindringlichste, was es denn sei, was nicht<br />

genannt, nicht erkannt werden kann, also was für ein Meister es sei,<br />

der eben jetzt die Hände aufhebt, die Füße bewegt, spricht und Laute<br />

vernimmt. Bei solcher Betrachtung wird Euch der Verstand stillestehn,<br />

je<strong>des</strong> Sich-Verlassen auf Kraft enden, und Ihr wißt nicht mehr,<br />

36. Im ersten Augenblick erscheint diese Bemerkung im Widerspruch zu anderen<br />

Briefen zu stehen, in denen Bassui sagt, daß es nicht ratsam sei, bis ins einzelste zu<br />

schreiben. Bassui befürchtet stets, zu viel zu sagen, seine Empfänger mit Ideen zu<br />

überladen, die ihnen im Kopfe hängenbleiben und damit ein Hindernis für ihre<br />

Erleuchtung werden könnten. An dieser Stelle deutet Bassui an, daß er so bewegt<br />

von Priester Iguchis Eifer ist, daß er ihm trotz seiner Überzeugung solche Briefe<br />

schreibt.<br />

37. ungreifbar, substanzlos, unnennbar.<br />

258


wohin Euch wenden. Doch forscht nur umso hartnäckiger weiter, laßt<br />

alle Namen fahren, entschlagt Euch allen Denkens, und werft alles<br />

und je<strong>des</strong> von Euch. Wenn Ihr Euch einzig und allein mit ganzem<br />

Willen dahineinversenkt und bis zum Grunde damit Eins werdet, so<br />

werdet Ihr gewißlich Erleuchtung finden.<br />

Im Lauf der Zeit kommen unsere Gedanken zur Ruhe, man erlebt<br />

leere Leere einem wolkenlosen Himmel gleich und gewahrt gar nichts<br />

mehr. Doch dürft Ihr das nicht für Erleuchtung halten. Tut ab alles<br />

Vernunftdenken, und fragt Euch gar noch eindringlicher solchermaßen:<br />

«Da ist keine Form, die Geist genannt werden kann. Was nur ist es, das<br />

all die Laute vernimmt?»<br />

Seid Ihr in jeder Faser durchdrungen von solchem Forschen, so bricht<br />

die Leere Weite plötzlich auf, und Euer Ur-Antlitz vor Geburt von<br />

Vater und Mutter offenbart sich. Es ist gleich, als wäret Ihr jählings<br />

aus einem wirren Traum erwacht. Zu jener Zeit sucht eilends einen<br />

angesehenen <strong>Zen</strong>-Meister auf, und laßt Euch kritisch von ihm prüfen.<br />

Solltet Ihr in diesem Leben nicht zur Selbst-Wesensschau kommen,<br />

so werdet Ihr doch im nächsten Leben Erleuchtung finden, wie die<br />

<strong>Zen</strong>-Meister alter Zeit gelehrt haben, wenn Ihr auch in der To<strong>des</strong>stunde<br />

noch, aller anderen Sorgen ledig, einzig also forschet und<br />

sterbt, gleich wie Feuer erlischt.<br />

Eurem Wunsche folgend, habe ich Euch solchermaßen im einzelnen<br />

geschrieben, doch tat ich es widerstrebend. Lest es nur einmal, und<br />

werft es dann eilends ins Feuer, ohne es nochmals anzusehen. Betrachtet<br />

einzig zutiefst (die Frage), was die Laute vernimmt.<br />

Habt Ihr erst selbst Erleuchtung erlebt, werden Euch all meine Worte<br />

als Unsinn erscheinen.<br />

11. Vierter Brief an den <strong>Zen</strong>-Priester IGUCHI<br />

Es freut mich zu vernehmen, mit welchem Eifer Ihr Zazen übt.<br />

Obgleich das, was Ihr berichtet, ähnlich (wie ein <strong>Zen</strong>-Erlebnis) klingt,<br />

259


so ist es doch nur, was Ihr mit dem Verstand erkannt habt. <strong>Die</strong><br />

Große Frage ist nichts, was mit dem Verstande erkannt, mit Weisheit<br />

ersonnen werden kann, und selbst das, was durch Erleuchtung klar<br />

wird, ist noch (eine Art) Wahn. In einem der vorigen Briefe habe ich<br />

Euch geschrieben, daß das, was Töne hört, erst offenbar wird, wenn<br />

Ihr gleichsam von den Toten auferstanden seid. Packt Ihr die Frage:<br />

«Was denn ist es, das Töne hört?» fest an, so habt Ihr schließlich<br />

außer dieser Frage auch nicht das Geringste mehr im Sinn. Doch<br />

wäre es ein großer Irrtum, wolltet Ihr meinen, das sei nun die Offenbarung<br />

<strong>des</strong> Meisters, der Laute vernimmt.<br />

Ihr teilt mir mit, daß Ihr dieses Kôan ergriffen habt gleich einem<br />

Schwert und Euch jegliches damit aus dem Sinn geschlagen, auch<br />

Leere Weite durchstoßen habt und daß Euch außer diesem Fragen<br />

gar nichts mehr im Sinn sei. Wohlan denn, was denn ist es, das all<br />

dieses tut? Wenn Ihr das aufs gründlichste erforscht, werdet Ihr<br />

erkennen, daß es eben das ist, was die Laute vernimmt.<br />

Wenn Ihr das nicht bis zum Letzten ergründet, werdet Ihr doch<br />

einer sein, bei dem die Wurzel von Geburt-und-Tot nicht vollends<br />

ausgerottet ist, mögt Ihr auch noch so oft Satori erleben und den<br />

Buddhismus gut verstehen. Könnt Ihr auch über Buddhismus sprechen,<br />

so ist der Wahn in Eurem Herzen doch noch nicht vollends zunichte<br />

geworden, und er wird Euch unausweichlich im nächsten Leben<br />

auf die Drei Bösen Pfade stürzen. Wenn Ihr jedoch hierbei nicht innehaltet,<br />

sondern daran festhaltet, bis zum Tode weiterzuforschen,<br />

so werdet Ihr gewißlich im nächsten Leben Erleuchtung finden.<br />

Laßt es Euch nie und nimmer verdrießen, und werdet nicht träge,<br />

sondern versenkt Euch einzig aufs beste in Euer Kôan. Euer leibliches<br />

Sein kann nicht hören, noch hört Leere Weite. Wohlan denn, so<br />

forschet, was es denn sei, das Töne hört. Tut ab alle Vernunft, entschlagt<br />

Euch allen Sinnens, laßt alles Erwarten der Erleuchtung fahren,<br />

übersteigt alles Sorgen. Dann kommt Euer Verstand zum Stillstand,<br />

und Ihr wißt gar nicht mehr, was tun; und nun, da Ihr gar<br />

Erleuchtung und Weisheit dahingegeben habt, werdet Ihr sein gleich<br />

wie ein Baum oder Stein. Doch haltet hier nicht inne, sondern fragt<br />

Euch geraume Weile ohne Unterlaß aufs eindringlichste, und Ihr wer-<br />

260


det mit Gewißheit tiefe Erleuchtung finden und den Ursprung von<br />

Geburt-und-Tod zunichte machen und in die Gefilde der Abgeschiedenheit<br />

<strong>des</strong> Geistes gelangen. Ursprung von Geburt-und-Tod sind<br />

Verblendung und Eigenwille, was da Ich-Geist, der Geist <strong>des</strong> Ich,<br />

genannt wird. Ein <strong>Zen</strong>-Meister alter Zeit (RINZAI) hat gesagt:<br />

«Da ist nichts Besonderes zu erkennen; entschlagt euch einzig (der Vorstellung)<br />

gewöhnlicher Geschöpfe und Heiliger 38 .»<br />

Das Wesentlichste bei der Erleuchtung ist, daß das Ich zunichte wird.<br />

Ich habe Euch also im einzelnen geschrieben, doch wird es nicht gut<br />

sein, es anderen zu zeigen. Da Ihr mir aber in der Zwischenzeit so oft<br />

geschrieben habt, fühle ich mich gehalten, Euch also zu antworten.<br />

12. An eine Nonne<br />

Deinen Brief habe ich gründlich gelesen. Es ist eine Freude zu vernehmen,<br />

wie genau Du es mit dem <strong>Zen</strong>-Üben nimmst und ihm vor<br />

allem anderen den Vorzug gibst.<br />

Du teilst mit, daß Du einmal meintest, Du solltest Dich zur Hauptstadt<br />

begeben, nach Westen reisen, daß Du aber jetzt einsiehst, daß<br />

das ein irriger Gedanke war, und daß die Hauptstadt allenthalben<br />

sei, so daß Du nichts weiter zu tun hättest, als Dich, gleich wie geistesabwesend,<br />

zu fragen: «Was denn ist es?» Doch das genügt nicht.<br />

Hast Du auch die Hauptstadt allenthalben gefunden, so hast Du<br />

doch den Herrscher noch nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen.<br />

Der Herrscher ist Dein Ur-Antlitz vor Geburt von Vater und Mutter.<br />

Hast Du die Frage etwas «aufgebrochen», so ist Deine Seele gleich<br />

Leerer Weite. (Vorstellungen von) Buddhas, Geschöpfen, Vergangenheit<br />

und Gegenwart bestehen nicht mehr. Das Herz in Deinem Innern<br />

ist voll eines Friedens, dem klaren Mondschein gleich, der die Welt<br />

durchflutet. Solche Erscheinung aber läßt sich nicht fassen, läßt sich<br />

38. Mit anderen Worten: von Heiligen, von Buddhas, im Gegensatz zu gewöhnlichen<br />

Geschöpfen.<br />

261


Menschen gegenüber nicht mitteilen. Solches stellt sich ein, wenn man<br />

etwas Zazen geübt hat, doch ist die Seele noch krank, da beim Ich<br />

noch das Unterste zuoberst ist, und eben das (diese Verkehrung) ist<br />

der Ursprung von Geburt-und-Tod. <strong>Die</strong>sen Zustand (heiteren Friedens)<br />

zu durchbrechen, heißt solchen Ursprung zunichte machen.<br />

Wer <strong>des</strong> echten Verlangens nach Wahrheit ermangelt, der sammelt die<br />

Kôans der Alten, stellt Mutmaßungen darüber an und meint, er habe<br />

Erleuchtung erlangt. Hafte an nichts, was Du erkennst; forsche einzig<br />

nach dem Meister, der erkennt, so werden Deine vorgefaßten Meinungen<br />

zunichte, gleich wie ein Ding im Feuer verbrennt, gleich wie<br />

etwas durch das Schwert getötet wird. Wenn Du, nicht im geringsten<br />

mehr an Gut und Böse denkend, Dich bis zum äußersten erforscht<br />

hast mit dem «Was ist das?», wird sich der Meister offenbaren, und<br />

Du wirst Dich wie auferstanden von den Toten fühlen.<br />

TOKUSAN hat gesagt:<br />

«Auch wenn du über Es etwas sagen kannst, setzt es <strong>drei</strong>ßig Stockhiebe;<br />

und wenn du über Es nichts sagen kannst, setzt es <strong>drei</strong>ßig Stockhiebe.»<br />

Was tun, um der Strafe zu entgehen? Wenn Du dem Stock entkommen<br />

kannst, so begreifst Du, was es heißt: «Der Ostberg schreitet<br />

über das Wasser 39 .»<br />

Ich fürchte, ich habe zu viel geschrieben, doch habe ich also getan,<br />

weil ich Deinen Willen (Erleuchtung zu finden) schätze. All diese<br />

Worte sind nicht die meinen, sondern das, was ich von hervorragenden<br />

<strong>Zen</strong>-Meistern vernommen und gelernt habe.<br />

39. Das stammt aus UMMONS Gesammelte Aussprüche. - Ein Mönch fragte Ummon:<br />

«Woher kommen Buddhas?» UMMON erwiderte: «Der Ostberg schreitet über<br />

das Wasser.»<br />

262


Zweiter Teil<br />

Erleuchtung


Fünftes Kapitel<br />

Acht Erleuchtungserlebnisse<br />

zeitgenössischer Japaner<br />

und Menschen <strong>des</strong> Westens<br />

Einführung<br />

In den letzten Jahren haben Berichte über die Erleuchtung chinesischer<br />

<strong>Zen</strong>-Mönche alter Zeit ihren Weg in westliche Sprachen gefunden.<br />

Obgleich sie den lobenswerten Zweck verfolgen, den heutigen<br />

Leser zu inspirieren und zu unterrichten, haben sie paradoxerweise<br />

oft die gegenteilige Wirkung. Wenn ein heute lebender Mensch aus<br />

Orient oder Okzident die Wege zur Selbst-Wesensschau betrachtet,<br />

die jene Ehrwürdigen alter Zeit beschritten haben, wird er nur allzu<br />

leicht geneigt sein, sich zu sagen: «Das ist alles schön und recht für<br />

jene Menschen. Sie konnten Satori erlangen, da sie als Mönche abgeschieden<br />

vom Getümmel der Welt im Zölibat lebten, unbeschwert von<br />

Zuneigung und Verantwortung für Frau und Kinder. Das Leben war<br />

in jenen Tagen verhältnismäßig einfach. Für sie gab es noch keine<br />

hoch organisierte industrielle Gesellschaft, die an den Einzelnen unersättliche<br />

Anforderungen stellt. Der Geist ihrer Tage ist beträchtlich<br />

anders als der der meinen. Welche Bedeutung kann ihr Satori für<br />

mich haben?<br />

Gegen die folgenden Berichte aber kann kein derartiger Einwand<br />

erhoben werden. <strong>Die</strong>se Menschen aus Ost und West leben heute unter<br />

uns; sie sind weder Mönche noch weltfremde Einzelgänger, sondern<br />

Männer und Frauen aus dem Geschäftsleben, Geistesarbeiter, Künstler<br />

und Hausfrauen. Sie alle haben sich unter einem heutigen Meister<br />

im <strong>Zen</strong> geschult und ihr Selbst-Wesen in geringerem oder weiterem<br />

Ausmaß schauend erkannt. Ihre Berichte bezeugen, daß das, was<br />

265


Menschen taten, Menschen tun können, und daß Satori kein unerreichbares<br />

Ideal ist.<br />

<strong>Die</strong> meisten dieser Erleuchtungs-Geschichten erschienen zuerst in<br />

buddhistischen Veröffentlichungen auf Japanisch und wurden von<br />

dort ins Englische übersetzt 1 . Der Rest wurde eigens für dieses Buch<br />

erbeten. <strong>Die</strong> Manuskripte wurden so beschnitten, daß belanglose Hintergründe<br />

weggefallen sind, ohne jedoch den Gang der Ereignisse zu<br />

verletzen, die jene Menschen zu <strong>Zen</strong> hingetrieben hatten, oder ihre<br />

mannigfachen, persönlichen Reaktionen auf Zazen, sowie Grundbestandteile<br />

ihrer Schulung dabei zu opfern. Wir glauben, daß es zum<br />

Wert dieser Berichte als menschlicher Dokumente beigetragen hat, daß<br />

wir sie nicht nur streng auf die Wiedergabe der Umstände bei der<br />

Erleuchtung selbst beschränkt haben.<br />

Bei jedem Bericht wird einleitend Alter und Beruf <strong>des</strong> Menschen zur<br />

Zeit der Erleuchtung angegeben. Alle wurden bald nach dem Erlebnis<br />

geschrieben, mit Ausnahme <strong>des</strong> dritten, der erst zwanzig Jahre später<br />

zu Papier gebracht wurde. Bericht Nummer zwei ist der <strong>des</strong> Herausgebers<br />

und Nummer acht der seiner Frau.<br />

Sehr häufig kommt es durch reinen Zufall zu dem gewöhnlichen<br />

mystischen Erlebnis eines ausgeweiteten Bewußtseins, und da das mit<br />

keiner erprobten Schulungsmethode in Zusammenhang steht, einer<br />

Methode, durch die es aufrechterhalten und ausgeweitet werden<br />

könnte, bewirkt es eine nur geringe oder gar keine Umwandlung von<br />

Persönlichkeit und Charakter und verblaßt schließlich zu einer<br />

glücklichen Erinnerung.<br />

Satori ist keine solche Zufallserscheinung. Gleich einem Sproß, der<br />

aus einem besäten, gedüngten und gründlich gejäteten Er<strong>drei</strong>ch hervordringt,<br />

so kommt Satori zu einem Geist, der die Buddha-Wahrheit<br />

vernommen hat, an sie glaubt und dann in sich die erstickende Vorstellung<br />

von Selbst-und-Anders entwurzelt hat. Und ebenso, wie<br />

man einen sprießenden Sämling durch Pflege zur Reife bringen<br />

muß, so muß man auch, wie bei der <strong>Zen</strong>-Schulung betont wird, ein<br />

1. Bei der Übersetzung dieser Texte vom Englischen ins Deutsche wurden die<br />

japanischen Originale nur bei Unklarheiten herangezogen; d. Ü.<br />

266


erstes Satori durch darauffolgende Kôan-Übungen und (oder) Shikantaza<br />

ausreifen lassen, bis es unser Leben durch und durch neu<br />

beseelt. Mit anderen Worten: Um auf einer höheren Bewußtseinsebene,<br />

die durch Satori herbeigeführt wurde, zu wirken, muß man<br />

sich weiter schulen, um auch im Einklang mit diesem Innewerden der<br />

Wahrheit handeln zu können.<br />

<strong>Die</strong>se besondere Beziehung zwischen Satori und dem Nach-Satori-<br />

Zazen wird von einer kleinen Parabel in einem Sûtra aufgezeigt. In<br />

dieser Anekdote wird Satori mit einem Jüngling verglichen, der nach<br />

Jahren, da er mittellos in fernen Landen herumgewandert war, entdeckt,<br />

daß sein wohlhabender Vater ihm schon vor vielen Jahren sein<br />

Vermögen vermacht hat. Seine Bemühungen, von diesem Schatz, der zu<br />

Recht der seine ist, tatsächlich Besitz zu ergreifen und fähig zu werden,<br />

damit auch weise umzugehen, werden mit dem Nach-Satori-Zazen<br />

verglichen, also mit dem Erweitern und Vertiefen <strong>des</strong> Initial-Satori.<br />

Der feinfühlige Leser wird bemerken, daß die geschilderten Erleuchtungs-Erlebnisse<br />

an Klarheit und Tiefe verschieden sind, daß einige<br />

Menschen von dem «Ochsen» tatsächlich Besitz ergriffen haben, wie<br />

man sich im <strong>Zen</strong> ausdrückt, während andere kaum seine «Spuren»<br />

erblickt haben. Obgleich man Beispiele dafür finden kann, daß tiefgreifende<br />

Erleuchtung nach nur wenigen Jahren der Bemühungen<br />

erreicht wurde und ein wenig tiefes Satori sich nach langjährigen<br />

Anstrengungen einstellte, so ist doch die Erleuchtung in der Mehrzahl<br />

der Fälle umso umfassender und dauerhafter, je ausgiebiger,<br />

rückhaltloser und reiner Zazen vor Satori geübt wurde.<br />

Welcher Art waren nun diese Leute, die sich zu einer höheren<br />

Bewußtseinsebene aufschwingen konnten - gleich dem Karpfen in<br />

der chinesischen Fabel, der in mächtigem Schwung den Wasserfall<br />

hinaufsprang, um ein Drache zu werden -, zu einem völlig neuen<br />

Bewußtwerden alles Lebens und der allen Dingen zu Grunde liegenden<br />

«Leere»? Bestimmt war keiner von ihnen mit außergewöhnlichem<br />

Verstand begabt, noch mit übernatürlichen Kräften ausgestattet. Alle<br />

hatten Leid erfahren, aber nicht mehr als das, was einem Durchschnittsmenschen<br />

im Lauf seines Lebens widerfährt. Wenn sie überhaupt<br />

in irgendeiner Weise Ausnahmen darstellen, dann einfach<br />

267


durch ihren Mut, zu «gehen, ohne zu wissen, wohin - auf einem<br />

Wege, den sie nicht kannten», veranlaßt durch ihren Glauben an ihr<br />

Wahres Selbst.<br />

Der Sucher, der nicht findet, ist noch in seiner täuschenden Vorstellung<br />

von zwei Welten befangen: einer vollkommenen, die jenseits<br />

liegt, ohne Kampf 2 und voller Frieden und nie endender Freude; und<br />

einer anderen alltäglichen, sinnlosen Welt, voller Schmerz und<br />

Unheil, die es kaum wert ist, daß man sich in Beziehung zu ihr setzt.<br />

Insgeheim sehnt er sich nach der ersteren, wie er offen die letztere verachtet.<br />

Doch er zögert, sich in die furchtbare Leere, in den Abgrund<br />

seines eigenen Urwesens, zu stürzen, weil er sich unbewußt davor<br />

fürchtet, die ihm vertraute Welt der Dualität für die unbekannte<br />

Welt <strong>des</strong> Einsseins aufzugeben, deren Wirklichkeit er noch bezweifelt.<br />

<strong>Die</strong> Finder andererseits werden von keiner Furcht und keinem Zweifel<br />

zurückgehalten. Sie schütteln bei<strong>des</strong> ab und springen, weil sie<br />

nicht anders können - sie müssen es einfach tun und wissen nicht,<br />

warum -, und so triumphieren sie.<br />

Der größte Teil dieser Erleuchtungs-Erlebnisse ereignete sich bei<br />

Sesshin, einer Art der geistigen Schulung, für die es außerhalb <strong>des</strong> <strong>Zen</strong><br />

nirgends im Buddhismus ein genaues Gegenstück gibt. Sesshin dieser<br />

oder jener Art gehen bis auf Lebzeiten <strong>des</strong> Buddha zurück, da sich<br />

Mönche in der Regenzeit mehrere Monate lang in Abgeschiedenheit<br />

schulten. Zweck eines Sesshin ist es, wie schon das Wort besagt, den<br />

normalerweise zerstreuten Sinn zu sammeln und zu einen, so daß<br />

man ihn gleich einem starken Teleskop nach innen richten kann, um<br />

sein wahres Selbst-Wesen zu entdecken. Bei einem Sesshin werden<br />

während der siebentägigen Abgeschlossenheit 3 die grundlegenden<br />

Mittel der Belehrung und Methode <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> - also Zazen, Teishô (Darlegung<br />

in aller Form und für alle) und Dokusan (Einzel-Belehrung) –<br />

2. «Frieden der Seele bedeutet nicht das Ausbleiben von Kampf, sondern Ausbleiben<br />

von Unsicherheit und Verwirrung.» Aus einem Artikel über Yoga and<br />

Christian Spiritual Techniques von ANTHONY BLOOM in Form and Techniques of<br />

Altruistic and Spiritual Growth, herausgegeben von PTRIM A. SOROKIN, Beacon<br />

Press, Boston/Mass., 1954, S. 97.<br />

3. Das bezieht sich auf ein Kloster-Sesshin. Tempel-Sesshin und andere sind häufig<br />

kürzer als sieben Tage.<br />

268


zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefaßt. Satori ist natürlich<br />

nicht auf Sesshin beschränkt. Da aber ein Sesshin zweifellos sein wirksamster<br />

«Brutapparat» ist, dürfte es wertvoll sein, die Stufenfolge bei<br />

dieser einzigartigen Form <strong>des</strong> Geist-Schleifens etwas ausführlicher zu<br />

beschreiben, wenn der Leser einen klaren Einblick in diesen Inkubationsprozeß<br />

gewinnen soll.<br />

In einem Kloster beginnt ein Sesshin eigentlich schon am Vorabend<br />

mit bestimmten Zeremonien, ehe man in aller Form mit Zazen<br />

anfängt. Im schwach erleuchteten <strong>Zen</strong>dô, das eine Woche lang zur<br />

Nabe aller Wirksamkeit werden soll, versammeln gesetzte Mönchs-<br />

Älteste die Teilnehmer, um ihnen die Plätze anzuweisen, Neulinge<br />

darin zu unterweisen, wie sie das <strong>Zen</strong>dô unauffällig betreten und verlassen<br />

sollen, wie man bei den Mahlzeiten mit den Eß-Stäbchen und<br />

Eß-Schalen geräuschlos umgeht, wie man beim Kinhin geht und wie<br />

man sich leise auf die Sitzkissen setzt und davon erhebt.<br />

Nach Abschluß dieser Formalitäten werden alle durch die wuchtigen<br />

Schläge der riesigen Klostertrommel in die strahlend erleuchtete<br />

Haupthalle gerufen. <strong>Die</strong> Teilnehmer, in feierlicher Zazen-Gewandung,<br />

ordnen sich zu zwei Reihen einander gegenüber, durch die<br />

Weite der Halle voneinander getrennt, knien in der traditionellen<br />

japanischen Stellung nieder, verneigen sich voreinander zum Zeichen<br />

gegenseitiger Achtung und Verbundenheit mit dem Streben der anderen.<br />

Unterdrückte Erregung und lautlose Erwartung liegen in der<br />

Luft, wenn einige Minuten später der Rôshi und seine Haupt-Gehilfen<br />

in vollem zeremoniellem Ornat eintreten. Während sie zwischen<br />

den beiden Reihen dahinschreiten, um ihre Sitze am oberen Ende der<br />

Halle einzunehmen, verneigen sich wiederum alle, wobei sie diesmal<br />

mit dem Kopf die Tatami berühren, aus tiefer Hochachtung vor<br />

ihren Lehrern.<br />

Nachdem der Rôshi alle willkommen geheißen hat, sagt er im wesentlichen<br />

folgen<strong>des</strong>: Während <strong>des</strong> Sesshin dürft ihr nicht miteinander<br />

reden, da das Sprechen die geistige Konzentration zerreißt und<br />

dadurch eure eigene Übung wie die der anderen stört.<br />

Jeder von euch muß sich dem eigenen Zazen mit zielbewußter Ausschließlichkeit<br />

widmen, wobei auch die Anteilnahme an den Proble-<br />

269


men <strong>des</strong> Nachbarn ausgeschlossen ist. Wenn ihr dringende Fragen<br />

habt, könnt ihr sie mit den Mönchs-Ältesten behandeln, aber außer<br />

Hörweite der anderen.<br />

Eure Augen müßt ihr stets ohne scharfe Einstellung beim Sitzen, Stehen,<br />

Gehen und Arbeiten auf einer Stelle etwa einen Meter vor euch<br />

ruhen lassen. Wenn eure Augen herumirren oder sich an irgend etwas<br />

heften, entsteht durch diesen Kontakt ein Eindruck, der seinerseits<br />

einen Gedanken hervorruft. <strong>Die</strong> Gedanken mehren sich und summen<br />

schließlich gleich Fliegen im Kopf herum, wodurch sie die Konzentration<br />

schwierig, wenn nicht unmöglich machen. Laßt eure Augen <strong>des</strong>halb<br />

aus keinem wie immer gearteten Grunde abschweifen.<br />

Verzichtet beim Sesshin auf gesellschaftliche Höflichkeitsformen jeder<br />

Art. Grüßt euch nicht mit «Guten Morgen», und wünscht einander<br />

nicht «Gute Nacht»; macht einander keine Komplimente, und übt<br />

gegenseitig keine Kritik. Ferner dürft ihr es euch nicht angelegen sein<br />

lassen, anderen den Vortritt zu lassen; ihr solltet euch jedoch auch<br />

nicht vordrängen. Bei allen Verrichtungen solltet ihr euch weder hastig<br />

noch träge bewegen, sondern so natürlich wie fließen<strong>des</strong> Wasser.<br />

Es ist ratsam, beim Sesshin nicht mehr als die Hälfte <strong>des</strong>sen zu essen,<br />

was ihr sonst eßt. Wenn ihr dieser Mahnung folgt, wird euer Zazen<br />

wirksamer. Zazen ist jedoch keine Askese, und es ist nicht weise, sich<br />

<strong>des</strong> Essens ganz zu enthalten, da ihr durch nagenden Hunger gestört<br />

werden könntet, oder ihr fühlt euch zu schwach, um Zazen zu üben.<br />

Wenn ihr bei bestimmten Mahlzeiten kein Verlangen nach Essen habt,<br />

weil ihr euch vielleicht besonders anstrengt, könnt ihr natürlich das<br />

Essen zurückweisen.<br />

Eßt nicht zu schnell oder so langsam, daß alle auf euch warten müssen.<br />

Im Idealfall hören alle etwa gleichzeitig auf und stören so nicht<br />

den festgesetzten Rhythmus <strong>des</strong> Sesshin. Achtet darauf, nicht mit den<br />

Schalen zu klappern, wenn ihr sie auswickelt und wieder zusammenstellt<br />

4 , und kaut die eingelegten Rettiche so geräuschlos wie möglich.<br />

4. Jeder Teilnehmer bekommt vor Beginn <strong>des</strong> Sesshin einen Satz von vier ineinander<br />

gestellten Eß-Schalen und die Eß-Stäbchen, alles in ein Tuch eingewickelt.<br />

Ist die Mahlzeit beendet, wäscht jeder am Tisch Schalen und Stäbchen mit warmem<br />

Wasser, trocknet sie ab und wickelt alles wieder ein.<br />

270


Derartige Geräusche haben sich oft als lästig für Anfänger erwiesen.<br />

Aus irgendeinem Grunde stellen sich manche Leute vor, daß es für<br />

Frauen schwieriger sei als für Männer, zur Selbst-Wesensschau zu<br />

kommen. Ganz im Gegenteil aber erreichen Frauen Kenshô gewöhnlich<br />

schneller, da ihr Verstand weniger zum Spielen mit Gedanken<br />

geneigt ist als der der Männer. Aber Männer wie Frauen können<br />

innerhalb einer Sesshin-Woche Erleuchtung finden, wenn sie jeglichen<br />

Gedanken aus ihrem Kopf tilgen und ich-los werden. Vielen ist es in<br />

der Vergangenheit gelungen, und einigen Entschlossenen wird es bei<br />

diesem Sesshin gelingen.<br />

Schließlich merkt euch noch, daß ein Sesshin eine gemeinschaftliche<br />

Anstrengung ist, bei der es nur dann wechselseitige Unterstützung und<br />

Anregung gibt, wenn alle vereint an den Vorgängen <strong>des</strong> Sesshin teilnehmen<br />

und nicht ihren eigenen Neigungen folgen. Den eigenen Wünschen<br />

auf Kosten der gemeinsamen Bemühungen nachzugeben, ist ein<br />

Ausdruck <strong>des</strong> Ich und daher eurem Ziel, dem eigenen wie dem<br />

gemeinsamen, abträglich.<br />

Der Rôshi schließt, indem er alle ermahnt, ihr Äußerstes zu leisten.<br />

Danach werden Tee und Kuchen gereicht, zuerst dem Rôshi, dann<br />

den Mönchs-Ältesten und danach allen Versammelten. Der Rôshi<br />

nippt als Erster an seinem Tee; ihm folgen die anderen. Er ißt auch<br />

als Erster von seinem Kuchen, und danach essen alle.<br />

<strong>Die</strong>ses Ritual ist nicht ohne Bedeutung. Es symbolisiert die Vereinigung<br />

von Herz und Geist aller bei diesem gemeinsamen Unternehmen.<br />

Gleichzeitig ist es ein Ausdruck <strong>des</strong> Vertrauens der Schüler in ihren<br />

Lehrer, von dem sie sich führen lassen wollen, und ihres Glaubens an<br />

den Dharma, den er auslegt. Ist diese Zeremonie vorüber, so ziehen<br />

sich der Rôshi und seine Gehilfen zurück, und wiederum verneigen<br />

sich alle wie zuvor.<br />

<strong>Die</strong> Glocke schlägt neun Uhr, und alle gehen zu Bett. Sechs Stunden<br />

später beginnt das große Wagnis.<br />

Bong! Bong!... 3 Uhr früh ... das Sesshin hat begonnen!<br />

Leicht benommene Neulinge reiben sich die verschlafenen Augen, fummeln<br />

mit Schlafmatten herum ... Erfahrene falten mit flinken Händen<br />

das Bettzeug und verstauen es geschwind, gehen zur Toilette,<br />

271


putzen sich die Zähne, tauchen das Gesicht in kaltes Wasser, ziehen<br />

sich an, besteigen das tan (Zazen-Plattform) mit hurtigen Bewegungen,<br />

rücken ihre Sitzkissen zurecht, beginnen mit Zazen, ohne Zeit,<br />

ohne Mühe zu vergeuden. Schlaftrunkene Anfänger steigen ungeschickt<br />

auf das Tan, ordnen ihre Kissen, rücken sie anders zurecht,<br />

rutschen herum, ordnen von neuem ...<br />

Minuten später tritt der Rôshi ein. Er geht hinter den Sitzenden entlang,<br />

prüft die Rücken, die seinem erfahrenen Auge geistige Spannung<br />

oder Schlaffheit beredter kundtun als die Gesichter ...<br />

Eine durchsackende Wirbelsäule streckt sich unter einem leichten<br />

Schlag mit seinem Stab, eine andere reckt sich auf ein nur geflüstertes<br />

Wort, einen Rat oder eine Ermutigung hin auf. Jeder Sitzende grüßt<br />

den vorübergehenden Rôshi mit Gasshô, der universalen Gebärde der<br />

Demut, Hochachtung und Dankbarkeit.<br />

Der Rôshi wird nun meistens den Versammelten, die der Wand zugekehrt<br />

sitzen, eine anfeuernde Anekdote über einen ehrwürdigen <strong>Zen</strong>-<br />

Mann alter Zeit oder über einen bemerkenswerten Menschen der<br />

Gegenwart erzählen.<br />

«Letzten En<strong>des</strong>», so schließt er, «war er auch nur ein Mensch. Wenn<br />

er Satori erreichen konnte, so könnt ihr es auch.» Zähne grimmig<br />

zusammengebissen ... das Ringen hat begonnen.<br />

Bing! Bing!... Kinhin ... Fünfundvierzig Minuten sind verstrichen.<br />

Alt-Erfahrene schnellen mit einem Schwung von ihren Kissen hoch,<br />

landen katzengleich auf ihren Füßen, reihen sich ein und gehen im<br />

<strong>Zen</strong>dô im Kreis herum, die Hände vor der Brust übereinandergelegt,<br />

gemessenen Schrittes, gesammelten Geistes ... Bing!... Kinhin ist<br />

zu Ende. Einige steigen schnell auf das Tan, andere eilen zur Toilette<br />

... Bing! Bing! Bing!... <strong>Die</strong> nächste Sitzrunde hat begonnen.<br />

Der scharfe Geruch eines neuen Räucherstäbchens 5 zieht durch das<br />

<strong>Zen</strong>dô.<br />

Etwa zwanzig Minuten später schlüpft der godô, der Haupt-Bevollmächtigte<br />

<strong>des</strong> Rôshi, geschmeidig vom Tan. Er holt den Kyosaku,<br />

der im Schrein in der Mitte <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>dô liegt, Symbol für MONJUS<br />

5. <strong>Die</strong> Sitzzeit von 45 Minuten wird durch das Abbrennen von Räucherstäbchen<br />

bestimmer Länge gemessen.<br />

272


verblendung-zerschlagen<strong>des</strong> Schwert, ergreift ihn an beiden Enden,<br />

verneigt sich tief vor MONJU ...<br />

Geräuschlos pirscht der godô durch das <strong>Zen</strong>dô und schätzt die so<br />

verräterischen Haltungen ab. Kein Laut, nur der kaum hörbare<br />

Unterton <strong>des</strong> Schnaufens und Keuchens der Anfänger, die sich verzweifelt<br />

körperlich statt geistig anstrengen, um flüchtiger Gedanken<br />

Herr zu werden.<br />

Krach! ... Der Kyosaku landet mit voller Gewalt auf einer Ecke <strong>des</strong><br />

Tan ... Gemurmel gleich Wind, der durch Ähren streicht, kommt<br />

von den leicht erschreckten Neulingen. Stille... ohrenbetäubende<br />

Stille ...<br />

Krach! Krach ... Während er auf Sitzende eindrischt, deren krumme<br />

Rücken schlappen Sinn anzeigen, brüllt der godô: «Nur noch fünfzehn<br />

Minuten bis zum Dokusan! Rafft euch zusammen! Konzentriert<br />

euch, konzentriert euch! Trennt euch nicht um Haaresbreite von<br />

eurem Kôan! ... Ihr müßt dem Rôshi eine Antwort bringen, nicht<br />

eine Niete!»<br />

Zusammengesackte Körper straffen sich. Das Schnaufen und angestrengte<br />

Keuchen wird lauter.<br />

Bang! Bang! ... Dokusan!<br />

«Los!» schreit der godô gellend. <strong>Die</strong> Spannung ist gerissen; alle laufen<br />

voller Eifer, um sich in der Schlange anzureihen, mit Ausnahme<br />

von ein paar Widerwilligen.<br />

«Wollt ihr die Wahrheit oder nicht!» bellt der godô die Nachzügler<br />

an. Einen oder zwei reißt er vom Tan hoch und treibt sie mit seinem<br />

Kyosaku zur Dokusan-Reihe; andere ignoriert er kalt.<br />

Bei den meisten Kloster- und Tempel-Sesshin spielt der Kyosaku eine<br />

höchst wichtige und oft entscheidende Rolle, die ihren dramatischen<br />

Höhepunkt kurz vor dem Dokusan erreicht. Der wichtigste Zweck<br />

<strong>des</strong> Kyosaku ist es, bei den Sitzenden jede Spur schlafender Energie<br />

aufzurütteln, um sie in die Lage zu versetzen, ihre schützende Hülle<br />

der Selbst-Verblendung zu durchbrechen und zu wahrem Selbst-<br />

Begreifen zu kommen. Kein einziges Element der <strong>Zen</strong>-Schulung ist<br />

jedoch lauter kritisiert und keines weniger verstanden worden als der<br />

273


Gebrauch <strong>des</strong> Stocks - von Asiaten wie von Menschen <strong>des</strong> Westens.<br />

Verdammt als «sadistischer Ausdruck der japanischen Kultur» und<br />

als «abscheuliche Perversion <strong>des</strong> Buddhismus», ist er in Wirklichkeit<br />

keines von beiden. Der Kyosaku wurde gleichzeitig mit <strong>Zen</strong> selbst aus<br />

China eingeführt 6 . Er ist wahrscheinlich ein kräftigerer Abkömmling<br />

einer kleinen Rute, wie sie sogar schon zu Lebzeiten <strong>des</strong> Buddha verwendet<br />

wurde, um dösende Mönche zu wecken; sie war so gebildet,<br />

daß sie pfiff, wenn man sie neben dem Ohr schwang 7 . <strong>Die</strong> <strong>Zen</strong>-Meister<br />

in China hatten offenbar zu irgendeinem Zeitpunkt das Gefühl,<br />

daß ihre Schüler zur Anspornung mehr brauchten als angenehme<br />

Töne oder einen gelegentlichen Schlag mit der flachen Hand oder<br />

einen Stoß mit der Faust. So wurde der Vorfahre <strong>des</strong> Kyosaku geboren,<br />

um diesem Bedürfnis abzuhelfen.<br />

Kyosaku werden in verschiedenen Größen und Formen und von<br />

verschiedener Schwere hergestellt. <strong>Die</strong> aus Hartholz gefertigten<br />

gebraucht man im Winter, wenn Mönche und Laien dickere Kleidung<br />

tragen, die aus Weichholz im Sommer, wenn sie leicht gekleidet sind.<br />

Das Ende <strong>des</strong> Kyosaku ist paddelförmig abgeflacht zu einer Breite<br />

von vielleicht 7,5 <strong>Zen</strong>timetern, während das Griffende rund ist, damit<br />

man es fest fassen kann. In einigen Klöstern und Tempeln mißt der<br />

Kyosaku bis zu einem Meter Länge, bei anderen nicht mehr als 75<br />

<strong>Zen</strong>timeter.<br />

Man verwendet den Kyosaku, um schläfrige Sitzende aufzurütteln,<br />

Erschöpfte zu ermuntern oder um sehr Bemühte anzuspornen, aber er<br />

wird niemals als Züchtigung oder aus persönlicher Gereiztheit<br />

gebraucht. Das geht schon aus der Tatsache hervor, daß der Geschlagene<br />

seine Hände zum Gasshô aufhebt, um dem godô seine Dankbarkeit<br />

zu erweisen, der seinerseits diese Gebärde durch eine Verneigung<br />

erwidert - bei<strong>des</strong> im Geiste gegenseitiger Hochachtung und wechselseitigen<br />

Verstehens. In einem Kloster werden die schwersten Hiebe<br />

mit dem Kyosaku den Ernsthaften und Mutigen vorbehalten und nicht<br />

6. Über die Anwendung <strong>des</strong> Kyosaku in neuerer Zeit in chinesischen <strong>Zen</strong>-Klöstern<br />

siehe die kurze Beschreibung von JOHN BLOFELD in Rad <strong>des</strong> Lebens, Rascher,<br />

Zürich, 1961, S. 195.<br />

7. <strong>Die</strong>se Information gab mir YASUTANI Rôshi.<br />

274


an Drückeberger und Furchtsame verschwendet. Das Sprichwort, daß<br />

man ein armseliges Pferd nicht zu schnellem Lauf anspornen kann,<br />

wie kräftig und wie oft man ihm auch die Peitsche geben mag, wird<br />

im <strong>Zen</strong>dô gut verstanden.<br />

In Sôtô-Klöstern und -Tempeln sitzt man mit dem Gesicht der Wand<br />

und nicht einander zugekehrt wie bei der Rinzai-Sekte. Der godô<br />

schlägt also mit dem Kyosaku von hinten her nach seinem Gutdünken<br />

8 und gelegentlich ohne jede Warnung 9 . In den Händen eines<br />

feinfühligen, erleuchteten godô, der fähig ist, das Eisen zu hämmern,<br />

wenn es heiß ist, oder das Eisen überhaupt erst durch Schläge zu<br />

erhitzen, hat der Kyosaku nicht seinesgleichen, um die Bemühungen<br />

um Konzentration zu höchster Intensität zu bringen. Und genau wie<br />

eine einfühlsam angewandte Peitsche ein Rennpferd zu höchster<br />

Geschwindigkeit antreiben kann, ohne ihm zu schaden, so kann auch<br />

ein weise versetzter Schlag mit dem Kyosaku auf den Rücken eines<br />

sich mühenden Sitzenden, ohne ihm weh zu tun, aus diesem einen<br />

Ausbruch übermenschlicher Energie herausholen, der zu dem dynamisch<br />

in einem Punkt gesammelten Bewußtsein führt, wie es für<br />

Satori unerläßlich ist. Auch zu weniger kritischen Zeiten, besonders<br />

am späteren Nachmittag und am Abend, wenn ein zusammengesunkener,<br />

erschöpfter Körper die geistige Spannung erschlaffen läßt und<br />

damit ganzen Horden von Gedanken den Weg frei gibt, wird ein<br />

Hieb auf die Schulter zur rechten Zeit alle Gedanken aus dem<br />

Kopf vertreiben und gleichzeitig unvermutete Energie-Reserven frei<br />

machen.<br />

Es kann gar nicht genug betont werden, daß die Anwendung <strong>des</strong><br />

Kyosaku nicht einfach eine Sache <strong>des</strong> Schlagens mit einem Stock ist.<br />

Bei dieser Handlung verbinden sich Erbarmen, Kraft und Weisheit.<br />

In einem erstklassigen Kloster oder Tempel ist der godô ausnahmslos<br />

ein Mensch starken Geistes, doch mitfühlenden Herzens. Ja, wenn<br />

8. Häufig bitten die Sitzenden auch um den Kyosaku, indem sie mit den im<br />

Gasshô bis in Kopfhöhe aufgehobenen Händen ein Zeichen geben.<br />

9. Im allgemeinen jedoch geht dem Schlag eine Warnung durch ein leichtes Antippen<br />

der Schulter voraus. Bei der Rinzai-Sekte wird man von vorn geschlagen, so<br />

weiß man immer vorher, wann man geschlagen wird.<br />

275


sein Kyosaku ein Sporn und kein Dorn sein soll, muß er sich mit den<br />

tiefsten geistigen Bestrebungen der Sitzenden identifizieren. Man hat<br />

sehr richtig gesagt, daß Liebe ohne Kraft Schwäche ist und Kraft<br />

ohne Liebe Brutalität.<br />

Es läßt sich jedoch nicht leugnen, daß der Kyosaku für den Durchschnittsmenschen<br />

aus dem Westen weit eher eine Bedrohung bleiben<br />

wird, anstatt ein willkommener Ansporn zu sein, da der westliche<br />

Mensch sich einfach die Vorstellung, daß Stockschläge unter allen<br />

Umständen eine Beleidigung seiner Würde sind, nicht aus dem Kopf<br />

schlagen kann.<br />

Auf das Dokusan folgt das Intonieren der Sûtras, was durch ein<br />

scharfes K-l-a-p-p! der Schlaghölzer 10 angekündigt wird. Auf dieses<br />

Zeichen hin gehen alle in einer Reihe hintereinander nach draußen,<br />

begrüßt vom ersten kalten Hauch der Morgendämmerung, einen offenen,<br />

überdachten Verbindungsgang entlang und von dort weiter zur<br />

Haupthalle. Dort nehmen die Laien auf der einen Seite Platz, die<br />

Mönche auf der anderen. Dokusan und zwei Stunden Zazen haben<br />

den Geist zu solcher Klarheit und Sammlung auf einen Punkt gebracht,<br />

daß jede Körperhaltung und -bewegung beim Niederwerfen<br />

und beim Rezitieren der Sûtras neuen Sinn und neue Bedeutsamkeit<br />

gewinnt. <strong>Die</strong> rhythmischen Schläge auf das Mokugyo, der tiefe Klang<br />

der beckenartigen Bronzetrommel, die flackernden Kerzen auf dem<br />

Butsudan (buddhistischer Altar) und der frische Duft <strong>des</strong> Räucherwerks,<br />

all das spielt zusammen, um den Geist noch mehr zu schärfen.<br />

Nach dem Rezitieren findet um halb sechs die erste Mahlzeit statt.<br />

Sie besteht aus Reisschleim mit einer Beilage von Gemüsen und eingelegten<br />

Rettichen. <strong>Die</strong>se einfache Kost dient nicht dem Genuß, sondern<br />

nur der Ernährung <strong>des</strong> Körpers, um ihm Kraft zu geben, dem<br />

Weg <strong>des</strong> Buddha zu folgen. Aber man fängt nicht gleich an zu<br />

essen. Zunächst beginnt auf das Kling-a-Ling der Handglocke <strong>des</strong><br />

Mönchs-Ältesten hin die Tisch-Rezitation mit dem Ausdruck <strong>des</strong><br />

Glaubens an die Drei Kostbarkeiten in Einem, das heißt an Birushana,<br />

an das Gesetz von Ursache und Wirkung und an die Buddhas aller<br />

10. Zwei etwa 15-20 cm lange Hölzer von quadratischem Querschnitt.<br />

276


Welten. Das Rezitieren hört dann vorübergehend auf, während jeder<br />

die vier ineinander gestellten Lackschalen und die Eß-Stäbchen, wie<br />

sie für das Sesshin zur Verfügung gestellt werden, aus dem Tuch auswickelt<br />

und vor sich aufstellt.<br />

Kling-a-Ling! Man nimmt das Rezitieren wieder auf mit dem<br />

Glaubensbekenntnis zu Person und Leben <strong>des</strong> Buddha, zum Dharma<br />

und den großen Vorbildern der Lehre <strong>des</strong> Buddha, nämlich den<br />

Bodhisattvas Monju, Fugen und Kannon, und zu den Patriarchen. Nun<br />

wird der Reisschleim aus einem großen Holzzuber geschöpft und das<br />

Gemüse herumgereicht.<br />

Bevor man jedoch irgend etwas anrührt, wird wiederum rezitiert,<br />

wobei man sich ins Gedächtnis ruft, daß einem das Mahl, das man<br />

sich zu essen anschickt, durch die Arbeit vieler Menschen zugekommen<br />

ist, und daß man nur dann berechtigt ist, es zu empfangen,<br />

wenn unser Sinn rein und unsere Bemühungen ernsthaft sind. Wenn<br />

man davon nimmt, muß alles mit Dankbarkeit und nicht mit Gier<br />

empfangen werden und ohne Bevorzugung oder Abscheu.<br />

Nun bleibt nur noch ein Ritual zu vollziehen, ehe man wirklich ißt.<br />

Ein jeder nimmt etwa ein halbes Dutzend Reiskörner aus seiner<br />

Reisschale und legt sie auf eine eigens zu diesem Zweck herumgereichte<br />

Holzschaufel. <strong>Die</strong>se symbolische Opfergabe gilt den unsichtbaren<br />

«Hungrigen Geistern» dieser und jener Welt, die sich durch<br />

ihre Habgier zu elenden Daseinsformen verdammt haben. Wenn<br />

das Mahl schließlich gegessen wird, verzehrt man es schweigend, so<br />

daß die Konzentration, sei es auf ein Kôan, sei es auf das Zählen<br />

der Atemzüge oder auf das Essen selbst ununterbrochen weitergehen<br />

kann.<br />

<strong>Die</strong> Mönchs-Aufwärter kommen insgesamt <strong>drei</strong>mal mit dem großen<br />

Zuber mit Reisschleim. Wer noch einmal nehmen möchte, reicht seine<br />

Reisschale hin und wartet, die Hände im Gasshô, während man ihn<br />

bedient. Wortlos reibt er die Hände gegeneinander, um «genug» anzuzeigen.<br />

Will man nichts mehr essen, so senkt man einfach den Kopf<br />

und verneigt sich von der Taille aus, die Hände vor der Brust aufeinandergelegt,<br />

wenn der Aufwärter vorbeikommt. Nicht alle beherzigen<br />

die Ermahnung <strong>des</strong> Rôshi, wenig zu essen. Mönche, die offensichtlich<br />

277


erpichter darauf sind, ihren Bauch zu füllen, als ihren Geist zu entleeren,<br />

nehmen sogar eine dritte Schale voll Reis.<br />

Essen, das einmal mit den Eß-Stäbchen berührt wurde, muß gegessen<br />

und darf nicht weggeworfen werden. Kein Brocken darf vergeudet<br />

werden. Am Ende der Mahlzeit wird heißes Wasser herumgereicht,<br />

und jeder säubert damit seine Schalen, wobei ihm ein Stückchen eingelegter<br />

Rettich zum Aufwischen dient. Wer durstig ist, trinkt von<br />

dem Wasser, vergißt jedoch nicht, den letzten Rest in eine gemeinsame<br />

Schüssel zu gießen, die der gleichen «Hungrigen Geister» wegen<br />

herumgereicht wird. Das Mahl endet mit einer Rezitation, als Ausdruck<br />

<strong>des</strong> Danks für die empfangene Nahrung, und dem Gelübde,<br />

diese Kraft zum geistigen Wohle aller Wesen zu gebrauchen 11 .<br />

Nicht allein Eßwaren, sondern alle Dinge sollen mit entsprechender<br />

Berücksichtigung <strong>des</strong> einem jeden eigenen Zweckes verwendet und<br />

nicht unnütz zerstört werden. Das ist eine der unverletzlichen Regeln<br />

eines <strong>Zen</strong>-Klosters, und während eines Sesshin muß ganz besonders<br />

darauf geachtet werden, sie nicht zu übertreten. <strong>Die</strong> Gründe dafür<br />

sind mehr geistiger als wirtschaftlicher Art. Verschwendung bedeutet<br />

Vernichtung. Dinge ihrem Wesen und ihrem Zweck entsprechend mit<br />

Achtung und Dankbarkeit zu behandeln, heißt ihren Wert und ihr<br />

Leben bestätigen, ein Leben, in dem wir alle gleichermaßen verwurzelt<br />

sind. Verschwendung ist ein Maßstab für unsere egozentrische<br />

Haltung und damit ein Merkmal für unsere Entfremdung von den<br />

Dingen, von ihrem Buddha-Wesen, von ihrer essenziellen Einheit mit<br />

uns. Zudem ist es ein Akt der Gleichgültigkeit gegenüber dem Wert<br />

<strong>des</strong> vergeudeten Dinges, wie bescheiden dieses auch sein mag. Ein<br />

Glas achtlos zu zerbrechen, ein Licht brennen zu lassen, das nicht<br />

mehr benötigt wird, mehr Wasser zu gebrauchen, als für eine<br />

bestimmte Aufgabe erforderlich ist, ein Buch aufgeschlagen liegen zu<br />

lassen, nachdem es gelesen wurde - all das sind also im tiefsten religiösen<br />

Sinn liederliche Handlungen und somit unserer geistigen Entwicklung<br />

schädlich. Aus diesem Grund werden sie rundweg verdammt.<br />

11. <strong>Die</strong>se Rituale beziehen sich auf Hosshin-Ji, ein Sôtô-KIoster. Bei der Rinzai-<br />

Sekte ist die Form etwas anders.<br />

278


<strong>Die</strong> meisten Klöster und Tempel haben nach der Morgenmahlzeit<br />

samu (körperliche Arbeit) auf ihrem Stundenplan. Bei einem Sesshin<br />

bedeutet das fegen, abstauben, Böden und Toiletten scheuern. Außerdem<br />

werden die Gartenwege gefegt, die Blätter zusammengeharkt,<br />

und in den Gärten wird Unkraut gejätet 12 . Seit jener Zeit, da<br />

HYAKUJÔ vor mehr als tausend Jahren erstmalig körperliche Arbeit<br />

einführte, ist sie zum wesentlichen Bestandteil der <strong>Zen</strong>-Schulung<br />

geworden. Über HYAKUJÔ wird berichtet, daß seine Mönche ihm<br />

eines Tages seine Gartengeräte versteckt hatten, da sie meinten, er sei<br />

zu alt geworden, um zu arbeiten. Als sie sich weigerten, seinen Bitten,<br />

sie ihm zurückzugeben, zu willfahren, hörte er auf zu essen und sagte:<br />

«Keine Arbeit, kein Essen.» Einen Ausdruck <strong>des</strong> gleichen Geistes finden<br />

wir in der Neuzeit bei GEMPÔ YAMAMOTO Rôshi, dem früheren<br />

Abt <strong>des</strong> Ryutaku-Ji, der im Juni 1961 im Alter von sechsundneunzig<br />

Jahren starb. Fast blind und nicht mehr imstande, zu arbeiten und<br />

zu lehren, entschied er, daß es Zeit zum Sterben sei; so hörte er auf zu<br />

essen. Als seine Mönche ihn fragten, warum er die Nahrung zurückweise,<br />

erwiderte er, daß er seine Nützlichkeit überlebt habe und nur<br />

noch eine Belastung für alle sei. Sie sagten ihm: «Wenn der Rôshi<br />

jetzt (Januar) stirbt, da es so kalt ist, wird die Bestattung <strong>des</strong> Rôshi<br />

jedermann Unbequemlichkeiten verursachen, und er wird dadurch<br />

nur zu einer größeren Plage. Möge der Rôshi bitte essen!» Daraufhin<br />

fing er wieder an zu essen. Aber als es warm wurde, hörte er wiederum<br />

auf, und nicht lange danach fiel er sanft hin und starb.<br />

Welche Bedeutung hat nun solch praktische Arbeit in bezug auf die<br />

<strong>Zen</strong>-Schulung? Vor allem zeigt sie, daß es beim Zazen nicht allein<br />

darum geht, die Fähigkeit zu erwerben, sich beim Sitzen zu konzentrieren<br />

und den Geist scharf auf einen Punkt einzustellen, sondern<br />

daß Zazen im weitesten Sinn die Mobilisierung und dynamische Nutzung<br />

von Jôriki, jener durch Zazen bewirkten Kraft, bedeutet und<br />

zwar bei jeder einzigen Handlung. Samu - als Zazen in Bewegung -<br />

bietet auch die Möglichkeit, inmitten aller Tätigkeit das Bewußtsein<br />

12. In Klöstern, bei denen das ganze Jahr hindurch viel körperliche Arbeit erforderlich<br />

ist - z. B. bei jenen, die ihren eigenen Reis und eigenes Gemüse anbauen -,<br />

gibt es bei einem Sesshin kein Samu, um dem Sitzen mehr Zeit einzuräumen.<br />

279


auf einen Punkt zu sammeln, zu beruhigen und zu vertiefen, den Körper<br />

zu kräftigen und dem Geist dadurch neue Energie zuzuführen.<br />

Das Ziel ist hierbei, wie bei jeder Art <strong>des</strong> Zazen, zuerst Achtsamkeit<br />

und später Achtlosigkeit zu entwickeln. Das sind einfach zwei verschiedene<br />

Grade der Versunkenheit. Achtsamkeit ist ein Zustand, in<br />

dem man sich jeder Lage voll bewußt ist und dadurch stets entsprechend<br />

reagieren kann. Aber man ist sich bewußt, daß man sich<br />

bewußt ist. Achtlosigkeit andererseits, oder «Abgeschiedenheit <strong>des</strong><br />

Geistes», wie das auch genannt worden ist, ist eine Verfassung von<br />

so vollständiger Versunkenheit, daß es keinen Rest von Selbstbewußtsein<br />

mehr gibt.<br />

Alles Handeln, das aus dieser Geistesverfassung erwächst, kann weder<br />

gehetzt noch flüchtig, weder angespannt noch nachlässig sein; es<br />

kennt keine falschen Bewegungen noch irgendwelche Kraftvergeudung.<br />

Alle Arbeit, die in solchem Geiste unternommen wird, trägt<br />

ihren Wert in sich, unabhängig von ihrem Ergebnis. Das ist die «verdienstlose»<br />

oder «absichtslose» Arbeit <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>. Wenn wir jeder Aufgabe<br />

in dieser Weise nachkommen, können wir schließlich die Wahrheit,<br />

daß je<strong>des</strong> Tun Ausdruck <strong>des</strong> Buddha-Geistes ist, erfassen. Hat<br />

man das erst einmal unmittelbar und unverkennbar erlebt, so kann<br />

keine Arbeit mehr unter unserer Würde sein. Im Gegenteil, alle<br />

Arbeit, wie niedrig sie auch sein mag, adelt, weil sie als Ausdruck <strong>des</strong><br />

makellosen Buddha-Wesens angesehen wird. Das ist wahre Erleuchtung.<br />

Und im <strong>Zen</strong> ist Erleuchtung niemals nur für einen selbst, sondern<br />

stets zum Wohle aller.<br />

Das ganze Sesshin hindurch wird auf dieses Ideal Nachdruck gelegt.<br />

Ja, viermal am Tage - am Ende <strong>des</strong> Teishô, nach dem Sûtra-Rezitieren<br />

morgens und nachmittags, und als Letztes am Abend - werden die<br />

Vier Gelübde <strong>drei</strong>mal gemeinsam rezitiert:<br />

Der Geschöpfe sind zahllose - ich gelobe, sie alle zu retten.<br />

Der Leidenschaften sind unzählige - ich gelobe, sie alle auszurotten.<br />

Der Dharma-Tore 13 sind mannigfache - ich gelobe, durch alle zu gehen.<br />

Der Buddha-Weg ist unübertrefflich - ich gelobe, ihn zu verwirklichen.<br />

13. Das bedeutet: Ebenen der Wahrheit.<br />

280


Ist Samu beendet, so folgt das etwa einstündige Teishô (ein Beispiel<br />

dafür findet sich im 2. Kapitel). Dann nimmt man etwa um elf die<br />

Hauptmahlzeit <strong>des</strong> Tages ein, gewöhnlich weißen Reis 14 mit Gerste<br />

gemischt, ergänzt durch frische Gemüse und Suppe aus Soyabohnenpaste.<br />

Nach dem Mittagessen ruhen sich alle mit Ausnahme der Eifrigsten<br />

eine Stunde lang aus, wie es der Sesshin-Plan vorsieht, vergessen<br />

dabei jedoch nicht, sich in ihr Kôan oder eine andere Übung zu<br />

versenken.<br />

Abgesehen von Teishô und Samu stellen Nachmittag und Abend eine<br />

Wiederholung <strong>des</strong> vormittäglichen Stundenplans dar. Einige Klöster<br />

und Tempel erlauben, daß man nachmittags oder abends ein heißes<br />

Bad nimmt; Anfängern mit ihren schmerzenden Beinen und angespannten<br />

Körpern ist diese Erholung unaussprechlich willkommen.<br />

Um vier Uhr nachmittags wird ein leichter Imbiß gereicht, der hauptsächlich<br />

aus Resten <strong>des</strong> Mittagessens zubereitet ist. Ungleich den<br />

ersten beiden Mahlzeiten, denen das Rezitieren voranging und folgte,<br />

wird diese «Arznei 15 » in vollkommenem Schweigen eingenommen.<br />

Im Hosshin-Ji, das für seine schweren Sesshin bekannt ist, gibt es<br />

von der vierten Nacht an allabendlich ab acht Uhr ein einzigartiges<br />

Mittel, um die verlockenden Vorstellungen vom Bett, wie sie um<br />

diese Stunde an dem ermüdeten, schwankenden Sinn zu zerren beginnen,<br />

zu bekämpfen. Beim Klang der großen <strong>Zen</strong>dô-Glocke folgt ein<br />

plötzlicher Ausbruch von «Mu-en» von allen, die mit diesem Kôan<br />

ringen. <strong>Die</strong>ses kollektive Brüllen, zuerst schwach und unsicher,<br />

gewinnt allmählich an Tiefe, Kraft und Bedeutung unter den energischen<br />

Hieben <strong>des</strong> ungehemmt geschwungenen Kyosaku <strong>des</strong> Godô und<br />

seiner Helfer, der gellend schreit: «Laßt Mu vom Hara her erschallen,<br />

nicht von der Kehle!» Wenn diese Schreie von «Mu!» ihr Cres-<br />

14. In den <strong>Zen</strong>-Klöstern Japans wird allenthalben hauptsächlich die weiße, geschälte<br />

Reis-Sorte gegessen.<br />

15. Yakuseki heißt wörtlich: «Arznei-Stein». Buddhistische Mönche im alten China<br />

aßen nur zwei Mahlzeiten am Tage. Im Winter pflegten sie, um sich warm zu<br />

halten und die Hungerschmerzen zu lindern, sich einen warmen Stein, den man<br />

als Allheilmittel für alle Magenverstimmungen ansah, auf den Bauch zu legen.<br />

Daher hat diese dritte Mahlzeit, seit man sie einzunehmen begann, ihren Namen<br />

«Arznei-Stein».<br />

281


cendo in einem tiefen Gebrüll erreicht haben, werden sie plötzlich<br />

durch den Klang der gleichen Glocke abgestellt, gewöhnlich etwa<br />

<strong>drei</strong>ßig Minuten später. Man nimmt das stille Zazen wieder auf, aber<br />

die Luft ist elektrisiert worden.<br />

Um <strong>drei</strong>viertel neun endet Zazen. Es folgt das letzte Rezitieren<br />

<strong>des</strong> Tages: ein kurzes Sûtra und die Vier Gelübde, jetzt mit lebhafter<br />

Begeisterung angestimmt. Schlaf kommt nicht in Betracht,<br />

da Körper und Geist aufgerüttelt sind und vor Energie bersten,<br />

und nahezu jeder geht, sein Sitzkissen unter dem Arm, aus dem<br />

<strong>Zen</strong>dô in die kühle Nachtluft hinaus. Anstatt sich wie in den vorangegangenen<br />

Nächten erschöpft ins Bett zu schleppen 16 , strebt<br />

ein jeder in gehobener Stimmung zu einem einsamen Platz, oft zum<br />

Kloster-Friedhof, um dort bis tief in die Nacht hinein mit Zazen<br />

fortzufahren.<br />

Besonders in der letzten Nacht <strong>des</strong> Sesshin, da das Schreien und<br />

Schlagen am heftigsten ist, wagt mit Ausnahme der unverkennbar<br />

Kranken und der ersichtlich Furchtsamen niemand, sich um neun Uhr<br />

zur Ruhe zu begeben, wenn buchstäblich das ganze <strong>Zen</strong>dô für die<br />

Nacht auf dem Friedhof und den nahen Hügeln Quartier bezogen hat<br />

und die stille Nachtluft mit verzweifelten Schreien von «Mu!»<br />

erschüttert. Und bei dem schwersten Sesshin <strong>des</strong> Jahres, dem rôhatsu<br />

im Dezember, das dem Gedächtnis von Buddhas Erleuchtung dient,<br />

ist yaza (Zazen nach 21 Uhr) allnächtlich die Regel.<br />

Der letzte Tag <strong>des</strong> Sesshin neigt dazu, eine «Antiklimax» zu werden,<br />

besonders wenn ihm Zazen die ganze Nacht hindurch vorangegangen<br />

ist. Der Rôshi mahnt <strong>des</strong>halb alle, daß das der entscheidenste Tag<br />

sei und daß ein Nachlassen jetzt, da die Konzentration <strong>des</strong> Geistes<br />

ihren Höhepunkt erreicht habe, dem Wegwerfen von sechs Tagen<br />

kräftiger Anstrengungen gleichkäme. An diesem siebenten Tag wird<br />

auf den Kyosaku und die ihn begleitenden gellenden Schreie verzichtet<br />

- so, als wollte der godô sagen: «Mehr kann ich nun nicht tun; es<br />

steht jetzt ganz bei euch» - und nach sechs Tagen oder besser: auf<br />

16. In den meisten Klöstern schlafen Laien, die zum Sesshin kommen, nicht mit<br />

den Mönchen im <strong>Zen</strong>dô, sondern man weist ihnen in einem anderen Gebäude ihre<br />

Schlafstätten an.<br />

282


Grund der sechs Tage eines zeitweisen Tollhauses ist dieser Tag <strong>des</strong><br />

stillen aber dynamischen Zazen häufig der lohnendste.<br />

Vor dem feierlichen Abschluß eines Sesshin sagt der Rôshi, sich an<br />

alle wendend, im wesentlichen folgen<strong>des</strong>:<br />

Ernsthafte Anstrengungen bei einem Sesshin sind niemals vergeudet,<br />

selbst wenn sie nicht zur Erleuchtung führen. Man kann das Erreichen<br />

von Kenshô damit vergleichen, daß jemand beim hundertsten<br />

Schuß das Auge <strong>des</strong> Stieres trifft. Wer könnte sagen, daß die neunundneunzig<br />

Fehlschüsse zum endgültigen Erfolg in keiner Beziehung<br />

stünden?<br />

Einige sind sogar beim Teetrinken, womit ein Sesshin beendet wird,<br />

zur Erleuchtung gekommen, andere auf dem Heimweg im Zug; bleibt<br />

also allzeit wachsam. Konzentriert euch unermüdlich auf euer Kôan,<br />

wenn das eure Aufgabe ist, oder verrichtet jede Tätigkeit gesammelten<br />

Geistes, wenn ihr Shikantaza übt. Verzettelt nicht unnütz das<br />

während <strong>des</strong> Sesshin aufgespeicherte Jôriki durch eitles, leeres Gerede,<br />

sondern bewahrt und kräftigt es bei euren täglichen Aufgaben. -<br />

In manchen Klöstern und Tempeln wird im Beisein aller eine besondere<br />

Zeremonie abgehalten, um jenen, die Kenshô erlangten, die Möglichkeit<br />

zu geben, dem Rôshi und den Mönchs-Ältesten ihre Dankbarkeit<br />

auszudrücken. Mit dem Rezitieren <strong>des</strong> Hannya Shingyô und<br />

der vier Gelübde endet das Sesshin in aller Form. Danach versammeln<br />

sich alle beim Teetrinken und Kuchenessen und danken dem Rôshi<br />

und den Mönchs-Ältesten, wie auch einander gegenseitig für alle<br />

Hilfe und Unterstützung, die ihnen während <strong>des</strong> Sesshin zuteil geworden<br />

ist.<br />

Trotz der auffälligen Verwendung <strong>des</strong> Kyosaku, trotz <strong>des</strong> wilden<br />

Gejages vor dem Dokusan und trotz <strong>des</strong> erregenden Austauschs, wie<br />

er sich oft beim Dokusan selbst ergibt, liegt doch das eigentliche Drama<br />

nicht in all diesen sichtbaren Zeichen, sondern im Zazen selbst: in der<br />

einsamen Suche in der weiten, verborgenen Welt <strong>des</strong> eigenen Geistes,<br />

im verlassenen Dahinziehen durch gewundene Schluchten von Scham<br />

und Angst, über Wüsten ekstatischer Visionen und folternder Trugbilder,<br />

um Vulkane brodelnden Ichs herum und durch Dschungel von<br />

Torheit und Verblendung in unaufhörlichem Ringen, jenes Einssein<br />

283


und jene Leere von Körper und Geist zu gewinnen, die zu der Blitzund-Donner-Entdeckung<br />

führen, daß das Weltall und man selbst nicht<br />

voneinander entfernt und getrennt sind, sondern ein pulsieren<strong>des</strong>,<br />

inniges Ganzes ausmacht.<br />

Ob nun Satori erfolgt oder nicht, man kann nicht ernsthaft an<br />

einem Sesshin teilnehmen, ohne geläuterten Herzens, gekräftigten<br />

Geistes und mit einer überraschend frischen Sicht der alt-vertrauten<br />

Welt nach Hause zu kommen.<br />

Das zentrale Motiv eines Sesshin ist die ununterbrochene eigene<br />

Bemühung, denn letzten En<strong>des</strong> wird man nicht durch seine Mitmenschen,<br />

nicht durch den Rôshi und nicht einmal durch den Buddha<br />

befreit und schon ganz gewiß nicht durch übernatürliche Wesen, sondern<br />

durch die eigenen mutigen, unermüdlichen Anstrengungen.<br />

Es ist kein Zufall, daß die meisten Menschen aus dem Westen, deren<br />

Erleuchtungs-Erlebnisse hier folgen, Amerikaner sind. In der nachdrücklichen<br />

Betonung <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>, daß man sich auf sich selbst verlassen<br />

muß, in seiner klaren Erkenntnis der Gefahren <strong>des</strong> Intellektualismus,<br />

in seinem auf Erfahrung gegründeten Appellieren an das persönliche<br />

Erlebnis und nicht an philosophische Spekulationen, als Mittel zum<br />

Nachweis letzter Wahrheit, in seiner pragmatischen Beziehung zur<br />

Seele und zum Leiden und in seinen klaren, praktischen Methoden<br />

zur Befreiung von Körper-Geist finden Amerikaner vieles, was ihrer<br />

natürlichen Veranlagung, den historischen Gegebenheiten und ihrer<br />

Weltanschauung geistesverwandt ist.<br />

Zu einer Zeit, da «die Dinge im Sattel sitzen und die Menschheit<br />

reiten», wie nie zuvor, da die Spannungen von Furcht, Sorge und<br />

Entfremdung die Seelen der Menschen verheeren, bedeutet die Tatsache,<br />

daß gewöhnliche Menschen durch Satori sowohl Sinn und<br />

Freude <strong>des</strong> Lebens entdecken, als auch ein Gefühl für ihre eigene Einzigartigkeit<br />

und Solidarität mit der ganzen Menschheit gewinnen<br />

können, gewiß eine Hoffnung für Menschen überall auf der Welt.<br />

284


<strong>Die</strong> Erlebnisse<br />

1. Herr K. Y., Japaner, Direktor einer großen Firma, Alter 47<br />

27. November 1953<br />

An NAKAGAWA SÔEN Rôshi<br />

Lieber NAKAGAWA Rôshi,<br />

Vielen Dank für den glücklichen Tag, den ich im Kloster <strong>des</strong> Rôshi 17<br />

verbringen durfte.<br />

Der Rôshi wird sich an die Diskussion über Selbst-Wesensschau<br />

erinnern, die sich um jenen Amerikaner als Mittelpunkt ergab.<br />

Damals konnte ich mir kaum vorstellen, daß ich wenige Tage später<br />

über mein eigenes Erlebnis berichten würde.<br />

Am Tage nach meinem Besuch im Ryutaku-Ji 18 fuhr ich mit meiner<br />

Frau von Tokyo aus im Zug nach Hause. Ich las ein Buch über <strong>Zen</strong><br />

von SON-Ô, der, wie der Rôshi sich erinnern wird, zur Genroku-Zeit<br />

(1688-1703) als Sôtô-<strong>Zen</strong>-Meister im Sendai lebte. Gerade als der<br />

Zug sich Ofuna näherte, kam ich zu der Zeile:<br />

«Ich habe klar erkannt: Geist ist nichts anderes denn<br />

Berge und Flüsse und die große weite Erde,<br />

als die Sonne, der Mond und die Sterne 19 .»<br />

Ich hatte das schon früher gelesen, diesmal aber machte es mir einen<br />

derart lebhaften Eindruck, daß es mir den Atem verschlug. Ich sagte<br />

mir: «Nach sieben, acht Jahren Zazen habe ich endlich den Kern<br />

dieses Verses begriffen.» Ich konnte die aufsteigenden Tränen nicht<br />

zurückhalten. Einigermaßen beschämt, mich dort weinend unter den<br />

Menschen zu finden, wandte ich das Gesicht ab und tupfte mir die<br />

Augen mit dem Taschentuch.<br />

Inzwischen war der Zug am Bahnhof Kamakura angekommen, und<br />

meine Frau und ich stiegen aus. Auf dem Heimweg sagte ich zu ihr:<br />

17. <strong>Die</strong> Anrede in der dritten Person ist im heutigen Japan üblich.<br />

18. Ryutaku-Ji ist das Kloster, <strong>des</strong>sen Abt NAKAGAWA SÔEN Rôshi ist.<br />

19. Ein Zitat aus DÔGENS Shôbôgenzô, das sich ursprünglich im <strong>Zen</strong>rui Nr. 10<br />

fand, einem frühen chinesischen Werk über <strong>Zen</strong>.<br />

285


«Ich fühle mich heute derart erfrischt, ich weiß nicht wie; mir ist zu<br />

Mute, als könnte ich zu den größten Höhen aufsteigen.» Lachend<br />

erwiderte sie: «Dann wird der Abstand zu mir aber sehr groß ...»<br />

<strong>Die</strong> ganze Zeit wiederholte ich mir immer wieder jenes Zitat.<br />

Nun traf es sich so, daß gerade an jenem Tage mein jüngerer Bruder<br />

mit seiner Frau bei uns war, und ich erzählte ihnen von meinem<br />

Besuch im Ryutaku-Ji und von jenem Amerikaner, der eigens um<br />

Erleuchtung zu finden wieder nach Japan gekommen war. Kurzum,<br />

ich erzählte ihnen alle Geschichten, die ich vom Rôshi gehört hatte,<br />

und es war gegen Mitternacht, als ich zur Ruhe ging.<br />

In tiefer Nacht wachte ich auf einmal auf. Zuerst war mein Sinn<br />

umnebelt. Plötzlich tauchte der Vers in meinem Bewußtsein auf: «Ich<br />

habe klar erkannt: Geist ist nichts anderes denn Berge und Flüsse und<br />

die große weite Erde, als die Sonne, der Mond und die Sterne», und<br />

ich wiederholte ihn mir. Urplötzlich war mir, als ob mir ein elektrischer<br />

Schlag durch den ganzen Körper führe, und im gleichen Augenblick<br />

stürzten Himmel und Erde ein. In der gleichen Sekunde wallte<br />

eine ungeheure Freude gleich Sturzwellen in mir auf, ein wahrer<br />

Orkan von Freude, und ich lachte laut aus vollem Halse: «Ha, ha, ha,<br />

ha, ha, ha, ha! Da gibt es überhaupt keine Vernunft, ganz und gar<br />

keine Vernunft. Ha, ha, ha, ha, ha!» Der Leere-Himmel barst entzwei<br />

und öffnete seinen ungeheuren Mund und lachte brüllend: «Ha,<br />

ha, ha, ha, ha!» Später sagte mir ein Familienangehöriger, mein<br />

Lachen habe unmenschlich geklungen.<br />

Nun lag ich auf dem Rücken. Plötzlich richtete ich mich auf und<br />

schlug mit beiden Händen mit voller Wucht auf das Bettzeug 20 ein,<br />

trampelte mit den Füßen auf den Boden, als ob ich ihn zerschmettern<br />

wollte, und lachte dabei die ganze Zeit zügellos. «Ha, ha, ha!», reckte<br />

mich auf, warf mich flach auf den Boden. Ha, ha, ha, ha, ha!» Meine<br />

Frau und mein jüngster Sohn, die in meiner Nähe schliefen, waren<br />

erwacht und so entsetzt, als hätte der Blitz aus heiterm Himmel eingeschlagen.<br />

Meine Frau hielt mir mit beiden Händen den Mund zu<br />

und rief immer wieder: «Was ist denn mit dir los? Was ist denn mit<br />

20. Das traditionelle japanische «Bett« besteht aus einer 5-8 cm dicken wattierten<br />

Matratze, die man auf die Tatami legt.<br />

286


dir los?» Ich war mir der meisten dieser Vorgänge nicht bewußt; man<br />

erzählte es mir später. Mein Sohn sagte mir, er habe geglaubt, ich sei<br />

wahnsinnig geworden.<br />

«Ich habe Erleuchtung gefunden! Ja, das habe ich! SHAKYAMUNI und<br />

die Patriarchen haben mich nicht betrogen 21 !» rief ich aus. Als ich<br />

mich beruhigt hatte, entschuldigte ich mich bei der übrigen Familie,<br />

die, durch den Tumult erschreckt, nach unten gekommen war.<br />

Ich warf mich vor der Photographie <strong>des</strong> Kannon, die der Rôshi mir<br />

gegeben hatte, und vor dem Diamant-Sûtra und dem von YASUTANI<br />

Rôshi geschriebenen Buche nieder, zündete ein Räucherstäbchen an<br />

und saß Zazen, bis es eine halbe Stunde später aufgezehrt war. Aber<br />

mir schien, als seien nur zwei, <strong>drei</strong> Minuten vergangen.<br />

Nun zitterte mir die Haut am ganzen Körper, als bewegte sie sich;<br />

und selbst jetzt zittert sie mir noch im Nachbeben.<br />

Am folgenden Morgen suchte ich YASUTANI Rôshi auf. Ich wollte ihm<br />

mein Erlebnis <strong>des</strong> plötzlichen Zusammenbruchs von Himmel und<br />

Erde schildern. «Ich bin überglücklich, ich bin überglücklich!» wiederholte<br />

ich immer wieder und schlug mir dabei kräftig auf den<br />

Schenkel. <strong>Die</strong> Tränen kamen mir, und ich konnte sie nicht zurückhalten.<br />

Ich versuchte, ihm das Erlebnis der Nacht zu erzählen, aber mir<br />

zitterten die Lippen, und die Worte wollten sich nicht bilden.<br />

Schließlich legte ich einfach meinen Kopf in seinen Schoß. Der<br />

Rôshi streichelte mir den Rücken und sagte: «Ja, das ist wahrhaftig<br />

selten, die Erfahrung in so wunderbarem Ausmaß zu machen.<br />

Das nennt man das ,Erlangen der Leere <strong>des</strong> Geistes'. Meine Glückwünsche!»<br />

«Dank Euch», murmelte ich und weinte wieder vor Freude. Wiederholt<br />

sagte ich ihm: «Ich muß weiter tüchtig Zazen üben!» Er war so<br />

gütig, mich in allen Einzelheiten zu beraten, wie ich in Zukunft meine<br />

Übungen durchführen sollte. Danach flüsterte er mir nochmals ins<br />

Ohr: «Meine Glückwünsche!» und begleitete mich mit einer Taschenlampe<br />

zum Fuß <strong>des</strong> Berges.<br />

2l. Das ist die herkömmliche Redewendung, um auszudrücken, daß die Erleuchtung,<br />

wie sie Buddhas und Patriarchen lehrten, jetzt Sache wahrer, eigener Erfahrung<br />

geworden ist.<br />

287


Obgleich seither vierundzwanzig Stunden vergangen sind, spüre ich<br />

noch immer das Nachbeben dieses Erdbebens. Ich zittere noch am<br />

ganzen Körper. Den ganzen Tag über lachte und weinte ich vor<br />

mich hin.<br />

Ich schreibe diesen Erlebnisbericht sofort, in der Hoffnung, daß er für<br />

die Mönche <strong>des</strong> Rôshi von Wert ist, und weil mich YASUTANI Rôshi<br />

dazu gedrängt hat.<br />

Bitte grüße der Rôshi jenen Amerikaner von mir. Sage der Rôshi ihm,<br />

daß sogar ich, der ich unwürdig bin und dem es an Geist mangelt,<br />

solch wunderbares Erlebnis haben kann, wenn die Zeit dazu reif ist.<br />

Ich würde gern mit dem Rôshi ausführlich über vieles sprechen,<br />

werde aber auf ein andermal warten müssen.<br />

P. S.: Jener Amerikaner hat uns gefragt, ob er innerhalb einer Sesshin-Woche<br />

Erleuchtung finden könne. Sage der Rôshi ihm von mir:<br />

Sagen Sie nicht Tage, sagen Sie nicht Wochen, sagen Sie nicht Jahre<br />

oder selbst Lebenszeiten. Sagen Sie nicht Millionen oder Billionen von<br />

kalpa. Ja, er solle geloben, Erleuchtung zu finden, auch wenn es dazu<br />

der unendlichen, grenzenlosen, unermeßlichen Zukunft bedarf.<br />

Mitternacht <strong>des</strong> 28.<br />

(Tagebucheintragungen)<br />

Erwachte und dachte, es sei <strong>drei</strong> oder vier Uhr früh, aber die Uhr<br />

zeigte erst halb eins.<br />

Habe vollkommenen Frieden, Frieden, Frieden .. .<br />

Fühle mich taub am ganzen Körper, aber Hände und Füße hüpften<br />

mir vor Freude fast eine halbe Stunde lang. Alles ist von mir abgefallen,<br />

bin frei, frei, frei...<br />

Sollte ich denn dermaßen glücklich sein?<br />

Es gibt auch nicht einen gewöhnlichen Menschen 22 .<br />

<strong>Die</strong> große Uhr ertönt - nicht die Uhr, der Geist ertönt. Das Weltall<br />

selber ertönt. Da ist weder Geist noch Weltall. Gong, gong, gong!<br />

Ich bin vollkommen verschwunden. Buddha ist.<br />

«Das Gesetz von Ursache und Wirkung übersteigen, dem Gesetz von<br />

22. Das heißt, die Buddhaschaft ist jedem Menschen immanent.<br />

288


Ursache und Wirkung unterliegen 23 », solche Gedanken sind mir entschwunden.<br />

Ah, du bist? Du lachtest, nicht wahr? <strong>Die</strong>ses große Gelächter ist der<br />

Laut, da du dich in die Welt warfest, nicht wahr?<br />

Über den Urgrund <strong>des</strong> Geistes habe ich völlige Klarheit, völlige Klarheit.<br />

Ich habe das Gefühl, daß mein Zazen-Üben an lebendiger Kraft und<br />

Frische gewonnen hat.<br />

Mitternacht <strong>des</strong> 29.<br />

Habe Frieden, Frieden, Frieden ...<br />

Ist diese meine ungeheure Freiheit das Große-Aufhören aller Dinge 24 ,<br />

wie es von den Alten beschrieben wurde? Wenn das fraglich erscheint,<br />

so wird man doch zugeben müssen, daß diese Freiheit ganz außerordentlich<br />

ist. Wenn das keine absolute Freiheit oder das Große-Aufhören<br />

ist, was ist es denn dann?<br />

Morgens um 4, am 29.<br />

Bing, Bong! <strong>Die</strong> große Uhr schlägt. Das allein ist. Da gibt es sonst<br />

nichts an Vernunft.<br />

Wahrlich, die Welt hat sich verwandelt. Aber in welcher Weise?<br />

<strong>Die</strong> Alten haben gesagt, daß der erleuchtete Geist einem im Wasser<br />

schwimmenden Fisch gleiche. So ist es. Da gibt es keine Stockung.<br />

Ich spüre keinerlei Hindernis. Alles fließt sanft und glatt dahin. <strong>Die</strong>se<br />

Freiheit, dieses Freisein ist unbeschreiblich, unsäglich. Was für eine<br />

wunderbare Welt!<br />

Ja, (<strong>Zen</strong> ist) «das weite, all-umfassende Tor <strong>des</strong> Erbarmens 25 ».<br />

Ich bin voller Dankbarkeit, voller Dankbarkeit!<br />

23. Das ist ein Hinweis auf das zweite Beispiel im Mumon-Kan, das Kôan, das<br />

gemeinhin als «HYAKUJÔS Fuchs» bekannt ist.<br />

24. Eine Bezeichnung für jene Geistesverfassung, die sich aus der tiefgreifenden<br />

Erkenntnis, daß uns im Grunde nichts mangelt, ergibt; so gibt es nichts, was wir<br />

außerhalb unserer selbst suchen müßten.<br />

25. Zitat von DÔGEN <strong>Zen</strong>ji.<br />

289


2. Herr P. K., Amerikaner, ehemaliger Geschäftsmann, Alter 46<br />

Auszüge aus Tagebüchern<br />

New York, 1. April 1953<br />

Bauchschmerzen die ganze Woche lang; Doktor sagt, Magengeschwüre<br />

werden schlimmer ... außerdem die alten Allergien ..,<br />

Kann ohne Mittel nicht schlafen ... So elend, wünschte, ich hätte den<br />

Schneid, mit all dem Schluß zu machen.<br />

20. April 1953<br />

Besuchte heute <strong>Zen</strong>-Vortrag von S. Konnte wie gewöhnlich wenig<br />

Sinn darin finden... Warum mache ich nur mit diesen Vorträgen<br />

weiter? Kann ich jemals Satori erreichen, indem ich mir philosophische<br />

Erklärungen über prajña und karûna 26 anhöre und warum A<br />

nicht A ist und all das Übrige? ... Was, zum Teufel, ist Satori überhaupt?<br />

Auch nach vier Büchern von S. und Dutzenden seiner Vorträge<br />

weiß ich es noch nicht. Muß schrecklich dumm sein ... Aber<br />

das weiß ich, daß ich durch <strong>Zen</strong>-Philosophie meine Schmerzen, meine<br />

Unrast und das verdammte «Nichts»-Gefühl nicht loswerde ...<br />

Erst letzte Woche beklagte sich ein Freund: «Du spuckst dauernd <strong>Zen</strong>-<br />

Philosophie, aber du bist kaum heiterer oder rücksichtsvoller geworden,<br />

seit du angefangen hast, das zu studieren. Es hat dich höchstens<br />

hochmütig gemacht...»<br />

1. Juni 1953<br />

Sprach mit K. über <strong>Zen</strong> und Japan - bis zwei Uhr morgens ... Er ist<br />

ebenso wie S. Japaner und hat <strong>Zen</strong> geübt, aber sonst haben sie wenig<br />

gemeinsam. Ehe ich K. traf, hatte ich mir vorgestellt, daß alle Leute<br />

mit Satori so wirken wie S.; jetzt sehe ich, Satori ist nicht so einfach;<br />

es hat anscheinend viele Facetten und Ebenen ... Warum bin<br />

ich nur so versessen auf Satori?<br />

Bombardierte K. die ganze Nacht lang mit: «Wenn ich nach Japan<br />

gehe, um <strong>Zen</strong> zu üben, können Sie mir versichern, daß ich meinem<br />

26. Zwei Sanskrit-Wörter: prajña bedeutet Satori-Weisheit; karûna heißt Erbarmen,<br />

Barmherzigkeit.<br />

290


Leben dann etwas Sinn abgewinnen kann? Werde ich ganz bestimmt<br />

meine Magengeschwüre und Allergien und die Schlaflosigkeit los?<br />

<strong>Die</strong> zwei Jahre, in denen ich die <strong>Zen</strong>-Vorträge in New York besucht<br />

habe, haben weder mein Gefühl ständiger Mißerfolge gemildert, noch,<br />

wenn ich meinen Freunden glauben soll, meinen intellektuellen Hochmut<br />

verringert.»<br />

K. Wiederholte immer wieder: «<strong>Zen</strong> ist keine Philosophie; es ist eine<br />

gesunde Art zu leben! ... Wenn Sie wirklich etwas vom Buddhismus<br />

lernen und nicht nur darüber reden wollen, dann wird sich Ihr ganzes<br />

Leben wandeln. Es wird nicht leicht sein, aber darauf können Sie<br />

sich verlassen: Wenn Sie einmal den Weg <strong>des</strong> Buddha in aller Aufrichtigkeit<br />

und mit allem Eifer betreten, so werden sich allenthalben<br />

Bodhisattvas erheben, um Ihnen zu helfen. Aber Sie müssen Mut und<br />

Glauben haben, und Sie müssen den Entschluß fassen, die befreiende<br />

Kraft Ihres Buddha-Wesens zu verwirklichen, was das auch immer<br />

an Schmerzen und Opfern erfordern mag ...»<br />

Das war die Mut-Transfusion, die ich brauchte.<br />

3. September 1953<br />

Gab meine Stellung auf, verkaufte Einrichtung und Auto ... Einmütiges<br />

Urteil der Freunde: «Du bist verrückt, Zehntausend pro Jahr<br />

wegzuschmeißen für einen Platz im Himmel!» ... Mag sein. Vielleicht<br />

aber sind sie die Verrückten, Besitz und Magengeschwüre und<br />

Herzkrankheiten zu häufen... Ich habe den Verdacht, manche von<br />

ihnen beneiden mich sogar... Wenn ich nicht müßte, würd ich's<br />

bestimmt nicht tun, das ist sicher; aber mir ist wirklich etwas bange.<br />

Hoffe, es stimmt mit dem «Leben um Vierzig» ... Kaufte Fahrkarte<br />

nach Japan.<br />

Tokyo, 6. Oktober 1953<br />

Wie sich doch Aussehen und Stimmung Japans in den sieben Jahren<br />

geändert haben! Der greuliche Schutt und die verzweifelten Gesichter<br />

sind im großen und ganzen verschwunden. Gut, diesmal als Suchender<br />

zurückzukommen und nicht als Nutznießer der Besatzungsmacht<br />

... Möchte wohl wissen, was mich eigentlich hierher zurück-<br />

291


achte? War es die Würde der Japaner, ihre geduldige Ausdauer<br />

angesichts ihrer zahllosen Leiden, was mich in Erstaunen gesetzt<br />

hatte? War es das überirdische Schweigen <strong>des</strong> Klosters Engaku und<br />

der tiefe Frieden, den es in mir hervorrief, wann immer ich unter<br />

seinen riesigen Kryptomerien herumging?<br />

Kyoto, 1. November 1953<br />

Schon fast einen Monat in Kyoto. P., der amerikanische Professor,<br />

den ich bei einem der Vorträge von S. in New York getroffen hatte,<br />

liest Geschichte der Philosophie an einer japanischen Universität. Er<br />

und ich haben schon fünf oder sechs <strong>Zen</strong>-Lehrer und -Kapazitäten<br />

aufgesucht. Gerede, Gerede, Gerede! Einige dieser <strong>Zen</strong>-Leute sind<br />

seltsam redselig für eine Lehre, die sich der unmittelbaren geistigen<br />

Übermittlung und <strong>des</strong> Abscheus vor begrifflichen Vorstellungen<br />

rühmt. Professor M. sagte, als ich ihn daran erinnerte: «Am Anfang<br />

müssen Sie Begriffe verwenden, um Begriffe loszuwerden.» Klingt,<br />

als wollte man Feuer mit Öl bekämpfen ... Fühle mich wieder so<br />

rastlos. Klapperte gestern die Antiquitäten-Geschäfte ab und kaufte<br />

Kunstgegenstände. Bin ich <strong>des</strong>halb nach Japan zurückgekommen?<br />

2. November 1953<br />

Heute kam ein Brief von NAKAGAWA Rôshi, Meister <strong>des</strong> Klosters<br />

Ryutaku; er schreibt, P. und ich könnten für zwei Tage hinkommen.<br />

Wird sich solch eine Fahrt lohnen? Nicht, wenn S. und die<br />

<strong>Zen</strong>-Professoren in Kyoto recht haben: «<strong>Zen</strong>-Klöster sind für<br />

moderne, intellektuell eingestellte Menschen zu traditionell und autoritär<br />

...» Immerhin wird es eine neuartige Erfahrung sein, sich mal<br />

mit einem Rôshi auf Englisch zu unterhalten; kann zu einem erfreulichen<br />

Ferientag werden... <strong>Die</strong> Frau von P. überhäufte uns mit<br />

schweren Decken und einer Menge Lebensmittel. Ihr japanischer<br />

Freund meint, <strong>Zen</strong>-Klöster seien berüchtigt kalt und das Leben dort<br />

von strenger Einfachheit. Was tut man überhaupt in einem Kloster?<br />

Mishima, 3. November 1953<br />

Kamen bei Einbruch der Dunkelheit im Kloster an. Während der<br />

292


sechseinhalbstündigen Eisenbahnfahrt beschäftigten P. und ich uns<br />

damit, Fragen zu formulieren, mit denen wir die philosophischen<br />

Kenntnisse <strong>des</strong> Rôshi über <strong>Zen</strong> auf die Probe stellen wollten. «Wenn<br />

er <strong>Zen</strong> intellektuell erfaßt», so beschlossen wir, «und nicht nur ein<br />

altmodischer religiöser Fanatiker ist, dann werden wir ganze zwei<br />

Tage bleiben, sonst aber fahren wir besser morgen wieder ab.»<br />

NAKAGAWA Rôshi empfing uns in seinen einfachen, bescheidenen Räumen<br />

... Wie jung er aussieht, ganz anders als der bärtige Patriarch<br />

unserer Vorstellung... Und so herzlich und leutselig; machte uns<br />

eigenhändig heiß geschlagenen grünen Tee, köstlich und besänftigend,<br />

und er spaßte mit uns in erstaunlich gutem Englisch.<br />

«Ihre lange Bahnfahrt muß Sie müde gemacht haben; wollen Sie sich<br />

nicht hinlegen und sich etwas ausruhen?» ... «Nein, wir sind zwar<br />

ein bißchen müde, aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, würden wir<br />

Ihnen gern ein paar Fragen über <strong>Zen</strong> stellen, die wir vorbereitet<br />

haben.» ... «Wenn Sie sich nicht ausruhen wollen, dann wird ein<br />

Mönch Sie in die Haupthalle bringen, wo Sie sitzen und meditieren<br />

können, bis ich einige dringende Angelegenheiten erledigt habe; nachher<br />

können wir uns unterhalten, wenn Sie mögen.»<br />

«Aber wir haben im ganzen Leben noch nie meditiert; wir wüßten<br />

auch gar nicht, wie man mit gekreuzten Beinen sitzt.» ... «Sie können<br />

sitzen, wie Sie wollen, aber Sie dürfen nicht sprechen. Der Mönch, der<br />

Sie begleitet, wird Sie mit Sitzkissen versehen und Ihnen zeigen, wo<br />

Sie sitzen können. Er wird Sie rufen, wenn ich Sie sprechen kann.»<br />

Saß - nein, rutschte herum - wortlos, zwei elendigliche Stunden in<br />

der dunklen Halle neben P. Konzentration unmöglich, Gedanken jagten<br />

sich wie ein Rudel Affen. Folterqualen in den Beinen, im Rücken,<br />

im Nacken ... Wünsche verzweifelt aufzuhören, aber wenn ich das<br />

mache, ehe P. es tut, wird er nie aufhören, mich zu hänseln, und der<br />

Rôshi wird auch keine gute Meinung von amerikanischer Tapferkeit<br />

bekommen. Schließlich kam der Mönch und flüsterte barmherzig:<br />

«Sie können jetzt zum Rôshi kommen.» Sah auf die Uhr: 9.30. Humpelte<br />

ins Zimmer <strong>des</strong> Rôshi, um von seinem unergründlichen Lächeln<br />

und einer großen Schale Reis mit sauer Eingemachtem begrüßt zu<br />

werden ... Er beobachtete uns aufmerksam, während wir unser Essen<br />

293


verschlangen, und fragte uns dann milde: «Nun, was möchten Sie<br />

über <strong>Zen</strong> wissen?» ... Wir waren so erschöpft, daß wir nur schwächlich<br />

antworten konnten: «Nichts, überhaupt nichts!» ... «Dann<br />

gehen Sie jetzt besser schlafen, weil wir um halb vier am Morgen aufstehen<br />

... Angenehme Träume.»<br />

4. November 1953<br />

«Wachen Sie auf, wachen Sie doch auf! Es ist schon <strong>drei</strong> Viertel vier!<br />

Haben Sie denn nicht die Glocken und Gongs gehört, und hören Sie<br />

denn nicht die große Trommel und das Rezitieren? Bitte, beeilen Sie<br />

sich doch!»<br />

Was für eine unheimliche Szene raffinierter Zauberei und Abgötterei:<br />

Kahlgeschorene Mönche in schwarzen Kutten sitzen bewegungslos da<br />

und rezitieren ein mystisches Kauderwelsch, begleitet von einem riesigen<br />

Holz-Tamtam, das Töne einer anderen Welt von sich gibt, während<br />

der Rôshi, einem elegant gewandeten Hexenkünstler ähnlich,<br />

magische Schritte vollzieht und sich wieder und wieder vor dem<br />

Altar, der von Idolen und Abbildern strotzt, niederwirft... Ist das<br />

das <strong>Zen</strong> <strong>des</strong> TANKA, der eine Buddha-Statue ins Feuer warf? Ist das<br />

das <strong>Zen</strong> <strong>des</strong> RINZAI, der schrie: «Ihr müßt den Buddha töten 27 »?. ..<br />

<strong>Die</strong> Lehrer in Kyoto und S. hatten also doch recht...<br />

Nach dem Frühstück führte uns der Rôshi herum, um uns das Kloster<br />

zu zeigen, das in unmittelbarer Nachbarschaft sanft gewellter Hügel<br />

27. «Den Buddha töten» heißt: <strong>Die</strong> Vorstellung aus dem Sinn ausrotten, daß es<br />

einen Buddha im Gegensatz zu gewöhnlichen Menschen gibt; sich von der Idee<br />

befreien, daß SHAKYAMUNI Buddha ein Gott oder ein überirdisches Wesen sei; den<br />

leichten Stolz, der sich aus Kenshô ergibt und einen denken macht: «Jetzt bin ich<br />

ein Buddha», vernichten - das heißt, den Buddha töten. - «Spül dir den Mund,<br />

wenn du den Namen Buddha aussprichst», ist ein anderer allgemein mißverstandener<br />

<strong>Zen</strong>-Ausspruch. Er kommt aus dem Kommentar von MUMON zum 30. Beispiel<br />

<strong>des</strong> Mumon-Kan: «Wer wahrhaft begreift, spült sich <strong>drei</strong> Tage lang den Mund<br />

aus, wenn er das Wort ,Buddha' geäußert hat. Das bezieht sich nicht auf SHAKYA-<br />

MUNI als Person, sondern auf Buddha-Wesen oder Buddha-Geist. Alles ist an sich<br />

ganz und vollkommen. Ein Stock ist ein Stock, eine Schaufel eine Schaufel.<br />

Gebrauche eine Schaufel, und du erkennst ihre Schaufelheit auf unmittelbare,<br />

grundlegende Weise. Wenn du sie aber als «Buddha» oder «Buddha-Geist» beschreibst,<br />

so «besudelst» du sie unnütz, d. h. du fügst dem Namen Schaufel noch<br />

einen Begriff hinzu.<br />

294


im bebenden Schweigen eines gepflegten Wal<strong>des</strong> von Kiefern, Zedern<br />

und Bambus liegt und von einem erlesen schönen Lotusteich geziert<br />

wird, - wahrhaftig ein japanisches Shangri-la -. Und welch ein Ausblick<br />

auf den Fujiyama, den majestätischen Wächter am Himmel!<br />

Wenn der Rôshi nur nicht alles dadurch verdirbt, daß er darauf<br />

besteht, daß wir uns vor jenen Abbildern in der Halle verneigen ...<br />

Ach, meine ahnungsvolle Seele! Er hat uns in den Raum <strong>des</strong> Gründers<br />

geführt, zündet ein Räucherstäbchen an und wirft sich vor der<br />

unheimlichen Statue <strong>des</strong> HAKUIN voll Inbrunst nieder. «Auch Sie<br />

dürfen ein Räucherstäbchen anzünden und HAKUIN Ihre Hochachtung<br />

erweisen.» P. sieht mich an, ich sehe ihn an: dann explodiert<br />

er: «<strong>Die</strong> altchinesischen <strong>Zen</strong>-Meister verbrannten oder bespuckten<br />

Buddha-Statuen; warum verneigen Sie sich vor ihnen?» Der Rôshi<br />

sieht feierlich-ernst, aber nicht verärgert aus. «Wenn Sie spucken wollen,<br />

so spucken Sie. Ich ziehe es vor, mich zu verneigen.» ... Wir<br />

spucken nicht, aber wir verneigen uns auch nicht.<br />

6. November 1953<br />

P. ist heute nach Tokyo abgereist; und der Rôshi hat mich aufgefordert<br />

zu bleiben ... Bei all seinem religiösen Fanatismus und unphilosophischen<br />

Sinn ist er ein warmherziger, ordentlicher Bursche, und ich<br />

mag ihn gern ... Es ist jedoch sinnlos, mir etwas vorzumachen: Es<br />

wird hart werden, bei der Kälte um halb vier aufzustehen, von einer<br />

Kost zu leben, die hauptsächlich aus Reis besteht, und zu versuchen,<br />

mit verschränkten Beinen zu meditieren... Kann ich denn das?<br />

Will ich das überhaupt? ... Immerhin ist etwas an all dem, das tief<br />

befriedigend ist... Jedenfalls bin ich froh, daß er mich eingeladen<br />

hat zu bleiben und daß ich angenommen habe ...<br />

8. November 1953<br />

Der Rôshi hat gesagt, ich dürfe im Raum <strong>des</strong> Gründers allein meditieren<br />

anstatt im kalten <strong>Zen</strong>dô. Ich darf sitzen, auf japanische Weise<br />

knien oder einen Stuhl benutzen und so viel warme Kleidung tragen,<br />

wie ich will, wenn mir kalt ist... Habe jedoch keine Ahnung, wie<br />

man meditiert... Als ich dem Rôshi das sagte, gab er mir den myste-<br />

295


iösen Rat: «Verlagern Sie Ihr Bewußtsein in Ihre Bauchhöhle. Dort<br />

gibt es einen blinden Buddha; machen Sie ihn sehend!» Ist das alles,<br />

was zur Meditation gehört? Oder läßt mich der Rôshi absichtlich im<br />

eigenen Saft schmoren? Sah mir heute die Gesichtszüge <strong>des</strong> HAKUIN<br />

genau an; sie wirken weniger grotesk, sogar ein wenig interessant.<br />

10. November 1953<br />

Steige jeden Morgen auf den Hügel hinter der Haupthalle zu einem<br />

weiträumigen Ausblick auf den Fujiyama... Ließ gestern meiner<br />

Kopfschmerzen wegen die Meditation sein, und Fuji sah finster und<br />

leblos aus. Heute, nach einigen Stunden guter Meditation auf einem<br />

Stuhl, schwingt er sich wieder großartig empor. Eine bemerkenswerte<br />

Entdeckung: Ich habe Macht über Leben und Tod <strong>des</strong> Fuji!<br />

23. November 1953<br />

Beim Tee mit dem Rôshi, in seinem Raum, fragte mich der Rôshi<br />

plötzlich: «Was hielten Sie davon, das Rôhatsu-Sesshin in HARADA<br />

Rôshis Kloster zu besuchen? <strong>Die</strong> Disziplin ist bei diesem Sesshin<br />

besonders eisern. Aber er ist ein berühmter Rôshi, ein viel besserer<br />

Lehrer für Sie als ich.» ... «Wenn Sie meinen, natürlich, warum<br />

nicht?» ... «Aber mein alter Lehrer 28 , den Sie neulich getroffen<br />

haben, ist dagegen: Er billigt HARADA Rôshis barsche Methoden zum<br />

Herbeiführen von Satori nicht. Er meint, ein <strong>Zen</strong>-Schüler solle langsam<br />

reifen und dann so natürlich zur Erleuchtung kommen, wie eine<br />

Frucht von Baum fällt, wenn sie reif ist... Lassen Sie mich noch<br />

etwas darüber meditieren...»<br />

25. November 1953<br />

Heute morgen kamen zwei interessante Besucher ins Kloster, der<br />

eine ein Meister, YASUTANI genannt, der andere sein Schüler, ein Laie<br />

namens YAMADA, der sagte, er habe <strong>Zen</strong> etwa acht Jahre lang geübt.<br />

Hätte ihn gern gefragt, ob er schon Satori habe, entschloß mich aber<br />

anders - es hätte ihn in Verlegenheit bringen können ...<br />

28. GEMPÔ YAMAMOTO Rôshi, der zu jener Zeit schon in Zurückgezogenheit lebte.<br />

296


Fragte YASUTANI Rôshi, ob er meine, daß ich in einer Sesshin-Woche<br />

Satori erlangen könnte ... «Sie können es in einem Tage <strong>des</strong> Sesshin<br />

erreichen, wenn Sie wahrhaft dazu entschlossen sind und all Ihr<br />

begriffliches Denken aufgeben.»<br />

27. November 1953<br />

«Wie steht's mit Ihrer Meditation?» fragte mich der Rôshi heute<br />

plötzlich. «Jener Buddha in meinem Bauch ist hoffnungslos blind.»<br />

«Er ist nicht wirklich blind, das scheint nur so, weil er in tiefem<br />

Schlaf liegt... Was halten Sie davon, es mit dem Kôan Mu zu versuchen?»<br />

«Gut, wenn Sie meinen - aber was tue ich damit?» «Ich<br />

nehme an, Sie kennen seine Geschichte ...» «Ja.» «Dann konzentrieren<br />

Sie sich einfach anhaltend auf JÔSHÛS Antwort, bis Sie deren<br />

Bedeutung intuitiv erkennen.» «Werde ich dann erleuchtet sein?» ...<br />

«Ja, wenn Ihr Verständnis nicht nur ein theoretisches ist.» ... «Aber<br />

wie soll ich mich konzentrieren?» ... «Verlagern Sie Ihr Bewußtsein<br />

in Ihren Hara und richten Sie Ihren Sinn einzig auf Mu.»<br />

28. November 1953<br />

Heute früh rief mich der Rôshi auf sein Zimmer und winkte mir, ihm<br />

zu einem kleinen Altarschrein im Hintergrund zu folgen ... «Sehen<br />

Sie den Brief, den ich Kannon in die Hand gesteckt habe? Sie sind mit<br />

dem Mann, der ihn schrieb, jetzt karmisch verbunden; danken wir<br />

Kannon mit Gasshô.» Ohne zu überlegen, machte ich Gasshô und<br />

fragte schnell: «Sagen Sie, was ist das für ein Brief, wer hat ihn<br />

geschrieben? Und was meinen Sie mit ,karmisch verbunden'?» Der<br />

Rôshi, nach außen feierlich ernst, innerlich aber angeregt, sagte einfach:<br />

«Kommen Sie in meinen Raum, und ich werde es erklären.»<br />

Mit seiner gewohnten Anmut kniete er sich im japanischen Stil nieder,<br />

setzte den Kessel für den Tee auf das Holzkohlenfeuer und<br />

erklärte dann mit Entschiedenheit: «Ich habe mich entschlossen, Sie<br />

zum Rôhatsu-Sesshin zum Hosshin-Ji zu bringen. <strong>Die</strong>ser Brief hat<br />

mich zu dem Entschluß gebracht.» ... «Erzählen Sie mir, worum es<br />

sich bei all dem handelt.» ... «Erinnern Sie sich an YAMADA San,<br />

jenen Herrn, der vorgestern mit YASUTANI Rôshi herkam? Der Brief<br />

297


ist von ihm. Er erlebte tiefreichen<strong>des</strong> Satori genau einen Tag nach<br />

seiner Abreise von hier, und er berichtet darüber in diesem Brief 29 .»<br />

«Haben Sie gesagt, er erlangte Satori? Bitte, übersetzen Sie es mir<br />

gleich jetzt.»<br />

«Dafür ist jetzt keine Zeit. Hosshin-Ji liegt weit von hier am Japanischen<br />

Meer, und wir müssen uns vorbereiten, um morgen abzufahren.<br />

Ich werde es Ihnen im Zug übersetzen.»<br />

29. November 1953<br />

Während wir im Zug dritter Klasse durch die Nacht dahinbrausten,<br />

übersetzte der Rôshi mir langsam und sorgfältig YAMADAS Brief. "Was<br />

für ein lebendiges, aufrütteln<strong>des</strong> Erlebnis! Und er kein Mönch, sondern<br />

ein Laie! «Glauben Sie wirklich, daß es mir möglich ist, bei<br />

diesem Sesshin Satori zu erreichen?» ... «Natürlich, vorausgesetzt,<br />

daß Sie sich selbst vollständig vergessen.» ... «Aber was ist Satori<br />

überhaupt? Ich meine -»<br />

«Halt!» ... Der Rôshi warf beide Hände in die Luft, und sein unergründliches<br />

Lächeln leuchtete auf. «Wenn Sie es erreichen, werden Sie<br />

es wissen. Jetzt aber, bitte, keine weiteren Fragen mehr. Üben wir<br />

Zazen und versuchen wir dann, ein wenig zu schlafen, ehe wir zum<br />

Hosshin-Ji kommen.» ...<br />

Obama, 30. November 1953<br />

Kamen spät am Nachmittag hungrig und erschöpft im Hosshin-Ji an.<br />

Der Himmel bleiern, die Luft kalt und feucht. HARADA Rôshi war<br />

warm und herzlich und begrüßte mich mit ausgestreckten Händen.<br />

Später stellte er mich dem assistierenden Rôshi und vier Mönchs-<br />

Ältesten vor. Obgleich sie etwas zurückhaltend sind, glühen sie doch<br />

von einer starken inneren Flamme.<br />

Der Rôshi und ich zogen uns auf ein kleines Zimmer, das wir teilten,<br />

zurück ... «Sie ruhen sich besser etwas aus, ehe die Schlacht beginnt.»<br />

... «Schlacht?» ... «Ja, eine Schlacht auf Leben und Tod mit den<br />

Gewalten Ihrer eigenen Unwissenheit... Ich werde Sie rufen, wenn<br />

29. Siehe S. 285-289.<br />

298


sich alle in der Haupthalle versammeln, um die letzten Anweisungen<br />

von HARADA Rôshi zu erhalten - in etwa einer Stunde.»<br />

Wie Hummer in einem Konklave saßen HARADA Rôshi, der assistierende<br />

Rôshi und die vier Mönchs-Ältesten in scharlachfarbenen Brokat-Gewändern<br />

und hoch aufragendem zeremoniellem Kopfputz auf<br />

schweren Seidenkissen am einen Ende der Halle, während am anderen<br />

vier jüngere Mönche, jeder ein schwarzes Lacktablett mit goldfarbenen<br />

Tassen in den Händen, auf dem Sprung standen, sie anzubieten.<br />

Zwischen diesen beiden Gruppen knieten etwa fünfzig grimmig<br />

aussehende Laien in zwei Reihen einander gegenüber, durch die<br />

Breite <strong>des</strong> Raumes getrennt, mit den herkömmlichen düsteren Gewändern<br />

angetan ... Ihre Augen klebten am Boden vor ihnen, und keiner<br />

außer mir rührte sich, um HARADA Rôshi anzusehen, als er sprach ...<br />

Warum sind sie nur alle so gespannt und finster? Warum sehen sie alle<br />

aus, als stählten sie sich für irgendeine schreckliche Heimsuchung?<br />

Allerdings hatte der Rôshi von einer Schlacht gesprochen, aber das<br />

war gewiß nur eine Redensart - wie soll man denn seinen eigenen<br />

Geist bekämpfen? Ist <strong>Zen</strong> denn nicht WU wei, also «nicht ringend»?<br />

Ist das all-umfassende Buddha-Wesen nicht allgemeiner Besitz?<br />

Warum also darum ringen, etwas zu erwerben, was schon unser ist?<br />

... Muß HARADA Rôshi bei erster Gelegenheit danach fragen ...<br />

Als wir wieder in unserem Zimmer waren, faßte NAKAGAWA Rôshi<br />

HARADA Rôshis Anweisungen kurz zusammen: 1. Während dieser<br />

Woche dürft ihr nicht sprechen, nicht baden, euch nicht rasieren und<br />

das Grundstück nicht verlassen. 2. Ihr müßt euch einzig und allein<br />

auf eure eigene Übung konzentrieren, ohne eure Augen aus irgendeinem<br />

Grunde abschweifen zu lassen. 3. Sie als Anfänger haben bei<br />

diesem Sesshin ebensowohl die Möglichkeit, Erleuchtung zu finden<br />

wie die Alt-Erfahrenen. - Und der Rôshi fügte kurz und bündig<br />

hinzu: «Aber Sie müssen hart arbeiten, schrecklich hart.»<br />

1. Dezember 1953<br />

Unaufhörlich Regen, das <strong>Zen</strong>dô unbehaglich kalt und feucht. . .<br />

Trage lange Unterhosen, Wollhemd und zwei Pullover, wollenes<br />

Gewand und zwei Paar Wollsocken, höre aber nicht auf zu zittern ...<br />

299


Das Gebrüll und Geschrei <strong>des</strong> godô verwirrender als seine Hiebe mit<br />

dem Kyosaku ... Von Schmerzen in Beinen und Rücken gefoltert...<br />

Gedanken jagten sich wild ... Wälzte mich von agura in seiza, von<br />

Seiza zu hanka, ordnete meine <strong>drei</strong> Kissen auf jede nur erdenkliche<br />

Weise, konnte aber den Schmerzen nicht entkommen ...<br />

Bei meinem ersten Dokusan zeichnete HARADA Rôshi einen Kreis mit<br />

einem Punkt in der Mitte. «<strong>Die</strong>ser Punkt, das sind Sie, und der Kreis<br />

ist das Weltall. In Wirklichkeit umfassen Sie das ganze Weltall. Da<br />

Sie sich aber als diesen Punkt ansehen, ein isoliertes Fragment, erleben<br />

Sie das Weltall nicht als untrennbar von sich selbst... Sie müssen aus<br />

Ihrer Ich-Verhaftung ausbrechen; Sie müssen Philosophie und alles<br />

Übrige vergessen. Sie müssen Ihr Bewußtsein in Ihren Hara verlagern<br />

und nur Mu ein- und ausatmen. Der Mittelpunkt <strong>des</strong> Universums ist<br />

Ihre Bauchhöhle!...<br />

Mu ist ein Schwert, das Ihnen ermöglicht, sich einen Weg durch Ihre<br />

Gedanken zu bahnen bis zu jenem Bereich, der der Ursprung aller<br />

Gedanken und Gefühle ist. Aber Mu ist nicht allein ein Mittel zur<br />

Erleuchtung, es ist selbst Erleuchtung. Selbst-Wesensschau ist keine<br />

Sache <strong>des</strong> schrittweisen Vorrückens, sondern das Ergebnis eines<br />

Sprungs. Ehe Ihr Geist nicht rein ist, können Sie diesen Sprung nicht<br />

tun ...»<br />

«Was meinen Sie mit ,rein'?» ... «Leer von allen Gedanken» ...<br />

«Aber warum ist es nötig, um Erleuchtung zu ringen, wenn wir doch<br />

schon das erleuchtete Buddha-Wesen haben?» ... «Können Sie mir<br />

dieses erleuchtete Wesen zeigen?» ... «Hm, nein, das kann ich nicht.<br />

Aber die Sûtras sagen, wir besäßen es, nicht wahr?» ... «<strong>Die</strong> Sûtras<br />

sind nicht Ihre Erfahrung, sie sind die Erfahrung Buddha SHAKYA-<br />

MUNIS. Wenn Sie Ihren Buddha-Geist schauend erkennen, werden Sie<br />

selbst ein Buddha sein.»<br />

2. Dezember 1953<br />

Sagte HARADA Rôshi beim Dokusan um 5 Uhr früh, daß die Schmerzen<br />

in meinen Beinen eine Marter seien. «Ich kann nicht weitermachen.»<br />

... «Möchten Sie einen Stuhl haben?» Er sah mich spöttisch<br />

an... «Nein, ich will keinen Stuhl benutzen, und wenn mir die<br />

300


Beine abfallen!» ... «Gut! Mit dieser Gesinnung werden Sie unweigerlich<br />

Erleuchtung erlangen.»<br />

Schrecklicher Schlag mit dem Kyosaku, gerade als meine Konzentration<br />

in eins gerinnen wollte, und ich fiel wieder auseinander ... Verdammt,<br />

dieser godô! «Rücken aufrichten, fest sitzen, alle Kraft im<br />

Hara konzentrieren!» schreit er gellend. Aber wie, zum Teufel, verlagere<br />

ich meine Kraft in den Hara? Wenn ich es versuche, habe ich<br />

stechende Schmerzen im Rücken. Muß HARADA Rôshi danach<br />

fragen ...<br />

Während der ganzen Zeit, da ein Räucherstäbchen abbrannte, waren<br />

meine Gedanken von einem Bild von MOKKEI 30 eingenommen, das ich<br />

im vergangenen Monat auf einer Ausstellung im Daitoku-Ji gesehen<br />

hatte. Jener Kranich verfolgt mich geradezu, das Geheimnis allen<br />

Daseins liegt in seinen Augen. Er ist selbst-erschaffend, aus der Formlosigkeit<br />

dringt er zur Form durch. Ich muß den Vorgang umkehren,<br />

wieder in Formlosigkeit, Nicht-Zeit untertauchen. Ich muß sterben,<br />

um wiedergeboren zu werden ... Ja, das ist die innere Bedeutung<br />

von Mu!...<br />

Bang, Bang! ... <strong>Die</strong> Dokusan-Glocke ... HARADA Rôshi hörte mich<br />

ungeduldig an, brüllte dann: «Denken Sie doch nicht an Mokkeis<br />

Kranich, denken Sie doch nicht an Form oder Formlosigkeit oder<br />

sonst irgend etwas. Denken Sie einzig an Mu, denn dafür sind Sie<br />

hier!»<br />

3. Dezember 1953<br />

Schmerzen in den Beinen unerträglich ... Warum gebe ich nicht auf?<br />

Es ist närrisch, zu versuchen, mit diesen grauenhaften Schmerzen zu<br />

sitzen, diese sinnlosen Schläge <strong>des</strong> Kyosaku hinzunehmen und noch<br />

dazu das wahnsinnige Geschrei <strong>des</strong> godô; das ist schlicht und einfach<br />

Masochismus... Warum bin ich nur vom Ryutaku-Ji weggegangen,<br />

warum habe ich überhaupt die Vereinigten Staaten verlassen? ...<br />

Aber ich kann jetzt nicht aufgeben - was sollte ich tun? Ich muß<br />

Satori erlangen, ich muß ...<br />

30. Ein bedeutender chinesischer <strong>Zen</strong>-Mönch und Maler namens Mu CH'I, der im<br />

10. Jh. lebte. <strong>Die</strong> meisten seiner Bilder stehen unter Denkmalsschutz.<br />

301


Was, zum Teufel, ist Mu, was kann es nur sein? ... Natürlich, es ist<br />

absolutes Gebet, das Selbst zu sich selbst betend... Wie oft hatte ich<br />

mir als Student gewünscht zu beten, aber es schien mir immer zwecklos<br />

und sogar töricht, Gott um Stärke zu bitten, um mit eben jenen<br />

mißlichen Lagen fertigzuwerden, denen er in seiner Allwissenheit und<br />

Allmacht gestattet hatte zu entstehen ...<br />

Tränen stiegen mir auf; wie segensreich ist Gebet um seiner selbst<br />

willen! ... Was bedeuten diese Tränen? Sie sind ein Zeichen meiner<br />

Hilflosigkeit, ein stillschweigen<strong>des</strong> Eingeständnis, daß mein Verstand,<br />

mein Ich die Grenzen ihrer Macht erreicht haben ... Ja, Tränen sind<br />

die Wohltat der Natur, ihr Versuch, den Schmutz <strong>des</strong> Ich abzuwaschen<br />

und die harten Umrisse unserer Persönlichkeit weicher zu<br />

machen, einer Persönlichkeit, die dürr und angespannt wurde, indem<br />

sie sich egozentrisch auf die Unbesiegbarkeit der Vernunft verlassen<br />

hat...<br />

Was für wunderbare Einsichten! Ich habe solch gutes Gefühl dabei!<br />

Ich weiß, ich habe Fortschritte gemacht. Ich wäre nicht erstaunt,<br />

wenn Satori mich noch heute nacht treffen würde!<br />

Krach! Krach! «Hören Sie auf zu träumen! Nur Mu!» brüllt der<br />

godô und schlägt mich ...<br />

Dokusan! ... «Nein, nein, nein! Habe ich Ihnen denn nicht gesagt,<br />

daß Sie sich einzig auf Mu konzentrieren sollen? Verbannen Sie diese<br />

Gedanken! Satori ist nicht Sache <strong>des</strong> Fortschritts oder Rückschritts;<br />

habe ich Ihnen denn nicht gesagt: Es ist ein Sprung! ... Sie müssen<br />

das und nur das tun: Verlagern Sie Ihr Bewußtsein auf den Grund<br />

Ihres Bauches, und atmen Sie Mu ein und aus. Verstanden?» ...<br />

Warum ist er nur mit einem Mal so grob? ... Sogar die Falken auf<br />

dem Wandschirm hinter ihm haben angefangen, mich finster anzustieren.<br />

4. Dezember<br />

Mein Gott, mein Buddha, ein Stuhl steht auf meinem Platz! Ich bin<br />

so dankbar! ... Der Rôshi kam und flüsterte mir zu: «HARADA Rôshi<br />

hat dem Mönchs-Ältesten befohlen, Ihnen einen Stuhl hinzustellen,<br />

da er meinte, daß Sie niemals Satori erreichen würden, wenn Sie mit<br />

302


gebeugtem Rücken dasitzen und dauernd Ihre Stellung verändern.<br />

Jetzt haben Sie keine Hindernisse mehr, also konzentrieren Sie sich<br />

von ganzem Herzen und mit ganzer Seele auf Mu.» ... Konzentration<br />

festigte sich schnell, die Gedanken verschwanden plötzlich.<br />

Welch wunderbares Gefühl, diese heitere Leere ...<br />

Plötzlich strömt Sonnenschein durch das Fenster vor mir herein! Der<br />

Regen hat aufgehört! Es ist wärmer geworden! Endlich sind die Götter<br />

mit mir! Jetzt kann ich Satori nicht verfehlen! ... Mu, Mu, Mu!<br />

... Wieder lehnte sich der Rôshi zu mir herüber, aber nur, um zu<br />

flüstern: «Sie keuchen und stören die anderen; versuchen Sie, geräuschlos<br />

zu atmen.» ... Aber ich kann nicht aufhören. Mein Herz<br />

klopft wild, ich zittere von Kopf bis Fuß, unaufhaltsam strömen mir<br />

die Tränen. Der godô schlägt mich, aber ich spüre es kaum. Er<br />

schlägt meinen Nachbarn, und plötzlich denke ich: «Warum ist er<br />

so gemein, er tut ihm weh.» .. . Mehr Tränen .. . Der godô kommt<br />

zurück und schlägt mich wieder und brüllt dabei: «Entschlagen Sie<br />

sich aller Gedanken; werden Sie wieder wie ein kleines Kind. Einfach<br />

Mu, Mu! direkt von den Eingeweiden her!» - - - Krach, krach, krach!<br />

Urplötzlich verliere ich die Gewalt über meinen Körper und, noch<br />

bei Bewußtsein, sinke ich in mich zusammen. Der Rôshi und der godô<br />

heben mich auf, tragen mich auf mein Zimmer und legen mich hin.<br />

Ich keuche und zittere noch immer. Der Rôshi blickt mir besorgt ins<br />

Gesicht: «In Ordnung? Wünschen Sie einen Arzt?» ... «Nein, ich<br />

glaube, es geht schon.» ... «Ist Ihnen das früher schon mal passiert?»<br />

. .. «Nein, nie.» ... «Ich gratuliere Ihnen!» ... «Warum, habe ich<br />

Satori erlangt?» ... «Nein, aber ich gratuliere Ihnen gleichwohl.»<br />

Der Rôshi bringt mir einen Krug Tee; ich trinke fünf Tassen.<br />

Kaum hat er mich verlassen, spüre ich, wie mit einem Mal meine<br />

Arme und Beine und mein Rücken von einer unsichtbaren Kraft<br />

gepackt und in einen riesigen Schraubstock eingespannt werden, der<br />

mich allmählich zerdrückt ... Elektrischen Schlägen gleich durchzucken<br />

mich Schmerzkrämpfe, und ich winde mich vor Qual. Es<br />

kommt mir vor, als sei ich erschaffen worden, um für meine und der<br />

ganzen Menschheit Sünden zu büßen. Bin ich am Sterben oder werde<br />

ich erleuchtet? ... Schweiß rinnt mir aus jeder Pore, und ich muß<br />

303


zweimal mein Unterzeug wechseln. Schließlich falle ich in tiefen<br />

Schlaf.<br />

Als ich erwachte, fand ich eine Schale Reis, Suppe und Bohnen neben<br />

meiner Schlafmatte. Aß heißhungrig, zog mich an, ging ins <strong>Zen</strong>dô.<br />

Nie im Leben habe ich mich so leicht, aufgeschlossen und durchscheinend<br />

gefühlt, so durch und durch gereinigt und ausgespült. Beim<br />

Kinhin ging ich nicht, sondern hüpfte wie ein Korken auf dem Wasser.<br />

Konnte nicht widerstehen, hinauszublicken auf die Bäume und<br />

Blumen, lebensvoll, blendend, bebend vor Leben! ... Das Sausen <strong>des</strong><br />

Win<strong>des</strong> in den Bäumen ist lieblichste Musik! Wie köstlich der Rauch<br />

<strong>des</strong> Räucherwerks duftet!<br />

Später beim Dokusan sagte HARADA Rôshi: «Sie bekamen Krämpfe,<br />

weil Sie anfangen, Ihre Verblendung abzuschütteln; das ist ein gutes<br />

Zeichen. Aber halten Sie nicht inne, um sich zu beglückwünschen.<br />

Konzentrieren Sie sich noch energischer auf Mu.»<br />

5. Dezember 1953<br />

Bin noch immer glühend erregt ... Satori muß mich jeden Augenblick<br />

treffen, ich weiß es, ich spüre es im Gebein ... Meine <strong>Zen</strong>-<br />

Freunde in den Vereinigten Staaten werden schön neidisch sein, wenn<br />

ich ihnen schreibe, ich habe Satori! ... Denk doch nicht an Satori, du<br />

Narr, denk nur an Mu! ... Ja, Mu, Mu, Mu! ... Verdammt, ich<br />

habe es verloren! Meine Erregung über Satori hat Hunderte von<br />

Gedanken ausgelöst - die mich niedergeschlagen zurücklassen ... Es<br />

hat alles keinen Zweck, Satori ist zu hoch für mich ...<br />

6. Dezember 1953<br />

Heute früh körperlich müde, aber scharfen und klaren Sinnes ...<br />

Mu-te die ganze Nacht im Klostergarten ohne Schlaf ... elend kalt<br />

... Blieb nur <strong>des</strong>halb auf, weil HARADA Rôshi mich gescholten hatte:<br />

«Sie werden niemals Satori erreichen, wenn Sie nicht die Kraft und<br />

Entschlossenheit aufbringen, die ganze Nacht hindurch Zazen zu<br />

üben. Einige der Übenden sind jede einzelne Nacht für Zazen aufgeblieben.»<br />

...<br />

Um Mitternacht herum warf ich mich vor der Buddha-Statue in der<br />

304


Haupthalle nieder und betete verzweifelt: «O Gott, o Buddha, bitte<br />

gewähre mir Satori, und ich werde demütig sein und mich sogar willig<br />

vor Dir verneigen ...» Aber nichts geschah, kein Satori ... Jetzt<br />

sehe ich, der alte Fuchs hat mich zum Besten gehabt, wollte wahrscheinlich<br />

versuchen, mich von meiner Verhaftung ans Schlafen loszulösen<br />

...<br />

Gebrüll und Hiebe <strong>des</strong> godô und seiner Helfer werden grimmiger<br />

und grimmiger, Getöse und Tumult der letzten <strong>drei</strong> Nächte ganz<br />

unglaublich. Mit Ausnahme einer Handvoll schrien in der letzten<br />

halben Stunde die über fünfzig Sitzenden ununterbrochen: «Mu!»,<br />

während die Mönchs-Ältesten sie prügelten, wobei sie brüllten: «Laßt<br />

Mu aus der Tiefe <strong>des</strong> Bauches ertönen, nicht von den Lungenspitzen<br />

her!» ... Und später dann das gellende «Mu-en» die ganze Nacht<br />

lang auf dem Friedhof und den Hügeln, wie Vieh, das zur Schlachtbank<br />

getrieben wird ... Ich wette, es hielt die ganze Gegend wach .. .<br />

<strong>Die</strong>ses Prügeln belebt mich nicht im geringsten. Der godô muß mich<br />

letzte Nacht fünfzehn Minuten ununterbrochen geschlagen haben,<br />

aber das bewirkte nur einen wunden Rücken und bittere Gedanken.<br />

Warum habe ich nicht seinen Stock ergriffen und ihm eine Dosis<br />

seiner eigenen Medizin verabreicht? Möchte wohl wissen, was geschehen<br />

wäre, wenn ich das getan hätte ...<br />

Beim Dokusan sagte ich zu HARADA Rôshi: «Das Dumme ist, daß ich<br />

mich nicht vergessen kann. Ich bin mir meiner selbst immer als<br />

Subjekt bewußt, das sich dem Objekt Mu gegenüber sieht ... Ich<br />

richte meinen Sinn ganz auf Mu, und wenn ich daran festhalten<br />

kann, denke ich: ,Gut, jetzt hast du es, laß es nicht wieder los.' Dann<br />

sage ich mir: ,Nein, du sollst nicht «gut» denken, du sollst nur Mu<br />

denken!' So presse ich die Hände zusammen, strenge mich mit jedem<br />

Nerv und jedem Muskel an, und schließlich schnappt etwas ein, und<br />

ich weiß, daß ich eine tiefere Bewußtseinsebene erreicht habe, weil<br />

ich mir nicht länger mehr eines Innen und Außen, eines Vorn und<br />

Hinten bewußt bin. Gehobener Stimmung denke ich: Jetzt bin ich<br />

dicht bei Satori - alle Gedanken sind verschwunden, Satori wird<br />

mich jeden Augenblick treffen.' Aber dann wird mir klar, daß ich<br />

nicht dicht vor Satori sein kann, solange ich noch an Satori denke ...<br />

305


Und entmutigt lockert sich mein Halt an Mu, und Mu ist wieder<br />

weg ...<br />

Dann habe ich noch folgen<strong>des</strong> Problem: Sie haben mir gesagt, ich<br />

solle mein Bewußtsein von allen vorgefaßten Meinungen so los und<br />

ledig machen wie das eines kleinen Kin<strong>des</strong>, ganz ohne Eigenwillen<br />

und Ich. Wie aber kann ich frei vom Ich sein, wenn der godô mich<br />

ungestüm schlägt und mich drängt, mehr und mehr zu ringen und<br />

mich um Mu zu mühen? Ist solch absichtliches Ringen meinerseits<br />

denn nicht ein Ausdruck <strong>des</strong> Ich? Anstatt das Ich zu bannen, scheine<br />

ich es noch aufzupäppeln.» ...<br />

«Der Geist <strong>des</strong> Ich und der Geist Ursprünglicher-Reinheit sind zwei<br />

Seiten der gleichen Wirklichkeit... Denken Sie nicht ,Das ist Ich',<br />

,Das ist nicht Ich'. Konzentrieren Sie sich einfach auf Mu, das ist der<br />

Weg, um den Geist Ursprünglicher-Reinheit zu verwirklichen ... Es<br />

ist wie bei einem Mann, der am Verhungern ist: Er denkt nicht ,Ich<br />

bin hungrig, ich muß etwas zu essen finden'. Er ist so völlig von<br />

seinem Hunger absorbiert, daß er, ohne nachzugrübeln, etwas zu<br />

essen findet ... Wenn Sie im Bewußtsein Ihrer selbst denken: ,Ich<br />

will Satori, ich muß Satori haben', werden Sie es nie bekommen.<br />

Wenn Sie sich aber aus tiefstem Herzensgrunde nach Selbst-Wesensschau<br />

sehnen, so wird Satori kommen, sofern Sie sich völlig in Mu<br />

versenken und dabei Ihr Bewußtsein und Ihre Kraft im Hara konzentrieren<br />

... Mu muß Sie innerlich völlig in Beschlag nehmen und<br />

in Ihrem Hara widerhallen ... Versuchen Sie nicht, Satori vorauszuahnen;<br />

es kommt unerwartet. Wenn Ihr Bewußtsein von allen Gedanken<br />

und Bildern entleert ist, kann alles und je<strong>des</strong> es erleuchten: die<br />

menschliche Stimme, der Ruf eines Vogels... Aber Sie müssen stärkeren<br />

Glauben haben. Sie müssen daran glauben, daß Sie die Fähigkeit<br />

besitzen, Ihr Wahres-Wesen zu verwirklichen, und Sie müssen daran<br />

glauben, daß das, was ich Ihnen sage, wahr ist und Sie zu dem hinführt,<br />

was Sie suchen.» ...<br />

Dokusan mit dem Alten Löwen gibt einem immer einen Auftrieb . ..<br />

Also wieder einmal in Mu hineingejagt, waren meine Kräfte doch<br />

bald erschöpft, und ich wurde nicht von Satori getroffen, sondern von<br />

einem Sperrfeuer von Gedanken. Ich bin lahmgelegt ... Wenn ich<br />

306


mich sehr anstrenge, werde ich bald müde, und Körper und Geist<br />

erschlaffen. Wenn ich aber nicht tief schürfe, schlägt mich der godô,<br />

oder er reißt mich auch vom Sitz hoch und schiebt und stößt mich<br />

zum Dokusan. Wenn ich vor HARADA Rôshi erscheine, fragt er:<br />

«Warum kommen Sie, wenn Sie mir Mu nicht zeigen können?» Oder<br />

er fährt mich meiner Lauheit wegen an ... Wollen sie mir die Gedanken<br />

aus dem Sinn treiben oder mich von Sinnen machen? Sie versuchen<br />

absichtlich, eine künstliche Neurose herbeizuführen ... Warum<br />

gebe ich nur nicht auf?<br />

Krach, beng! ... Das ganze <strong>Zen</strong>dô erzittert; was ist nur geschehen?<br />

Sah mich um, was ich nicht hätte tun sollen ... der Alte Löwe hatte<br />

gerade den längsten Kyosaku <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>dô auf dem Rücken <strong>des</strong> Monju-<br />

Schreins zerbrochen ... «Ihr seid alle faul!» gellt er. «Ihr habt das<br />

kostbarste Erlebnis der Welt in Reichweite, aber ihr sitzt da und<br />

träumt. Wacht auf und werft euer Leben in diesen Kampf, sonst wird<br />

euch Satori für immer entgehen!» ... Welch eine Geistesstärke, welche<br />

Kraft in diesem zarten, 1,60 m großen, 84jährigen Körper!<br />

7. Dezember 1953<br />

Zu erschöpft, um mit den anderen die letzte Nacht hindurch zu sitzen.<br />

Hätte das aber gerade so gut tun können; ihr heiseres «Mu-en» die<br />

Nacht über hielt mich sowieso wach ... Der Rôshi sagt, dieser letzte<br />

Tag sei entscheidend, also nicht schwach werden ... Aber meine<br />

«Friß-oder-stirb»-Gesinnung ist weg, das Rennen ist vorüber, und ich<br />

bin nur ein «Ferner liefen» ...<br />

Verärgert und neidisch beobachtete ich, wie die <strong>drei</strong> «Sieger» im <strong>Zen</strong>dô<br />

im Kreis herumgingen, sich vor HARADA Rôshi, dem assistierenden<br />

Rôshi und den Mönchs-Ältesten verneigten, um ihnen ihre Verehrung<br />

und Dankbarkeit zu erweisen. Einer der Glücklichen hat neben mir<br />

gesessen. Er wurde immer wieder geschlagen und hatte gestern den<br />

ganzen Tag lang und auch heute geheult ... Offenbar hat er aus<br />

schierer Freude geweint, während ich die ganze Zeit über dachte, er<br />

hätte Schmerzen.<br />

307


8. Dezember 1953<br />

Trank zusammen mit NAKAGAWA Rôshi nach dem Sesshin Tee bei<br />

HARADA Rôshi ... Sein abschrecken<strong>des</strong> Sesshin-Gebaren ist verschwunden;<br />

er ist sanft und strahlend wie die Sonne. Nach angenehmer<br />

Unterhaltung lud er uns ein, den Nachmittag über zu den feierlichen<br />

Zeremonien zum Gedächtnis von Buddhas Erleuchtung dazubleiben.<br />

Beobachtete völlig fasziniert, wie HARADA Rôshi, der assistierende<br />

Rôshi und zehn Mönchs-Älteste, alle in ihre zeremoniellen Gewänder<br />

gekleidet, sich wieder und wieder vor dem Buddha niederwarfen,<br />

Sûtras rezitierten, ihre Sûtra-Bücher in die Luft warfen, Trommeln<br />

schlugen, Glocken läuteten, Gongs anschlugen und die Haupthalle<br />

umschritten in einer ganzen Folge von Ritualen und Zeremonien, um<br />

SHAKYAMUNI Buddha zu ehren und das unsterbliche Erlebnis seiner<br />

Erleuchtung zu feiern. <strong>Die</strong>se Zeremonien glühen von der Lebendigen-<br />

Wahrheit, die alle diese Mönche offensichtlich bis zu einem gewissen<br />

Grad erlebt haben ... Ja, durch diese Rituale festigen sie aufs neue<br />

das Band mit ihrer großen buddhistischen Tradition, bereichern sie<br />

und lassen sich von ihr bereichern, auf daß sie deren Kette weiter in<br />

die Zukunft hinein fortsetzen können. Wenn ich diese Tradition gleichermaßen<br />

in mich aufnehme, kann ich mein eigenes Verbindungsglied<br />

mit dem Buddhismus und seinen ungeheuren Kraftquellen zur<br />

Erleuchtung <strong>des</strong> menschlichen Geistes schmieden.<br />

... Jetzt weiß ich, warum mich die Messen in Kirchen und Synagogen<br />

der Vereinigten Staaten so schnell ermüdeten. <strong>Die</strong> Priester, Rabbis<br />

und Geistlichen hatten offenbar keine persönliche Erfahrung Gottes,<br />

eines Gottes, über den sie so zungenfertig predigten. Deshalb waren<br />

ihre Predigten und Zeremonien so schal und leblos.<br />

Kyoto, 9. Januar 1954<br />

Wieder in Kyoto, müde, halb erfroren und wund, aber innerlich voller<br />

Leben ...<br />

Mishima, 20. Januar 1954<br />

Wie gut, zum Ryutaku-Ji zurückzukehren ... In Kyoto redeten P.<br />

308


und ich nur über <strong>Zen</strong>, sowohl miteinander als auch mit den Professoren;<br />

hier aber übe ich es ... Wenn es auch schmerzhaft ist, so ist das<br />

Üben doch verjüngend. Mein Geist ist ein Morast stagnierender Meinungen,<br />

Theorien, Eindrücke, Vorstellungen. Ich habe zu viel gelesen<br />

und gedacht, gefühllos erlebt. Ich muß meinem abgematteten Empfindungsvermögen<br />

die Frische zurückgewinnen, mich selbst ehrlich<br />

und nackt sehen. Und das kann ich am besten durch Zazen in einem<br />

Kloster.<br />

Obama, 8. April 1954<br />

Mein zweites Sesshin im Hosshin-Ji ist vorüber ... HARADA Rôshi<br />

sagte, er würde mich als Schüler annehmen, wenn ich als Laien-<br />

Mönch in seinem Kloster bleiben wollte. «Wenn Sie das Klosterleben<br />

auf sich nehmen können und Erleuchtung gewinnen, so werden Sie<br />

Ihres Lebens Meister sein anstatt sein Sklave.» Nach Beratung mit<br />

NAKAGAWA Rôshi entschloß ich mich, auf unbegrenzte Zeit zu<br />

bleiben ...<br />

1. Oktober 1956<br />

In zwei Monaten sind genau <strong>drei</strong> Jahre vergangen, seit ich zum ersten<br />

Mal zum Hosshin-Ji kam ... So viel Wasser ist inzwischen unter<br />

der Steinbrücke dahingeflossen - oder sollte ich sagen: So viele Steinbrücken<br />

sind über dem unbeweglichen Wasser dahingeflossen? ...<br />

Habe mich mit den Mönchen in der Sommerhitze abgeplackt und mit<br />

ihnen beim Takuhatsu im Schnee gefroren, Bäume gefällt, Reis<br />

gepflanzt, Gärten gepflegt, Aborte gesäubert und mit ihnen in der<br />

Küche gearbeitet. Ich habe an ihren heroischen, hingebungsvollen<br />

Augenblicken teilgenommen und mich an ihren kleinlichen Ränken<br />

beteiligt...<br />

Sitzen, sitzen, sitzen - ein qualvolles Sesshin nach dem anderen und<br />

weiteres Zazen Morgen für Morgen, Abend für Abend und vom<br />

Abend bis zum Morgen ... Blendende Einsichten und bezaubernde<br />

Gesichte sind in meinem Innern vorübergezogen, aber Erleuchtung,<br />

Satori, entzieht sich mir noch immer ... TANGEN San, mein weiser<br />

Mönchs-Führer-Dolmetscher-Freund, versicherte mir feierlich, daß es<br />

309


eicheren Lohn an Heiterkeit, Klarheit und Reinheit bringt, wenn<br />

man einfach nur täglich von ganzem Herzen Zazen sitzt, als es durch<br />

ein schnell erlangtes Satori geschieht, das nicht durch weiteres Zazen<br />

gepflegt wird ... Ist das ein Trostpreis oder ein weiteres <strong>Zen</strong>-Paradoxon,<br />

das der persönlichen Erfahrung und Erleuchtung bedarf, um<br />

verstanden zu werden? ... Er besteht darauf, daß ich an Seelenstärke<br />

und Reinheit gewonnen hätte, aber ich sehe wenig Anzeichen<br />

dafür...<br />

Alle meine Allergien sind verschwunden, ich habe nur noch gelegentlich<br />

mal Magenschmerzen, ich schlafe gut. <strong>Die</strong> dunklen Ängste, die<br />

mich früher jagten, Träume und Hoffnungen, die ich hegte, all das ist<br />

dahingewelkt und hat mich leichter und mit klarerem Sinn für das<br />

Wirkliche zurückgelassen. Aber ich bin noch immer der hungrige<br />

Hund neben dem Kessel mit kochendem Fett, das Satori ist: Ich kann<br />

es nicht kosten, und ich kann nicht davon lassen.<br />

15. November 1956<br />

Lohnt es sich, einen weiteren Winter lang sich mit der Kälte und der<br />

spärlichen Kost hier abzuquälen und zu warten, zu warten, zu warten?<br />

... Einige meiner Freunde, die ernsthaften, älteren Mönche, werden<br />

bald weggehen, um eigene Tempel zu übernehmen. Ich muß einen<br />

Meister finden, mit dem ich außerhalb der gespannten Klosteratmosphäre<br />

in Verbindung stehen kann. <strong>Die</strong> gleiche Intuition, die mir<br />

einst riet, im Hosshin-Ji zu bleiben, mahnt mich jetzt, daß es Zeit<br />

ist, wegzugehen.<br />

23. November 1956<br />

Verließ heute Hosshin-Ji und nahm genügend Geschenke und Ratschläge<br />

mit, um lange damit auszukommen ... Der herzerwärmende<br />

Abschied hat verscheucht, was immer an Frösteln von den eisigen<br />

Obama-Wintern zurückgeblieben war.<br />

Kamakura, 25. November 1956<br />

NAKAGAWA Rôshi hat mich zu YASUTANI Rôshi gebracht... «Er wird<br />

Ihnen ein guter Lehrer sein; er lehrt nach Art von HARADA Rôshi.<br />

310


Seine Schüler sind hauptsächlich Laien. Sie brauchen nicht in einem<br />

Kloster zu wohnen, sondern können in Kamakura leben und seine<br />

Sesshin im Gebiet von Tokyo besuchen.»<br />

3. Dezember 1956<br />

Beteiligte mich am ersten Sesshin in YASUTANI Rôshis Bergtempel...<br />

Ein idealer Platz für Zazen; der Tempel nistet hoch in den Hügeln,<br />

fern dem Lärm der Stadt. Kärgliche acht Teilnehmer - wahrscheinlich<br />

weil das Sesshin nur <strong>drei</strong> Tage dauert und schwer herzukommen<br />

ist ... <strong>Die</strong> Atmosphäre ist wirklich anheimelnd. Der Rôshi ißt nach<br />

Familienart mit uns zusammen. Und was für ein reizender Wechsel:<br />

«der» godô ist eine achtundsechzigjährige Großmutter, «der» Koch<br />

und Vorsänger beim Rezitieren eine fünfundsechzigjährige Nonne.<br />

Gemeinsam bewältigen sie das ganze Sesshin! Jede der beiden sitzt<br />

wie ein Buddha und handelt auch wie ein solcher: sanft, mitfühlend,<br />

durch und durch wach ...<br />

Welch ungeheure Erleichterung, nicht mehr von einem Kyosaku barbarisch<br />

angetrieben oder beim Dokusan buchstäblich vom Rôshi verprügelt<br />

zu werden ... <strong>Die</strong> körperliche Arbeit nach dem Frühstück<br />

wirkt anregend und das nachmittägliche Bad außerordentlich wohltuend.<br />

Fühle mich bei YASUTANI Rôshi ganz zu Hause. Sein Gebaren<br />

ist sanft, doch eindringlich; er lacht leicht und oft.<br />

Beim Dokusan sagte er zu mir: «Um Erleuchtung zu finden, müssen<br />

Sie einen tiefen Glauben haben. Sie müssen aus tiefstem Herzen an<br />

das glauben, was der Buddha und die Patriarchen auf Grund ihrer<br />

eigenen unmittelbaren Erfahrung für wahr erklärt haben, nämlich,<br />

daß alles, wir selbst eingeschlossen, im Grunde Buddha-Wesen ist;<br />

daß wie bei einem Kreis, dem man nichts hinzufügen und nichts wegnehmen<br />

kann, diesem Selbst-Wesen nichts mangelt, daß es vollkommen<br />

und ganz ist ... Wenn wir nun dieses Buddha-Wesen haben,<br />

warum sind wir uns dann <strong>des</strong>sen nicht bewußt? Warum gibt es so viel<br />

Unwissenheit und Leiden in der Welt, wenn doch alles der Essenz<br />

nach die Weisheit und Reinheit selber ist? ... Das ist die «Zweifel-<br />

Masse», die zersprengt werden muß ... Nur wenn Sie zutiefst daran<br />

glauben, daß der Buddha weder ein Tor noch ein Lügner war, als er<br />

311


uns versicherte, daß wir alle von immanenter Ganzheit und Selbst-<br />

Genügsamkeit sind, können Sie unermüdlich Herz und Geist erforschen,<br />

um dieses Paradoxon zu lösen.» ...<br />

«Folgen<strong>des</strong> beunruhigt mich unaufhörlich: Warum habe ich nach <strong>drei</strong><br />

Jahren, in denen ich mir vor Anstrengung schier das Genick gebrochen<br />

habe, nicht Satori erreicht, wenn andere, die sich weder so<br />

schwer, noch so lange abgemüht haben, es gefunden haben? Ich kenne<br />

einige, die bei ihrem ersten Sesshin zu Kenshô kamen mit wenig oder<br />

gar keinem Zazen zuvor.»<br />

«Es gibt ein paar seltene Seelen, die so rein sind, daß sie ohne Zazen<br />

echte Erleuchtung finden können. Der Sechste Patriarch ENÔ war<br />

solch ein Mensch: Er fand Erleuchtung, als er zum ersten Mal das<br />

Rezitieren <strong>des</strong> Diamant-Sûtras hörte. Und HARADA Rôshi berichtet<br />

den Fall einer jungen Schülerin, die bei seinen einführenden Unterweisungen<br />

in eben dem Augenblick zu Kenshô kam, als er einen Kreis<br />

zeichnete und erklärte, daß der Kosmos unteilbar Eins sei ... Aber<br />

die meisten müssen unermüdlich Zazen üben, um Erleuchtung zu<br />

gewinnen ...<br />

Machen Sie sich also keine Sorge wegen Satori, denn solche Sorge<br />

kann zu einem echten Hindernis werden. Wenn Sie in die Welt der<br />

Erleuchtung eintreten, nehmen Sie sozusagen das Ergebnis all Ihrer<br />

Anstrengungen mit sich, und das bestimmt den Wert <strong>des</strong> Satori. Ihr<br />

Satori wird also ein umfassenderes und tieferes sein auf Grund <strong>des</strong><br />

Zazen, das Sie geübt haben. In den meisten Fällen ist ein schnell<br />

erlangtes Kenshô seicht. Üben Sie Zazen voller Eifer, und Satori wird<br />

für sich selber sorgen.»<br />

Ein andermal unterwies er mich: «Der <strong>Zen</strong>-Buddhismus beruht auf<br />

den höchsten Lehren <strong>des</strong> Buddha SHAKYAMUNI. In Indien, dem<br />

Geburtsland <strong>des</strong> Buddha, hat er praktisch aufgehört zu existieren,<br />

und soweit uns bekannt ist, ist er in China, wohin er durch BODHI-<br />

DHARMA von Indien aus gebracht worden war, im Grunde erloschen<br />

... Nur in Japan ist er noch lebendig, obgleich er auch hier in<br />

langsamem Niedergang ist. Heute gibt es in ganz Japan wahrscheinlich<br />

kaum mehr als zehn echte Meister. <strong>Die</strong>se einzigartige Lehrweise<br />

darf nicht verloren gehen; sie muß dem Westen übermittelt werden.<br />

312


Große Geister in den Vereinigten Staaten und Europa haben Interesse<br />

am Buddhismus gewonnen, weil er nicht allein das Herz anspricht,<br />

sondern auch den Verstand. Buddhismus ist eine ausgesprochen<br />

rationale Religion ...<br />

Sie wissen aus eigener Erfahrung, daß <strong>Zen</strong> nicht leicht ist; aber der<br />

Lohn steht im Verhältnis zu den Schwierigkeiten. Denken Sie daran,<br />

daß BODHIDHARMA Ungemach über Ungemach zu erleiden hatte, und<br />

daß sowohl EISAI wie DÔGEN, die <strong>Zen</strong> von China nach Japan brachten,<br />

zahllose Hindernisse überwinden mußten. Alles Wertvolle hat<br />

einen hohen Preis... Es ist Ihre Bestimmung, dem Westen <strong>Zen</strong> zu<br />

bringen... Verzagen Sie nicht, und geben Sie trotz aller Schmerzen<br />

und Mühsal nicht auf.»<br />

27. Juli 1958<br />

Der 1. August wird mein entscheidender Tag, der Beginn eines einwöchigen<br />

Sommer-Sesshins, meines zwanzigsten mit YASUTANI Rôshi.<br />

... Saß diesen Monat zwei Sesshin, eines in YASUTANI Rôshis Tempel<br />

und eines im Ryutaku-Ji und außerdem Tag und Nacht Zazen in<br />

meinem Zimmer, alles in Vorbereitung auf den Großen Vorstoß ...<br />

Bin geistig von seltener Klarheit und Schärfe. Ich muß und ich werde<br />

durchbrechen ... Zum ersten Mal bin ich wahrhaft überzeugt, daß<br />

ich es kann.<br />

Tokyo, 1.August 1958<br />

... Das Sesshin ist im Gange! ... Meine Konzentration spitzte sich<br />

schnell kräftig zu... Bohrte mich in Mu ein, denke nur Mu, atme<br />

Mu ...<br />

3. August 1958<br />

<strong>Die</strong> ersten beiden Tage vergingen schnell, ereignislos ...<br />

4. August 1958<br />

Geriet heute in Weißglut... <strong>Die</strong> Mahner schlugen mich wieder und<br />

wieder... Ihr energisches Stockschwingen ist nicht länger eine<br />

Plage, sondern ein Ansporn. Bei jedem ersten Anschlagen der Doku-<br />

313


san-Glocke raste ich zu der Warteschlange, um als Erster beim Rôshi<br />

zu sein... Bemerke die Schmerzen in den Beinen kaum. War so<br />

begierig, ihm gegenüber zu treten, daß ich ein-, zweimal in seinen<br />

Dokusan-Raum stürzte, ohne auf sein Glockenzeichen zu warten ...<br />

Als er verlangte, ich solle ihm Mu zeigen, ergriff ich spontan seinen<br />

Fächer, fächelte mich, nahm seine Handglocke, läutete und ging dann<br />

hinaus...<br />

Beim nächsten Dokusan fragte er mich wiederum nach Mu. Ich hob<br />

schnell die Hand auf, als ob ich ihn schlagen wollte. Ich beabsichtigte<br />

nicht, ihn wirklich zu treffen, aber der Rôshi duckte sich, um es<br />

nicht darauf ankommen zu lassen... Wie belebend diese unvorbedachten<br />

Bewegungen - sauber und frei...<br />

Lebhaft ermahnte mich der Rôshi: «Sie sehen sich jetzt der letzten<br />

und stärksten Schranke zwischen sich und der Selbst-Wesensschau<br />

gegenüber. Zu diesem Zeitpunkt hat man nach den Worten eines Meisters<br />

alter Zeit das Gefühl, als sei man eine Mücke, die eine Eisenkugel<br />

angreift. Aber Sie müssen bohren, bohren, unermüdlich bohren<br />

... Mag kommen, was da will, lassen Sie Mu nicht los... Üben<br />

Sie die ganze Nacht hindurch Zazen, wenn Sie das Gefühl haben,<br />

daß Sie Mu im Schlaf verlieren könnten.» ...<br />

«Mu-te» still im Tempelgarten, bis die Uhr eins schlug... Erhob<br />

mich, um meine steifen, schmerzenden Beine zu bewegen und taumelte<br />

in einen Zaun nahebei. Plötzlich erkannte ich: Der Zaun und<br />

ich sind ein formloses Holz-und-Fleisch-Mu. Natürlich! ... Spornte<br />

mich in hohem Maße an... Strengte mich weiter an bis zum Gong<br />

um 4 Uhr früh.<br />

5. August 1958<br />

Hatte nicht die Absicht, dem Rôshi von meinem Einblick zu erzählen.<br />

Aber sobald ich vor ihm erschien, verlangte er zu wissen: «Was ist<br />

heute nacht geschehen?» ... Während ich sprach, schoß er scharfe<br />

Blicke auf mich ab, durchleuchtete jeden Zoll an mir; dann begann<br />

er langsam, mich prüfend zu fragen: «Wo sehen Sie Mu? ... Wie<br />

sehen Sie Mu? ... Wann sehen Sie Mu?... Wie alt ist Mu?... Wieviel<br />

wiegt Mu?» ...<br />

314


Einige meiner Antworten kamen schnell, andere zögernd... Ein-,<br />

zweimal lächelte der Rôshi, meist aber hörte er in heiterem Schweigen<br />

zu... Dann sprach er: «Es gibt manchen Rôshi, der solch einen<br />

Zungenspitzen-Vorgeschmack als Kenshô bestätigen würde, aber -»<br />

«Ich würde die Bestätigung eines derart armseligen Erlebnisses gar<br />

nicht annehmen, selbst wenn Sie sie gewähren wollten. Habe ich all<br />

diese fünf Jahre gleich einem Berg in den Wehen gelegen, nur um<br />

diese Maus hervorzubringen? Ich will weitermachen!» ...<br />

«Gut! Ich achte Ihre Gesinnung.»<br />

Warf mich neun weitere Stunden auf Mu, so völlig versunken, daß<br />

ich vollkommen verschwand... Nicht ich frühstückte, sondern Mu.<br />

Nicht ich fegte und wischte die Fußböden nach dem Frühstück, sondern<br />

Mu. Nicht ich aß zu Mittag, sondern Mu aß... Ein-, zweimal<br />

wollten Gedanken an Satori ihre Köpfe erheben, aber Mu schlug sie<br />

umgehend ab.<br />

Wieder und wieder schlugen mich die Mahner und riefen: «Sie siegen,<br />

wenn Sie Mu nicht loslassen!»<br />

Dokusan am Nachmittag!... Einem Falken gleich prüfte mich der<br />

Rôshi mit den Blicken, als ich seinen Raum betrat, zu ihm ging, mich<br />

niederwarf, mich vor ihn hinsetzte, wachsamen gehobenen Geistes...<br />

«Das Weltall ist Eins», begann er, und je<strong>des</strong> Wort bohrte sich gleich<br />

einem Geschoß in meinen Geist ein. «Der Mond der Wahrheit -»<br />

Urplötzlich verschwanden der Rôshi, der Raum, je<strong>des</strong> einzelne Ding<br />

in einem blendenden Strom von Licht, und ich hatte das Gefühl, in<br />

unaussprechlich köstlichem Entzücken gebadet zu werden... Für<br />

eine flüchtige Ewigkeit war ich allein - ich allein war... Dann<br />

schwamm der Rôshi in meinen Blick. Unsere Augen trafen sich, und<br />

wir brachen in Lachen aus...<br />

«Ich habe es! Ich weiß es! Da ist nichts, absolut nichts. Ich bin alles,<br />

und alles ist nichts!» rief ich aus, mehr zu mir selbst als zum Rôshi<br />

sprechend, stand auf und ging hinaus. . .<br />

Beim Abend-Dokusan legte mir der Rôshi wieder einige der früheren<br />

Fragen vor und fügte ein paar neue hinzu: «Wo sind Sie geboren?»<br />

. . . «Wenn Sie eben jetzt sterben müßten, was würden Sie tun?» .. .<br />

<strong>Die</strong>smal war er mit meinen Antworten offensichtlich zufrieden, denn<br />

315


er lächelte häufig. Aber mich kümmerte das nicht, denn jetzt wußte<br />

ich...<br />

«Obgleich Ihre Wesensschau klar ist, können Sie sie doch unendlich<br />

ausweiten und vertiefen», erklärte mir der Rôshi... «Es gibt Gradunterschiede<br />

bei Kenshô... Stellen Sie sich einmal zwei Leute vor,<br />

die eine Kuh anschauen; der eine steht in einiger Entfernung, der<br />

andere nahebei. Der Entferntere sagt: ,Ich erkenne, daß es eine Kuh<br />

ist, aber ich bin mir über die Farbe nicht sicher.' Der andere sagt:<br />

,Ich erkenne, daß es eine braune Kuh ist...'<br />

Von nun an wird die Art, in der Sie an Kôans herangehen, anders<br />

sein», sagte der Rôshi, und er erklärte mir meine künftige Übungsweise.<br />

Kehrte zur Haupthalle zurück ... Als ich auf meinen Platz schlüpfte,<br />

kam Großmutter YAMAGUCHI, unser zweiter godô, auf den Fußspitzen<br />

zu mir herüber und flüsterte mit leuchtenden Augen: «Wunderbar,<br />

nicht wahr? Ich freue mich so für Sie!...» Ich nahm Zazen<br />

wieder auf, lachte, schluchzte und murmelte vor mich hin: «Es stand<br />

die ganze Zeit vor mir, aber ich brauchte fünf Jahre, um es zu sehen.»<br />

... Eine Zeile, die TANGEN San einmal zitiert hatte, klang mir in den<br />

Ohren: «Selbst im trockensten Loch findet man manchmal Wasser.»<br />

9. August 1958<br />

Fühle mich frei wie ein Fisch, der in einem Meer von kühlem, klarem<br />

Wasser schwimmt, nachdem er in einem Kessel mit Klebstoff gesteckt<br />

hat... und bin so dankbar. Dankbar für alles, was mir widerfahren<br />

ist, dankbar all jenen, die mich ermutigten und mir Kraft gaben trotz<br />

meines unreifen Charakters und meiner eigensinnigen Natur.<br />

Aber am dankbarsten bin ich für meinen menschlichen Körper, für<br />

das Privileg, daß ich als Mensch diese Freude erleben darf, der keine<br />

andere gleicht.<br />

316


3. Herr K. T., Japaner, Gartengestalter, Alter 32<br />

Obgleich ich in eine Familie der Sôtô-<strong>Zen</strong>-Sekte hineingeboren wurde,<br />

begann ich doch mit regelrechtem Zazen erst, als ich schon achtundzwanzig<br />

war. Was mich zu diesem Schritt veranlaßte, war die Furcht<br />

vor dem Tode, als ich anfing, Blut zu spucken, nachdem ich mir eine<br />

Tuberkulose zugezogen hatte, und ein Gefühl der Unsicherheit über<br />

das Leben selbst, das mich zu plagen begann. Ich lernte das Klosterleben<br />

nicht kennen, besuchte aber mehrmals Sesshin, bis ich zur<br />

Selbst-Wesensschau kam und sie vom Meister bestätigt wurde. Während<br />

jener Zeit übte ich jeden Sonntag Zazen mit einer Gruppe unter<br />

TAJI Rôshi und erhielt Dokusan bei ihm.<br />

Wie gut erinnere ich mich an mein erstes Sesshin! Es war in einem<br />

Tempel, Nippôn-Ji genannt, in Nokogiriyama im Bezirk Chiba, und<br />

der Meister war HARADA Rôshi. Ich erinnere mich, daß ich am ersten<br />

Tag sehr gespannt war. Am zweiten Tag konnte ich nicht mehr die<br />

Mahlzeiten essen. Ich hatte große Schmerzen in den Beinen, und ich<br />

konnte mir aus dem Teishô <strong>des</strong> Rôshi überhaupt keinen Vers machen.<br />

Manchmal langweilte ich mich ausgesprochen. Hinzu kam, daß die<br />

Sesshin-Ordnung streng und die ganze Atmosphäre kalt und bedrükkend<br />

war. Allmählich wurde ich rebellisch. «Zazen muß eine Art<br />

Hypnose sein. Ich will doch mal herausfinden, ob die Methoden dieser<br />

Religion wirklich zur Wahrheit führen», sagte ich mir und ließ die<br />

Idee, nach Hause zurückzukehren, fallen.<br />

Drei Tage lang mußte ich die allgemeinen Unterweisungen über<br />

Zazen anhören, da das für alle Anfänger Pflicht war. Danach erschien<br />

ich freiwillig zum Dokusan vor dem Meister. Als ich ihn anblickte,<br />

hatte ich das Gefühl, daß ich mich einer Eisenwand gegenüber<br />

befände. Aber mich faszinierte seine einzigartige Stimme, die sehr<br />

ähnlich klang wie die meines verstorbenen Großvaters. Mehrmals<br />

ging ich zum Dokusan, einfach nur, um diese Stimme zu hören und<br />

sein ungewöhnliches Gesicht zu sehen. Dabei spürte ich deutlich die<br />

Stärke seines Charakters und seiner Persönlichkeit, sein Vertrauen in<br />

seine eigenen Lehren, seine Würde, seine überwältigende Kraftfülle.<br />

Im Vergleich dazu kam ich mir unbedeutend und hohl vor. «Wenn<br />

317


ich dadurch, daß ich mich betrügen lasse, diese Stufe der Entwicklung<br />

erreichen kann, soll mir der Betrug gleich sein», so folgerte ich und<br />

beschloß, gewissenhaft zu sitzen, wie er mich unterwies.<br />

Der vierte und fünfte Tag vergingen. <strong>Die</strong> Schmerzen in meinen Beinen<br />

hielten an, aber ich war geistig stabiler geworden, obgleich ich<br />

Visionen verschiedener Art erlebte. Allmählich begeisterte mich das<br />

Sitzen. Der sechste Tag kam. Im Vorraum, wo ich kniend darauf<br />

wartete, zum Dokusan an die Reihe zu kommen, hatte ich ein kleines<br />

freudiges Erlebnis. Gerade vor meinen Knien sah ich einen großen<br />

Pfosten und das Bein eines kleinen Tisches in Überschneidung. In<br />

jenem Augenblick hatte ich das Gefühl, daß der große Pfosten der<br />

Rôshi und das kleine Bein ich sei. Plötzlich kam mir folgende Einsicht:<br />

Der Pfosten nimmt als Pfosten den ganzen Himmel und die<br />

ganze Erde ein, und das Tischbein tut als Tischbein dasselbe. Der<br />

Rôshi als Rôshi und ich als ich erfüllen das gesamte Weltall. Gibt<br />

es irgendwo Leerheit? Und dabei lachte ich herzlich aus der Tiefe<br />

meines Bauches.<br />

Munter betrat ich den Dokusan-Raum <strong>des</strong> Rôshi und legte ihm mein<br />

Erlebnis vor. «Was ist der Wert von solch leerer Einsicht? Träumen<br />

Sie doch nicht!» sagte er barsch und entließ mich. Obgleich es eine<br />

Halluzination gewesen sein mag, hat mich doch die Freude jenes<br />

Augenblicks nie verlassen. Danach fürchtete ich mich nicht mehr vor<br />

dem Rôshi, wann immer ich vor ihm erschien.<br />

Nach diesem ersten Sesshin im Nippôn-Ji besuchte ich <strong>drei</strong> Jahre<br />

später ein Sesshin im Hosshin-Ji, aber es gelang mir nicht, Erleuchtung<br />

zu erlangen. In einer Sommernacht <strong>des</strong> gleichen Jahres, da ich<br />

mich mit entschlossener Ausschließlichkeit meiner Übung am Kôan<br />

Mu widmete, erlebte ich einen Zustand, da es mir vorkam, als blickte<br />

ich auf einen weiten, völlig transparenten Himmel, und im nächsten<br />

Augenblick konnte ich mit klarer und scharfer Bewußtheit in die<br />

Welt von Mu eindringen. Sofort suchte ich TAJI Rôshi auf und bat<br />

ihn, mich im Dokusan zu empfangen. Er bestätigte meine Wesensschau,<br />

nachdem ich unverzüglich geantwortet hatte auf: «Wie alt ist<br />

Kannon?» «Schneiden Sie das Wort Mu in <strong>drei</strong> Teile» und andere<br />

Prüfungsfragen. Daraufhin belehrte er mich folgendermaßen:<br />

318


«Zwischen seichter und tiefer Wesensschau ist ein ungeheurer Unterschied.<br />

<strong>Die</strong>se verschiedenen Stufen werden in den Zehn Ochsenbildern<br />

31 dargestellt. <strong>Die</strong> Tiefe Ihrer Erleuchtung ist nicht größer als<br />

jene, die im dritten Bild gezeigt wird, nämlich das «Erblicken» <strong>des</strong><br />

Ochsen. Mit anderen Worten: Sie haben nur einen flüchtigen Blick<br />

auf den Bereich «jenseits der Erscheinung der Form» geworfen. Ihre<br />

Erleuchtung ist solcher Art, daß Sie sie leicht aus den Augen verlieren<br />

können, wenn Sie faul werden und weiteres Üben aufgeben. Zudem<br />

bleiben Sie Ihr gleiches altes Ich - nichts ist hinzugefügt worden, Sie<br />

sind nicht bedeutender geworden. Aber wenn Sie mit Zazen fortfahren,<br />

werden Sie den Punkt erreichen, da Sie den Ochsen packen, d. h.<br />

die vierte Stufe. Derzeit «besitzen 32 » Sie sozusagen Ihre Wesensschau<br />

nicht. Auf die Stufe, da man den Ochsen packt, folgt die Stufe, da<br />

man ihn zähmt, und darauf die, da man ihn reitet, also in einem<br />

Zustand der Erkenntnis ist, bei dem Erleuchtung und Ich als ein und<br />

dasselbe gesehen werden. <strong>Die</strong> nächste, siebente Stufe ist die, da man<br />

den Ochsen vergißt, und auf der achten vergißt man sowohl den<br />

Ochsen als sich selbst. Stufe neun ist die der großen Erleuchtung, die<br />

ganz bis zum Grunde dringt und auf der man nicht länger mehr<br />

Erleuchtung von Nicht-Erleuchtung unterscheidet. <strong>Die</strong> zehnte und<br />

letzte Stufe ist jene, da man seine Schulung vollständig beendet hat<br />

und sich ganz als man selbst unter gewöhnlichen Menschen bewegt,<br />

ihnen hilft, wo immer möglich, frei von allem Verhaftetsein an<br />

Erleuchtung. Es ist das Ziel <strong>des</strong> Lebens, in diesem letzten Zustand zu<br />

leben, und um das zu bewältigen, mögen viele Daseins-Zyklen erforderlich<br />

sein. Sie haben den Fuß nun auf den Weg gesetzt, der zu<br />

diesem Ziele führt, und dafür sollten Sie dankbar sein.»<br />

Ehe ich Unterweisungen von meinem ersten Lehrer empfing, hatte<br />

ich auf eigene Faust Zazen geübt. Ich nahm das erste Kôan <strong>des</strong><br />

Hekigan-roku und kontemplierte über die Frage <strong>des</strong> Kaisers: «Welches<br />

ist die höchste Wahrheit der Heiligen Lehre?» und BODHIDHAR-<br />

31. Siehe 8. Kapitel.<br />

32. <strong>Die</strong>sen Zustand kann man mit dem eines frisch ausgeschlüpften Küken vergleichen,<br />

<strong>des</strong>sen Leben, obgleich ganz wirklich, doch noch zerbrechlich und gleichsam<br />

«probeweise» ist.<br />

319


MAS Antwort darauf: «Kakunen mushô», also: Grenzenlose Weite -<br />

nichts von heilig 33 . Aber ich konnte das nicht begreifen. In<strong>des</strong>sen<br />

erinnerte ich mich an ein japanisches Sprichwort: «Wenn man ein<br />

Buch hundertmal liest, muß man es schließlich verstehen», setzte mich<br />

zum Zazen hin, wobei ich mir im Geiste hingebungsvoll BODHIDHAR-<br />

MAS Antwort still hersagte: «Kakunen mushô.» Nachdem ich das<br />

zwei Tage so getrieben hatte, erlebte ich den gleichen Zustand, den<br />

ich oben erwähnt habe: das Erblicken eines weiten, klaren Himmels.<br />

Jetzt meine ich, daß mir das zum Zustandekommen meiner späteren<br />

Wesensschau geholfen hat.<br />

Folgende Einzelheit dürfte in diesem Zusammenhang noch der<br />

Erwähnung wert sein: In meiner Schulzeit trat ich als Fechter im<br />

japanischen Stil gegen fünf Studenten zu einem Wettkampf an. <strong>Die</strong><br />

ersten <strong>drei</strong> waren verhältnismäßig schwach, und ich versuchte, sie<br />

dadurch zu schlagen, daß ich mir im voraus Techniken ausdachte;<br />

aber ich wurde von allen <strong>drei</strong>en besiegt. Als ich mich dem vierten<br />

Gegner gegenüber sah, wurde ich von dem Verantwortungsgefühl,<br />

daß ich das Ansehen meiner Schule zu wahren habe, und auch von<br />

Bitterkeit über mein <strong>drei</strong>maliges Verlieren überwältigt. Ich war verzweifelt.<br />

Ohne zu überlegen, sprang ich instinktiv meinen Gegner an<br />

und kehrte auf meinen Platz zurück, ohne zu wissen, ob ich gewonnen<br />

oder verloren hatte. Später erzählte mir ein Freund, daß ich einen<br />

glänzenden Sieg errungen hatte. Meinen fünften Gegner, der bei weitem<br />

der stärkste war, schlug ich auf gleiche Weise.<br />

Bei diesen beiden Kämpfen erlebte ich Augenblicke, die ich den nackten<br />

Ausdruck der Erleuchtung nenne, da ich im Einklang mit meinem<br />

unmittelbaren Gefühl und tiefsten Sinn handelte, ohne an Sieg oder<br />

Niederlage, den Gegner und mich selbst zu denken, und gar ohne mir<br />

bewußt zu sein, daß ich an einem Kampf teilnahm. Sieht man sich<br />

einer Situation auf Tod und Leben gegenüber, so kann man augen-<br />

33. <strong>Die</strong>se Frage wurde BODHIDHARMA vom Kaiser Wu VON LIANG (502-549),<br />

einem berühmten Schutzherrn <strong>des</strong> Buddhismus gestellt. Der Kaiser fragte weiter:<br />

«Wer ist das Uns gegenüber? Seid Ihr nicht ein heiliger Mann?» BODHIDHARMA<br />

erwiderte: «Ich weiß es nicht.» Ein wesentlicher Punkt <strong>des</strong> Kôan liegt darin, den<br />

Sinn dieses «Ich weiß es nicht» zu erfassen.<br />

320


licklich intuitiv handeln, frei von Täuschung oder unterscheidendem<br />

Denken, und dabei ist man doch nicht in Trance. Es geht darum, sich<br />

mit Hilfe der <strong>Zen</strong>-Methoden dazu zu erziehen, in jeder Lage kraftvoll-entschlossen<br />

handeln zu können.<br />

Wenn wir unaufmerksam leben, kann es uns leicht geschehen, daß wir<br />

zeitweise wieder in unterscheiden<strong>des</strong> Denken abgleiten. Das ist ein<br />

Geisteszustand, bei dem egozentrische Kräfte gefördert und menschliche<br />

Leiden schlimmer werden. Wann immer ich merke, daß ich rückfällig<br />

werde, rufe ich mir ins Gedächtnis, daß Himmel und Erde gleichen<br />

Ursprung haben. Alles ist Eins. <strong>Die</strong> sichtbare Form der Dinge ist<br />

nicht verschieden von der Leere, die ihr eigentliches Wesen ausmacht.<br />

Da ich vor der Erleuchtung viele Bücher über <strong>Zen</strong> gelesen hatte, hatte<br />

ich die irrtümliche Vorstellung, daß ich, falls ich Erleuchtung fände,<br />

übernatürliche Kräfte erlangen oder mich zu einer hervorragenden<br />

Persönlichkeit entwickeln würde, oder daß ich ein großer Weiser<br />

würde, oder daß alles Leiden aufgehoben und die Welt zum Himmel<br />

würde. Ich sehe jetzt, daß diese meine falschen Vorstellungen den<br />

Meister behinderten, mich zu leiten.<br />

Vor der Erleuchtung machte ich mir viele Sorgen um mein körperliches<br />

Befinden, über den Tod, über den unbefriedigenden Zustand der<br />

Gesellschaft und viele andere Dinge. Nach der Erleuchtung aber regt<br />

mich das alles nicht mehr auf. Jetzt bin ich vollkommen eins mit<br />

allem, was ich tue. Ich nehme angenehme Dinge als durch und durch<br />

angenehm und widerwärtige als ganz und gar widerwärtig hin, und<br />

dann vergesse ich die Reaktionen «Annehmlichkeit» und «Widerwärtigkeit»<br />

sofort.<br />

Ich spüre, daß der menschliche Geist sich durch Erleuchtung zur<br />

Unendlichkeit <strong>des</strong> Kosmos ausweiten kann. Wahre Größe hat nichts<br />

zu tun mit Reichtum, sozialer Stellung oder intellektuellen Fähigkeiten,<br />

sondern einfach mit der Ausweitung <strong>des</strong> Bewußtseins. In diesem<br />

Sinn strebe ich dauernd danach, groß zu werden.<br />

Wie bekannt, sind weltliches Wissen und scharfsinnige Denkkraft<br />

keine Vorbedingungen für die <strong>Zen</strong>-Schulung. Nach buddhistischer<br />

Überlieferung konnte der berühmte Sechste Patriarch ENÔ, der hervorragendste<br />

unter den Meistern <strong>des</strong> alten China, vollkommene<br />

321


Erleuchtung erringen, weil er als Analphabet nicht dem Lesen und<br />

Nachdenken über die Wahrheit oblag. So konnte er unmittelbar den<br />

Ursprung <strong>des</strong> Geistes erfassen. Seit alter Zeit haben Japaner behauptet,<br />

daß man das Urwesen <strong>des</strong> Geistes nicht durch Denkvorgänge,<br />

sondern durch hingebungsvolles Zazen-Sitzen schauen und in gleicher<br />

Weise diese Schau endlos vertiefen und ausweiten könne.<br />

Es gibt Bäume, die schnell aufschießen und <strong>des</strong>halb nie die Kraft entwickeln,<br />

einem Sturmwind zu widerstehen. Gleichermaßen gibt es<br />

beim <strong>Zen</strong> Menschen, die zwar schnell Erleuchtung finden, aber niemals<br />

zu geistiger Kraft gelangen, da sie das Üben aufgeben. So ist es<br />

beim <strong>Zen</strong> vor allem wichtig, Zazen ruhig und unverwandt im täglichen<br />

Leben anzuwenden und unerschütterlich entschlossen zu sein,<br />

nicht vor vollkommener Erleuchtung damit aufzuhören.<br />

4. Herr C. S., Japaner, Regierungsangestellter im Ruhestand, Alter 60<br />

Mein Kenshô-Erlebnis war einfach und unauffällig und hat nichts<br />

von dem Dramatischen, was viele andere haben. Ja, meine Erleuchtung<br />

selbst ist nicht tief. Da ich aber aufgefordert worden bin, diesen<br />

Bericht zu schreiben, lege ich ihn hier vor.<br />

Ich kam zum <strong>Zen</strong> ohne den hochfliegenden Ehrgeiz, Kenshô zu erreichen.<br />

<strong>Die</strong> Unsicherheit und völlige Verworrenheit in diesem Lande<br />

gleich nach dem letzten Krieg hatten mich so weit getrieben, daß ich<br />

oft daran dachte, Selbstmord zu begehen. So entschloß ich mich,<br />

Zazen zu üben, um mein geängstigtes, verwirrtes Gemüt zu beruhigen.<br />

Da es mein einziges Ziel war, mich zu innerer Festigkeit zu erziehen,<br />

kannte ich das Wort «Kenshô» nicht einmal, als ich mit Zazen begann.<br />

Der Rôshi unterwies mich, zuerst das Zählen der Atemzüge zu üben,<br />

danach das Verfolgen <strong>des</strong> Atems mit dem geistigen Auge und schließlich<br />

Shikantaza, also Konzentration, die auf keinerlei Objekt gerichtet<br />

ist.<br />

Als ich auf dem Weg zu YASUTANI Rôshis Tempel war, um an meinem<br />

ersten Sesshin teilzunehmen, dachte ich (da ich gar nichts davon<br />

wußte, was ein Sesshin mit sich bringt): «Wie angenehm wird es sein,<br />

322


sich in Gesellschaft <strong>des</strong> Rôshi zu entspannen, vielleicht gar Sake<br />

(Reiswein) mit ihm zu trinken.» Bei einbrechender Dunkelheit kam<br />

ich zum Tempel, und das Einzige, was ich hören konnte, war das Zirpen<br />

einer Grasmücke und das Rieseln von Wasser, das aus einem<br />

zerbrochenen Rohr lief. Ich konnte bläulich-grünen Bambus im Hain<br />

und die roten Blüten der Kamelie erkennen. <strong>Die</strong>se heitere und schöne<br />

Umwelt machte mir einen tiefen Eindruck. Ich hatte mehrere Bücher<br />

mitgenommen und strahlte vor Vorfreude bei dem Gedanken, daß<br />

ich sie während <strong>des</strong> Sesshin in Ruhe lesen und, von all dieser natürlichen<br />

Schönheit angeregt, Gedichte verfassen könnte.<br />

Als das Sesshin am nächsten Morgen begann, zeigte es sich jedoch als<br />

etwas, was ich mir niemals vorgestellt hatte. Es war in der Tat eine<br />

Folter. Nun sind von zwei Autounfällen her verschiedene Gelenke an<br />

meinen Beinen für immer steif. <strong>Die</strong>s und die Tatsache, daß ich zu<br />

jener Zeit fast sechzig war, machte mir das Sitzen mit zur Lotushaltung<br />

verschränkten Beinen zur Marter. (In<strong>des</strong>sen weiß ich, wenn ich<br />

nachträglich daran denke, daß alles, was ich gewann, eben durch jene<br />

Schmerzen kam.) In der Morgendämmerung <strong>des</strong> zweiten Tages erlebte<br />

ich das Ärgste mit meinen Beinen. Ich hatte das Gefühl, daß selbst<br />

der Tod nicht schlimmer sein könnte, und so sagte ich mir: «All diese<br />

Schmerzen kommen durch Zazen, und du kannst ihnen entkommen,<br />

wenn du willst. Wenn du aber sterben wür<strong>des</strong>t und in der Agonie<br />

lägest, könntest du dem Leiden nicht entrinnen. Ertrage also diese<br />

Schmerzen in gleichem Geiste und stirb, wenn es sein muß 34 !» So<br />

kämpfte ich mit jedem Jota Kraft gegen diese Folterschmerzen an.<br />

Allmählich spürte ich die Schmerzen in meinen Beinen weniger und<br />

weniger, während das Sesshin seinen Fortgang nahm, und meine Seele<br />

weitete sich, bis sie unmerklich in einen gehoben-freudigen Zustand<br />

geriet. Ich hätte nicht sagen können, ob ich mir meiner Existenz unbewußt<br />

oder meiner Nicht-Existenz bewußt war. Meine einzige<br />

34. Es ist interessant zu lesen, wie die katholische Äbtissin, die Heilige THERESA,<br />

ihre Nonnen ermahnte: «Kämpft starken Männern gleich, bis ihr bei dem Versuch<br />

sterbt, denn ihr seid einzig und allein hier, um zu kämpfen.» Zitiert von E. ALLISON<br />

im Vorwort zu seiner Übersetzung von The Autobiography of St. TERESA OF AVILA,<br />

S. 16.<br />

323


Bewußtheit bestand darin, daß ich spürte, wie beide Daumen sich<br />

leicht berührten. <strong>Die</strong> Schiebetüren mit ihrem Gitternetz vor mir wurden<br />

schneeweiß, und ein geläuterter Glanz legte sich über alles. Es<br />

kam mir vor, als sei ich im Paradies. Mein vorherrschen<strong>des</strong> Gefühl<br />

war Dankbarkeit, aber ich war mir dabei keines Wesens bewußt, das<br />

diese Dankbarkeit empfand. Unwillkürlich begann ich, leise zu weinen,<br />

dann strömten mir die Tränen nur so die Backen hinunter. Tränen,<br />

Tränen, Tränen - ein wahrer Strom von Tränen! Selbst als ich<br />

vor der Glocke kniete und darauf wartete, daß ich an die Reihe käme,<br />

zum Rôshi zu gehen, konnte ich mein törichtes Schluchzen nicht<br />

beherrschen. Ich schämte mich, dem Rôshi ein tränenüberströmtes<br />

Gesicht zu zeigen, da ich glaubte, Tränen gehörten nicht zum Zazen,<br />

und mit großer Anstrengung gelang es mir, mein Weinen einzustellen.<br />

Nach dem Sesshin erwähnte ich diese Wein-Episode dem Rôshi gegenüber.<br />

Er sagte mir, daß ich, wenn auch noch nicht die Stufe <strong>des</strong><br />

Kenshô, so doch einen bedeutenden Grad von Ich-Zermürbung<br />

erlangt hätte; das Weinen sei ein Anzeichen dafür. Es machte mich<br />

glücklich, das zu hören. Und mit dieser Bemerkung endete mein erstes<br />

Sesshin.<br />

Ich wußte, daß ich mit diesem Erlebnis die Grundlage zur Umwandlung<br />

meines Lebens gelegt hatte. Es heißt oft, daß <strong>Zen</strong> nicht Theorie,<br />

sondern Praxis ist. <strong>Die</strong>se Wahrheit wurde mir unmißverständlich zu<br />

Gemüte geführt. In Zurückgezogenheit zu sitzen wie ein Berg - das<br />

allein ist erforderlich. Durch dieses erste Sesshin wuchs die Entschlossenheit<br />

in mir, das, was ich kaum gekostet hatte, zu pflegen und zu<br />

vertiefen, um jene Gelassenheit zu erreichen, die so wichtig ist, um<br />

mit den Wirrnissen dieser sorgenvollen Welt fertig zu werden. Indem<br />

ich nach Anweisung <strong>des</strong> Rôshi Zazen übte, wuchs meine Konzentrationskraft<br />

stetig, und jeder Tag wurde zu einem Tag <strong>des</strong> Dankes. Zu<br />

Hause gab es nun keinen Streit mehr, und jeden Morgen ging ich<br />

fröhlich ins Büro. Ich war mit meinem Leben, das man friedlich und<br />

heiter nennen konnte, zufrieden. Von Zeit zu Zeit aber beunruhigte<br />

mich die Frage: Was ist der Zweck <strong>des</strong> menschlichen Lebens? Ich<br />

wußte, daß ich jene innere Sicherheit, die mir noch fehlte, nie ohne<br />

Kenshô gewinnen könnte.<br />

324


Shikantaza<br />

Ich hatte Zazen mit dem Zählen der Atemzüge begonnen, war dann<br />

dem Atem mit dem geistigen Auge gefolgt, und danach wies mir der<br />

Rôshi Shikantaza zu, die reinste Form <strong>des</strong> Zazen. Ganz allgemein<br />

gesagt, kann man durch ein Kôan schneller zu Kenshô kommen als<br />

durch Shikantaza, bei dem der Geist allmählich reift 35 . Der Rôshi<br />

hatte mich oft mit den Worten ermutigt: «Anstatt Kenshô mit Gewalt<br />

durch ein Kôan erreichen zu wollen, sitzen Sie geduldig; dabei spielt<br />

sich ein natürlicher Reifevorgang ab.» So saß ich denn beharrlich,<br />

fest überzeugt, daß die Zeit kommen würde, da mein Geist, jetzt noch<br />

einer sauren Dattelpflaume gleich, reif und süß werden würde. Je<br />

mehr ich Zazen übte, <strong>des</strong>to klarer wurde mein Geist. Je<strong>des</strong>mal, wenn<br />

ich mich zum Zazen hinsetzte, regelte ich zuerst meine Atmung und<br />

glitt danach in tiefe Konzentration hinein. Bei fortschreitender Übung<br />

erlebte ich oft einen Zustand, da ich mir nicht länger meines Körpers<br />

und Geistes, noch irgend etwas anderen bewußt war. Als<br />

ich das dem Rôshi erzählte, drängte er mich, doch nicht in dieser Welt<br />

der achten Bewußtseinsstufe zu verweilen, jenem Zustand der Reinheit<br />

und Festigkeit, sondern tapfer durchzubrechen, darüber hinauszugehen.<br />

Ich hatte jedoch das Gefühl, als befände ich mich einem<br />

«Silberberg» oder einer «Eisenwand» gegenüber; ich konnte weder<br />

vor noch zurück.<br />

Ich erinnere mich an ein Vorkommnis bei einem Sesshin etwas später.<br />

Eines Nachts stand ich auf und fing an zu sitzen, das Gesicht der<br />

Papierschiebetür zugewandt, die den hellen Nachthimmel durchscheinen<br />

ließ. Mit entschlossener Anstrengung, wie sie mir durch die mitternächtliche<br />

Einsamkeit leichter gemacht wurde, gelangte ich sehr<br />

schnell in einen Zustand tiefer Konzentration. Mein Geist gewann<br />

solche Klarheit, daß ich das Gefühl hatte, der nächste Morgen würde<br />

bestimmt Kenshô bringen, entgegen den Erwartungen selbst <strong>des</strong><br />

Rôshi. Aber trotz all meines verbissenen Sitzens konnte ich nicht jene<br />

geistige Leere erreichen, und da ich sowieso von Natur nicht allzu<br />

hellen Geistes bin, ließ ich mich bald von dem Quaken der Frösche<br />

35. Genauere Angaben über Shikantaza und Kôan-Zazen siehe auf S. 89-91.<br />

325


verführen, deren Stimmen höchst melodisch waren, wie ich es nur<br />

selten gehört habe. In dieser Nacht klang der Chor eindringlich in<br />

die Stille hinein. «Das ist's, das ist alles, das ist es», schienen sie spottend<br />

zu singen. Ein seltsames Lachen sprudelte mir aus tiefstem<br />

Innern auf. Es wurde mir unmöglich, reines Zazen zu üben, und so<br />

gab ich den Versuch auf.<br />

Beim folgenden Frühlings-Sesshin kam Frau Y., die neben mir saß, zu<br />

Kenshô und vergoß Tränen der Dankbarkeit und Freude. Auf der<br />

Stelle beschloß ich, daß ich der nächste sein müßte. Aber trotz meines<br />

Ringens konnte ich in Shikantaza keine Waffe finden, um die «Eisenwand»,<br />

die mir entgegenstand, niederzubrechen. Beim Dokusan waren<br />

die letzten Worte <strong>des</strong> Rôshi stets: «Machen Sie hartnäckig weiter!»<br />

Was ich jedoch brauchte, war ein Werkzeug, mit Hilfe <strong>des</strong>sen ich<br />

weiter vordringen konnte, und so bettelte ich beinahe darum, daß er<br />

mir das Kôan Mu zuweisen möge. Das tat der Rôshi auch nach dem<br />

Frühlings-Sesshin. Gleichzeitig schenkte er mir ein Sitzkissen und einen<br />

Brustlatz, wie ihn Buddhisten tragen, um mich zu beharrlichen Bemühungen<br />

anzuspornen. Nun hatte ich alle «Werkzeuge», mit Ausnahme<br />

von einem: dem unerschütterlichen Willen, um jeden Preis Kenshô zu<br />

erlangen. Als ich nach dem Sesshin nach Hause ging, schwor ich mir:<br />

Entweder ich erlange beim nächsten Sesshin Kenshô, oder . ..<br />

Das Kôan Mu<br />

Obgleich ich Mu praktisch auf meine eigene Bitte hin erhalten hatte,<br />

konnte ich damit doch nicht gut Zazen üben. Ich hatte lange Zeit<br />

hindurch Shikantaza geübt und mich daran gewöhnt, mein Bewußtsein<br />

in einem Zustand gleich einem fließenden Strom oder einer dahintreibenden<br />

Wolke zu halten, auf keinerlei Brennpunkt gerichtet, und<br />

so empfand ich Mu als schreckliche Belastung. Ich hatte jedoch dieses<br />

Werkzeug bitter nötig, um den «Silberberg» zu vernichten. So konzentrierte<br />

ich mich ingrimmig und versuchte, mit Mu zu verschmelzen,<br />

und allmählich gewöhnte ich mich daran.<br />

Im Frühherbst 1955 war ich wieder in einem Sesshin. Ich hatte irgendwie<br />

das Gefühl, daß dieses Sesshin für mich entscheidend würde.<br />

Ich wußte, daß Erfolg oder Fehlschlag allein von mir abhingen.<br />

326


Am ersten Tag, früh um halb fünf, sagte der Rôshi, als er seine Inspektionsrunde<br />

machte: «<strong>Die</strong> Bedingungen bei diesem Sesshin sind ideal.<br />

Das Wetter ist weder zu heiß noch zu kalt, und es ist still. Ihr habt<br />

eine glänzende Gelegenheit.» Ich nahm mir seine Worte zu Herzen und<br />

ergriff Mu wie einen schweren Wanderstab, um mir meinen Weg<br />

durch den engen Gebirgspaß zu bahnen, der sich zum Kenshô öffnet.<br />

Der erste Tag ... Der zweite Tag ... Der dritte Tag ... <strong>Die</strong> Zeit verging<br />

schnell. Meine ersten Versuche, Mu zu packen, schlugen fehl -<br />

ich konnte einfach nicht durchbrechen. Da ich mein Bewußtsein nicht<br />

aus der heiteren Klarheit, darin es sich eingerichtet hatte, heraus und<br />

in Bewegung bringen konnte, war ich verwirrt und schier verzweifelt<br />

und strengte mich ungeheuer an, mich mit dem scharfen Schwert<br />

Mu aus dieser Geistesverfassung herauszuschlagen, jetzt von überreizter<br />

Ungeduld angetrieben - aber es half alles nichts.<br />

Schon beim Frühlings-Sesshin im gleichen Jahr hatte ich jenen Bereich<br />

<strong>des</strong> achten Bewußtseins erreicht, und es war mir nicht gelungen, darüber<br />

hinaus vorzudringen. Es war mir nun klar, daß ich mich niemals<br />

bis zum Äußersten angestrengt hatte und daß Kenshô nur durch übermenschliche<br />

Anstrengung herbeigeführt werden konnte, wenn ich es<br />

überhaupt jemals erreichen wollte. Das veranlaßte mich oft, sitzen zu<br />

bleiben, wenn die Glocke zum Herumgehen erklang. Aber ich konnte<br />

immer noch nicht aus dieser «Satanshöhle» ausbrechen, nicht einmal<br />

mit Mu und den übermenschlichen Anstrengungen, die ich machte.<br />

Ich konnte und konnte diese Sackgasse nicht aufsprengen.<br />

Kenshô erfordert enorme psychische und physische Vitalität; aber ich<br />

war schon sechzig und hatte viel von meiner früheren Kraft und Elastizität<br />

eingebüßt. Ich weigerte mich jedoch aufzugeben und fuhr mit<br />

Mu fort, ohne zurückzufallen.<br />

Am vierten Tag gewahrte ich auf meinem Wege zum Abort in der<br />

Stille <strong>des</strong> Zwielichts einen alten Quittenbaum. Seine Zweige schienen<br />

von seltsamer, unbeschreiblicher Feierlichkeit beherrscht. «Was ich<br />

sehe, ist absolute Wahrheit!» sagte ich mir. Ich wußte, daß ich zu<br />

erhöhter geistiger Wachheit gelangt war und wandte mich mit erneuter<br />

Kraft dem Sitzen wieder zu. Beim Abend-Dokusan erzählte ich<br />

dem Rôshi, was ich bei dem Baum gespürt hatte und fragte ihn, was<br />

327


das zu bedeuten habe. «Sie haben einen entscheidenden Punkt erreicht<br />

- nur noch einen Schritt! Das ist der letzte Abend <strong>des</strong> Sesshin. Üben<br />

Sie die ganze Nacht Zazen.» Von diesem «nur noch ein Schritt!» <strong>des</strong><br />

Rôshi angefeuert, war ich nun bereit zu einem, Generalangriff auf<br />

Mu, die ganze Nacht hindurch.<br />

Das Öffnen meines geistigen Auges<br />

Gewöhnlich werden abends um neun Uhr alle Lichter gelöscht, aber<br />

in dieser Nacht ließ ich mit Genehmigung <strong>des</strong> Rôshi eine kleine<br />

Lampe brennen. Herr M., der Haupt-Mahner, saß mit mir zusammen,<br />

und dadurch, daß seine geistige Kraft zu meiner hinzukam, fühlte ich<br />

mich weitaus stärker. Ich sammelte alle Kraft im Hara und fühlte<br />

mich allmählich heiter erhoben. Gespannt betrachtete ich den unbeweglichen<br />

Schatten von meinem Kinn und Kopf, bis ich ihn in tiefer<br />

Konzentration nicht mehr wahrnahm. Als die Nacht vorrückte, wurden<br />

die Schmerzen in meinen Beinen derart quälend, daß selbst ein<br />

Wechsel von Voll-Lotus zu Halb-Lotus sie nicht linderte. <strong>Die</strong> einzige<br />

Möglichkeit, sie zu überwinden, lag darin, all meine Energie in entschlossener<br />

Konzentration ausschließlich auf Mu zu richten. Aber<br />

selbst bei ingrimmigster Konzentration bis zu dem Punkt, da ich<br />

«Mu! Mu! Mu!» keuchte, gab es nichts, was ich tun konnte, um mich<br />

von diesen Folterqualen zu befreien, außer geringen Veränderungen<br />

in meiner Haltung.<br />

Urplötzlich verschwanden die Schmerzen - da ist einzig MU! Alles<br />

und je<strong>des</strong> ist Mu. «Ach, das ist es!» rief ich aus und taumelte vor<br />

Verblüffung; dabei war mein Geist eine vollkommene Leere. «Klinga-ling,<br />

kling-a-ling» - das Läuten einer Glocke. Wie kühl und erfrischend!<br />

Das treibt mich, aufzustehen und mich zu bewegen. Alles ist<br />

die Frische und Reinheit selbst. Je<strong>des</strong> Ding tanzt voll Lebendigkeit<br />

und lädt mich ein zu schauen. Je<strong>des</strong> Ding hat seinen natürlichen<br />

Platz inne und atmet ruhig. Ich bemerke Zinnien in einer Vase auf<br />

dem Altar, eine Opfergabe für Monju, den Bodhisattva der Unendlichen<br />

Weisheit. Sie sind unbeschreiblich schön!<br />

Beim nächsten Dokusan prüfte der Rôshi mich und bestätigte, daß ich<br />

Mu begriffen hatte.<br />

328


Ein volles Kenshô-Erwachen erzeugt im allgemeinen nicht nur Verblüffung,<br />

sondern tiefste Freude, aber ich weinte weder, noch lachte<br />

ich vor Freude. In den meisten Fällen wandelt es unsere Sicht von<br />

Leben und Tod um und bietet neue durchdringende Einsichten in den<br />

Ausspruch: «Das Leben ist eitel und flüchtig.» Mein Erlebnis aber<br />

hatte keine solchen Einsichten zur Folge, denn es war nur ein Anflug<br />

von Erleuchtung.<br />

Ich wurde im September 1895 geboren und war also im September<br />

1955 gerade sechzig Jahre alt. In Japan feiert man den sechzigsten<br />

Geburtstag als einen Tag der Wiedergeburt. Ich bin glücklich, daß das<br />

öffnen meines Geistigen Auges gerade in diesem Monat mit den ersten<br />

Schritten in meinem neuen, zweiten Leben zusammenfällt. Acht Jahre<br />

sind vergangen, seit ich mit Zazen angefangen habe. Man sagt in<br />

Japan, daß der Dattelpflaumenbaum acht Jahre braucht, bis er zum<br />

ersten Mal Früchte trägt. In gleicher Weise haben meine Bemühungen<br />

Früchte getragen. Es steht jedoch bei anderen, deren Geschmack zu<br />

beurteilen.<br />

5. Frau A. M., amerikanische Lehrerin, Alter 38<br />

Ich bin halbjüdischer Abstammung und wurde in Deutschland geboren,<br />

wo ich eine idyllische Kindheit verlebte. Mein Vater, ein Jude,<br />

hatte sich nicht allein durch seine Gelehrsamkeit als Doktor der<br />

Rechte, sondern auch durch seine unbegrenzte Großmut die Achtung<br />

aller in unserem verschlafenen mittelalterlichen Städtchen erworben.<br />

Meine Mutter, aus lutherisch-deutschen Kreisen stammend, wurde um<br />

ihres Verständnisses, ihrer Mildtätigkeit und Lebensfreude willen von<br />

reich und arm gleichermaßen geliebt. So wuchs ich in kindlicher<br />

Unschuld auf, vollkommen behütet vor wirtschaftlichen und anderen<br />

Sorgen.<br />

<strong>Die</strong> Wörter «Gott» und «Religion» wurden in meiner Familie nie erörtert,<br />

da meine Eltern es für das Beste hielten, uns Kindern die freie<br />

Wahl zwischen jüdischem und christlichem Glauben zu lassen, wenn<br />

die Zeit dafür reif war. Erste Enthüllungen über das Alte und Neue<br />

329


Testament erhielt ich im Religionsunterricht der Schule, wo die lutherische<br />

Bibelübersetzung einen überaus tiefen Eindruck auf mich machte.<br />

Hitler kam an die Macht, und alles änderte sich. <strong>Die</strong> Träume meiner<br />

Kindheit gingen in Rauch auf, und ich sah mich der krassen Wirklichkeit<br />

der Verfolgung gegenüber. Stein für Stein schlugen die Nazis<br />

aus dem sicheren Wall, der mein Ich umgab. Liebe und Achtung,<br />

deren wir uns erfreut hatten, verschwanden, und wir kannten nur<br />

mehr Einsamkeit und Angst.<br />

Ohne Freunde zog ich mich in mich selbst zurück und verbrachte die<br />

meiste Zeit mit Lesen. Unersättlich suchte ich die umfangreiche<br />

Bibliothek meines Vaters nach Geschichten romantischer Prägung,<br />

<strong>des</strong> Weltschmerzes ab, in denen ich mich selbst als Heldin sah.<br />

Der Höhepunkt der Verfolgung meiner Familie kam an dem teuflischen<br />

9. November 1938, da unser Haus zusammen mit anderen jüdischen<br />

Häusern von Horden betrunkener Sturmtruppen zerstört, mein<br />

Vater brutal geschlagen und in ein Konzentrationslager abgeschleppt<br />

wurde. Meine Mutter war zu jener Zeit in Berlin, und meine Schwester<br />

und ich blieben, der Trostlosigkeit überlassen, zitternd im Dachgeschoß<br />

unseres einst so schönen Hauses. In der Verzweiflung meiner<br />

Seele stieß ich das erste wirkliche Gebet meines Lebens aus: «Gott,<br />

hilf uns!»<br />

Ohne einen Pfennig, aber voller Pioniergeist, landete meine Familie<br />

am 24. Januar 1939 mit dem Schiff in San Pedro, Kalifornien. Wunderbarerweise<br />

waren wir den Klauen der Nazis entronnen, und dank<br />

der Bürgschaften, die die Schwester meiner Mutter in Los Angeles<br />

geleistet hatte, begannen wir hoffnungsvoll ein neues Leben.<br />

Ich sparte vier Jahre lang Pfennig für Pfennig zusammen und konnte<br />

dadurch die Universität in Los Angeles besuchen. Schließlich machte<br />

ich mein Abschlußexamen in Pädagogik und wurde damit zu einer<br />

voll ausgebildeten Sprachlehrerin.<br />

Inzwischen hatte ich geheiratet, und am 3. September 1955 wurde<br />

mein erstes Kind, ein schönes, blauäugiges Mädchen, geboren. Mit<br />

dem bißchen Geld, das wir hatten, und mit den GI-Rechten meines<br />

Mannes erwarben wir ein Reihenhaus in der Nähe unserer Schulen.<br />

Mein Leben ging zwischen Haus und Schule seinen glatten Gang.<br />

330


1957 wurde mein Sohn geboren und 1960 meine zweite Tochter. In<br />

meiner Freizeit las ich Bücher über Philosophie und Religion. <strong>Die</strong><br />

Geschichte von YOGANANDA aus Indien beeindruckte mich tief.<br />

Durch eine Vortragsreihe über Philosophie in Ost und West erwachte<br />

bei mir noch tieferes Interesse an der Weisheit <strong>des</strong> Ostens. Bücher über<br />

<strong>Zen</strong> folgten, und schließlich faßten mein Mann und ich den festen<br />

Plan, «wenn unsere Kinder erst etwas älter wären», nach Japan und<br />

Indien zu fahren, um selbst Erleuchtung zu suchen.<br />

Inzwischen gewann mich einer meiner Lehrer-Freunde zur Beteiligung<br />

an einem Kurs über Tiefenpsychologie. Ich war schon etwas<br />

vertraut mit dem FREUDschen Unterbewußtsein und wurde nun mit<br />

JUNGS Standpunkt hinsichtlich der Möglichkeit voller innerer Entwicklung<br />

im Alter zwischen 35 und 40 bekannt. Mit einigem Erfolg<br />

übte ich mich darin, den Anforderungen <strong>des</strong> Lebens Minute für<br />

Minute gerecht zu werden. Das Einzige, was mich jedoch an größeren<br />

Leistungen hinderte, war das Fehlen eines Zwecks, der größer war<br />

als ich selbst. «Wofür lebe ich?» fragte ich mich wieder und wieder.<br />

Ich hatte alle irdischen Vorzüge: gute Gesundheit, beruflichen Erfolg,<br />

eine reizende Familie, Mußezeit, keine finanziellen Sorgen, aber ich<br />

konnte keine tiefinnere Befriedigung finden.<br />

Als mein Mann im Sommer 1962 Ferien auf Hawai vorschlug, sagte<br />

ich: «Warum nicht?» Wenn wir auch mit <strong>drei</strong> Kindern und zwei Wellenreitern<br />

am Strande von Waikiki herumstreiften, so suchten wir<br />

beide in Wirklichkeit doch etwas Geistigeres. Glücklicherweise entdeckte<br />

mein Mann eine Zazen-Gruppe, die sich in einem Privathaus<br />

in Honolulu versammelte. «Warum warten, bis wir Japan besuchen?»<br />

entschieden wir, «gewöhnen wir uns doch jetzt schon ans Sitzen.<br />

Wahrscheinlich brauchen wir sowieso Jahre, um uns einzugewöhnen.»<br />

Zu unserem großen Entzücken fanden wir, daß ein Rôshi, ein erleuchteter<br />

Weiser aus Japan, sich auf Hawai aufhielt, um dort ein Sesshin<br />

zu leiten, ehe er zu einer Reise durch die Vereinigten Staaten weiterfuhr.<br />

<strong>Die</strong> Gruppe ernsthafter Zazen-Teilnehmer war klein, und wir<br />

waren willkommen, wenn wir uns beteiligen wollten. Unsere Unwissenheit<br />

in bezug auf den Buddhismus brachte uns etwas in Verlegenheit.<br />

So wechselten mein Mann und ich uns ab, einen Abend bei den<br />

331


Kindern zu Hause zu bleiben, während der andere wegging, um Zazen<br />

zu üben und etwas über Buddhismus zu lernen. Damit begannen wir<br />

zwei Wochen vor dem Sesshin. <strong>Die</strong> Schmerzen beim halben Lotussitz<br />

ärgerten mich, weil ich mein Leben lang sportlich gewesen war und<br />

mir eingebildet hatte, daß ich das leicht ohne Übung könnte. «Will<br />

ich das wirklich?» fragte ich mich. «Ich bin zur Erholung nach<br />

Hawai gekommen und nicht zur Meditation.» Eine neurotische<br />

Müdigkeit kroch mir durch den ganzen Körper, und ich kann mich<br />

nicht erinnern, wann ich je derart müde gewesen bin.<br />

Ehe das Sesshin in aller Form begann, gab man uns YASUTANI Rôshis<br />

einführende Unterweisungen über Zazen. Sie endeten mit der Klassifizierung<br />

der vier verschiedenen Arten der angestrebten Ziele, die von<br />

körperlicher und geistiger Gesundheit bis zur Erleuchtung reichen.<br />

«Ich bin an Kenshô interessiert, aber ich würde mich glücklich schätzen,<br />

wenn er mir das Zählen der Atemzüge zuwiese», überzeugte ich<br />

mich selbst. «Vielleicht hat ein Neuling wie ich lediglich zu lernen,<br />

wie er die Beine verwickelt und aufrecht sitzt.» Voller Ehrfurcht<br />

betrachtete ich die anderen Teilnehmer rings im Raum, die dort vollkommen<br />

aufrecht vor einem weißen Vorhang saßen, die Beine in<br />

halber Lotushaltung, und in tiefer Konzentration atmeten.<br />

<strong>Die</strong> Zeit verging schnell. YASUTANI Rôshi traf ein, und wir wurden<br />

alle eingeladen, am Sonntag zu Zazen und Tee zu kommen. Als ich<br />

den kleinen, leichten Mann sah, der sich mit siebenundziebzig trug,<br />

als sei er siebenundfünfzig, sprühenden Magnetismus der Jugend in<br />

den Augen, verschwanden alle Zweifel. «Das ist mein Meister, den<br />

ich überall in Indien und Japan suchen wollte», sagte ich mir, und<br />

mich erfüllte ein seltsames Gefühl der Freude.<br />

Am gleichen Abend sprach YASUTANI Rôshi in der Sôtô-Mission über<br />

das Kôan Mu und wie man es ergründet. Seine Pantomime war derart<br />

anschaulich, daß ich ihn verstand, ohne ein Wort Japanisch zu<br />

können. Mir kam es vor, als sei das ähnlich wie die angstvolle Freude,<br />

mit der man ein Kind erwartet, und ich war bereit, die Beschwerden<br />

auf mich zu nehmen.<br />

In der Nacht vor dem Sesshin konnte ich nicht schlafen. Ich wußte,<br />

daß ich vor der wichtigsten Reise meines Lebens stand, und mein<br />

332


Herz schlug in jenem wilden Vorgefühl, wie ich es habe, ehe ich auf<br />

einen Berg steige. Am nächsten Morgen stand ich um vier Uhr auf,<br />

saß zwei Sitzrunden ohne große Schwierigkeiten und erklärte YASU-<br />

TANI Rôshi kühn, daß ich hinsichtlich der angestrebten Ziele in die<br />

vierte Gruppe gehörte und hoffte, Kenshô zu erreichen. Zu meiner<br />

Überraschung stellte er mir keine weiteren Fragen, sondern wies mir<br />

auf der Stelle das Kôan Mu zu. Fast sofort bereute ich meinen Entschluß!<br />

Zwei Tage lang arbeitete ich zaghaft an Mu, und es jagte mir tödlichen<br />

Schrecken ein, beim Dokusan dem Rôshi gegenüber zu treten,<br />

weil er für mich den gestrengen Zuchtmeister-Vater meiner Jugend<br />

repräsentierte. Oben<strong>drei</strong>n konnte ich mich nie an die einfachen japanischen<br />

Worte für «Mein Kôan ist Mu» erinnern.<br />

Am dritten Tag änderte sich alles. Unser Dolmetscher, der heiter<br />

lächelnde, «schwebende» TAI San, wurde zum Racheengel. «Das ist<br />

kein Tee-Kränzchen», donnerte seine Stimme, «sondern ein Sesshin!<br />

Ich werde euch lehren, was ein Sesshin ist!» worauf er anfing, alle mit<br />

dem Kyosaku zu schlagen, einem flachen Holz, womit schläfrige<br />

Mönche eins auf die Schultern bekommen, um sie zu voller Konzentration<br />

aufzurütteln. Man glaube mir, ich war alles andere als schläfrig;<br />

ich war einfach starr vor Entsetzen. Jenen ganzen Tag lang sah<br />

ich mich am Rande eines Abgrunds entlang gehen, in <strong>des</strong>sen Tiefe<br />

wilde Wasser brodelten. Jeder Atemzug war Mu. «Wenn du Mu auch<br />

nur einmal fahren läßt, wirst du fallen», warnte ich mich. «Also geh<br />

weiter, als seist du im Aufbruch zu einer langen Wanderung auf<br />

einen steilen Berg.»<br />

In jener Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Ein Tisch war für<br />

eine japanische Tee-Zeremonie mit vier Tassen in Kleeblattform<br />

gedeckt. Gerade als ich meine Tasse nehmen wollte, fiel ein geflügelter<br />

TAI San über mich her, gleich einem Engel mit feurigem Schwert, und<br />

schlug mich mit einem lauten Mu! Ich fuhr aus dem Schlaf hoch und<br />

fiel gleich in Zazen, diesmal im Liegen auf meinem Bett ausgestreckt,<br />

die Hände auf dem Bauch. «Du wirst in dieser Panik gar nichts<br />

erreichen», versuchte ich mich zu beruhigen. «Du mußt dich entspannen.<br />

Male dir eine nächtliche Berglandschaft unter der sternenüber-<br />

333


säten Unendlichkeit aus.» Langsam und tief atmete ich ein und aus, und<br />

ein wunderbarer Friede umfing mich. Mein Bauch schien sich zu einem<br />

Ballon auszuweiten, und ein Nebel, der mich erst kurz zuvor eingehüllt<br />

hatte, hob sich allmählich, bis ein süßes Nichts mein ganzes Sein<br />

durchdrang. Ich hörte das Geräusch fließenden Wassers und tauchte<br />

langsam aus meinem Trancezustand auf. Beim Dokusan erfuhr ich,<br />

daß ich dicht vor dem großen Erlebnis der Erleuchtung stünde.<br />

Am vierten Tag stieg die Spannung zu noch höherem Grade an. TAI<br />

San erzählte die Geschichte eines Mönchs, der derart entschlossen<br />

war, Kenshô zu erreichen, daß er mit einem Räucherstäbchen in der<br />

einen Hand und einem Messer in der anderen meditierte. «Entweder<br />

finde ich Erleuchtung, solange das Räucherstäbchen brennt, oder ich<br />

werde mich töten», schwor er. Bei dem Schmerz, den das ausbrennende<br />

Räucherstäbchen ihm verursachte, fand er Erleuchtung. TAI<br />

San machte danach mit seinem Kyosaku die Runde und brachte alle<br />

zu Tränen, sogar meinen Mann.<br />

«Ich werde bei diesem Sesshin Kenshô erreichen», gelobte ich mir und<br />

saß <strong>drei</strong> Sitzrunden Halb-Lotus. Dann brach ich zusammen und<br />

schluchzte bitterlich; selbst beim Dokusan konnte ich nicht aufhören<br />

zu weinen. Ich ging nach oben, um mich auszuruhen, und als ich<br />

aufstand, um mir das Gesicht zu waschen, hatte ich das seltsame<br />

Gefühl, als strömte Wasser ganz durch mich hindurch, und ich blinzelte<br />

mit den Augen. Es klang wie das Wasser, das ich in jener Nacht<br />

gehört hatte, da ich Leere-Weite erlebt hatte.<br />

Am Morgen <strong>des</strong> fünften Tages blieb ich zu Hause, um für die Kinder<br />

zu sorgen. Ich muß erwähnen, daß weder mein Mann noch ich ununterbrochen<br />

am Sesshin teilnahmen. Wir wechselten uns beim Sitzen<br />

um 4 Uhr früh ab und gingen zu fast allen Mahlzeiten nach Hause.<br />

Ich blieb einmal über Nacht, mein Mann überhaupt nicht.<br />

Beim Dokusan am Nachmittag bekannte ich etwas verlegen, daß ich<br />

zu Hause überhaupt nicht Zazen geübt hatte, weil es zu viele Unterbrechungen<br />

gab. Ich erfuhr, daß zwei bereits Kenshô erreicht hatten<br />

und daß auch ich Kenshô erlangen könnte, wenn ich mich aufs<br />

äußerste anstrengte. So erlaubte mir mein Mann an jenem Abend,<br />

über Nacht zu bleiben.<br />

334


Mit Mu ging ich zu Bett, mit Mu stand ich am sechsten Tage auf.<br />

«Nicht nervös werden», ermahnte mich TAI San, «konzentrieren Sie<br />

sich nur.» Ich lauschte diesen Worten der Weisheit, aber ich war zu<br />

müde, um zu meditieren. Meine Kräfte waren aufgezehrt. Nach dem<br />

Frühstück legte ich mich hin, um mich auszuruhen, und machte in<br />

horizontaler Lage mit Mu weiter. Plötzlich erschien ein heller Glanz<br />

vor meinen Augen, als ob sie direkt von Sonnenschein getroffen würden.<br />

Ich hörte deutlich Geräusche, die ich, seit ich als kleines Mädchen<br />

krank im Bett lag, nicht gehört hatte: die Schritte meiner Mutter<br />

und das Rascheln ihrer Schachteln, Da ich bei diesem Sesshin schon so<br />

viele seltsame Erlebnisse gehabt hatte, achtete ich nicht weiter darauf,<br />

sondern fuhr mit meiner Konzentration auf Mu die ganze vormittägliche<br />

Sitzzeit über fort. Als ich auf Dokusan wartete, hielten vertraute<br />

Düfte meine Nüstern zum Besten; es war der verlockende<br />

Geruch der Kochkunst meiner Mutter. Mein Blick fiel auf ein rotes<br />

Kissen auf einem braunen Tisch; die gleichen Farben wie im Wohnraum<br />

meiner Großmutter. Eine Tür schlug, ein Hund bellte, eine<br />

weiße Wolke segelte über den blauen Himmel - ich erlebte meine<br />

Kindheit aufs neue - als Makyô, Halluzinationen.<br />

Mittags erzählte mir mein Mann mit Erlaubnis <strong>des</strong> Rôshi, daß er<br />

Kenshô erlangt hatte. «Jetzt oder nie!» sagte ich mir. «Eine Frau, die<br />

eine Flasche ist, kann nicht mit einem erleuchteten Mann verheiratet<br />

sein!» Ich rief mir die Geschichte <strong>des</strong> jungen Mönchs mit dem Räucherstäbchen<br />

und dem Messer lebhaft ins Gedächtnis. «Tod oder<br />

Befreiung!» wurde zu meiner Losung.<br />

Ich atmete tief ein und konzentrierte mich bei jeder Ausatmung mit<br />

aller Macht auf Mu. Ich hatte das Gefühl, als sei ich ganz aus Luft<br />

und würde mich jede Sekunde in die Luft erheben. Ich «kroch» in den<br />

Bauch einer scheußlichen, haarigen Spinne, «Mu! Mu! Mu!» stöhnte<br />

ich und wurde zu einem großen schwarzen Mu. Ein Engel, so schien<br />

mir, berührte mich sanft an der Schulter, und ich fiel zurück. Plötzlich<br />

wurde mir klar, daß mein Mann und TAI San hinter mir standen,<br />

aber ich konnte mich nicht bewegen. Meine Füße waren völlig taub.<br />

Sie trugen mich buchstäblich nach draußen, und ich schluchzte hilflos.<br />

«Ich war schon tot», sagte ich mir. «Warum mußten sie mich<br />

335


wieder ins Leben zurückrufen?» Beim Dokusan sagte mir der Rôshi,<br />

daß das nur ein Vorgeschmack von Kenshô, aber noch nicht Wesensschau<br />

war.<br />

Dann machte ich einen kleinen Spaziergang, und plötzlich schien mir<br />

das ganze Erlebnis dieser letzten Tage vollkommen lächerlich. Ich<br />

erinnere mich, daß ich dachte: «<strong>Die</strong>ser dumme Rôshi - er und sein<br />

orientalischer Hokuspokus. Er weiß ja gar nicht, was er da redet.»<br />

Beim Aben<strong>des</strong>sen, als ich mit meinen Eß-Stäbchen herumfummelte,<br />

wäre ich am liebsten aufgestanden und hätte ihm eine Gabel gereicht:<br />

«Hier, alter Junge, gewöhnen wir uns doch an westliche Sitten.» Ich<br />

kicherte über meinen eigenen Witz. Während <strong>des</strong> ganzen abendlichen<br />

Rezitierens konnte ich kaum ernst bleiben. Nach den Schlußworten<br />

<strong>des</strong> Rôshi hätte ich gern meine Tasche genommen und wäre weggegangen,<br />

um niemals wiederzukommen; so unwirklich schien mir das<br />

alles.<br />

Der Rôshi hatte uns beim ersten Unterricht gesagt, daß Mu gleich<br />

einer rot-glühenden Eisenkugel sei, die einem in der Kehle steckenbleibt<br />

und die man weder hinunterschlucken noch ausspucken kann.<br />

Er hatte recht - so recht! Wenn ich jetzt zurückblicke, sehe ich, daß<br />

je<strong>des</strong> Wort, jede Bewegung Teil eines vorsätzlichen Planes dieses verehrten<br />

Lehrers war. Sein Name «Weiße Wolke» (HAKUUN) paßt in<br />

der Tat zu ihm. Er ist die größte, weißeste Wolke, die ich je erlebte,<br />

ein echtes Gegengewicht zu dem düsteren Atompilz.<br />

Nun lag ich im Bett und übte wieder Zazen. <strong>Die</strong> ganze Nacht hindurch<br />

atmete ich abwechselnd Mu und fiel in Trance. Ich dachte an<br />

den Mönch, der Kenshô in ebensolchem Stadium der Erschöpfung<br />

erreicht hatte. Schließlich muß ich vor vollkommener Erschöpfung<br />

eingeschlafen sein. Plötzlich rührte mich der gleiche lichte Engel an<br />

der Schulter an. Nur erwachte ich diesmal mit einem strahlenden<br />

«Ha!» und mir war klar, daß ich Erleuchtung gefunden hatte. Der<br />

Engel war mein guter, müder Mann, der mich auf die Schulter<br />

klopfte, um mich zu wecken, damit ich zum Sesshin ginge.<br />

Eine seltsame Kraft trieb mich an. Ich sah auf die Uhr - zwanzig<br />

Minuten vor vier, gerade noch Zeit, um das morgendliche Zazen mitzumachen.<br />

Ich stand auf und zog mich in Ruhe an. Mein Geist raste,<br />

336


als ich Problem auf Problem löste. Ich kam noch vor vier zum Sesshin<br />

und nahm das Angebot einer Tasse Kaffee mit einem derart<br />

positiven «Ja» an, daß ich meinen eigenen Ohren nicht traute. Als<br />

TAI San mit seinem Schwert die Runde machte, bedeutete ich ihm,<br />

er solle sich nicht die Mühe machen, mich zu schlagen. Beim Dokusan<br />

stürzte ich in die kleine Hütte, die mein Lehrer bewohnte, und umarmte<br />

und küßte ihn und schüttelte TAI San die Hand und ließ sie<br />

wieder los mit solchen Fluten komischen Wortschwalls, daß wir alle<br />

<strong>drei</strong> vor Freude auflachten. Der Rôshi prüfte mich und ließ mich<br />

bestehen, und so wurde ich offiziell durch das torlose Tor eingelassen.<br />

Ein Leben war in eine Woche zusammengedrängt worden. Tausend<br />

neue Empfindungen bestürmen meine Sinne, tausend neue Wege<br />

öffnen sich vor mir. Ich lebe mein Leben Minute um Minute, aber<br />

erst jetzt durchdringt warme Liebe mein ganzes Sein, weil ich weiß,<br />

daß ich nicht nur mein kleines Ich bin, sondern ein großes wunderbares<br />

Selbst. Mein ständiger Gedanke ist, daß ich wünschte, alle<br />

möchten teil an dieser tiefen Befriedigung haben.<br />

Um diesen Bericht zu schließen, kann ich mir nichts Besseres denken,<br />

als die Vier Gelübde, die ich jeden Morgen beim Sesshin rezitierte:<br />

Der Geschöpfe sind zahllose - ich gelobe, sie alle zu retten.<br />

Der Leidenschaften sind unzählige — ich gelobe, sie alle auszurotten.<br />

Der Dharma-Tore sind mannigfache — ich gelobe, durch alle zu gehen.<br />

Der Buddha-Weg ist unübertrefflich - ich gelobe, ihn zu verwirklichen.<br />

6. Herr A. K., japanischer Versicherungsangestellter, Alter 25<br />

Als ich zwölf war und mein achtjähriger Bruder an einer Nierenkrankheit<br />

starb, begann ich zum ersten Mal ernsthaft über Tod und<br />

Leben nachzudenken. Ich war derart traurig über seinen Tod, daß<br />

ich bei seiner Bestattung zusammenbrach. Tief im Innern hatte ich<br />

ein so starkes Gefühl der Zerknirschung, daß ich ausrief: «Vergib mir,<br />

vergib mir!»<br />

Vier Jahre später ertrank mein einziger anderer Bruder. Das war ein<br />

derart schwerer Schock, daß ich mich einmal übers andere fragte:<br />

337


«Warum ist das Leben dermaßen unsicher und elend? Werden wir<br />

nur geboren, um zu sterben?» Ich wurde von einem Gefühl völliger<br />

Hilflosigkeit überwältigt. Das Lernen in der Schule war reine Plackerei,<br />

und jeder Tag war ein Tag <strong>des</strong> Elends. «Warum werden wir<br />

geboren? Warum sterben wir?» Von diesen Fragen war ich besessen<br />

wie von einem immerwährenden Albtraum.<br />

In der Hoffnung, mein Elend zu enden, begann ich, begierig in der<br />

Bibel einer der Nachkriegsreligionen in Japan zu lesen, die sich <strong>Die</strong><br />

Wahrheit <strong>des</strong> Lebens nannte. Nach dem Tode meines jüngeren Bruders<br />

hatten sich meine Eltern für kurze Zeit dieser Sekte angeschlossen.<br />

Sie schärfte uns ein: «Lebt lächelnd ein Leben der Dankbarkeit.<br />

Seid demütig und reagiert stets mit einem Jawohl'.» Das war alles<br />

recht schön und gut, aber es wurde uns nicht erklärt, wie man sich<br />

zu Demut und Dankbarkeit erzieht. Es wurde darin weiter behauptet,<br />

daß der Mensch als Kind Gottes ohne Fehl sei und daß er durch seine<br />

Identität mit Gott diese eingeborene Vollkommenheit verwirklichen<br />

könne. «Warum aber», so fragte ich mich, «sollte der Mensch, der,<br />

wie sie behaupten, frei geboren ist, an Gott gebunden und ihm ewig<br />

versklavt sein? Das kann nicht der Weg zum Frieden der Seele sein.»<br />

Enttäuscht ließ ich diese Religion fallen, strich sie aus meinem Leben,<br />

überzeugt, daß sie nur ein Betäubungsmittel sei.<br />

Ich war gerade siebzehn, als ich im August 1949 zum Sôsei-Ji, einem<br />

Sôtô-Tempel, ging, um den Abt zu fragen, was Buddhismus sei. Er<br />

freute sich, daß ich kam, und sagte: «Das läßt sich nicht in einem<br />

Satz erklären, aber ich werde Ihnen die Antwort eines berühmten<br />

<strong>Zen</strong>-Meisters auf die gleiche Frage erzählen. Als der chinesische Dichter<br />

HAKURAKUTEN den <strong>Zen</strong>-Meister DÔRIN nach den Mysterien <strong>des</strong><br />

Buddhismus fragte, wurde ihm erwidert:<br />

Vermeide Böses,<br />

Übe das Gute,<br />

Halte den Herz-Geist rein -<br />

Also lehren alle Buddhas 36 .<br />

36. Siehe das ganze Gespräch im 10. Kapitel unter «HAKURAKUTEN».<br />

338


«Denken Sie daran», fuhr der Abt fort, «daß Zazen der direkteste<br />

Weg ist, um den Buddhismus zu begreifen. Aber die Wahl eines guten<br />

Lehrers ist das Wichtigste.» Im November jenes Jahres besuchte ich<br />

das erste Zazen-Kai unter YASUTANI Rôshi.<br />

Zu meiner Überraschung stellte ich fest, daß der Rôshi ein einfacher,<br />

alter Mann ohne augenscheinliche Würden war, in schäbigste Gewänder<br />

gekleidet. Mit ruhiger Stimme sprach er über das Zählen der<br />

Atemzüge beim Zazen, während man mit dem Gesicht zur Wand<br />

sitzt. Aber Fragen wie: «Was ist der Sinn <strong>des</strong> Lebens?» oder «Wie<br />

können wir uns vom Leiden befreien?» behandelte er überhaupt nicht.<br />

Ich begann jedoch, meine Atemzüge in der Art, die er lehrte, zu zählen,<br />

obschon es mir gegen den Strich ging. «<strong>Zen</strong> kann nicht real sein»,<br />

sagte ich mir, «es muß ein Schwindel sein.»<br />

Aber aus irgendeinem Grunde ging ich wieder hin, als das nächste<br />

Zazen-Treffen herankam, und beteiligte mich auch fernerhin. Als<br />

ich von Kenshô erfuhr, durch das man, wie der Rôshi behauptete,<br />

menschliches Leiden aufheben könne, beschloß ich, Kenshô zu erlangen,<br />

um den Rôshi zu widerlegen. Meine Skepsis hielt zwei Jahre an,<br />

bis mich schließlich ein älteres Mitglied <strong>des</strong> Zazen-Kai überredete, ein<br />

<strong>drei</strong>tägiges Sesshin mitzumachen. «Ich wette meinen Kopf, daß Sie als<br />

weiserer und stärkerer Mann zurückkommen», sagte er. Der Rôshi<br />

gab mir Mu als erstes Kôan. Während eine Hälfte von mir entschlossen<br />

um Kenshô rang, hielt sich die andere in Furcht vor den grimmigen<br />

Schlägen <strong>des</strong> Kyosaku zurück. Ich ging erst im folgenden Jahr<br />

wieder zu einem Sesshin und besuchte dann fünf hintereinander.<br />

Inzwischen waren all meine Zweifel über den Wert von <strong>Zen</strong> geschwunden,<br />

aber ich konnte trotz aller Anstrengungen nicht bis zum<br />

Kenshô vordringen.<br />

Je<strong>des</strong>mal, wenn ich von einem Sesshin nach Hause kam, spürte ich,<br />

daß ich ruhiger geworden war und besser mit meinem Alltag fertigwerden<br />

konnte. Trotz dieses Gewinns kam es mir jedoch so vor, als<br />

hätte ich, ohne Kenshô, ein weiteres Jahr verloren.<br />

Das Jahr meines Studienabschlusses, 1954, war gekommen. <strong>Die</strong><br />

Furcht, daß ich im Geschäftsleben keine Zeit mehr für Zazen haben<br />

würde, feuerte mich zu dem Entschluß an, noch vor Beendigung der<br />

339


Schule Kenshô zu erlangen. In dieser Geistesverfassung beteiligte ich<br />

mich am März-Sesshin. Am dritten Tage traf mich folgende Bemerkung<br />

<strong>des</strong> Rôshi mit besonderer Gewalt: «Mu ist nichts als Mu!» Es<br />

war eine einfache Feststellung, die ich oft von ihm gehört hatte, aber<br />

jetzt traf sie mich wie ein Blitz. «Warum in aller Welt habe ich mir<br />

das denn nur anders vorgestellt?» Ein Stein fiel mir vom Herzen; da<br />

das aber noch nicht Wesensschau war, verfiel ich wieder in Düsternis.<br />

Beim Nachmittags-Dokusan hatte ich dem Rôshi nichts zu sagen und<br />

kehrte niedergeschlagen auf meinen Platz zurück. Durch diesen Einblick<br />

hatte ich jedoch die Überzeugung gewonnen, daß mir Kenshô<br />

durchaus möglich war.<br />

Wiederholt hatte ich meine Mutter gedrängt, mich zu einem Zazen-<br />

Kai zu begleiten, und sie hatte das regelmäßig abgelehnt. Jetzt kam<br />

sie mit und erlangte sehr schnell Kenshô. Ich war sprachlos. Ihr<br />

Erlebnis brachte mich so in Feuer, daß ich beim Sesshin im folgenden<br />

Monat meine Anstrengungen verdoppelte. Mit Hilfe kräftiger Ermutigungen<br />

durch den Rôshi, der mich drängte: «Nur noch ein Schritt!»<br />

warf ich mich ingrimmig auf mein Kôan. Aber wie ich jetzt einsehe,<br />

faßte ich damals Mu in meinem tiefsten Unterbewußtsein noch immer<br />

als etwas außerhalb von mir Bestehen<strong>des</strong> auf. Aus diesem Grund<br />

erschien mir die Welt <strong>des</strong> Kenshô nie. Bitter enttäuscht sagte ich mir:<br />

«Du hast gesessen und gesessen und hattest doch keinen Erfolg. Etwas<br />

muß mit dir nicht stimmen.»<br />

Tief entmutigt redete ich mich in den Glauben hinein, daß mir von<br />

Grund auf die Möglichkeit zur Erleuchtung fehle. Dennoch fuhr ich<br />

weiter fort, Sesshin auf Sesshin zu besuchen, aus Gründen, die mir<br />

dazumal verborgen waren. Aber ich konnte mich nicht mehr mit ganzer<br />

Seele in Zazen hineinlegen. Dann dachte ich: «Da das Universum<br />

und ich Eins sind, muß ich mich selbst begreifen, um den Sinn <strong>des</strong><br />

Universums zu begreifen. Aber ich werde mich nicht begreifen können,<br />

wenn ich nicht ein für allemal die Gewohnheit aufgebe, Mu<br />

außerhalb von mir zu suchen.»<br />

Im folgenden Jahr hatte ich einen guten Teil meines alten Eifers wiedergewonnen<br />

und konnte ruhigen, kraftvollen Sinnes Zazen sitzen. Das<br />

ermutigte mich, an mehreren aufeinanderfolgenden Sesshin teilzuneh-<br />

340


men. Je<strong>des</strong>mal, wenn ich von einem Sesshin in mein normales Leben<br />

zurückkehrte, war ich erstaunt, mich so verändert zu finden. Jeder<br />

Tag war ein Tag der Dankbarkeit, und wenn ich nach einem schweren<br />

Arbeitstag zu Bett ging, war ich dankbar, daß ich lebte, obgleich<br />

ich nicht wußte, warum. Mittlerweile hatte ich ein beträchtliches<br />

theoretisches Wissen über Erleuchtung gewonnen; aber wenn ich<br />

daran dachte, daß es mir kein Kenshô gebracht hatte, ergriff mich<br />

rastlose Unzufriedenheit. Ich wußte, daß ich tief im Innern noch<br />

immer den Tod fürchtete und vor dem Leben zurückschrak. So war<br />

ich ausgespannt zwischen dem Gefühl der Dankbarkeit einerseits und<br />

dem der Furcht und Enttäuschung andererseits.<br />

An einem heißen Augustabend, als ich mit meinen Eltern eine Zeitlang<br />

Zazen saß, erlebte ich mich plötzlich als eine kleine Welle, die<br />

sich endlos ins Universum ausbreitete. «Ich hab's! Da ist kein von<br />

mir getrenntes Universum», - flammte es wiederholt in meinem Sinn<br />

auf. Obgleich es nicht mehr als ein Einblick war, überzeugte es mich<br />

doch, daß ich mich Kenshô näherte, und so begann ich, ernsthafter<br />

zu sitzen. Meine Gewohnheit, über Mu nachzudenken, blieb mir<br />

jedoch. «Was für ein Fluch das Denken ist!» rief ich oft voller<br />

Ärger aus. «Es verwirrt uns den Sinn, schafft Kontroversen unter den<br />

Menschen, indem es sie voneinander isoliert, und führt sogar zum<br />

Krieg. Hör auf zu denken! Hör auf zu analysieren!»<br />

Nicht lange danach ging ich zu einem Zazen-Kai, bei dem YASUTANI<br />

Rôshi ein Teishô über die «Drei Tore <strong>des</strong> Oryû», ein Kôan aus dem<br />

Mumon-Kan, hielt. An einer Stelle sagte er: «Was ist eure Hand im<br />

Vergleich zu der eines Buddha? Wenn ihr im Schlaf nach einem verschobenen<br />

Kissen langt, bringt ihr es instinktiv in Ordnung. Unser<br />

ganzes Sein ist nicht anders als diese zeitlose Hand. Wenn euch das<br />

wirklich klar wird, werdet ihr spontan in Lachen ausbrechen.»<br />

Als ich diese Worte hörte, fühlte ich mich innerlich außerordentlich<br />

gereinigt und zitterte vor Freude. Da ich aber noch keine wahre Freiheit<br />

gewonnen hatte, beschloß ich, beim Dokusan nichts davon zu<br />

sagen. Beträchtlich ermuntert erneuerte ich jedoch meine Anstrengungen,<br />

um tiefer in mein Kôan einzudringen.<br />

341


Das einwöchige August-Sesshin war gekommen. Auf Grund geschäftlicher<br />

Belastungen konnte ich erst am Mittag <strong>des</strong> zweiten Tages zum<br />

Tempel kommen. Bei diesem Sesshin war meine Taktik die, während<br />

der Sitzzeiten voll Entschlossenheit zu sitzen, einer Feuerkugel gleich,<br />

und mich in den Ruhezeiten vollkommen zu entspannen. Zu Beginn<br />

hatte der Rôshi alle erinnert: «Bei diesem großen Sesshin erlangt je<strong>des</strong><br />

Jahr min<strong>des</strong>tens einer Kenshô.» Auf der Stelle beschloß ich, daß,<br />

wenn einer Kenshô erreichte, ich es sein würde.<br />

Der vierte Tag war gekommen. Wieder und wieder wurde ich mit<br />

dem Kyosaku geschlagen, einmal so kräftig, daß Geist und Körper<br />

einen Augenblick lang gelähmt waren. An jenem Tage «kämpfte» ich<br />

am schwersten. Aber ich konnte trotz allem immer noch nicht zu<br />

Kenshô kommen. Es kam der fünfte Tag; nur anderthalb Tage blieben<br />

mir noch. Am sechsten Tag warf ich mich mit meinem letzten<br />

Jota Kraft in die «Schlacht» und ließ mich durch nichts und gar<br />

nichts ablenken. Nach der morgendlichen Hausarbeit und unmittelbar<br />

vor dem Teishô <strong>des</strong> Rôshi schrie plötzlich ein Student, der neben<br />

mir saß (und der bei diesem Sesshin Kenshô erlangte) gellend auf:<br />

«Du alberner, alberner, dummer Kerl!» womit er sich selbst meinte.<br />

«Los, mach weiter! Noch ein Schritt, nur einer! Stirb, wenn es sein<br />

muß, stirb!» <strong>Die</strong> Kraft seiner Verzweiflung griff auf mich über, und<br />

ich konzentrierte mich, als hinge mein Leben davon ab.<br />

Mein Bewußtsein war so leer wie das eines kleinen Kin<strong>des</strong>, als ich<br />

den Darlegungen <strong>des</strong> Rôshi lauschte. Er las aus einem alten Kôan:<br />

«Nicht einmal ein Weiser kann auch nur ein Wort über jenen Bereich (der<br />

Stille) mitteilen, aus dem die Gedanken hervorgehen ... Ein Stück Schnur<br />

ist ewig und grenzenlos ... Der bloße, weiße Ochse 37 vor euch ist rein,<br />

lebendig .. . 38 »<br />

Während der Rôshi mit ruhiger, leiser Stimme sprach, spürte ich, wie<br />

je<strong>des</strong> seiner Worte mir in die geheimsten Winkel <strong>des</strong> Bewußtseins einsickerte.<br />

«Nicht einmal ein Weiser kann ein Wort über jenen Bereich<br />

äußern, aus dem die Gedanken hervorgehen», wiederholte der Rôshi<br />

37. Das heißt: Geist. Siehe 8. Kapitel.<br />

38. <strong>Die</strong>se Zeilen stammen aus dem Kommentar zum Beispiel 94 im Hekigan-roku.<br />

342


und fügte hinzu: «Ja, nicht einmal ein Buddha.» «Natürlich! Natürlich!»<br />

wiederholte ich atemlos. «Warum nur habe dann ich nach solchem<br />

Wort gesucht?» Mit einem Mal wurde alles zu schierem Glanz,<br />

und ich sah und wußte, daß ich der Einzige im ganzen Universum<br />

bin. Ja, ich bin der Einzige!<br />

Obgleich ich nicht ganz überzeugt war, daß der Rôshi das als Kenshô<br />

bestätigen würde, beschloß ich, ihm beim Nachmittags-Dokusan<br />

meine Erkenntnisse vorzutragen. «Zeigen Sie es mir deutlicher!» verlangte<br />

er.<br />

Ich kehrte auf meinen Platz in der Haupthalle zurück und nahm<br />

Zazen von neuem in Angriff. Ungefähr um sieben am Abend hörte ich<br />

folgende Worte über meinem Kopf explodieren: «Noch <strong>drei</strong>ßig Minuten<br />

bis zum Dokusan! Faßt den Entschluß, zur Selbst-Wesensschau zu<br />

kommen! Das ist eure letzte Chance!» Wieder und wieder prasselten<br />

die Stockhiebe auf mich herab. Meine Konzentration wurde vollends<br />

verzweifelt. Schließlich dämmerte es mir: Es gibt Nichts zu erkennen!<br />

Beim Dokusan prüfte mich der Rôshi mit: «Zeigen Sie mir Mu! Wie<br />

alt ist Mu? Zeigen Sie mir Mu, wenn Sie ein Bad nehmen. Zeigen Sie<br />

mir Mu auf einem Berg.» Meine Reaktionen kamen augenblicklich,<br />

und er bestätigte mein Kenshô. Als ich mich außen an der Tür niederwarf,<br />

da ich den Raum <strong>des</strong> Rôshi verließ, strömte ich von einer<br />

Freude über, die jeder Beschreibung spottet.<br />

Ich kann diesen Bericht nicht schließen, ohne YASUTANI Rôshi meine<br />

tiefste Dankbarkeit auszudrücken, ihm, der mich, der ich so eigensinnig<br />

und mutwillig bin, dahin führte, mein Geistiges Auge zu<br />

öffnen, und auch allen anderen, die mir direkt oder indirekt geholfen<br />

haben.<br />

7. Frau L. T. S., amerikanische Künstlerin, Alter 51<br />

Ich war zu <strong>Zen</strong> und dem Pendle-Hill (Pennsylvania)-Sesshin indirekt<br />

und unausweichlich gekommen. Wenn ich jetzt einen Blick zurückwerfe<br />

auf meinen anscheinend so gewundenen Weg bis zum Augen-<br />

343


lick der Wesensschau, sehe ich, daß er mich schnurgerade zum Klang<br />

jener winzigen Kinhin-Glocke hingeführt hat. Als Bildhauerin, Frau<br />

und Mutter, als Trinkerin und schließlich als Mitglied <strong>des</strong> «Alcoholics<br />

Anonymous» hatte ich gute Vorübung.<br />

Mir scheint, der erste Schritt zu diesem Leben war es, als ich mit<br />

ungefähr fünfzehn Jahren wußte, daß ich Künstlerin werden müsse.<br />

<strong>Die</strong>ses Wissen fiel zusammen mit einer völligen Ablehnung <strong>des</strong> Christentums<br />

(wie ich es auffaßte) und einem ersten Tasten nach der<br />

Wahrheit in mir selbst. Ein paar Jahre später entdeckte ich den Stein,<br />

und wieder wußte ich, daß das Meißeln mein Weg war - langsam und<br />

mühsam -, wie auch das innere Tasten langsam und mühselig war.<br />

Ich war entschlossen, so viel als möglich zu erleben. So folgten Heirat<br />

und Familie. Aber mit der Zeit wurde mein Lebenseifer gedrosselt.<br />

Das Leben wurde mir zu viel, es begann, mich zu bedrücken und aufzureiben.<br />

Da entdeckte ich den gesegneten Alkohol, der meine Qualen<br />

sanft linderte und meinen emporstrebenden Sinn von den Fesseln<br />

befreite.<br />

Der Stein ruhte still und unberührt. Mein Mann und die Kinder, die<br />

meine Liebe forderten, wurden beiseite geschoben. Keine Bildhauerei.<br />

Keine aufrichtige Annahme der Familie. Nur Qual und Schuld und<br />

Unzulänglichkeit. Und langsam übernahm der Alkohol die Führung<br />

und kontrollierte mein Leben. Ich kannte meinen Mittelpunkt nicht<br />

mehr.<br />

Das Leben war ein böser Traum. Von Furcht und Schuld und der<br />

heimlichen Flasche beherrscht, kämpfte ich mich von vierundzwanzig<br />

Stunden zu vierundzwanzig Stunden durch. Ich wollte nicht glauben,<br />

daß ich keinen Ausweg finden könnte. So folgten acht Jahre Psychiatrie<br />

und Versuche mit allen Methoden der Selbst-Disziplinierung, die<br />

ich nur kannte. Aber ich saß noch immer in der Falle.<br />

An einem Morgen, der nicht anders als all die anderen schrecklichen<br />

Morgen schien, rief ich «Alcoholics Anonymous» an, damit sie mir<br />

hülfen. Durch diese Tat wurde ich endlich dazu frei, mich selbst<br />

wahrhaft zu sehen und mit Hilfe all der anderen Alkoholiker, die<br />

dieselbe Hölle durchlebt hatten, ich selbst zu sein. Ich hörte auf zu<br />

trinken. Ich begriff, daß es etwas unendlich Mächtigeres gibt, als<br />

344


meinen kleinen menschlichen Sinn. Und ich wußte, daß ich es finden,<br />

erkennen, schauen, sein müsse.<br />

Meine Suche hatte begonnen!<br />

Ein paar Wochen danach, als ich müßig einen Stand mit verbilligten<br />

Büchern durchsah, suchte ich mir How to know God heraus, eine<br />

Übersetzung von PATANJALIS Aphorismen durch Swami PRABHAVA-<br />

NANDA und CHRISTOPHER ISHERWOOD. Ich war wie vom Donner<br />

gerührt! PATANJALI hatte vor etwa zweitausend Jahren das gewußt<br />

und gelehrt, was ich gerade für mich selbst entdeckt hatte. <strong>Die</strong>ses<br />

Buch las ich wieder und wieder, studierte es und zerbrach mir zwei<br />

Monate lang den Kopf darüber an Deck unseres Schoners, während<br />

wir auf einer Ferienreise die atlantische Küste entlang segelten. Ich<br />

ging all den Angaben der Fußnoten nach, bestellte Bücher und verschlang<br />

sie förmlich.<br />

Dem dringenden Bedürfnis nach einem Lehrer wurde dadurch entsprochen,<br />

daß ich Swami PRAMANANDA fand, der bereit war, mir zu<br />

helfen. Er leitete und lenkte mich, ließ mich mit geregelter Meditation<br />

beginnen, half mir, Halluzinationen von Wirklichkeit unterscheiden,<br />

und bereitete mich für den großen Vorstoß in Pendle Hill vor.<br />

Beim Lesen hatte ich in HUXLEYS Perennial Philosophy Hinweise auf<br />

<strong>Zen</strong> gefunden. Ich wußte, daß das etwas für mich war. Ich fuhr fort<br />

zu lesen, kriya-Meditation zu üben, wobei ich jedoch nicht nach <strong>Zen</strong>-<br />

Art saß.<br />

Gänzlich unerwartet bot sich mir die Möglichkeit, für einige Monate<br />

nach Japan zu fahren, um dort den Aufbau einer von mir entworfenen<br />

Ausstellung zu überwachen. Dort jagte ich erbarmungslos, hartnäckig<br />

<strong>Zen</strong> nach. Und dort wurde mir ebenso erbarmungslos gezeigt,<br />

daß der einzige Ort, wo ich es erjagen könne, in mir selbst liege. Man<br />

wies mich an zu sitzen.<br />

Ich saß. Ich saß in Sesshin <strong>des</strong> Engaku-Ji, <strong>des</strong> Ryutaku-Ji und kurz<br />

im Nanzen-Ji. Ich saß im Ryosen-An <strong>des</strong> Daitoku-Ji.<br />

Folgendermaßen war es dazu gekommen: Ehe ich Amerika verließ,<br />

hatte ich vom Engaku-Ji gehört. Also ging ich dorthin. Als ich bei<br />

einem kalten Novemberregen dort ankam, hatte ich keine Ahnung,<br />

345


was ich tun sollte, keine Empfehlung an irgend jemanden, keine<br />

Kenntnis <strong>des</strong> Japanischen. Ohne zu wissen, wohin ich mich wenden<br />

sollte, stand ich unschlüssig da, völlig allein in einer grauen, verlassenen<br />

Landschaft, während der Regen meinen Regenmantel durchdrang,<br />

mir den Nacken hinunterlief und in meine Schuhe tröpfelte. Eine<br />

dunkle Gestalt lief in den Regen hinaus. Wir sahen einander hilflos<br />

an. Worte kamen unsicher hervor, japanisch und englisch. Er winkte<br />

mir, ihm zu folgen, und führte mich zu einer Tür, klopfte an und<br />

rief. Eine Gestalt erschien. Es war eine junge Engländerin, die mich<br />

nach lebhaftem Wortwechsel mit meinem Führer fragte, was sie für<br />

mich tun könne.<br />

Sie brachte mich zum leitenden Mönch und richtete es so ein, daß ich<br />

bleiben konnte. Sie waren dort gerade im Sesshin. Sie lehrte mich, wie<br />

ich mit den Mahlzeiten fertig würde, ersuchte um ein Gespräch mit<br />

dem Rôshi und dolmetschte für mich - sie war mein Führer und<br />

guter Freund. Ihr letztes Geschenk bestand darin, daß sie mich mit<br />

einem amerikanischen <strong>Zen</strong>-Schüler bekannt machte, der durch ein<br />

Telephongespräch erreichte, daß ich zu weiterem Sitzen zum Ryutaku-Ji<br />

gehen konnte.<br />

So ging es fort und fort - Freundlichkeiten so vieler Menschen und<br />

schmerzhaftes, schmerzhaftes Sitzen. Wo auch immer ich in Japan<br />

Hilfe suchte, bei einem Rôshi, einem Mönch, einem Laienschüler, ich<br />

fand sie. Das Erbarmen all dieser Menschen mit meiner täppischen<br />

Unwissenheit war unendlich, und ich bin so dankbar dafür.<br />

Der Klang jener winzigen Glocke beim Pendle-Hill-Sesshin war der<br />

Schock, die Gewalt, die die Wände einriß, welche im Verlauf von<br />

vier Jahren Zazen und von fünf Jahren Kriya-Yoga zuvor jeden Tag<br />

und jede Nacht langsam aufgerieben worden waren. Geduldig, eigensinnig<br />

hatte ich gesessen, gesessen, gesessen. Manchmal lange, manchmal<br />

nur ein paar Minuten, aber immer, immer, jeden Tag. Das geduldige<br />

Sitzen war mir so vertraut geworden, daß ich es als ebenso<br />

natürlich und ereignislos hinnahm wie das Atmen.<br />

Als ich zum Pendle-Hill-Sesshin eintraf, hatte ich YASUTANI Rôshi<br />

noch nie gesehen. Ich hatte seinen Mönch-Dolmetscher im Ryutaku-Ji<br />

346


getroffen, wo ich vier Jahre vorher an einem Sesshin teilgenommen<br />

hatte. Ich war für das körperliche Elend von viereinhalb Tagen Zazen<br />

gewappnet, wußte ich doch auch sehr wohl, daß der Lohn Klarheit<br />

und Frieden war. Nachdem ich 1961 das von NAKAGAWA Rôshi geleitete<br />

Sesshin in Delaware besucht hatte, hatte ich notiert: «Ich spüre,<br />

daß mir das Innerste zuäußerst gekehrt wurde, daß ich durchgeschüttelt<br />

und in reinem, klarem Wasser gespült worden bin.»<br />

So begann also das Pendle-Hill-Sesshin. Da saßen ungefähr vierzig<br />

Unbekannte beisammen, einige nur aus Neugier, andere sehr ernsthaft.<br />

YASUTANI Rôshi teilte die Gruppe gemäß dem, was jeder als<br />

Zweck seiner Beteiligung angegeben hatte, in verschiedene kleine<br />

Gruppen ein. Er sprach zu jeder Gruppe einzeln und erklärte die<br />

Regeln, die in den kommenden viereinhalb Tagen zu befolgen waren.<br />

Ich gehörte zu denen, die Erleuchtung suchten, und dieser Gruppe<br />

gab er JÔSHÛS Mu als Kôan.<br />

Ich fing an, mit Mu zu sitzen.<br />

Am ersten Tage war Mu keine heiße Eisenkugel - es war vielmehr<br />

ein schwerer Bleiklumpen in meinem Bauch.<br />

«Schmelzen Sie das Blei!» befahl der Rôshi. Aber es wollte nicht<br />

schmelzen. So hämmerte ich also am nächsten Tag mit Mu und<br />

erkannte, daß sein <strong>Zen</strong>trum ein kristallen-strahlen<strong>des</strong> Licht war, wie<br />

ein Stern oder ein Diamant, so strahlend, daß es materielle Gegenstände<br />

mit hellen Umrissen umgab und erleuchtete, meine Augen blendete<br />

und mich mit Licht erfüllte. Mein Körper kam mir schwerelos<br />

vor. Ich dachte: «Das ist Mu.» Aber der Rôshi ermahnte mich: «Halluzinationen.<br />

Beachten Sie sie nicht. Konzentrieren Sie sich kräftiger.»<br />

Am Ende jenes Tages war da kein Licht mehr, nur noch Schläfrigkeit,<br />

unendlicher Überdruß und Mu. Ehe ich zur Ruhe ging, schrieb ich mir<br />

etwas auf: «Jetzt bin ich entschlossen. Wenn andere es können, kann<br />

ich es auch! Und ich werde es tun! Ich werde den letzten Rest an<br />

Kraft und eigensinniger Entschlossenheit einsetzen.» Dann schlief ich,<br />

und Mu deckte meine Träume zu, und Mu ging bei jedem Atemzug<br />

ein und aus.<br />

Am dritten Tag wollten meine Augen nicht offen bleiben - sie schlossen<br />

sich bei jedem Atemzug. Hatte ich das abgewehrt, so war mein<br />

347


Sinn sofort von Problemen meiner Familie und Heirat erfüllt. Es war<br />

ein schreckliches Ankämpfen gegen bei<strong>des</strong>: Schlaf und Seelenqual.<br />

Mit jedem Atemzug beschloß ich, Mu zu packen, aber es sank und<br />

sank und löste sich in nichts auf.<br />

«Gehen Sie tiefer», sagte der Rôshi, «dringen Sie mit der Frage: ,Was<br />

ist dieses Mu?' bis zum tiefsten Grunde vor.»<br />

Ich drang tiefer und tiefer ...<br />

Ich verlor den Halt, und mir drehte sich alles. ..<br />

Zum Mittelpunkt der Erde!<br />

Zum Mittelpunkt <strong>des</strong> Kosmos!<br />

Zum Mittelpunkt.<br />

Ich war dort.<br />

Beim Klang der kleinen Kinhin-Glocke wußte ich plötzlich.<br />

Zu spät, um den Rôshi noch am gleichen Abend zu sprechen. So<br />

stürzte ich zum ersten Dokusan am Morgen.<br />

Fragen ...<br />

Scharfe Stimmen ...<br />

Lachen ...<br />

Bewegung...<br />

Der Rôshi sagte: «Jetzt begreifen Sie, daß Mu sehen - Gott sehen ist.»<br />

Ich begriff.<br />

(Mehrere Wochen später, nach mancherlei Kôan-Zazen, beim ersten<br />

Sesshin in Brewster, New York):<br />

Ich fühle mich sauber.<br />

Ich fühle mich frei.<br />

Ich fühle mich bereit, jeden Tag voll freudigen Eifers nach Wahl<br />

zu leben!<br />

Mich entzückt das Abenteuer eines jeden Augenblicks.<br />

Ich habe das Gefühl, als wäre ich gerade von einem unruhigen,<br />

zusammenhanglosen Traum erwacht. Alles sieht anders aus!<br />

<strong>Die</strong> Welt sitzt mir nicht mehr schwer im Nacken. Sie ist unterhalb<br />

meines Gürtels. Ich schlug einen Purzelbaum und verschluckte sie.<br />

Ich bin nicht mehr rastlos.<br />

Endlich habe ich das, was ich will.<br />

348


8. Frau D. K., kanadische Hausfrau, Alter 35<br />

Kanada und die Vereinigten Staaten<br />

<strong>Die</strong> ersten Jahre meines Lebens verliefen ruhig und ereignislos.<br />

Keine Tragödie traf mich, und meine Eltern widmeten sich ganz<br />

der Aufgabe, mich und meine beiden Schwestern aufzuziehen. Nach<br />

den meisten westlichen Maßstäben könnte man es eine nahezu<br />

ideale Kindheit nennen. Doch von Anfang an gab es immer wieder<br />

Zeiten, da Verzweiflung und Einsamkeit, ohne erkennbare<br />

Ursache auftauchten, in einem Strom von Tränen überflössen und<br />

mich unter Ausschluß alles anderen verschlangen. Zu solchen Zeiten<br />

war das quälende Gefühl, gefangen zu sein, überwältigend,<br />

und allein schon, ein Mensch zu sein, war ein elen<strong>des</strong> und schmachvolles<br />

Los.<br />

In den ersten Jahren meines zweiten Jahrzehnts bekam ich einmal<br />

einige Hindu-Geschichten geliehen, die mein lebhaftes Interesse erregten.<br />

Sie sprachen unumwunden von einer Vielzahl von Leben und<br />

der Freiheit der Seele, vom geistigen Selbst <strong>des</strong> Menschen und der<br />

Möglichkeit eines Lebens ohne physischen Körper. <strong>Die</strong> meisten Einzelheiten<br />

dieser Lektüre verdunsteten angesichts von etwas, das mein<br />

tieferes Sein erregte, und ich war glücklich, zu erfahren, daß es solche<br />

Auffassung gab. <strong>Die</strong> indischen Mythen über die Unbegrenztheit<br />

der Zeit rührten mich zutiefst an, und ich schwor mir, daß ich eines<br />

Tages selbst Indien aufsuchen würde.<br />

Mehrere Jahre nach meinem Schulabschluß ließ ich mich an der Universität<br />

einschreiben und begann zu jener Zeit, ernsthaft religiöse<br />

Literatur zu studieren und versuchte mich sogar in manch einfacher<br />

Meditation. <strong>Die</strong> Universitätsjahre lehrten mich Freude und Anregungen<br />

intellektueller Entdeckungen kennen, sie waren aber gleichzeitig<br />

von wachsender Ruhelosigkeit erfüllt. Schließlich machte ich mein<br />

Abschlußexamen und begann mit den Studien für Fortgeschrittene.<br />

Gegen Ende <strong>des</strong> ersten Jahres nahm mein Leben eine unerwartete<br />

Wendung. Nach ein paar Monaten der Unentschlossenheit fuhr ich in<br />

die Vereinigten Staaten, um einen Amerikaner zu heiraten, den ich<br />

in Kanada getroffen hatte.<br />

349


Ein paar Monate später fand unsere Hochzeit statt, und fast unmittelbar<br />

danach erwachte ich, um mich als Witwe zu finden. Der<br />

gewaltsame, eigenhändig herbeigeführte Tod meines Mannes war ein<br />

Schock, schwerer als alles, was ich bis dahin erlebt hatte. <strong>Die</strong> Umstände<br />

und Folgen stürzten mich in die tiefsten Tiefen meines Seins,<br />

<strong>des</strong>sen Grundlagen mit wahrhaft erschreckender Gewalt erschüttert<br />

wurden. Ich konnte mich <strong>des</strong> Gefühls der menschlichen Verantwortung<br />

dafür nicht entschlagen. Intuitive Erkenntnis, Reife, Weisheit -<br />

all das mangelte mir bitterlich.<br />

Zu jener Zeit wurde ich häufig von völliger Erstarrung befallen, und<br />

immer war ich voller Furcht, einer tiefen, durchdringenden Furcht,<br />

die lange anhielt, meine Atmung hemmte und mich am Essen hinderte.<br />

Oft fand ich mich <strong>des</strong> Nachts mit gekreuzten Beinen auf dem Fußboden<br />

sitzen, wie ich mich vor und zurück schaukelte und mit dem<br />

Kopf auf die Fliesen schlug, beinahe wahnsinnig vor Schmerz und<br />

Verzweiflung.<br />

Als ich eines Nachmittags von einer Besorgung zurückkam und meine<br />

Wohnung betrat, in der ich allein lebte, packte mich tiefstes Elend,<br />

und in meiner Hilflosigkeit sank ich zu Boden. «Ich sterbe»,<br />

schluchzte ich, «ich habe alle meine Götter getötet. Ich habe kein<br />

Mittel zum Wiederaufleben. Ich bin völlig allein.» Nackte Angst und<br />

äußerste Verzweiflung hatten von mir Besitz ergriffen, und ich lag -<br />

ich weiß nicht, wie lange - da auf dem Boden, bis aus meiner Bauchhöhle<br />

ein Schrei ausbrach: «Wenn es irgendein Wesen im gesamten<br />

Universum gibt, dem es nicht einerlei ist, ob ich lebe oder sterbe -<br />

so hilf mir, ach, hilf mir!»<br />

Allmählich formte sich ein Gedanke, und ich begann zu schreiben.<br />

Ich hatte eine sehr gute Freundin, die vor kurzem der Welt entsagt<br />

hatte. Sie lebte zur Zeit in einem Ashram 39 in Süd-Indien, und ich bat<br />

sie, ihre Meditationen auf mich zu richten, da ich Hilfe bitter nötig<br />

hätte und nicht mehr fähig wäre, mir selbst zu helfen. Sie antwortete<br />

schnell und schrieb, daß sie und andere im Ashram so viel geistige<br />

Hilfe sendeten, wie sie könnten. Ihre Reaktion berührte mich der-<br />

39. Śrī AUROBINDO Ashram in Pondicherry. Ein Ashram ist ein Ort der Zurückgezogenheit<br />

für geistige Übungen oder eine religiöse Gemeinschaft.<br />

350


artig, daß ich beschloß, den Westen, so bald ich konnte, zu verlassen<br />

und nach Indien zu fahren.<br />

Viele Monate vergingen, ehe das möglich wurde. Ich spannte nun all<br />

meine Kraft an, um die Erbschaftsangelegenheit meines Mannes abzuwickeln<br />

und meine Habseligkeiten zu verkaufen. Endlich schiffte<br />

ich mich erschöpft nach Indien ein mit der Absicht, dort zu bleiben,<br />

bis ich einen erleuchteten Lehrer gefunden hätte. Genau <strong>drei</strong> Jahre<br />

waren vergangen, seit ich in die Vereinigten Staaten gekommen war.<br />

Indien und Burma<br />

Zwei Monate nach meiner Abreise von New York betrat ich an einem<br />

heißen Nachmittag das Gelände <strong>des</strong> großen Ashram, in dem meine<br />

Freundin lebte. Schweigend wurde ich in ihr winziges Zimmer<br />

geführt. Meine Erleichterung war so groß, daß ich, als sie sanft und<br />

lächelnd hereinkam, um mich zu begrüßen, in Tränen ausbrach.<br />

Meine Arme waren wie gelähmt, und ich wurde langsam ohnmächtig.<br />

<strong>Die</strong> Jahre in den Vereinigten Staaten waren doch, ohne daß ich mir<br />

darüber ganz im klaren gewesen war, so voller Angespanntheit und<br />

Kampf gewesen, daß ich mich dieser Stille nicht spontan anpassen<br />

konnte. <strong>Die</strong> Angespanntheit von Leib und Seele blieb mir durch die<br />

Macht der Gewohnheit noch lange.<br />

Der Ashram, der an der Küste <strong>des</strong> Bengalischen Golfs liegt, wirkte<br />

verjüngend. Aber metaphysische Spekulationen und philosophische<br />

Diskussionen sind in Indien sehr mächtig, und dem war ich stets<br />

schnell verfallen. Während ich teils davon angeregt wurde, warnten<br />

mich doch meine tiefsten Instinkte, daß sich das am Ende als fruchtlos<br />

erweisen würde. Eine Lebensordnung, die Studien und Lesen<br />

derart fördert, schien mir eben das zu sein, was ich gerade zu jener<br />

Zeit nicht haben sollte. Ich spürte ein wachsen<strong>des</strong> Bedürfnis nach<br />

streng geleiteter Meditation.<br />

Meine steigende Unzufriedenheit mit dem, was ich als wahllose Meditation<br />

im Ashram ansah, fiel zeitlich zusammen mit dem Besuch eines<br />

amerikanischen Buddhisten, der mehrere Jahre lang in Japan <strong>Zen</strong><br />

geübt hatte. Was mich an diesem Amerikaner besonders beeindruckte,<br />

war die Heiterkeit, mit der er sich auf die mannigfachen<br />

351


Gegebenheiten, die er im Ashram fand, einließ und sich darein vertiefte,<br />

und sein mitfühlen<strong>des</strong> Interesse am Leben aller, die ihm begegneten,<br />

einschließlich meines eigenen, das so voll war von verzweifelten<br />

und unausgeglichenen Bestrebungen. Ich beschloß, nach Japan<br />

zu fahren, wenn ich seine Hilfe finden könnte. <strong>Die</strong> bot er mir reichlich<br />

und versicherte mir, daß er mir helfen würde, einen <strong>Zen</strong>-Lehrer<br />

dort zu finden.<br />

Nachdem ich den Ashram verlassen hatte, fuhr ich kreuz und quer<br />

durch Indien, besuchte andere Ashrams, sah mir archäologisch interessante<br />

Orte gut an und nahm die reiche Kunde und die alles durchwebende<br />

religiöse Atmosphäre der heiligen buddhistischen Stätten in<br />

mich auf: der Schreine, Tempel und Höhlen, die Indien im Überfluß<br />

besitzt.<br />

Eine überwältigende Intensität geistiger Schau beseelt seine Architektur<br />

und seine gewaltigen Höhlen-Skulpturen, so daß man solche Höhlen<br />

nicht betreten kann, ohne von dieser religiösen Inbrunst mit fortgerissen<br />

zu werden. Wenn ich vor dem riesigen, aus dem Felsen herausgehauenen<br />

Buddha stand, zitterte ich geradezu vor Ehrfurcht, und<br />

mein Entschluß, dem Weg <strong>des</strong> Buddha zu folgen, erhielt den stärksten<br />

Antrieb.<br />

Ich hatte lange darauf gehofft, Burma aufsuchen zu können, von dem<br />

ich mir vorgestellt hatte, daß es in seiner einzigartigen Anteilnahme<br />

an allem Religiösen als der Grundlage <strong>des</strong> Alltagslebens einzig Tibet<br />

nachstand. Als mein amerikanischer Freund mir schrieb, daß die<br />

Meditations-<strong>Zen</strong>tren von Burma unter all denen der südost-asiatischen<br />

Länder als die besten bekannt seien, und vorschlug, daß ich mich<br />

ihm auf fünf Wochen zu intensiver Meditation in der Wirkungsstätte<br />

eines berühmten burmesischen Meisters, MAHASI SAYADAM, in Rangun<br />

anschlösse, ergriff ich daher diese Gelegenheit mit beiden Händen.<br />

Damit begann meine erste regelrechte Meditationsübung unter der<br />

Leitung eines Lehrers, und das erwies sich in jeder Hinsicht als<br />

äußerst schmerzhaft. <strong>Die</strong> heiße Jahreszeit hatte schon angefangen,<br />

als ich nach Rangun kam. Ich zog mir bald ein Fieber mit einem<br />

quälenden Husten zu. Bei<strong>des</strong> hielt fast bis zu meiner Abreise an und<br />

352


nahm mich beträchtlich mit. Zu der schrecklichen Hitze und der<br />

dadurch hervorgerufenen Lethargie kam die unaufhörliche Anstrengung,<br />

allein in einer kleinen, kahlen Zelle Stunde um Stunde auf<br />

einem Bett aus Holzbrettern zu sitzen, wobei ich gegen die brennenden<br />

Schmerzen in Knien und Rücken ankämpfte, die durch das Sitzen<br />

mit verschränkten Beinen verursacht wurden. Für den Anfänger ist<br />

es unerträglich schwer, allein zu sitzen und nicht die unsichtbare<br />

Hilfe von anderen zu haben, die mit ihm zusammen sitzen, und auch<br />

die sichtbare Unterstützung durch einen abwechslungsreichen Stundenplan,<br />

wie beim <strong>Zen</strong> in Japan, zu entbehren. So ertappt man sich<br />

bald dabei, wie man nach Mitteln sucht, um Langeweile und Schmerzen<br />

zu entkommen.<br />

<strong>Die</strong> Meditation selbst bestand in der Konzentration auf den an- und<br />

abschwellenden Atem, wobei sich die Aufmerksamkeit auf das<br />

Zwerchfell richtete. Wenn der Sinn abschweifte (was er wiederholt<br />

tat), mußte er mit den Worten «denken, denken, denken» zurückgerufen<br />

werden, bis sich die Aufmerksamkeit wieder im Zwerchfell<br />

festsetzte. Jede andere Ablenkung wurde ähnlich behandelt. «Husten,<br />

husten», wenn man hustete; «hören, hören», wenn irgendein Laut<br />

die Aufmerksamkeit gefangennahm. Eine Stunde <strong>des</strong> Sitzens wechselte<br />

mit einer Stunde Gehen ab, was meist in einer Begräbnisgangart,<br />

auf und ab vor dem eigenen Raum, in völligem Schweigen vor sich<br />

ging. <strong>Die</strong> Hände hielt man dabei auf dem Rücken, und das Bewußtsein<br />

war einzig auf die Beobachtung eines jeden Schrittes konzentriert.<br />

«Anheben, anheben», wenn der Fuß aufgehoben wurde; «bewegen»,<br />

wenn er vorwärts bewegt wurde; «aufsetzen», wenn er auf den<br />

Boden aufgesetzt wurde.<br />

Täglich sprachen wir mittags mit unserem Präzeptor, einem der<br />

Mönchs-Ältesten, der uns auf unsere Fortschritte hin prüfte. Seine<br />

Fragen gingen in die kleinsten Einzelheiten, und er verlangte genaue<br />

Angaben über unsere Sitzzeiten. Als ich ihm klagte, daß mein häufiges<br />

geistiges Abschweifen auf Langeweile zurückzuführen sei, lachte er<br />

und sagte mir, daß ich «gelangweilt, gelangweilt, gelangweilt» denken<br />

solle, bis die Langeweile verschwände. Zu meiner Überraschung<br />

wirkte das.<br />

353


Bei der Aufnahme in das Meditations-<strong>Zen</strong>trum mußte ich, wie jeder<br />

andere, eine Garantie unterschreiben, daß ich die buddhistischen<br />

Gebote 40 halten würde, die das Essen nach 12 Uhr mittags untersagten,<br />

und daß ich nicht mehr als nachts fünf Stunden schlafen<br />

würde. Das Essen wurde mir zweimal am Vormittag in Essensträgern<br />

an die Tür gebracht. Ich verzehrte es allein, während ich meditierte<br />

«heben, heben, stecken, stecken, kauen, kauen, schlucken, schlucken».<br />

In gleicher Weise mußten die winzigsten Einzelheiten jeglicher Verrichtung,<br />

ob geistig oder körperlich, mit vollster Aufmerksamkeit<br />

behandelt werden.<br />

Hier an dieser Stätte wurde ich zum ersten Mal im Leben gesellschaftlich<br />

auf einen Platz unter den Männern verwiesen, ja, bei einer<br />

Ordnung, die Mönche an die Spitze stellte, darunter die Nonnen,<br />

dann Laienbrüder und schließlich Laienschwestern, auf die unterste<br />

Stufe überhaupt. Nichts<strong>des</strong>toweniger war ich ungeheuer dankbar für<br />

diese Gelegenheit, Meditation zu üben, mochte es auch in so niedriger<br />

Position sein. Später sah ich ein, daß es nur mein Ich war, das mich<br />

dazu geführt hatte, meiner Position vor allem Beachtung zu schenken.<br />

Am Ende der fünf Wochen hatten sich meine Konzentration und<br />

Gesundheit beträchtlich gebessert, trotz oder wegen der heftigen<br />

Schmerzen und <strong>des</strong> Unbehagens, die ich aus freien Stücken auf mich<br />

genommen hatte. <strong>Die</strong> Umwendung <strong>des</strong> Bewußtseins von nach außen<br />

gewandter Aktivität zu innerer Kontemplation war bei weitem die<br />

lohnendste Aufgabe, der ich mich je gewidmet hatte, und fraglos die<br />

schwierigste. <strong>Die</strong> Außenwelt schien meinem frischen Blick strahlend<br />

schön, als ich erneut in sie hinaustrat, und ich war voll Heiterkeit<br />

und Gelassenheit, die, obgleich noch nicht tief, doch alles übertrafen,<br />

was ich je erlebt hatte. Ich wußte, daß ich den ersten Schritt in der<br />

Richtung getan hatte, in die ich gehen wollte.<br />

Japan und <strong>Zen</strong><br />

Gleich am Tag meiner Ankunft in Japan führte mich mein amerikanischer<br />

Freund zum Ryutaku-Ji, einem Rinzai-Kloster, das gleich einem<br />

40. <strong>Die</strong> <strong>des</strong> Hīnayâna, die etwas von denen <strong>des</strong> Mahâyâna abweichen. Siehe unter<br />

«Gebote» im 10. Kapitel.<br />

354


iesigen Vogel inmitten von Hainen hochragender Kiefern und Bambusbäume<br />

im Schatten <strong>des</strong> majestätischen Fujiyama sitzt und auf eine<br />

Hügelkette von atemberaubender Schönheit hinunterblickt. Dank<br />

der Großzügigkeit seines Meisters NAKAGAWA SÔEN Rôshi sollte das<br />

für die nächsten fünf Monate mein Heim sein. Unter seiner gütigen<br />

Führung lernte ich Ordnung und Regeln <strong>des</strong> Klosterlebens. Vom<br />

Gong gerufen, lernte ich zu der unglaublich frühen Stunde um 4 Uhr<br />

aufstehen, in mein Klostergewand schlüpfen, mein Gesicht mit kaltem<br />

Wasser abspülen und in der kalten Morgendämmerung mit den<br />

Mönchen zusammen meinen Platz in der Haupthalle zum frühmorgendlichen<br />

Sûtra-Rezitieren einnehmen. Das Intonieren der Sûtras<br />

wurde zu einem der reichsten Erlebnisse meines Lebens und inspirierte<br />

mich zutiefst.<br />

Langsam brach die Ungeduld meines Wesens zusammen, und ein<br />

gewisses Maß von Gelassenheit breitete sich in mir aus. <strong>Die</strong> langen<br />

Zeiten, die ich auf schmerzenden Knien, zitternd in der zugigen<br />

Halle darauf wartete, daß ich an die Reihe käme, zum sanzen vor<br />

dem Rôshi zu erscheinen, zwangen mich zu einer Geduld, deren ich<br />

mich nicht für fähig gehalten hatte. <strong>Die</strong> täglichen Stunden <strong>des</strong> Zazen<br />

und mehr noch die bei Sesshin waren ebenfalls unter Schmerzen<br />

gelernte Lektionen in Geduld und Ausdauer, die noch von den derben<br />

Schlägen <strong>des</strong> Kyosaku quer über meine gebeugten Schultern<br />

unterstrichen wurden. Es lag teilweise an dieser Rinzai-Methode, bei<br />

der der Stock von vorn her in Antwort auf eine bittende Gebärde<br />

gebraucht wurde, was mich später mit heftigem Widerwillen gegen<br />

den Kyosaku erfüllte, wenn man nach Sôtô-Art plötzlich und ohne<br />

Vorwarnung von rückwärts damit geschlagen wird, da man mit dem<br />

Gesicht der Wand zugekehrt sitzt. Zum Teil lag es auch an meinem<br />

westlichen Erbe, das mich gelehrt hatte, Hiebe als Schande für den<br />

Menschen anzusehen.<br />

Mein Entschluß, wieder zu heiraten, führte mich von diesem Rinzai-<br />

Kloster weg, und ich schloß mich der Gruppe an, zu der mein Mann<br />

gehörte, einer Sôtô-<strong>Zen</strong>-Gruppe <strong>des</strong> Taihei-Ji am Rande von Tokyo,<br />

geleitet von YASUTANI Rôshi. Da fast alle Anhänger dieses <strong>Zen</strong>-Meisters<br />

Laien beiderlei Geschlechts sind, werden die Sesshin weniger<br />

355


streng eingeteilt als in einem Kloster, damit es den Teilnehmern möglich<br />

ist, so viel vom Sesshin mitzumachen, wie ihre Berufe es erlauben.<br />

Demzufolge gibt es ein dauern<strong>des</strong> Kommen und Gehen, das anfangs<br />

höchst störend wirkt. <strong>Die</strong> strenge äußere Disziplin, die das Klosterleben<br />

aufzwingt, mußte hier von jedem selbst aufgebracht werden.<br />

Ich wurde bald gewahr, daß hinter der scheinbar so entspannten<br />

Atmosphäre beim Sesshin ein gespannter Ernst stand. <strong>Die</strong> beschränkten<br />

Räumlichkeiten dieses Tempels brachten mich mit den anderen<br />

in näheren Kontakt. Ich entdeckte, daß ich mich nicht mehr nachts<br />

zum Schlafen allein in meinen winzigen Raum zurückziehen konnte,<br />

sondern mich mit einer Polstermatte 41 begnügen mußte, die einfach<br />

in einem Zimmer, das ich mit vielen anderen teilte, ausgebreitet<br />

wurde. Für mich war es eine ziemlich unangenehme Überraschung,<br />

als ich nach der strengen, aber weiträumigen Atmosphäre <strong>des</strong> Klosters<br />

Zazen nun in diesen (für mich) so beengten Verhältnissen üben<br />

mußte. Nach ein paar Sesshin in diesem Tempel sah ich jedoch ein,<br />

daß das Sitzen mit Menschen, die gleich mir weder Nonnen, noch<br />

Mönche, noch Priester waren, wechselseitig anregend und inspirierend<br />

wirkte.<br />

Das Rôhatsu-Sesshin im Taihei-Ji näherte sich, und meine Gefühle<br />

hinsichtlich meiner Beteiligung waren geteilt. Ich hatte verschiedene<br />

Berichte über dieses alljährliche Sesshin mitten im Winter von Leuten<br />

gehört, die es in Klöstern erlebt hatten. Es war als das schwerste<br />

<strong>des</strong> ganzen Jahres bekannt, ein dauernder Kampf gegen Kälte und<br />

Müdigkeit. Ich hatte tiefe Furcht vor großer Kälte. Durch das Zittern<br />

würde ich mich körperlich derart verkrampfen, daß ich meine<br />

Sitzhaltung nicht durchhalten könnte. Und unter großer Müdigkeit<br />

wurde mir ganz schwindlig. <strong>Die</strong>se beiden sah ich als meine wirklichen<br />

Feinde an. <strong>Die</strong> Tatsache jedoch, daß dieses Sesshin die Erleuchtung<br />

<strong>des</strong> Buddha hervorhebt, ein Ereignis, das gerade auf den Tag<br />

vor meinem Geburtstag fällt, bewegte mich tief. Zuletzt beschloß<br />

ich, doch hinzugehen und all meine Kraft zusammenzunehmen. Das<br />

4l. <strong>Die</strong>se «futon», Schlafmatten, entsprechen ungefähr unseren wattierten Matratzenauflagen<br />

in Aussehen und Zweck, bieten die Tatami <strong>des</strong> Fußbodens doch<br />

bereits die eigentliche «Matratze», d. Ü.<br />

356


war mein sechstes Sesshin in Japan. Zum ersten Mal hatte ich die<br />

feste Überzeugung, daß es mir durchaus möglich war, bei dem bevorstehenden<br />

Sesshin mein Wahres Selbst schauend zu erkennen. Ich<br />

spürte auch, daß ich das bitter nötig hatte. Wochenlang war ich wieder<br />

von der alten Rastlosigkeit und Angst erfüllt gewesen, gegen die<br />

ich so sehr angekämpft hatte, als ich in den Vereinigten Staaten war.<br />

Hinzu kam, daß ich die gedanklichen und gefühlsmäßigen inneren<br />

Brandungen, die bisher eine so beherrschende Rolle in meinem Leben<br />

gespielt hatten, gründlich satt hatte. Ich hatte jetzt das Gefühl, daß<br />

ich mir einzig durch Selbst-Wesensschau einen Weg aus diesem Unbehagen<br />

bahnen konnte.<br />

Ich packte meine wärmste Kleidung ein, und als ich den Schlüssel im<br />

Schloß umdrehte, überkam mich ein tiefes Glücksgefühl. Im innersten<br />

Herzen wußte ich, daß der Mensch, der diese Tür nach dem<br />

Sesshin aufschließen würde, nicht mehr derselbe sein würde, der sie<br />

jetzt verschloß.<br />

Den ganzen ersten Tag <strong>des</strong> Sesshin über war es mir buchstäblich<br />

unmöglich, gleichmäßig festen Sinnes zu sein. Das Kommen und<br />

Gehen der anderen Teilnehmer und auch der Lärm und die Verwirrung,<br />

die durch die Anwendung <strong>des</strong> Kyosaku hervorgerufen wurden,<br />

verursachten dauernde Störungen. Als ich dem Rôshi klagte, wie<br />

viel besser mein Zazen gewesen war, als ich allein zu Hause saß,<br />

gebot er mir, den anderen keine Beachtung zu schenken, und wies<br />

darauf hin, wie wichtig es sei, unter den verwirrendsten Umständen<br />

meditieren zu lernen. Ich wurde jedoch das ganze Sesshin über nie<br />

mit dem Kyosaku geschlagen. Es hatte mich bei früheren Sesshin derart<br />

abgelenkt, daß der Rôshi Anweisung gegeben hatte, mich nicht<br />

zu schlagen.<br />

Gegen Ende <strong>des</strong> zweiten Tages war meine Konzentration sicherer<br />

geworden. Ich hatte nicht mehr so große Schmerzen in den Beinen,<br />

und die Kälte war dank all der Kleidung, die ich mitgenommen<br />

hatte, erträglich. Es gab jedoch ein Problem, das für mich mehr und<br />

mehr an Bedeutung gewann. Man hatte mir wiederholt gesagt, ich<br />

solle meine Aufmerksamkeit in meine Bauchhöhle, genauer gesagt,<br />

auf die Stelle handbreit unter dem Nabel richten. Je mehr ich das<br />

357


versuchte, <strong>des</strong>to weniger verstand ich, was es mit dieser Bauchhöhle<br />

für eine Bewandtnis habe, was diese Stelle so bedeutsam macht. Der<br />

Rôshi hatte sie <strong>Zen</strong>trum oder Brennpunkt genannt, aber das hatte<br />

für mich nur philosophische Bedeutung. Nun sollte ich also mein<br />

Bewußtsein in diesen «philosophischen Punkt» verlagern und dabei<br />

andauernd Mu wiederholen. Ich konnte zwischen den Bauchorganen<br />

und dem Vorgang der <strong>Zen</strong>-Meditation und noch mehr dem der<br />

Erleuchtung keine Beziehung finden. Der Rôshi hatte mir allerdings<br />

das Kôan Mu zugewiesen, nachdem er sich von meinem ernsthaften<br />

Verlangen nach Selbst-Wesensschau überzeugt hatte, und mich über<br />

seinen Zweck und seine Anwendung unterrichtet. In<strong>des</strong>sen war ich<br />

noch immer in Verwirrung darüber, wie ich denn Mu sagen sollte.<br />

Zuvor hatte ich versucht, es als das Gleiche wie das indische Mantra<br />

Om anzusehen, und mich bemüht, mit seinen Vibrationen eins<br />

zu werden, ohne danach zu fragen, was Mu sei. Jetzt begann ich, mir<br />

Mu als den Diamanten am Ende eines Bohrers vorzustellen, der sich<br />

durch meine Bewußtseinsschichten hindurcharbeitet, die ich mir wie<br />

geologische Schichten vorstellte und durch die ich schließlich zu<br />

etwas vordringen würde, von dem ich nicht wußte, was es war.<br />

Am Morgen <strong>des</strong> dritten Tages konzentrierte ich mich wirklich, von<br />

der Bohrer-Analogie geleitet. Ich konnte jetzt mein Bewußtsein auf<br />

etwas in meinem Unterleib richten, ohne jedoch genau zu wissen,<br />

wohin; mein Sitzen bekam eine felsenfeste Stabilität. Mitten am Vormittag,<br />

gleich nach den Darlegungen <strong>des</strong> Rôshi, kam ich in ziemlich<br />

tiefe Konzentration hinein, steigerte die Kraft eines jeden Atemzuges,<br />

der mit der Wiederholung von Mu synchronisiert war. Ich<br />

erwartete, daß diese gesteigerte Anstrengung meine Konzentration<br />

noch mehr steigern würde. Nach etwa fünfzehn Minuten brachte die<br />

Kombination von gewaltsamem Atmen und dem Wiederholen von<br />

Mu ein seltsames Prickeln in meinen Handgelenken hervor, das sich<br />

allmählich über Hände und Finger und auch nach oben zu den Ellbogen<br />

hin ausbreitete. Als diese Empfindung ziemlich stark geworden<br />

war, erkannte ich sie als das wieder, was ich bei verschiedenen Anlässen<br />

in meinem Leben unter schwerem Schock erlebt hatte. Ich sagte<br />

mir, daß ich vielleicht Kenshô erreichen würde, wenn ich die Kraft<br />

358


von Atmung und Konzentration noch mehr steigern würde. Das tat<br />

ich, erreichte aber damit nur eine Verschlechterung der Lage und<br />

kam schließlich einer Ohnmacht nahe. Kurz ehe dieser Zustand einsetzte,<br />

wurde ich von tiefstem, qualvollstem Gram ergriffen, der heftige<br />

Schüttelkrämpfe und Zähneknirschen mit sich brachte. Nervöse<br />

Anfälle schüttelten mich wieder und wieder. Ich weinte bitterlich<br />

und wand mich, als ob ein reißender elektrischer Strom mich durchbrandete.<br />

Dann fing ich an, kräftig zu schwitzen. Es kam mir vor, als<br />

risse das Leid <strong>des</strong> gesamten Weltalls an meinem Bauch und als würde<br />

ich in einen Strudel unerträglicher Qualen eingesaugt. Etwas später -<br />

ich weiß nicht genau, wann - befahl mir mein Mann, wie ich mich<br />

erinnere, daß ich mit Zazen aufhören und mich hinlegen solle, um<br />

mich auszuruhen. Ich brach auf meinem Kissen zusammen und begann<br />

zu zittern. Meine Hände waren nun ganz steif; weder meine Finger,<br />

die in seltsamen Winkeln abstanden, noch meine Ellbogen ließen sich<br />

abbiegen. Mir schwirrte der Kopf, und ich lag erschöpft da. Langsam<br />

entspannten sich die Nerven. Innerhalb einer halben Stunde war<br />

alles verebbt, ich kam wieder zu Kräften und war in jeder Hinsicht<br />

bereit, Zazen wieder aufzunehmen.<br />

Beim Dokusan am Nachmittag fragte mich der Rôshi sofort, was<br />

geschehen sei. Als ich es ihm erzählte, sagte er mir, daß es ein Makyô<br />

war und daß ich weiter Zazen üben solle. Er kündigte mir an, daß<br />

sich von jetzt ab solche Dinge öfter ereignen könnten; sie seien ein<br />

Zeichen dafür, daß sich meine Meditation vertiefe. Er unterwies<br />

mich dann, Mu an der Stelle <strong>des</strong> Sonnengeflechts zu suchen. Bei dem<br />

Wort «Sonnengeflecht» schnappte plötzlich etwas in mir ein und<br />

alles stand zum ersten Mal an seinem Platz - ich wußte genau, woran<br />

ich war und was ich zu tun hatte.<br />

Als ich am nächsten Morgen, dem vierten Tag, um vier Uhr früh bei<br />

dem Glockenklang aufwachte, merkte ich, daß ich mich nicht einmal<br />

im Schlaf von Mu getrennt hatte, was eben das war, worauf der<br />

Rôshi dauernd gedrängt hatte. Bei der ersten Sitzrunde vor dem<br />

Morgen-Dokusan zeigten sich wieder die Symptome <strong>des</strong> Vortages.<br />

<strong>Die</strong>smal sagte ich mir, daß es nur ein Makyô sei, und machte einfach<br />

weiter, entschlossen, den Sturm durchzustehen. Allmählich jedoch<br />

359


eitete sich die Lähmung auch über meine Beine aus, und ich konnte<br />

gerade noch meinen Mann irgendwo in der Ferne sagen hören, daß<br />

ich in Trance sei. Ich meinte, daß mein Körper gleich anfangen<br />

würde zu schweben, machte aber immer noch mit Zazen weiter.<br />

Dann fiel ich hilflos um und lag still. Als ich mich wohl genug<br />

fühlte, um wieder zu beginnen, war das Morgen-Dokusan vorüber.<br />

Allmählich überlegte ich, daß ich irgend etwas falsch machen müsse,<br />

meine Kräfte in irgendeiner Weise falsch lenkte. In der Ruhepause<br />

nach den Unterweisungen wurde mir plötzlich klar, daß jenes <strong>Zen</strong>trum,<br />

auf das ich mein Bewußtsein richten sollte, nur eine mir seit<br />

langem wohlbekannte Stelle sein könne. Von früher Kindheit an war<br />

es jener Bereich, auf den ich mich stets innerlich zurückgezogen<br />

hatte, um zu überlegen. Ich hatte mir eine ganze Reihe bildhafter<br />

Vorstellungen darum gemacht. Wann immer ich die «Wahrheit»<br />

einer Situation begreifen wollte, mußte ich mich dieser besonderen<br />

Stelle zuwenden, um über solche Probleme nachzusinnen, die man in<br />

kindlicher Geistesverfassung, frei von Vorurteilen, angehen mußte.<br />

Ich hielt dabei einfach mein Bewußtsein dort, verhielt mich still, fast<br />

ohne zu atmen, bis etwas verschmolz. Ich glaubte, das müsse die<br />

Stelle sein, die der Rôshi meinte. Ich machte sie intuitiv ausfindig<br />

und zentrierte Mu dort mit all meiner Kraft. Nach etwa einer halben<br />

Stunde bildete sich ein warmer Fleck in meinem Unterleib, er griff<br />

langsam auf das Rückgrat über und kroch allmählich die Wirbelsäule<br />

hinauf. Das war es, was ich angestrebt hatte.<br />

Sehr erhoben berichtete ich beim nächsten Dokusan dem Rôshi, daß<br />

ich die Stelle gefunden hätte, und beschrieb ihm ihre Wirkungsweise,<br />

wie ich sie stets erlebt hatte. «Gut!» rief er aus. «Jetzt also weiter!»<br />

Als ich auf meinen Platz zurückgekehrt war, warf ich mich mit solcher<br />

Kraft auf Zazen, daß nach kurzem die Lähmung sich wieder<br />

zeigte - der bisher heftigste Anfall. Ich konnte mich überhaupt nicht<br />

bewegen; mein Mann mußte mir beim Hinlegen helfen, und er deckte<br />

mich mit Decken zu. Während ich dort lag und mich erholte, dachte<br />

ich: Mein Körper kann offensichtlich die Anstrengungen, die ich ihm<br />

zumute, nicht aushaken. Wenn ich Einblick in Mu gewinnen soll,<br />

muß es allein auf geistige Weise geschehen, und ich muß meine Kör-<br />

360


per- und Nervenkräfte, die für den Endspurt aufgespart werden<br />

müssen, irgendwie zurückhalten.<br />

Als ich mich diesmal wieder erholt hatte, versuchte ich, mich zu konzentrieren,<br />

ohne Mu laut werden zu lassen oder zu denken, fand das<br />

aber sehr schwierig. Praktisch bedeutete das die Trennung von Konzentration<br />

und Atemrhythmus. Es gelang mir jedoch nach wiederholten<br />

Versuchen, und ich konnte mein Bewußtsein gleichmäßig auf<br />

meinen Bauch richten, so als ob ich etwas höchst aufmerksam<br />

anstarrte, wobei ich den Atem jeden Rhythmus nehmen ließ, der ihm<br />

beliebte. Je mehr ich mich mit dem in den Bauch verlagerten Bewußtsein<br />

konzentrierte, <strong>des</strong>to mehr Gedanken kamen auf, gleich Wolken.<br />

Aber sie waren nicht begrifflicher Art. Sie waren wie Trittsteine, die<br />

mir die Richtung wiesen. Ich sprang von einem zum anderen und<br />

bewegte mich solchermaßen unaufhörlich einen gut gekennzeichneten<br />

Pfad entlang, dem zu folgen mir meine Intuition gebot. In<strong>des</strong>sen<br />

meinte ich, daß die Gedanken von einem Punkt an aufhören müßten,<br />

so daß mein Sinn vor Kenshô ganz leer würde, wie man mich glauben<br />

gelehrt hatte. Das Vorhandensein dieser Gedanken zeigte mir<br />

also, daß ich mich noch weit vom Ziel befinden müsse.<br />

Um so viel Kraft als nur möglich aufzusparen, entspannte ich meine<br />

Haltung und zog die Decke, die meinen Körper lose umhüllte, über<br />

den Kopf, um mich zu wärmen. Ich ließ meine Hände schlaff im<br />

Schoß ruhen und löste meine Beine zu einem lockeren Schneidersitz.<br />

Selbst das bißchen Energie, das dadurch dem Geist zusätzlich zur<br />

Verfügung stand, erhöhte die Intensität meiner Konzentration.<br />

Beim Dokusan am Morgen <strong>des</strong> fünften Tages sagte mir der Rôshi,<br />

daß ich an einem entscheidenden Punkt angekommen sei und daß<br />

ich mich keinen Augenblick von Mu trennen dürfe. Da ich fürchtete,<br />

daß die noch übrigen zwei Tage und die eine Nacht nicht mehr genügend<br />

Zeit böten, klammerte ich mich an Mu wie eine Bulldogge an<br />

einen Knochen - so verbissen, daß Glocken und andere Zeichen mir<br />

undeutlich und unwirklich wurden. Ich konnte mich nicht mehr erinnern,<br />

was wir tun sollten, wenn diese Zeichen erklangen, und mußte<br />

dauernd meinen Mann fragen, was sie bedeuteten. Um bei Kräften<br />

zu bleiben, aß ich tüchtig bei den Mahlzeiten und nahm alle Ruhe-<br />

361


pausen wahr, die der Sesshin-Stundenplan nur erlaubte. Ich kam mir<br />

vor wie ein Kind, das auf eine seltsame neue Reise geht, Schritt für<br />

Schritt vom Rôshi geführt.<br />

Als ich an jenem Nachmittag zum Bad ging, dachte ich unterwegs<br />

auf der Straße über Mu nach. Allmählich wurde ich ärgerlich. Was<br />

ist dieses Mu überhaupt? fragte ich mich. Was in Himmels Namen<br />

kann es nur sein? Es ist einfach lächerlich! Ich bin sicher, daß es so<br />

etwas wie Mu gar nicht gibt. Mu ist überhaupt nichts! rief ich erbittert<br />

aus. Kaum hatte ich gesagt, daß es nichts sei, da erinnerte ich<br />

mich der Identität der Gegensätze. Natürlich - Mu ist gleichermaßen<br />

alles! Während ich badete, dachte ich: Wenn Mu alles ist, so ist es<br />

auch das Badewasser, so ist es die Seife, so ist es die Badenden. <strong>Die</strong>se<br />

Einsicht gab meinem Sitzen einen neuen Impuls, als ich es wieder<br />

aufnahm.<br />

Der Rôshi pflegte jeden Morgen um halb fünf die Sitzenden zu inspizieren<br />

und zu ihnen zu sprechen. Er benutzte nun das Gleichnis einer<br />

Schlacht, in der die Mächte der Unwissenheit und der Erleuchtung<br />

gegeneinander antraten, und er drängte uns, den «Feind» mit größerer<br />

Gewalt «anzugreifen». Jetzt sagte er: «Ihr habt das Stadium <strong>des</strong><br />

Nahkampfs erreicht. Ihr könnt jegliche Mittel und jegliche Waffen<br />

gebrauchen!» Bei diesen Worten fand ich mich urplötzlich in einem<br />

tiefen Dschungel, wie ich auf der Suche nach meinem «Feind» durch<br />

die Dunkelheit <strong>des</strong> dichten Laubes brach, wobei mir ein großes Messer<br />

am Gürtel schwang. <strong>Die</strong>ses Bild kam mir wieder und wieder, und<br />

ich nahm an, daß ich diesen «Feind», dem ich jetzt zu Leibe rückte,<br />

um ihn endgültig zu beseitigen, irgendwie mit Mu überwältigen<br />

müßte.<br />

Am Nachmittag <strong>des</strong> sechsten Tages war ich in meiner Vorstellung<br />

wieder dabei, mir einen Pfad durch den Dschungel zu schlagen, brabbelte<br />

dabei vor mich hin und spähte suchend nach einer Öffnung in<br />

der Dunkelheit aus, wobei ich auf die «Flut von Licht» wartete, die<br />

besagen würde, daß ich am Ende meines Pfa<strong>des</strong> angekommen sei.<br />

Plötzlich wurde mir mit einem Ausbruch inneren Gelächters klar,<br />

daß das einzige Mittel, diesen «Feind» zu überwältigen, darin<br />

bestand, ihn, wenn er erschiene, zu umarmen. Kaum hatte ich das<br />

362


gedacht, als sich dieser «Feind» auch schon vor mir materialisierte,<br />

in das Kostüm eines römischen <strong>Zen</strong>turio gekleidet, sein kurzes<br />

Schwert und den Schild zum Angriff erhoben. Ich stürzte auf ihn<br />

zu und schloß ihn voller Freude in die Arme. Er zerschmolz zu<br />

nichts. In diesem Augenblick sah ich das strahlende Licht durch die<br />

Düsternis <strong>des</strong> Dschungels scheinen. Es weitete sich und weitete sich.<br />

Ich stand da und starrte darauf hin, und in seinen Mittelpunkt<br />

sprangen die Worte «Mu bin ich!». Ich stutzte - sogar der Atem<br />

setzte mir aus. War das denn möglich? Ja, so war es! Mu ist ich, und<br />

ich bin Mu! Eine wahre Sturmflut von Freude und Erleichterung<br />

durchbrandete mich. Am Ende der nächsten Gehrunde flüsterte ich<br />

meinem Mann zu: «Wieviel muß ich von Mu begreifen, wenn ich Mu<br />

begreife?» Er sah mich scharf an und fragte: «Begreifst du es wirklich?»<br />

«Ich möchte, daß der Rôshi mich beim nächsten Dokusan<br />

prüft», sagte ich. Das nächste Dokusan war erst in fünf Stunden. Ich<br />

war ungeduldig zu erfahren, ob der Rôshi mein Verständnis bestätigen<br />

würde. In meinem tiefsten Herzen war ich sicher, daß ich wußte,<br />

was Mu war, und ich sagte mir mit Entschiedenheit, daß ich <strong>Zen</strong> für<br />

immer verlassen würde, wenn meine Antwort nicht angenommen<br />

würde. Wenn ich unrecht hatte, dann hatte <strong>Zen</strong> unrecht. Trotz meiner<br />

Gewißheit meinte ich jedoch, daß ich vielleicht auf die Prüfungsfragen<br />

<strong>des</strong> Rôshi nicht in angemessener <strong>Zen</strong>-Art reagieren könnte, da<br />

ich mit den <strong>Zen</strong>-Ausdrücken noch nicht vertraut war.<br />

Schließlich kam Dokusan heran, und ich bat den Rôshi, mich zu<br />

prüfen. Ich erwartete, daß er mich nur fragen würde, was Mu sein.<br />

Statt <strong>des</strong>sen fragte er mich jedoch: «Welche Länge hat Mu? Wie alt<br />

ist Mu?» Ich dachte, dies seien typische Trickfragen <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> und saß<br />

schweigend und verwirrt da. Der Rôshi beobachtete mich scharf und<br />

sagte mir dann, daß ich Mu deutlicher schauen müsse. Ich solle in<br />

der noch übrigen Zeit Zazen mit allergrößter Intensität üben.<br />

Als ich auf meinen Platz zurückgekehrt war, warf ich mich abermals<br />

mit jeder Faser Kraft auf Zazen. Jetzt gab es keine Gedanken mehr<br />

- ich hatte sie alle erschöpft. Ich saß und saß Stunde um Stunde und<br />

dachte einzig mit gesammeltem Geist Mu. Allmählich bildete sich<br />

wieder die Hitze in meiner Wirbelsäule. Ein heißer Fleck erschien<br />

363


zwischen meinen Augenbrauen und vibrierte heftig. Ich meinte, daß<br />

sicher etwas geschehen müsse, zum allermin<strong>des</strong>ten eine innere Explosion.<br />

Nichts geschah, abgesehen davon, daß ich immer wiederkehrende<br />

Gesichte meiner selbst hatte, wie ich mit verschränkten Beinen<br />

in kahler Berglandschaft meditierend dasaß, oder mich unter sengender<br />

Sonne verbissen durch überfüllte Städte dahinschleppte. Beim<br />

nächsten Dokusan berichtete ich dem Rôshi über diese Gesichte und<br />

Empfindungen. Er sagte mir, daß man das Vibrationszentrum, das<br />

sich derzeit zwischen den Augen befände, gut dadurch zum Sonnengeflecht<br />

zurückbringen könne, daß man ihm einen Pfad bereite, indem<br />

man sich vorstelle, daß etwas Honigähnliches, Süßes und Klebriges<br />

heruntertröpfle. Weiterhin sagte er mir, daß ich mich weder um<br />

diese Gesichte, noch um die Hitzewolken kümmern solle, da beide<br />

das Ergebnis der gewaltigen Anstrengungen seien, die ich machte.<br />

Das Wichtigste sei, sich nur gleichmäßig auf Mu zu konzentrieren.<br />

Nach ein paar Versuchen gelang es mir, dieses <strong>Zen</strong>trum ins Sonnengeflecht<br />

zu verlagern und so fortzufahren, wie er mir befohlen hatte.<br />

Am nächsten Tage, dem siebenten, erschien ich wieder vor dem Rôshi<br />

zum Dokusan. Von den sechs oder sieben Stunden unaufhörlichen<br />

Zazens war ich körperlich derart erschöpft, daß ich kaum sprechen<br />

konnte. Unmerklich war mein Geist in einen Zustand überirdischer<br />

Klarheit hinübergeglitten. Ich wußte, und ich wußte, ich wußte.<br />

Sanft begann er, mir Fragen zu stellen: «Wie alt ist Gott? Geben Sie<br />

mir Mu! Zeigen Sie mir Mu auf dem Bahnhof!» Jetzt war mein innerer<br />

Blick vollkommen scharf eingestellt und ich reagierte ohne Zögern<br />

auf all seine Prüfungsfragen. Daraufhin lachten der Rôshi, mein<br />

Mann, der dolmetschte, und ich alle fröhlich auf, und ich rief aus:<br />

«Das Ganze ist so einfach!» Dann sagte mir der Rôshi, daß von nun<br />

an meine Übungsweise an weiteren Kôans anders sein würde. Anstatt<br />

wie bisher bei Mu zu versuchen, mit dem Kôan eins zu werden, sollte<br />

ich mir zutiefst die Frage stellen: «Was ist der geistige Gehalt dieses<br />

Kôans?» Wenn mir eine Antwort käme, sollte ich sie so, wie sie war,<br />

auf die hohe Kante legen und Shikantaza üben, bis mir das nächste<br />

Dokusan Gelegenheit geben würde, mein Verständnis zu demonstrieren.<br />

364


Zu steif und müde, um noch weiter zu sitzen, schlüpfte ich leise aus<br />

der Haupthalle und kehrte zum Badhaus für ein weiteres Bad zurück.<br />

Nie zuvor war die Straße so Straßenhaft, nie die Geschäfte solch<br />

vollkommene Geschäfte, noch der Winterhimmel solch unbeschreiblich<br />

gestirnter Himmel gewesen. Freude sprudelte gleich einem frischen<br />

Quell in mir auf.<br />

<strong>Die</strong> folgenden Tage und Wochen waren die zutiefst glücklichen und<br />

heitersten meines Lebens. So etwas wie ein «Problem» gab es nicht.<br />

<strong>Die</strong> Dinge wurden entweder getan oder nicht getan, jedenfalls aber<br />

gab es weder Sorge noch Verwirrung. Frühere Beziehungen zu Menschen,<br />

die mich tief beunruhigt hatten, sah ich nun mit vollkommenem<br />

Verständnis. Zum ersten Mal im Leben konnte ich mich gleich<br />

der Luft in alle Richtungen bewegen, endlich frei von dem Ich, das<br />

mir stets solch qualvolle Fessel gewesen war.<br />

Sechs Jahre später<br />

An einem Frühlingstag, als ich im Garten arbeitete, schien die Luft in<br />

seltsamer Weise zu beben, als ob sich die übliche Abfolge der Zeit in<br />

eine neue Dimension geöffnet hätte, und mir wurde klar, daß irgend<br />

etwas Widriges geschehen würde - wenn nicht am gleichen Tage, so<br />

doch bald. In der Hoffnung, mich etwas darauf vorzubereiten, verdoppelte<br />

ich meine regelmäßigen Zazen-Übungen und las bis spät in<br />

die Nacht hinein buddhistische Bücher.<br />

Ein paar Abende später saß ich, nachdem ich Das Tibetanische<br />

Totenbuch 42 sorgfältig durchgesehen und danach gebadet hatte, vor<br />

einem Buddhabildnis und lauschte still bei Kerzenschein dem langsamen<br />

Satz von Beethovens A-Dur-Quartett, dem unergründlichen<br />

Ausdruck menschlicher Selbstentäußerung. Dann ging ich zu Bett.<br />

Am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück war mir plötzlich,<br />

als ob ich vom Blitzschlag getroffen sei, und ich fing an zu zittern.<br />

Urplötzlich flammte das ganze Trauma meiner schwierigen Geburt<br />

in meinem Bewußtsein auf. Das öffnete gleich einem Schlüssel dunkle<br />

Räume geheimer Ressentiments und verborgener Ängste, die wie Gift<br />

42. Rascher Verlag, Zürich 1953, Neuauflage 1969.<br />

365


aus mir herausflossen. Ich brach in Tränen aus und fühlte mich so<br />

geschwächt, daß ich mich hinlegen mußte. Dabei hatte ich jedoch ein<br />

tiefes Glücksgefühl.<br />

Langsam veränderte sich mein Blickpunkt: «Ich bin tot! Es gibt<br />

nichts, was man ich nennen kann! Niemals gab es mich! Das ist eine<br />

Allegorie, ein verstan<strong>des</strong>mäßiges Abbild, ein Entwurf, nach dem nie<br />

etwas gebildet wurde.» Mir wurde schwindlig vor Entzücken. Feste<br />

Gegenstände erschienen mir als Schatten, und alles, worauf mein<br />

Blick fiel, war strahlend schön.<br />

<strong>Die</strong>se Worte können das, was sich mir in den darauffolgenden Tagen<br />

lebhaft offenbarte, nur andeuten:<br />

1. <strong>Die</strong> Welt, wie sie mit den Sinnen aufgefaßt wird, ist die wenigst<br />

wahre (im Sinne der Vollständigkeit), die wenigst dynamische<br />

(im Sinne der ewigen Bewegung) und die wenigst wichtige in<br />

einer ausgedehnten «Geometrie <strong>des</strong> Daseins», die von unaussprechlicher<br />

Tiefgründigkeit ist, deren Vibrationsgeschwindigkeit,<br />

Intensität und Feinheit sich nicht in Worte fassen läßt.<br />

2. Wörter sind plump und primitiv, fast nutzlos bei dem Versuch,<br />

die wahren, viel-dimensionalen Wirkungen eines unbeschreiblich<br />

ausgedehnten Komplexes dynamischer Kraft anzudeuten; man<br />

muß seine normale Bewußtseinsebene verlassen, um damit in<br />

Berührung zu kommen.<br />

3. <strong>Die</strong> geringste Verrichtung, wie essen oder sich-den-Arm-kratzen,<br />

ist durchaus keine einfache Handlung. Sie ist lediglich ein sichtbares<br />

Moment im Netzwerk von Ursache und Wirkung, das nach<br />

vorn ins Ungewußte und rückwärts in eine Unendlichkeit <strong>des</strong><br />

Schweigens reicht, wo individuelles Bewußtsein nicht eindringen<br />

kann. Es gibt wahrhaftig nichts zu erkennen, nichts, was erkannt<br />

werden kann.<br />

4. <strong>Die</strong> Körper-Welt ist eine Unendlichkeit von Bewegung, von Zeit-<br />

Existenz. Gleichzeitig aber ist sie eine Unendlichkeit <strong>des</strong> Schweigens<br />

und der Leere. Je<strong>des</strong> Ding also ist transparent. Ein je<strong>des</strong> hat<br />

seinen eigenen besonderen inneren Charakter, sein eigenes Karma<br />

<strong>des</strong> «Lebens in Zeit». Gleichzeitig aber gibt es keine Stelle, wo<br />

Leerheit herrscht, wo ein Ding nicht ins andere überginge.<br />

366


5. Das kleinste Anzeichen einer Wetterschwankung, ein sanfter<br />

Regen oder eine milde Brise rühren mich an als - was soll ich<br />

sagen? - Wunder unvergleichlicher Wunderbarkeit, Schönheit<br />

und Güte. Es gibt nichts zu tun; einfach nur da zu sein, ist eine<br />

erhaben vollständige Handlung.<br />

6. Wenn ich in Gesichter blicke, sehe ich etwas von der langen Kette<br />

ihrer vergangenen Existenzen und manchmal etwas von der<br />

Zukunft. <strong>Die</strong> vergangenen Daseinsformen treten hinter der Gesichtsoberfläche<br />

wie immer feinere Gewebe zurück, sind ihr aber<br />

gleichzeitig eingeprägt.<br />

7. Wenn ich allein in Zurückgezogenheit bin, kann ich hören, wie<br />

ein «Gesang» von jedem Ding ausgeht, werde <strong>des</strong> inneren «Tanzes»<br />

eines jeglichen inne, vom fest-massiven Stein bis zur leicht<br />

beweglichen Wolke. Alles und je<strong>des</strong> hat seinen eigenen Gesang;<br />

selbst Stimmungen, Gedanken und Gefühle haben ihre zarteren<br />

Gesänge. Doch unterhalb dieser Vielfalt vermischen sie sich zu<br />

einer unaussprechlich gewaltigen Einheit.<br />

8. Ich empfinde eine Liebe, die man, da sie ohne Objekt ist, am<br />

besten Liebevollheit nennen kann. Ja, sie ist umso vollkommener<br />

sie selbst, wenn sie ohne Objekt ist. Aber meine alten Gefühlsreaktionen<br />

geraten noch grob in Konflikt mit dem Ausdruck dieser<br />

äußerst sanften und mühelosen Liebevollheit.<br />

9. Ich spüre ein Bewußtsein, das weder ich selbst bin, noch nicht ich<br />

selbst bin, das mich beschützt und mich in Richtungen führt, die<br />

meinem Wachstum und meiner Reife hilfreich sind und mich von<br />

dem, was diesem Wachtstum entgegensteht, forttreibt. Es ist wie<br />

ein Strom, in den ich eingeströmt bin und der mich freudig über<br />

mich selbst hinausträgt.<br />

367


Sechstes Kapitel<br />

Yaeko Iwasaki<br />

Briefe der Erleuchtung<br />

an Harada Rôshi<br />

und seine Anmerkungen<br />

Einführung<br />

In der Geschichte <strong>des</strong> heutigen japanischen <strong>Zen</strong>-Buddhismus leuchtet<br />

kein Name mit größerem Glanz als jener eines fünfundzwanzigjährigen<br />

Mädchens, YAEKO IWASAKI. Sie fand nach etwa fünf Jahren<br />

Zazen, während derer sie zum großen Teil auf dem Krankenlager<br />

übte, Erleuchtung und vertiefte dann in den folgenden fünf Tagen<br />

diese geistige Schau in einem Maße, wie es im heutigen Japan selten<br />

ist. Eine Woche später, in Erfüllung ihrer eigenen Vorahnung, war<br />

sie tot. In Indien würde sie zweifellos feierlich als Heilige erklärt<br />

worden sein und von Tausenden verehrt werden. In Japan ist die<br />

Geschichte ihres furchtlosen Lebens und seiner krönenden Vollendung<br />

kaum außerhalb der <strong>Zen</strong>-Kreise bekannt.<br />

Hier sind die Briefe, die sie im Dezember 1935 an ihren Lehrer, den<br />

damals fünfundsechzigjährigen <strong>Zen</strong>-Meister DAIUN SOGAKU HARADA,<br />

schrieb. Sie geben das wieder, was sie in jenen epischen fünf Tagen<br />

gewahrte, fühlte und dachte, und außerdem die treffenden Anmerkungen<br />

<strong>des</strong> Rôshi. Unserer Meinung nach gibt es in der religiösen<br />

Literatur nur wenig persönliche Dokumente, die so deutlich und<br />

beredt wie diese Briefe einen zutiefst erleuchteten Geist offenbaren.<br />

Obgleich es ihrer nur wenige und verhältnismäßig kurze sind, übermitteln<br />

sie doch die eigentliche Essenz <strong>des</strong> lebendigen Buddhismus.<br />

Sie sind voller Paradoxe und quellen über von Dankbarkeit - Eigentümlichkeiten,<br />

die unfehlbar tiefe geistige Erlebnisse von seichteren<br />

unterscheiden. Und ein Faden einzigartiger Lauterkeit zieht sich<br />

369


durch sie hindurch, ein brennen<strong>des</strong> Verlangen, volle Erleuchtung zu<br />

erlangen - nicht um ihres eigenen Heils willen, sondern, auf daß ihre<br />

Mitmenschen Selbst-Erfüllung und dauernden inneren Frieden durch<br />

ihre Anstrengungen, den Weg <strong>des</strong> Buddha bekannt zu machen, fänden.<br />

Ihr «vorzeitiger» Tod - vorzeitig nur in dem Sinn, wie Menschen<br />

gemeinhin eine Lebensspanne einschätzen - hat ihre karmische<br />

Bestimmung, den Dharma bekannt zu machen, nicht beendet. Womöglich<br />

ist sie auf dem besten Wege, ihm neue Impulse zu geben, denn<br />

nach HARADA Rôshis Worten ist «ihr mutiges Leben derart inspirierend<br />

und sein Einfluß so weitreichend, daß es mit Sicherheit den<br />

Buddhismus fördern und der Menschheit zum Wohl dienen wird.»<br />

YAEKO IWASAKI hatte als Tochter <strong>des</strong> Gründers <strong>des</strong> reichen Mitsubishi<br />

Industrie-Verban<strong>des</strong> alles, was man mit Geld kaufen konnte<br />

- nur keine Gesundheit. Mit zwei Jahren wurde sie so schwer krank,<br />

daß sie beinahe starb, und durch die daraus resultierende Schwächung<br />

der Herzklappen blieb ihr Körper für den Rest ihres kurzen<br />

Lebens gebrechlich-zart. Da sie den Anforderungen <strong>des</strong> täglichen<br />

Schulbesuchs nicht gewachsen war, wurde sie bis fast zum elften Jahr<br />

zu Hause unterrichtet und dann, da sie etwas kräftiger geworden<br />

war, auf einer Schule, die etwa unserem Lyzeum 1 entspricht, eingeschult.<br />

Obgleich sie nicht an allen Vorgängen <strong>des</strong> Schullebens teilnehmen<br />

konnte, schloß sie das Lyzeum mit einer Schar von Freunden<br />

und einem ausgezeichneten Zeugnis ab. Ihr lebendiger, scharfer Verstand,<br />

ihre fröhliche, sonnige Gemütsart und ihr großzügiger Charakter<br />

trugen ihr die Bewunderung und Liebe ihrer Klassenkameradinnen<br />

ein.<br />

Nach dem Schulabschluß begann sie, den Blumen-Weg und den<br />

Tee-Weg zu üben, jene traditionellen japanischen Künste, durch die<br />

Heiterkeit und Sanftmut entwickelt werden. Danach lernte sie<br />

kochen und Klavierspielen, alles in Vorbereitung auf eine etwaige<br />

Heirat und Mutterschaft.<br />

Ihr Karma führte sie jedoch urplötzlich in eine andere Richtung.<br />

Mit ungefähr zwanzig Jahren hustete sie Blut, und die Diagnose lau-<br />

1. <strong>Die</strong>se japanische Schule entspricht mehr der amerikanischen Junior und Senior<br />

High School.<br />

370


tete auf Tuberkulose. Ihr Arzt verordnete vollkommene Bettruhe auf<br />

zwei bis <strong>drei</strong> Jahre. Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese lange Untätigkeit<br />

in ihrer Wirkung auf den körperlichen und seelischen Organismus<br />

jene Feinfühligkeit in ihr entwickelt hat, die für ihre geistige<br />

Blüte entscheidend wurde.<br />

Der unmittelbare Antrieb zum Zazen lag jedoch in einem plötzlichen<br />

Geschehen, das ihren Vater, den sie sehr liebte, betraf. Man<br />

hatte ihm gesagt, daß er ein Herzleiden hätte, das sich jeden Augenblick<br />

verhängnisvoll auswirken könnte. Von plötzlicher To<strong>des</strong>furcht<br />

erfaßt, besuchte er einen Lehrvortrag von HARADA Rôshi, der diese<br />

Ur-Angst <strong>des</strong> Menschen zum Thema hatte und darlegte, wie sie<br />

durch Zazen und schließlich durch Erleuchtung aufgelöst werden<br />

könne. YAEKOS Vater wurde von dem, was er hörte, so überzeugt,<br />

daß er Schüler von HARADA Rôshi wurde und in seinem Hause Zazen<br />

zu üben begann. Da sein Herzleiden die regelmäßige Teilnahme an<br />

Sesshin ausschloß, bewog er HARADA Rôshi dazu, einmal im Monat<br />

bei <strong>des</strong>sen regelmäßigem Besuch in Tokyo in sein Haus zu kommen,<br />

um dort ein Teishô und Dokusan für seine Familie und Freunde<br />

zu halten.<br />

Mit einem Eifer, wie er aus seiner überwältigenden To<strong>des</strong>furcht entstand,<br />

widmete sich YAEKOS Vater Zazen und erreichte in einem<br />

knappen Jahr Kenshô. <strong>Die</strong>ses Erlebnis bannte all seine Ängste und<br />

brachte ihm solchen Aufschwung an Lebenskraft und Selbstvertrauen,<br />

daß er seine Pflichten als Oberhaupt <strong>des</strong> großen Industrieunternehmens<br />

seiner Familie wieder aufnahm. Das tat er jedoch mit<br />

einer Tatkraft, die nicht weise war. <strong>Die</strong> Anstrengungen erwiesen sich<br />

als zu groß für ihn, und ohne je<strong>des</strong> Vorzeichen starb er eines Tages<br />

an einem Herzanfall.<br />

<strong>Die</strong> erschreckende Plötzlichkeit von ihres Vaters Tod führte der<br />

noch bettlägerigen YAEKO die Vergänglichkeit <strong>des</strong> Lebens und die<br />

krasse Wirklichkeit <strong>des</strong> To<strong>des</strong> mit dramatischer Gewalt vor Augen<br />

und stürzte sie in tiefstes Nachdenken über den Sinn <strong>des</strong> menschlichen<br />

Daseins. Bis zu ihres Vaters Erleuchtung hatte sie zu Hause<br />

allmonatlich HARADA Rôshis Darlegung gehört, aber damals noch<br />

ohne Verlangen, selbst Zazen zu üben und Dokusan zu erhalten. <strong>Die</strong>-<br />

371


ser Vorfall jedoch hatte ihre Vorstellungskraft sowie die ihrer Mutter<br />

und ihrer beiden Schwestern derart angefeuert, daß sie alle anfingen,<br />

sich regelmäßig Zazen zu widmen. Der Rôshi hatte YAEKO das Kôan<br />

Mu zugewiesen und sie angewiesen, sich unablässig darein zu vertiefen,<br />

auch während sie im Bett lag. Der Tod ihres Vaters und das<br />

dadurch hervorgerufene Forschen in ihrer Seele gaben ihrem Zazen<br />

und ihrer Beschäftigung mit dem Buddhismus insgesamt einen neuen,<br />

tief eindringlichen Sinn. Sie las HARADA Rôshis sehr langen Kommentar<br />

zu DÔGENS Shôbôgenzô siebzehn Mal, verschlang je<strong>des</strong> Wort<br />

und begann, in der traditionellen japanischen Sitzweise, die sie mit<br />

dem Lotussitz abwechselte, Zazen zu üben, obgleich sie noch keineswegs<br />

bei Kräften war. Inzwischen waren jedoch die schlimmsten Stadien<br />

ihrer Tuberkulose vorüber, und sie mußte nicht mehr im Bett<br />

bleiben. Aber die Krankheit hatte ihrer ohnehin zarten Konstitution<br />

ihre Spuren aufgeprägt, und der Arzt drängte sie, zur Genesung<br />

ins sonnige Kamakura zu gehen, wo ihre Familie eine Villa besaß.<br />

In dieser neuen Zurückgezogenheit konnte sie sich mehr und mehr<br />

an Zazen verlieren, und sie kehrte den Interessen, die ihr einmal<br />

wichtig gewesen waren, für immer den Rücken. Sie folgte dem Weg<br />

<strong>des</strong> Buddha mit solchem Eifer, daß sie HARADA Rôshi bat, nach<br />

Kamakura zu kommen und mit seinen Teishô und Einzel-Unterweisungen<br />

fortzufahren. Da er an ihrer ungewöhnlichen Inbrunst<br />

und Hingabe eine seltene Seele erkannte, machte er regelmäßig jeden<br />

Monat eigens die Reise, um sie anzuleiten. Das taten von Zeit zu Zeit<br />

auch YASUTANI Rôshi und TAJI Rôshi, zwei von HARADA Rôshis<br />

angesehensten Schülern.<br />

Von der Zeit an, da sie im Bett mit Zazen begonnen hatte, vergingen<br />

etwa fünf Jahre bis zu ihrer Erleuchtung am 22. Dezember 1935. In<br />

den darauffolgenden Tagen öffnete sich das Auge ihres Geistes zu<br />

einer Flut von Licht und Tiefem-Begreifen, wie es diese Briefe offenbaren.<br />

Ihre darauffolgende Begeisterung, ihre Entdeckung, daß<br />

selbst vollkommene Erleuchtung einem nichts hinzufügt, was man<br />

nicht schon hätte, und daß <strong>des</strong>halb solche Ekstase eine Art «Verrücktheit»<br />

sei - all das zusammen mit HARADA Rôshis freudigem<br />

Erkennen ihrer Bodhisattva-Gesinnung und seinem sanften Vorwurf,<br />

372


daß sie nach Erleuchtung «rieche», gewährt in den komplexen und<br />

scheinbar so widersprüchlichen Vorgang der Erleuchtung einen intimen<br />

Einblick, der ebenso selten wie erhellend ist.<br />

So zu sterben wie YAEKO, mit der To<strong>des</strong>ahnung eine Woche zuvor,<br />

ohne Schmerzen und in völliger Heiterkeit, das ist, wie HARADA<br />

Rôshi darlegt, ein Ziel aller Buddhisten, wenngleich eines, das nur<br />

wenige erreichen. Daß YAEKO das vollbrachte, ist ein Maßstab für<br />

die außerordentlich hohe Bewußtseinsstufe, zu der sie aufgestiegen<br />

war, für die Reinheit ihres Glaubens, für ihren Mut und die Ausdauer,<br />

die solches ermöglichten. Wer kann HARADA Rôshis schmerzlichen<br />

Bericht über seine letzten Stunden mit ihr lesen, ohne von<br />

ihrem unerschrockenen Geiste und ihrer gänzlichen Selbstlosigkeit<br />

bewegt zu werden?<br />

Der Arzt, der Zeuge ihres To<strong>des</strong> war, den er fachwissenschaftlich auf<br />

eine Lungenentzündung zurückführte, erinnert sich daran: «Niemals<br />

habe ich irgend jemanden so schön sterben sehen.» Vielleicht aber war<br />

die größte Huldigung, die ihrem Gedächtnis gezollt wurde, jene bei<br />

dem ersten Sesshin im Hosshin-Ji nach ihrem Tode. Gegen Ende <strong>des</strong><br />

Sesshin berichtete HARADA Rôshi unter Tränen den ungefähr neunzig<br />

Teilnehmern die Umstände von YAEKOS heldenhaftem Ringen um<br />

Selbst-Erfüllung und <strong>des</strong>sen großartige Vollendung. <strong>Die</strong> Wirkung<br />

davon war derart, daß am Ende <strong>des</strong> Sesshin mehr als zwanzig Menschen<br />

Erleuchtung gefunden hatten - eine noch nie dagewesene Zahl.<br />

<strong>Die</strong>se Briefe erschienen zuerst in einer buddhistischen Zeitschrift bald<br />

nach YAEKO IWASAKIS Tod, in einem Artikel von HARADA Rôshi.<br />

Seine Anmerkungen (hier in kleinerer Schrift gesetzt) notierte er auf<br />

den Briefen, wenn er sie erhielt, aber die zusammenfassenden Anmerkungen<br />

und die Überschriften fügte er eigens für den Artikel hinzu,<br />

um den Leser so weit über den Buddhismus zu unterrichten, als nötig<br />

war, um ihn über den Briefinhalt aufzuklären. Natürlich hatte<br />

YAEKO vor ihrem Dahinscheiden keine Gelegenheit, diese Anmerkungen<br />

zu sehen.<br />

Ungefähr ein Jahr später wurde dieser gleiche Text in ein Buch,<br />

Yaezakura (Doppelte Kirschblüte) genannt, aufgenommen, das einen<br />

kurzen Bericht über YAEKOS Leben gibt und privat von der Familie<br />

373


IWASAKI im Dezember 1957 gedruckt wurde. <strong>Die</strong> vorliegende Übersetzung<br />

wurde nach jenem Buch vorgenommen.<br />

Alle Angaben in Klammern innerhalb der Briefe wie bei den Anmerkungen<br />

von HARADA Rôshi stammen vom Übersetzer.<br />

Biographischer Abriß über Harada Rôshi<br />

DAIUN SOGAKU HARADA, an den sich YAEKO IWASAKIS Briefe richten<br />

und <strong>des</strong>sen Anmerkungen sie begleiten, starb am 12. Dezember 1961<br />

im Alter von einundneunzig Jahren. Bei der Totenfeier hing neben<br />

seiner Photographie ein kalligraphisches Blatt, das er selbst einige<br />

Jahre zuvor geschrieben hatte:<br />

Vierzig Jahre habe ich Wasser verkauft<br />

Am Ufer <strong>des</strong> Flusses.<br />

Ho, Ho!<br />

Meine Mühen waren ganz ohne Verdienst.<br />

<strong>Die</strong>se typischen <strong>Zen</strong>-Zeilen sind ein passen<strong>des</strong> Epitaph, denn kein<br />

japanischer <strong>Zen</strong>-Meister der heutigen Zeit hat sich ausdauernder<br />

darum bemüht, seine Schüler zu lehren, daß es nichts zu lernen gibt,<br />

als HARADA Rôshi. Seine vierzehn Dharma-Nachfolger (Rôshi) und<br />

unzähligen erleuchteten Schüler und Anhänger in ganz Japan legen<br />

Zeugnis dafür ab, daß seine Bemühungen, wenn «ohne Verdienst», so<br />

doch keineswegs vergeblich gewesen sind.<br />

Nominell gehörte er der Sôtô-Sekte an. Er schmolz aber das Beste<br />

von Sôtô und Rinzai zusammen, und das sich daraus ergebende<br />

Amalgam war ein pulsierender Buddhismus, der zu einer der großen<br />

Lehr-Richtungen im heutigen Japan geworden ist. Er belebte auf<br />

Grund tiefgreifender Einsicht wahrscheinlich mehr als irgendein<br />

anderer die Lehren DÔGEN <strong>Zen</strong>jis neu, die allmählich durch das oberflächliche<br />

Verständnis von Priestern und Gelehrten der Sôtô-Sekte,<br />

in deren Händen ihre Auslegung bis dahin gelegen hatte, ihrer lebendigen<br />

Kraft entblößt worden waren. Sein Kommentar zu Shushôgi,<br />

374


einer Kodifizierung von DÔGENS Shôbôgenzô, wird als einer der tiefschürfendsten<br />

seiner Art angesehen.<br />

Hosshin-Ji, HARADA Rôshis Kloster am Japanischen Meer, von<br />

unaufhörlichen Regenfällen durchweicht, von häufigen Schneestürmen<br />

zugedeckt, von periodischen Taifunen von außen her geschüttelt<br />

und durch beispiellose Disziplin von innen her «durchgerüttelt»,<br />

wurde als strengstes Kloster in ganz Japan bekannt, und HARADA<br />

Rôshi als der <strong>Zen</strong>-Zuchtmeister, der höchste Anforderungen stellte.<br />

Mehr als einmal lehnte er Angebote, Klöster in milderen Gegenden<br />

Japans zu leiten, ab, wobei er behauptete, daß dieses rauhe Klima<br />

hülfe, das Bewußtsein der Menschen in ihre Bauchhöhle zu treiben,<br />

wo sie schließlich das Geheimnis <strong>des</strong> Weltalls fänden. Männer und<br />

Frauen strömten zu Hunderten zum Hosshin-Ji in seiner Blütezeit,<br />

angezogen von der außerordentlichen Kraft <strong>des</strong> Rôshi, zu inspirieren<br />

und sie zum Selbst-Erwecken zu führen.<br />

Wie alle Meister von hoher geistig-seelischer Entwicklung konnte er<br />

Charaktere schärfstens beurteilen. Ebenso schnell, wie er Anmaßung<br />

und Heuchelei entdeckte, entlarvte er sie auch. Außergewöhnliche<br />

Schüler trieb er erbarmungslos an und verlangte von ihnen das Beste,<br />

<strong>des</strong>sen sie fähig waren. Von allen forderte er als ein sine qua non<br />

Aufrichtigkeit und absolutes Befolgen seiner Lehre und duldete nicht<br />

die kleinste Abweichung davon. Flüchtige Beobachter hielten ihn oft<br />

für unbeugsam und eng, aber seine Anhänger und Schüler, die an<br />

seine Lehre glaubten, wußten, daß er weise und mitfühlend war.<br />

Bei all seiner Strenge hatte HARADA Rôshi doch seine milden Seiten,<br />

und obgleich er nie geheiratet hatte, sondern im wahrsten Sinne <strong>des</strong><br />

Wortes Mönch blieb, liebte er es, mit Kindern herumzutollen, und<br />

hatte Tiere, besonders Hunde, außerordentlich gern.<br />

Da HARADA Rôshi sowohl in den Sôtô-Lehren als auch in denen <strong>des</strong><br />

Rinzai durch und durch zu Hause war, war er hervorragend geeignet,<br />

ein umfassen<strong>des</strong> <strong>Zen</strong> zu lehren. Er war mit sieben Jahren als<br />

Novize ins Tempelleben der Sôtô-Sekte eingetreten und hatte seine<br />

Sôtô-Ausbildung während der Volksschul- und Gymnasiumsjahre<br />

fortgesetzt. Mit zwanzig wurde er trotz <strong>des</strong> hartnäckigen Widerstands<br />

seines Sôtô-Ratgebers Mönch im Shôgen-Ji, einem bedeuten-<br />

375


den Rinzai-Kloster seiner Zeit, da er in der Sôtô-Sekte keinen tief<br />

erleuchteten Meister hatte finden können. Dort erlangte er nach zweieinhalb<br />

Jahren angestrengtester Ausbildung Kenshô, aber seine Erleuchtung<br />

bedeutete noch keine vollständige Befreiung.<br />

Da sein Vater darauf bestand, daß er eine regelrechte Ausbildung<br />

erhalten sollte, verließ er mit siebenundzwanzig Jahren Shôgen-Ji<br />

und schrieb sich an der Komazawa-Universität ein, die von Sôtô<br />

unterstützt wurde, und setzte nach Abschluß seines Studiums noch<br />

sechs Jahre lang seine Forschungsarbeiten auf dem Gebiet <strong>des</strong> Buddhismus<br />

unter bekannten Gelehrten dort fort. Während seine Kenntnisse<br />

über den Buddhismus wuchsen, brachten sie ihm jedoch nicht<br />

die Befreiung, nach der er sich sehnte. Deshalb entschloß er sich,<br />

nach Kyoto zu fahren, um dort DOKUTAN Rôshi, den Abt <strong>des</strong> Nanzen-Ji,<br />

aufzusuchen, der als der beste damals lebende <strong>Zen</strong>-Meister<br />

bekannt war.<br />

Er wurde von DOKUTAN Rôshi als Schüler angenommen und ging<br />

zwei Jahre lang täglich der Kôan-Übungen und <strong>des</strong> Dokusan wegen<br />

zu ihm, während er mit einem Freunde, dem er bei seinen Tempel-<br />

Angelegenheiten half, in Kyoto lebte. Am Ende der zwei Jahre bot<br />

ihm DOKUTAN Rôshi, der von der ungewöhnlichen Intelligenz seines<br />

Schülers, seiner Inbrunst und seinem Durst nach Wahrheit beeindruckt<br />

war, an, ihn zu seinem persönlichen Aufwärter zu machen.<br />

Obgleich er jetzt fast vierzig war, nahm SOGAKU HARADA diese ungewöhnliche<br />

Auszeichnung bereitwillig an und begann sein Leben im<br />

Nanzen-Ji. Dort widmete er sich intensiv Zazen, löste alle Kôans,<br />

wobei er am Ende das Auge seines Geistes voll öffnete und von<br />

DOKUTAN Rôshi Inka (Siegel der Bestätigung) erhielt.<br />

Zu jener Zeit berief ihn die Komazawa-Universität zur Lehrtätigkeit,<br />

in Übereinstimmung mit den Bedingungen, die er für seine<br />

Annahme gestellt hatte. Das führte dazu, daß er zwölf Jahre lang an<br />

der Komazawa über Buddhismus las, wobei er einen Teil der Zeit als<br />

ordentlicher Professor dort verbrachte.<br />

HARADA Rôshi - er verdiente nun den Titel Rôshi - war ein seltsames<br />

Phänomen in der buddhistisch-akademischen Welt: während<br />

<strong>des</strong> Semesters ein Professor und während der Sommerferien ein <strong>Zen</strong>-<br />

376


Meister, der in mehreren Tempeln Sesshin leitete. Innerhalb kurzer<br />

Zeit gelangte er in den Ruf, ein strenger Zuchtmeister zu sein.<br />

Seine Unzufriedenheit mit der Enge <strong>des</strong> akademischen Lebens und<br />

<strong>des</strong>sen unvermeidlicher Betonung der Theorie, in Verbindung mit<br />

den nur begrenzten Möglichkeiten, die es ihm bot, Menschen mittels<br />

Sesshin im unmittelbaren Erlebnis <strong>des</strong> Dharma zu schulen, reifte<br />

durch wiederholte Aufforderung in ihm zum Entschluß, das Amt<br />

<strong>des</strong> Abtes von Hosshin-Ji zu übernehmen. Er nahm schließlich an<br />

und lebte in den folgenden vierzig Jahren als Meister dieses Klosters,<br />

das als eines der hervorragendsten <strong>Zen</strong>tren der <strong>Zen</strong>-Schulung in<br />

Japan bekannt werden sollte.<br />

HARADA Rôshi hielt sechsmal im Jahr eine Woche lang ein intensives<br />

Sesshin, bis er fast neunzig war, und zwar im April, Mai, Juni,<br />

Oktober, November und Dezember, und in den Zwischenzeiten hielt<br />

er noch Sesshin in anderen Teilen Japans. Fünf Tage vor seinem<br />

letzten Atemzug fiel er in einer Ohnmacht um, wurde ohne Schmerzen<br />

allmählich schwächer und schwächer und ging von teilweisem<br />

Dämmerzustand in völlige Bewußtlosigkeit über. Seine To<strong>des</strong>stunde<br />

fiel genau mit der Ebbe zusammen. HARADA Rôshi war buchstäblich<br />

mit den Wassern verebbt.<br />

<strong>Die</strong> Briefe und Anmerkungen<br />

1. Zeugnis für Kenshô<br />

23. Dezember<br />

Hochverehrter, lieber HARADA Rôshi,<br />

ich bin so dankbar, daß Sie mich vorgestern besucht haben, obgleich<br />

Sie so beschäftigt sind. Nehmen Sie sich ja mit Ihrer Erkältung in<br />

acht.<br />

Gestern morgen sagte mir mein Rôshi 2 im Dokusan: «Was du wahr-<br />

2. In Japan ist die Anrede in der dritten Person üblich. Da das aber, streng<br />

durchgehalten, im Deutschen zu schwer und altmodisch wirkt, wird es mit der<br />

Anrede «Sie» gemischt, wie wir es tun, wenn wir heute einem Rôshi auf deutsch<br />

(oder englisch) schreiben; d. U.<br />

377


genommen hast, ist noch verschwommen.» Ich hatte also das Gefühl,<br />

daß ich tiefer forschen müsse. Als ich letzte Nacht mitten in der<br />

Nacht erwachte, war es weitaus klarer geworden,<br />

Der Ochse 3 ist hundert Meilen näher gekommen!<br />

und ich konnte einzig die Hände in Gasshô erheben vor Freude,<br />

schierer Freude.<br />

Ich sehe wahrhaftig, daß es Tiefengrade der Erleuchtung gibt.<br />

Ja, aber nur wenige erkennen diese bedeutsame Tatsache.<br />

Selbst mein Rôshi zählt in meinen Augen gleich nichts. Meine Dankbarkeit<br />

und mein Entzücken lassen sich unmöglich beschreiben. Ich<br />

kann jetzt bestätigen, daß es keine wahre Erleuchtung ist, solange<br />

wir uns der Erleuchtung noch bewußt sind.<br />

Wie kann ich nur meine Dankbarkeit dafür ausdrücken, daß der<br />

Rôshi mich in die Lage versetzt hat, meine unermeßliche Schuld, die<br />

ich allen Buddhas gegenüber habe, in einem wenn auch noch so kleinen<br />

Ausmaß 4 abzustatten? Meine Dankbarkeit läßt sich nicht in<br />

Worte fassen - es gibt nichts, was ich schreiben oder sagen könnte.<br />

Ich schreibe jetzt nur, weil ich glaube, daß mein Rôshi allein meine<br />

Glückseligkeit verstehen kann und mit mir zufrieden sein wird.<br />

Jetzt, da meines Geistes Auge geöffnet wurde, erhebt sich spontan in<br />

mir das Gelübde, alle Lebewesen zu retten. Ich bin Ihnen und allen<br />

Buddhas so verpflichtet. Ich schäme mich (meiner Mängel) und werde<br />

Anstrengungen machen, um meinen Charakter zu bilden.<br />

Hat den Ochsen deutlich gesehen, aber der Punkt, ihn zu ergreifen, ist<br />

noch zehntausend Meilen fern. Ihr Erlebnis ist noch von begrifflichem<br />

Denken gefärbt.<br />

Ich bin auch entschlossen, meinen Geist von all seinen seit langer Zeit<br />

bestehenden Verblendungen zu reinigen. Der Rôshi ist der Einzige,<br />

dem ich das anvertrauen kann. Jeder andere würde, so fürchte ich,<br />

3. «Ochse» bezieht sich auf den erleuchteten Geist. Siehe die Ochsenbilder im 8.<br />

Kapitel.<br />

4. Das heißt, durch ihre Erleuchtung.<br />

378


daß mißverstehen und denken, ich prahlte, wenn ich plötzlich über all<br />

das sprechen wolle.<br />

Ich bin froh über diese Zurückhaltung.<br />

Man glaube mir, ich habe nie im Leben erwartet, derart begünstigt<br />

zu werden (dadurch, daß sie Erleuchtung fand). Ich verdanke meinem<br />

Rôshi so viel. Ich erhebe die Hände in Gasshô voll herzlicher<br />

Dankbarkeit.<br />

Hüten Sie sich gut mit der Erkältung. Voller Freude sehe ich unserem<br />

Treffen am einundzwanzigsten nächsten Monats entgegen.<br />

Zusammenfassende Anmerkung:<br />

YAEKO<br />

Ich bestätige, daß sie den Ochsen wahrhaftig gesehen hat, denn in ihrem<br />

Erlebnis liegen tiefe Selbst-Bejahung, das Verlangen, alle Lebewesen zu retten<br />

und die Entschlossenheit, sich im täglichen Leben geistig zu schulen.<br />

Solche Geistesverfassung allein kann man als die wahre Gesinnung der<br />

Kinder <strong>des</strong> Buddha ansprechen. Aber noch gibt es ein Subjekt, das sieht.<br />

Noch liegt ihre Geistige Heimat in weiter Entfernung.<br />

2. Zeugnis großer Erleuchtung<br />

25. Dezember<br />

Hochverehrter, lieber HARADA Rôshi,<br />

heute habe ich zum ersten Mal große Erleuchtung erlangt. Ich bin so<br />

überglücklich, daß, meiner ungeachtet, alles an mir tanzt. Niemand<br />

als mein Rôshi kann überhaupt solche Begeisterung nur irgend begreifen,<br />

glaube ich.<br />

Ich habe den Punkt erreicht, da ich den Ochsen wirklich packe, und<br />

es gibt absolut keine Verblendung mehr.<br />

Jetzt hat sie zum ersten Mal den WEG gefunden - ihren Geist deutlich<br />

erkannt. Sie ist von Verblendung, die keine dauerhafte Wurzel hat, befreit<br />

worden. Wunderbar! Wunderbar!<br />

Da ist weder Ochse noch Mensch. Ich sollte sofort zum Rôshi kom-<br />

379


men und ihm mündlich danken; da ich aber auf meine Gesundheit<br />

achten muß, kann ich das nicht tun. So gebe ich meiner tiefen Dankbarkeit<br />

in diesem Brief Ausdruck. Aus tiefstem Herzen danke ich<br />

dem Rôshi und erhebe meine Hände in Gasshô zu ihm.<br />

Buddhas und Patriarchen haben mich nicht betrogen 5 . Ich habe mein<br />

Ur-Angesicht deutlicher gesehen als einen Diamanten in meiner<br />

Hand. <strong>Die</strong> absolute Wahrheit eines jeden Wortes der Patriarchen<br />

und der Sûtras ist mir mit kristallener Klarheit vor Augen erschienen.<br />

Ich brauche Dokusan nicht mehr, und alle Kôans sind mir jetzt<br />

wie nutzlose Möbel geworden. Obgleich ich alle Lebewesen retten<br />

wollte, gibt es gar keine zu retten. Wer nur Kenshô hat, kennt diesen<br />

Zustand unbegrenzten Frei-Seins und tiefsten Seelenfriedens nicht.<br />

Ja, man kann das gar nicht kennen, solange man nicht zu voller<br />

Erleuchtung gekommen ist. Wenn mein Rôshi mir, nachdem er diesen<br />

Brief gelesen hat, noch immer Unsinn 6 erzählt, werde ich ohne<br />

Zögern sagen, daß an der Wesensschau <strong>des</strong> Rôshi etwas mangelt.<br />

Gut! Gut! <strong>Die</strong>ses Stadium nennt man: auf dem Gipfel eines einsamen Berges<br />

stehen oder Zum Eigenen Hause Zurückkehren. Dennoch muß ich ihr<br />

«Unsinn» erzählen. Eines Tages wird sie wissen, warum.<br />

Ich verdanke dem Rôshi so viel. Wenn ich bedenke, daß ich tatsächlich<br />

das Große Gelübde, das ich in zahllosen vergangenen Existenzen<br />

abgelegt hatte, erfüllt habe und nun Dokusan halten kann, bin ich<br />

unendlich dankbar.<br />

Es ist noch zu früh. Doch wie viele gibt es heutzutage unter denen, die man<br />

erleuchtet nennt, die sich solche innere Sicherheit geschaffen haben? Ich<br />

bin entzückt, das durch ihre eigenen Worte offenbart zu sehen.<br />

Mein Geistiges Auge ist mit dem <strong>des</strong> Rôshi vollkommen identisch -<br />

weder Buddhas noch Teufel können mich erschüttern 7 . <strong>Die</strong>ser<br />

5. Siehe Fußnote S. 287.<br />

6. Das bedeutet, daß für den wahrhaft Erleuchteten alles Reden über Erleuchtung<br />

sinnlos ist.<br />

7. Sie kann, ohne zu wanken, den durchdringenden Blick <strong>des</strong> Buddha ebenso<br />

aushalten wie die drohende Miene <strong>des</strong> Teufels. Das besagt äußerste Selbst-Sicherheit<br />

und vollkommene Furchtlosigkeit.<br />

380


Zustand spottet jeder Beschreibung. Ich habe alles vergessen und bin<br />

mit leeren Händen in meine Wahre Heimat zurückgekehrt.<br />

Ist der Patriarch DÔGEN 8 wiedergekommen? Das ist der makellose Dharmakāya,<br />

d. h. Buddha Birushana.<br />

Meine Welt ist gänzlich umgewälzt worden. Wie nichtig und nutzlos<br />

waren doch meine besorgten Bemühungen in der Vergangenheit! Da<br />

ich der weisen Führung und dem geduldigen Rat <strong>des</strong> Rôshi folgte,<br />

wollte ich mich nicht mit dem kleinen Frieden 9 , den mein noch verblendeter<br />

Geist für angemessen hielt, zufriedengeben. Ich kann gar<br />

nicht sagen, wie froh und wie dankbar ich für meine gegenwärtige<br />

Verfassung bin. Das alles ist das Ergebnis von beharrlich geübtem<br />

Zazen, der Entschlossenheit, niemals bei einem kleinen Erfolg halt zu<br />

machen, sondern fortzufahren, wie viele Leben auch darüber hingehen<br />

mögen.<br />

<strong>Die</strong>se intensive Hingabe ist überaus erstaunlich - und sie, eine Laien-Schülerin!<br />

Jetzt kann ich mit der nie endenden Aufgabe, alle Geschöpfe zu retten,<br />

beginnen. Das macht mich so glücklich, daß ich kaum an mich<br />

halten kann.<br />

Alles ist Glanz, lauterer Glanz. Nun kann ich auf immer in natürlichem<br />

Einklang mit meinem alltäglichen Leben zur Vollkommenheit<br />

fortschreiten.<br />

Sie begreift - wahrhaftig. Haargenau so ist es. Wieviele sogenannte <strong>Zen</strong>-<br />

Leute sind zu solch tiefgreifender Wesensschau gelangt?<br />

Ich bin auferstanden, wie auch der Rôshi und alles andere in Ewigkeit.<br />

Beim Lesen dieses Briefes wird der Rôshi, glaube ich, Tränen<br />

der Danksagung vergießen.<br />

8. Hier vergleicht HARADA Rôshi YAEKOS Feststellung «Ich habe alles vergessen<br />

und bin mit leeren Händen in meine Wahre-Heimat zurückgekehrt» mit der von<br />

DÔGEN bei seiner Rückkehr von China, nämlich: «Ich bin heimgekommen mit<br />

leeren Händen. Ich habe keine Spur von Buddhismus mehr behalten. Ich kann<br />

nur sagen: Meine Augen sind waagerecht; meine Nase ist senkrecht.»<br />

9. «Frieden» bedeutet hier die Sicherheit und Ruhe, die ihr aus dem ersten Kenshô<br />

erwuchsen.<br />

381


Ich bin so dankbar, solch eine Schülerin zu haben, daß ich nun glücklich<br />

sterben kann.<br />

Der Rôshi allein kann meine Seele verstehen. Doch gibt es weder den<br />

Rôshi noch mich. Leib und Seele sind mir in der Tat vollkommen<br />

weggefallen.<br />

Ich werde versuchen, mich gesundheitlich zu kräftigen, Tugend zu<br />

entwickeln, und wachsam der Gelegenheit zu warten, Buddhismus zu<br />

lehren. Ich bin inmitten <strong>des</strong> Großen Weges, da alles ganz natürlich<br />

und mühelos ist, weder in Eile noch zögernd; wo es weder Buddhas,<br />

noch den Rôshi gibt - nichts. Und wo ich ohne meine Augen sehe und<br />

ohne meine Ohren höre. Von dem, was ich geschrieben habe, bleibt<br />

auch nicht eine Spur; es gibt weder Feder noch Papier, noch Wörter<br />

- überhaupt nichts.<br />

Da es unmöglich ist, über all das mit jemandem außer dem Rôshi,<br />

der das tatsächlich selbst erlebt hat, zu sprechen, mußte ich schreiben.<br />

Ich denke mir, daß es den Rôshi glücklich machen muß, solche Schülerin<br />

wie mich zu haben, die so tief aus der Quelle seiner Weisheit<br />

getrunken hat. Ich werfe mich neunmal 10 nieder, um dem Rôshi<br />

meine von Herzen kommende Dankbarkeit auszudrücken.<br />

Zusammenfassende Anmerkung:<br />

YAEKO<br />

<strong>Die</strong>ser Grad der Wesensschau wird als «Ergreifen <strong>des</strong> Ochsen» bezeichnetmit<br />

anderen Worten: das wahre Gewinnen <strong>des</strong> WEGES. Das ist die Rückkehr<br />

ins Eigene Haus, oder das Erlangen der Urweisheit. Geht man noch<br />

einen Schritt weiter, so erkennt man noch tiefgründigere Weisheit. <strong>Die</strong>ser<br />

«Ochs» hat unermeßliche Feierlichkeit und Strahlkraft.<br />

10. <strong>Die</strong> Anzahl der Kniefälle, mit der man einem Buddha in aller Form huldigt.<br />

382


3. Zeugnis vertiefter Erleuchtung<br />

26. Dezember<br />

Hochverehrter, lieber HARADA Rôshi,<br />

ich bin von Reue und Scham erfüllt. Mein Brief vom 25. an Sie muß<br />

Sie glauben gemacht haben, ich sei verrückt geworden.<br />

Solche Selbst-Vorwürfe sind unnötig. Eine derart freudige Verzückung ist<br />

die erste Reaktion aller, die solch großes Erwachen erlebt haben.<br />

Ich hatte solchen Höhepunkt der Begeisterung erreicht, daß ich nicht<br />

mehr wußte, was ich tat, und mich nicht mäßigen konnte. Als ich<br />

wieder zu Sinnen gekommen war und nachzudenken begann, brach<br />

ich in Lachen aus bei dem Gedanken, wie in meinen Gefühlen alles<br />

durcheinander geraten war. So lernte ich die Geschichte von ENYA-<br />

DATTA 11 erst recht würdigen, ENYADATTA, die verrückt geworden<br />

war, weil sie glaubte, daß sie ihren Kopf verloren habe, und all das<br />

große Aufhebens machte, als sie ihn «entdeckte», obgleich sie natürlich<br />

nie ohne ihn gewesen war. Nun bin ich wieder ich selbst, es gibt<br />

also keinen Grund mehr zur Sorge um mich.<br />

Ich hatte immer Angstgefühle, die sich einerseits aus der Furcht ergaben,<br />

daß mein Streben nach Buddhaschaft auf Grund meiner Bedeutungslosigkeit<br />

und Machtlosigkeit schwach werden könnte, und andererseits<br />

aus der Furcht, ich könnte sterben, ohne tatsächlich die<br />

Wahrheit <strong>des</strong> Dharma erlebt zu haben, und sie dann vielleicht im Laufe<br />

vieler Leben nicht erkennen 12 .<br />

Ja, es muß schrecklich qualvoll sein, für jemanden, der unbedingt an den<br />

Dharma glaubt, zu sterben, ohne ihn erlebt zu haben. Nur wer dieses Gefühl<br />

hat, kann so hingebungsvoll üben wie sie.<br />

Aber nun, da ich tief eingedrungen bin und die unerschütterliche<br />

Anwartschaft auf Buddhatum erlangt habe, ist mir klar, daß ich<br />

meine geistige Schulung auf immer fortsetzen kann und meine Persönlichkeit<br />

solchermaßen zu vervollkommnen vermag, getrieben von<br />

11. Siehe S. 91-94.<br />

12. Siehe Fußnote 23, S. 239.<br />

383


dem Gelübde, das ganz natürlich in mir aufsteigt: alle Geschöpfe zu<br />

retten.<br />

Ich werde von Tränen übermannt.<br />

Ich weiß keine Worte, um meine Freude und Dankbarkeit auszudrücken.<br />

Weit davon entfernt, Zazen zu vernachlässigen, habe ich vielmehr<br />

alle Absicht, die Kraft meiner Konzentration weiter zu stärken.<br />

Ja, sie begreift wirklich!<br />

Ich bin mir zutiefst der Notwendigkeit sorgfältiger Selbst-Erziehung<br />

bewußt und begreife voll und ganz den Ernst von Dokusan. Ich<br />

schwöre, daß ich nie wieder etwas so Anmaßen<strong>des</strong> schreiben werde<br />

wie gestern, da ich sagte, daß ich volle Erleuchtung gefunden hätte<br />

und <strong>des</strong>halb andere im Dokusan unterweisen könnte.<br />

Sie ist wahrlich erwacht!<br />

Bitte vergeben Sie mir. Ich war so außer mir, daß ich einfach je<strong>des</strong><br />

Maßgefühl verlor. Nach nüchterner Überlegung sehe ich, daß das<br />

ziemlich komisch war; doch welch köstliche Erinnerung, solch berauschende<br />

Freude genossen zu haben, wenn auch nur kurz.<br />

Tränen der Dankbarkeit ersticken mich, denn ich kann nun Gut und<br />

Böse wahrhaft verstehen und kann unbeirrt und ohne Verblendung<br />

mit meinen geistigen Übungen innerhalb und mittels meines täglichen<br />

Lebens fortfahren. Ich danke dem Rôshi aus tiefstem Herzensgrunde.<br />

Achten Sie auf Ihre Gesundheit. Ich freue mich so auf unsere nächste<br />

Begegnung.<br />

Zusammenfassende Anmerkung:<br />

YAEKO<br />

Auf dieser Stufe erwirbt man, was als «Weisheit subtiler, makelloser Intuitiver<br />

Erkenntnis» oder als «nachträglich erlangte Weisheit» bezeichnet<br />

wird. Man kann ihre (YAEKOS) Stufe an den Fünf Graden, die der<br />

Patriarch TÔZAN setzte, ablesen. <strong>Die</strong> Tiefe der Erkenntnis, die sich in<br />

ihrem zweiten Brief kundgetan hat, entspricht dem dritten Grad, shôchû<br />

384


at, (bei dem die Erkenntnis <strong>des</strong> Einen vorherrschend und das Bewußtsein<br />

der Unterschiedenheit verebbt ist), und die dieses dritten Briefes entspricht<br />

dem vierten Grad, henchûshi, (bei dem man in allen Dingen ohne eine Spur<br />

von Selbstbewußtsein hinsichtlich der Erleuchtung lebt). Nun ist es möglich,<br />

die gütevollen und tugendhaften Taten, wie sie Fugen und Kannon<br />

zugeschrieben werden, zu vollbringen. Im <strong>Zen</strong> ist das die Erfüllung <strong>des</strong><br />

Bodhisattva-Gelüb<strong>des</strong>; das bedeutet, im Reinen Land zu leben.<br />

Obgleich die meisten Gläubigen nach Kenshô fünf bis zehn Jahre brauchen,<br />

um auf diese Stufe zu gelangen, hat sie das in weniger als einer<br />

Woche erreicht. Das ist zweifellos ihrem tiefen und reinen Glauben an den<br />

Buddhismus zuzuschreiben, ihrem umfassenden, uneingeschränkten Gelübde<br />

(das sie in zahllosen Leben abgelegt hat und das alle Geschöpfe<br />

umfaßt) und dem, daß sie gläubigen Herzens auf je<strong>des</strong> authentische Wort<br />

<strong>des</strong> Buddhismus, das man zu ihr gesprochen hat, gelauscht hat. Solche Leistung<br />

wie die ihre ist in der heutigen Zeit selten. <strong>Die</strong> bemerkenswerte<br />

Geschichte ihrer Entschlossenheit und ihres Eifers sollte man als unsterblichen<br />

Ansporn für alle <strong>Zen</strong>-Gläubigen in zwei Meter großen Schriftzeichen<br />

einmeißeln.<br />

4. Zeugnis für das unmittelbare Erleben <strong>des</strong> Großen Weges <strong>des</strong><br />

Buddhismus<br />

26. Dezember<br />

Hochverehrter, lieber HARADA Rôshi,<br />

verzeihen Sie, daß ich so oft schreibe. Ich habe jene Stufe der<br />

Wesensschau erreicht, die die letztmögliche ist, solange man noch ein<br />

Schüler ist.<br />

Wahrlich, so ist es!<br />

Ich dachte immer: «Wie großartig muß man nach der Erleuchtung<br />

werden!» und «Wie bewundernswert ist der, der sich buddhistischem<br />

Wirken so gänzlich widmet, daß er nicht mehr an sich denkt!» Aber<br />

ich habe mich sehr geirrt. Von jetzt an will ich mehr Vorzüge entwickeln<br />

und niemals mit dem Üben aufhören.<br />

Vor der Erleuchtung war ich so darum bemüht und dachte oft: «Wie<br />

385


edel ist der, der in Frieden und Zufriedenheit Heim-kehrt.» Nachdem<br />

ich aber zu voller Erleuchtung gelangt bin,<br />

Ihr Erlebnis deckt den Unterschied von buji-<strong>Zen</strong> 13 und authentischem <strong>Zen</strong><br />

auf.<br />

sage ich mir jetzt: «Warum hast du dich darüber nur so erregt?»<br />

Denn ich habe eine entschiedene Abneigung dagegen, «erleuchtet 14 »<br />

genannt zu werden.<br />

Freut mich, daß sie das sagt. Es ist jedoch nur bei voller Erleuchtung möglich,<br />

<strong>Zen</strong> im Alltag zu üben 15 .<br />

Ich habe den Augenblick meiner Erleuchtung und das, was gleich<br />

darauf folgte, vollkommen vergessen; ich kann mir aber sagen, daß<br />

ich sozusagen das Wahre Auge der Erleuchtung erlangt habe. Es reizt<br />

mich, mir zu sagen: «So, das ist also volle Erleuchtung!»<br />

Ich kann gar nicht ausdrücken, wie dankbar ich bin, daß ich mit dem<br />

Wahren Dharma auf immer Eins bin, vollkommen und ganz natürlich.<br />

Gleichzeitig komme ich mir so töricht vor, daß ich mich von<br />

meiner wahnsinnigen Freude so habe hinreißen lassen. Das dürfte den<br />

Rôshi lächeln machen: Meine «Verblendung» über alles ist tatsächlich<br />

verschwunden. Aber sprechen wir zu niemandem darüber, da<br />

man dem Dharma Hochachtung erweisen muß 16 .<br />

Wenn ich behutsam bin in der Art, wie ich zu anderen über dies Erlebnis<br />

spreche, so dürfte es ihnen helfen, nicht schaden; keine Sorge.<br />

13. Buji-<strong>Zen</strong> ist ein <strong>Zen</strong> ohne Gehalt, ein <strong>Zen</strong>, das die Gültigkeit <strong>des</strong> Erleuchtungs-Erlebnisses<br />

leugnet. Seine Anhänger behaupten, daß es ein Widerspruch sei,<br />

davon zu sprechen, daß man erleuchtet wird, wenn wir doch alle von Anbeginn<br />

erleuchtet sind.<br />

14. Da die Erleuchtung ihr nichts gebracht hat, was sie nicht schon hatte, wäre es,<br />

wollte sie sich dafür loben lassen, so, als ließe sie sich dafür loben, daß sie, sagen<br />

wir, zwei Füße hat.<br />

15. HARADA Rôshis Worte bedeuten, daß die vollste Entwicklung all der latenten<br />

Fähigkeiten von Persönlichkeit und Charakter erst nach voller Erleuchtung vor<br />

sich gehen kann.<br />

16. Das bedeutet wahrscheinlich, daß es bei jenen, die nicht an ihr Erlebnis glauben<br />

können oder wollen, zu einem Zerrbild <strong>des</strong> Dharma führen könnte, wenn man<br />

aufs Geratewohl über ihre Erleuchtung spräche.<br />

386


Ich kann einfach nicht verstehen, warum ich immer solch Aufhebens<br />

von der Hochachtung vor dem Buddhismus gemacht habe 17 und von<br />

jedem, der volle Erleuchtung gefunden hatte. Habe ich geträumt?<br />

Zusammenfassende Anmerkung:<br />

YAEKO<br />

Geträumt? Sicherlich. Aber das ist keiner von den gewöhnlichen Träumen,<br />

wie sie im allgemeinen in der Welt geträumt werden, sondern ein Traum<br />

von ungeheurer und dauernder Bedeutung, von tiefer Versunkenheit im<br />

Dharma <strong>des</strong> Buddha.<br />

<strong>Die</strong>se Stufe kann dem fünften und höchsten Grade gleichgesetzt werden,<br />

jenem, den man kenchûto nennt (ein Zustand völliger Natürlichkeit 18 , da<br />

die wechselseitige Durchdringung der Welt der Unterschiedenheit und der<br />

Welt der Gleichheit so vollkommen ist, daß man sich keiner von beiden<br />

mehr bewußt ist.)<br />

Ich staune, daß sie diesen Punkt so schnell erreicht hat. Daß sie das tun<br />

konnte, kann nur ihrem tiefen Glauben an die Lehren <strong>des</strong> Buddha und<br />

ihrem starken Bodhisattva-Geist zugeschrieben werden. Wer diesen Grad<br />

erreicht hat, hat die <strong>Zen</strong>-Schulung, soweit man sie unter einem Lehrer<br />

durchführen kann, vollendet und den Weg der wahren Selbst-Schulung<br />

beschritten. Gibt es heute auch nur eine Handvoll, die all das verstehen?<br />

Katsu!<br />

5. Zeugnis für das Erlangen von FUGENS unbeugsamem Geist<br />

27. Dezember<br />

Hochverehrter, lieber HARADA Rôshi,<br />

dank <strong>des</strong> Rôshi habe ich klar erkannt, daß Buddha nichts anderes ist<br />

als Geist 19 . Meine Dankbarkeit kennt keine Grenzen. Das ist sowohl<br />

17. Da die Essenz <strong>des</strong> Buddhismus nur darin liegt, ohne Anspannung und Zwang<br />

in Harmonie mit den wechselnden Umständen unseres Lebens zu leben, was gibt<br />

es da zu achten?<br />

18. «Mit Natürlichkeit meine ich, daß alle Dinge so sind, wie sie ihrer eigenen<br />

Natur nach sind ohne alle äußeren Einflüsse.» - KÔBÔ Daishi. (Zitiert in Honen,<br />

the Buddhist Saint von COATES und ISHIZUKA, S. 133.)<br />

19. Und «Geist» ist volle Bewußtheit, also: nur hören, wenn man hört; nur sehen,<br />

wenn man sieht, usw.<br />

387


auf die gütige Führung <strong>des</strong> Rôshi zurückzuführen, als auch auf mein<br />

intensives Verlangen nach und Ringen um Buddhaschaft, auf daß ich<br />

alle Geschöpfe retten könne.<br />

Ich hatte sie mir nicht als jemanden mit einem so ungewöhnlichen Streben<br />

nach Buddhaschaft vorgestellt. Wie urteilslos von mir! Es ist offensichtlich,<br />

daß sie die Inkarnation eines großen Boddhisattva ist.<br />

Wie kann ich dem Rôshi nur je genug danken?<br />

Jetzt sehe ich, daß ich mich um <strong>des</strong> Dharma willen achten muß 20 .<br />

Ich bitte um Belehrung, was ich noch tun muß. Wie dankbar bin ich,<br />

daß ich mich von jedem Jota an Verblendung im Denken und Fühlen<br />

läutern konnte.<br />

Sie hat ihre verblendeten Gefühle noch nicht völlig ausgerottet 21 . Aber wer<br />

zu so tiefer Erleuchtung gelangt ist wie sie, kann nichts<strong>des</strong>toweniger ein<br />

reines Leben führen.<br />

Trotzdem aber möchte ich in jeder Hinsicht vom Rôshi geleitet werden,<br />

damit ich nicht andere bei ihrer Ausübung und ihrem Verständnis<br />

<strong>des</strong> Buddhismus irreführe.<br />

Meine Geistesverfassung ist jetzt eine ganz andere als zur Zeit <strong>des</strong><br />

Kenshô.<br />

Kenshô ist die Stufe, da man den Ochsen bloß sieht.<br />

Ja, je weiter ich auf dem Erhabenen Wege fortschreite, <strong>des</strong>to erhabener<br />

wird er. Nun, da ich erlebt habe, daß tada 22 selbst Vollkommenheit<br />

ist, kann ich dem Rôshi endlich die zahllosen Wohltaten vergel-<br />

20. Der Sinn <strong>des</strong>sen dürfte sein, daß sie durch ihre Wesensschau, daß sie der<br />

inkarnierte Dharma ist, jetzt die Verantwortung fühlt, Buddhismus zu lehren.<br />

Somit achtet und bewahrt sie den Dharma, wenn sie sich selbst achtet und bewahrt.<br />

21. Obgleich das Erleuchtungs-Erlebnis die Täuschung über ein «Ich» und<br />

«Anderes» aufhebt, bringt sie doch nicht gleichzeitig eine Läuterung der Gefühle<br />

mit sich. Unaufhörliches Üben ist erforderlich, um letzteres zu erreichen. Siehe<br />

auch S. 83-84.<br />

22. Wörtlich: «nur», «einfach», «nichts als». Wenn man ißt, muß man sich einfach<br />

ins Essen vertiefen. Wenn sich das Bewußtsein beim Essen mit irgendwelchen<br />

Ideen oder Begriffen beschäftigt, so ist es nicht Tada. Jeder Augenblick <strong>des</strong><br />

Lebens, der als Tada gelebt wird, ist das ewige Jetzt.<br />

388


ten, und ich bin überglücklich. Da ich ein tiefes und entscheiden<strong>des</strong><br />

Stadium erreicht habe, muß ich den Rôshi wirklich bald sehen.<br />

Ich wünschte, ich könnte zu dir fliegen, um dich weiter zu beraten. Aber<br />

da es gerade Jahresende 23 ist, bin ich äußerst beschäftigt mit den Angelegenheiten<br />

<strong>des</strong> Klosters und kann <strong>des</strong>halb augenblicklich nicht weg.<br />

Es gibt gar keine Entschuldigung dafür, daß ich diese Bitte brieflich<br />

ausspreche; aber meine Krankheit hindert mich, den Rôshi aufzusuchen.<br />

Der Rôshi wird äußerst glücklich sein, daß ich wahrhaft<br />

«promoviert» habe. Ich habe mir nie träumen lassen, daß ich in meinem<br />

Leben die Übermittlung von einem inkarnierten Buddha an den<br />

Bodhisattva Miroku bezeugen würde 24 .<br />

Ich gelobe mir wieder und wieder, in jeder Kleinigkeit meines Lebens<br />

mit äußerster Sorgfalt zu handeln.<br />

Ich bete, daß es dem Rôshi gut gehen möge.<br />

Zusammenfassende Anmerkung:<br />

YAEKO<br />

<strong>Die</strong> Essenz <strong>des</strong> lebendigen Buddhismus kann in dem Wort tada zusammengefaßt<br />

werden. Wer ist Shakyamuni Buddha? Wer ist Miroku? Sie sind<br />

nicht anders als du. Seht! Seht!<br />

Sie hat diese Stufe <strong>des</strong> Tada erreicht. Daher ist es natürlich, daß sie dieses<br />

Gefühl tiefer Freude empfindet und auch die schwere Verantwortung im<br />

Hinblick auf den tiefgründigen Dharma. <strong>Die</strong> Wirkungen, die von solchem<br />

Geist ausgehen, sind die von Fugen oder die eines inkarnierten Miroku.<br />

23. In japanischen <strong>Zen</strong>-Klöstern wird das fünf Tage währende Neujahrsfest von<br />

umständlichen Ritualen und Zeremonien eingeleitet. Aus diesem Grunde sind<br />

Rôshi und Mönche in der Zeit vorher sehr beschäftigt.<br />

24. Man kann sagen, daß der lebendige Buddhismus immer dann von einem<br />

Buddha an einen Bodhisattva weitergegeben wird, wenn die Erleuchtung <strong>des</strong><br />

Schülers die Ebene <strong>des</strong> Meisters voll erreicht.<br />

389


6. Zeugnis von Freude und Frieden über das Eins-Sein mit dem<br />

Dharma<br />

27. Dezember<br />

Hochverehrter, lieber HARADA Rôshi,<br />

Freuen Sie sich mit mir! Endlich habe ich mein Ur-Angesicht mit<br />

einer Klarheit wahrgenommen, die Himmel und Erde durchdringt.<br />

Und doch habe ich mich nie als verzweifelten Sucher angesehen.<br />

Der Rôshi und ich haben eine tiefgreifende Illusion gehegt: daß es<br />

erhebend sei, alle verblendeten Geschöpfe zu retten, wie viele Äonen<br />

das auch erfordern mag.<br />

Aber ein also Verblendeter wird als Bodhisattva bezeichnet. Zu erkennen,<br />

daß es niemanden zu retten gibt, das ist (wahres) Retten.<br />

Ach, wie komisch! In<strong>des</strong>sen kennt meine Hochachtung für meinen<br />

Rôshi keine Grenzen. Ja, wahrlich, niemand als der Rôshi kann die<br />

Tragweite meiner Erleuchtung ermessen.<br />

Ich habe das Gefühl, daß es nicht weise sein würde, wenn der Rôshi<br />

anderen erzählen wollte, daß ich, die ich weder Würde noch Größe<br />

habe, vollkommene Erleuchtung gefunden habe, da es sie veranlassen<br />

dürfte, leichtfertig vom Buddhismus zu denken 25 .<br />

Das mag in einer Hinsicht zutreffen; andererseits aber werden viele dadurch<br />

zu größeren Anstrengungen angefeuert werden. Es liegt also kein Grund<br />

zur Beunruhigung vor.<br />

Nur wenige Ausnahme-Menschen würden mein Erlebnis nicht anzweifeln.<br />

Was für eine ungeheure Erleichterung zu entdecken, daß es<br />

mir gerade so, wie ich bin, an nichts fehlt! Was für eine Freude zu<br />

wissen, daß der Rôshi und ich auf ewig beisammen sein werden!<br />

Buddhismus ist für die, die frei von Verblendung sind, nutzlos. Ich<br />

lache in mich hinein bei dem Wissen, daß ich im Grunde immer ein<br />

25. Das besagt, daß es keinen Anlaß zur Verwunderung gäbe, wenn z. B. ein<br />

hochstehender Priester tiefes Satori erlangen würde. Wenn aber ein zartes, gebrechliches<br />

Mädchen von fünfundzwanzig Jahren tiefste Erleuchtung findet, so kann das<br />

sehr wohl dazu führen, daß jene, die solches für unmöglich halten, den Dharma<br />

schmälern.<br />

390


Buddha war - daran habe ich nicht den geringsten Zweifel; aber das<br />

kann ich nur zu jenen sagen, deren Wesensschau der meinen entspricht.<br />

Menschen mit seichterem Kenshô werde ich anderes zu predigen<br />

haben.<br />

Mit einem Herzen voller Dankbarkeit erhebe ich meine Hände in<br />

Gasshô zum Rôshi.<br />

Wie hoch erhaben ist das Wahre Gesetz, wie konsequent vernünftig<br />

von Anfang bis Ende - ich spüre das so lebhaft!<br />

Mit friedevollem Herzen erwarte ich das neue Jahr.<br />

Schonen Sie sich ja.<br />

YAEKO<br />

P. S.: Ich kann jetzt ermessen, von welch gefährlicher Einseitigkeit<br />

ein schwaches Kenshô sein kann 26 .<br />

Das stimmt. <strong>Die</strong> Erleuchtung der meisten <strong>Zen</strong>-Lehrer heutzutage ist von<br />

dieser Art, aber ein einseitiges Satori bleibt ein einseitiges Satori, wie viele<br />

Kôans man auch gelöst haben mag. <strong>Die</strong>se Menschen machen sich leider<br />

nicht klar, daß ihre Erleuchtung unendlicher Ausweitung fähig ist.<br />

Zusammenfassende Anmerkung:<br />

Das Leben als Tada zu leben, bedeutet, den Glorreich-Erhabenen Weg zu<br />

wandeln, den alle Buddhas gegangen sind. Wenn man sich der Notwendigkeit<br />

<strong>des</strong> Buddhismus nicht mehr bewußt ist, manifestiert sich der wahre<br />

Buddhismus. Doch wollte jemand auch nur an diesem Begriff festhalten,<br />

so würde sein Leben von Täuschung umwölkt. Wisch also (den Dunst)<br />

solcher Verhaftung getreulich ab, und dein Leben wird ständig von warmem<br />

Frühlingssonnenschein durchflutet werden.<br />

26. Ein schwaches Kenshô ist ein solches, bei dem die Welt der Leere noch als<br />

verschieden von der Welt der Form aufgefaßt wird. Man ist noch nicht ihrer<br />

wechselseitigen Durchdringung innegeworden.<br />

391


7. Weiteres Zeugnis von Frieden und Freude über das Eins-Sein mit<br />

dem Dharma<br />

27. Dezember<br />

Hochverehrter, lieber HARADA Rôshi,<br />

lassen Sie mich doch oft schreiben.<br />

Endlich habe ich meine Fassung wiedergewonnen. Durch die Erkenntnis,<br />

daß ich selbst Buddha bin,<br />

Ich bin Buddha. Ich bin ich. Ich bin selbstloses Ich.<br />

habe ich die aufrichtige Liebe und Verehrung, die ich für den Rôshi<br />

empfinde, gut verstehen gelernt 27 .<br />

Ich habe mich schon von dem Geruch der Erleuchtung befreit.<br />

Noch nicht ganz. Strömt sogar eben jetzt den schrecklichen Geruch der<br />

Erleuchtung aus.<br />

Meine Dankbarkeit dem Rôshi und dem Dharma gegenüber ist nur<br />

umso tiefer. Ich bin in meinem Innern dankbar für die Erkenntnis,<br />

daß ein Haften an dem Zustand der Verblendung wie auch an dem<br />

der Erleuchtung uns zum Trotz ein immer heftigeres Verlangen<br />

erzeugt, dem Dharma mit größerer Intensität nachzugehen (um so<br />

tiefsten Frieden der Seele zu erlangen) 28 .<br />

Wer nie müde wird, Gutes zu tun, wird Buddha genannt. <strong>Die</strong> Verhaftung<br />

27. Das ist die Liebe, die aus dem Eins-Sein <strong>des</strong> erwachten Buddha-Geistes in<br />

HARADA Rôshi und ihr selbst strömt.<br />

28. Solange unser innerer Blick nicht scharf eingestellt ist und wir uns und die<br />

Welt fälschlich für getrennt und vereinzelt ansehen, statt als unteilbares Ganzes,<br />

sind wir verblendet. <strong>Die</strong>se Verzerrung (unsere Grund-Unwissenheit) entstellt unsere<br />

Sicht und Reaktion allem gegenüber. Infolge<strong>des</strong>sen sehen, d. h. erleben wir die<br />

Dinge nicht, wie sie ihrer wahren Natur nach sind. Nun ruft das Erlebnis der<br />

Erleuchtung, während es uns unsere Zusammengehörigkeit mit allen Dingen offenbart<br />

und solchermaßen unsere verschobene innere Sicht scharf einstellt, paradoxerweise<br />

einen feinen Nebel von Stolz auf solche Leistung hervor, und der beeinträchtigt<br />

die ursprüngliche Reinheit <strong>des</strong> Geistes. Solange diese Verunreinigung<br />

bestehen bleibt, bleibt noch schleichende Unruhe zurück. Aber eben diese Unruhe<br />

wirkt als Ansporn, weiter zu üben, bis die Verhaftung an die eigene Erleuchtung<br />

gelöst und tiefster Friede und tiefste Freiheit erreicht sind.<br />

392


an das Dharma jedoch ist keine Tugend, und solche Verhaftung ist auch<br />

nicht leicht zu lösen.<br />

Verblendung und Erleuchtung sind gleichermaßen anstößig.<br />

Der Rôshi kann ermessen, wie ungeheuer befriedigend es für mich ist,<br />

durch vollkommene Wesensschau endlich zu entdecken, daß es mir<br />

gerade so, wie ich bin, an nichts mangelt.<br />

Ich weiß, was für ein Gefühl das ist. Selbst der hochverehrte SHAKYAMUNI<br />

klammerte sich <strong>drei</strong> Wochen lang an den (köstlichen) Geschmack seiner<br />

Erleuchtung. Wenn sie sich dieser Selbstzufriedenheit nicht entledigt, kann<br />

sie den wahren Buddhismus nicht begreifen.<br />

Das Wissen, daß meine karmische Beziehung zum Rôshi so tiefreichend<br />

ist, hat mich zu mehr Selbstachtung und Vorsicht gebracht.<br />

Ich habe nun eine große Erleuchtung und fünf kleine erlebt. Bis zum<br />

heutigen Tage hatte ich vergessen, wer und wo ich war und was<br />

ich tat.<br />

Gehen, ohne zu wissen, daß man geht; sitzen, ohne zu wissen, daß man<br />

sitzt - das ist wahres samâdhi im <strong>Zen</strong>. Solange das Ich nicht in diesem<br />

Ausmaß gebannt ist, gibt es keine wahre Auferstehung. Du hast es wahrlich<br />

gut gemacht. KUNG Dse vergaß <strong>drei</strong> Tage lang das Essen, so versunken war<br />

er einzig in seine Musik.<br />

Ich habe meine Verblendung derart gründlich fortgefegt und bin so<br />

tief eingedrungen, daß ich nicht in meinen gewöhnlichen Zustand<br />

zurückkehren konnte.<br />

Laß es, wie es ist.<br />

Ich bat TAJI Rôshi um Dokusan, und er erklärte mir, daß das auf die<br />

Kraft tiefer Konzentration zurückzuführen sei.<br />

Ja, zurückzuführen auf die Kraft, die von tiefster geistiger Sammlung<br />

erzeugt wird 29 .<br />

Ich dachte, es wäre vielleicht nötig, den Rôshi zu bitten herzukommen,<br />

damit ich weiteren Rat erhielte. Aber dann kam mir eine tiefe<br />

29. Siehe S. 81-82.<br />

393


Einsicht, und ich betete vor dem Buddha und verlor mich dann an<br />

Shikantaza für eine Zeit, die etwa <strong>drei</strong> Stunden ausgemacht haben<br />

muß.<br />

Es bedarf <strong>des</strong> Gebetes nicht.<br />

Schließlich konnte ich zu meiner normalen Verfassung zurückkehren.<br />

Das <strong>Zen</strong>, das ich (nach der Erleuchtung) übte, war tatsächlich verzweifelt,<br />

da ich mir eingebildet hatte, daß es irgendeinen Rückstand<br />

gäbe, mit dem es aufzuräumen gelte. Es ist mir klar, daß ich nie auf<br />

Zazen verzichten kann. Ich bin so dankbar, so dankbar für diese<br />

Erkenntnis, daß es in sich selbst Vollkommenheit ist, wenn ich so,<br />

wie ich bin, Leben auf Leben einfach nur da bin.<br />

Im ganzen Weltall bin ich erhaben, und das ist vollkommen natürlich.<br />

Wer unter den zehntausend Phänomenen <strong>des</strong> Weltalls einzigartig erscheint,<br />

ist nicht anders als sie!<br />

Ich bin erstaunt,<br />

(Erstaunt) vom Gesichtspunkt <strong>des</strong> verblendeten Durchschnittsmenschen<br />

aus.<br />

daß ich jenes Eine bin. Wie wunderbar, wie voller Wunder!<br />

Ich bin in guter Stimmung, machen Sie sich also bitte keine Sorge um<br />

mich.<br />

YAEKO<br />

P. S.: Mir steigen Tränen der Dankbarkeit und Freude auf, wenn ich<br />

daran denke, daß ich die <strong>Zen</strong>-Schulung von Anfang bis Ende ohne<br />

Anstrengung durchlaufen habe und daß ich die Führung <strong>des</strong> Rôshi<br />

auf ewig erhalten darf 30 .<br />

Zusammenfassende Anmerkung:<br />

Einem alten <strong>Zen</strong>-Sprichwort nach ist es ebenso eine Krankheit, an der<br />

eigenen Erleuchtung zu haften, wie ein verrückt-aktives Ich zu zeigen. Ja,<br />

30. Aus Hochachtung und Bescheidenheit sucht man stets bei seinen Lehrern Führung.<br />

DÔGEN <strong>Zen</strong>ji bittet in seinem Hotsugammon den Buddha und die Patriarchen<br />

um ewige Führung.<br />

394


je tiefer die Erleuchtung, <strong>des</strong>to schlimmer die Krankheit. Ich hätte gedacht,<br />

daß es in ihrem Fall <strong>drei</strong> bis vier Monate dauern würde, bis die offensichtlichsten<br />

Symptome verschwänden, zwei bis <strong>drei</strong> Jahre bei den tiefer sitzenden<br />

und sieben bis acht Jahre bei den heimtückischsten. Solche Symptome<br />

sind bei jemandem, der so sanft ist wie sie, weniger ausgeprägt. Wer <strong>Zen</strong><br />

übt, muß davor auf der Hut sein. Meine eigene Krankheit währte fast zehn<br />

Jahre. Ha!<br />

8. Vorahnung <strong>des</strong> To<strong>des</strong><br />

28, Dezember<br />

Hochverehrter, lieber HARADA Rôshi,<br />

ehe das Jahr zu Ende geht, muß ich den Rôshi auf jeden Fall, auf<br />

jeden Fall sehen, komme, was mag.<br />

Ich muß dem Rôshi etwas Beunruhigen<strong>des</strong> mitteilen. Ich habe das<br />

sichere Gefühl, daß die Zeit meines Scheidens vom Rôshi nahe ist.<br />

So bitte ich, mich um jeden Preis zu besuchen. Um <strong>des</strong> Dharma willen.<br />

Ich bitte nach reiflicher Überlegung darum. Ich versichere, es ist<br />

keine Halluzination.<br />

Schluß-Anmerkung:<br />

YAEKO<br />

Aus diesem ihrem letzten Brief geht klar hervor, daß YAEKO ein Vorzeichen<br />

<strong>des</strong> To<strong>des</strong> hatte. Angesichts <strong>des</strong> strahlenden Tones der sieben<br />

vorangegangenen Briefe wurde ich durch den unheilvollen Ton dieses<br />

letzten erschreckt und traurig gemacht. Ich hatte gehofft, daß ihr Tod doch<br />

nicht so bald eintreten würde. Was für ein schrecklicher Jammer!<br />

Ein Sûtra sagt, daß es die ideale Art zu sterben sei: mit einer Ankündigung<br />

<strong>des</strong> To<strong>des</strong> eine Woche zuvor, unter wenig Schmerzen und Leiden und<br />

unerschütterlich heiteren Geistes, frei von aller Verhaftung an den Körper.<br />

Das ist das von allen Buddhisten gehegte Ideal. Aber seine Verwirklichung<br />

ist keineswegs leicht.<br />

395


Der Patriarch CHÛHÔ hat einmal feierlich erklärt:<br />

«Ich möchte sterben mit einer To<strong>des</strong>-Warnung eine Woche zuvor, heiter<br />

unerschütterlichen Geistes und frei von aller Verhaftung an meinen<br />

Körper, um in der Folge im Bereich der Buddhas wiedergeboren zu werden,<br />

und durch sie schließlich tiefste Erleuchtung zu gewinnen und ihre<br />

Bestätigung zu erhalten, auf daß ich umso besser alle Geschöpfe in den<br />

unzähligen Welten retten kann.»<br />

YAEKOS Tod war in diesem Geiste. Vor diesem Brief hatte ich ein Telegramm<br />

erhalten, in dem sie mich dringend bat, sie zu besuchen. Am<br />

29. Dezember (1935) eilte ich an ihr Lager nach Kamakura. Bei unserem<br />

Wiedersehen und Gespräch bestätigte ich, daß das Auge ihres Geistes<br />

geöffnet war.<br />

Sie war in Tränen. Ich auch. Ich weinte vor Freude und Kummer. Sie<br />

hatte für sich selbst nicht die geringste Angst vor dem Sterben 31 , aber da<br />

sie nur an den Dharma und die Erleuchtung anderer dachte, war sie tief<br />

besorgt, daß ihre Freunde und Verwandten irrtümlicherweise glauben<br />

könnten, daß ihre <strong>Zen</strong>-Schulung und das Erlebnis der Erleuchtung ihren<br />

Tod verursacht hätten. Sie fürchtete, daß solch irriger Glaube jene, die<br />

noch keinen wahren Glauben an den Buddhismus hatten, dazu führen<br />

könnte, den Dharma von sich zu weisen. Wenn es dazu kommen sollte,<br />

so hätte sie karmisch einen schweren Verstoß nicht allein gegen den<br />

Dharma, sondern auch gegen eben jene Menschen begangen. Zudem würde<br />

sie, wie sie meinte, der Untreue und Verantwortungslosigkeit den Buddhas<br />

und der ganzen Menschheit gegenüber schuldig.<br />

<strong>Die</strong>se Gedanken lasteten schwer auf ihr. Obgleich sie willens war, eine<br />

Wiedergeburt in der Hölle auf sich zu nehmen als Folge solcher Übertretungen,<br />

war ihr doch der Gedanke unerträglich, daß sie als Werkzeug<br />

dienen sollte, um andere Menschen in falsche Richtung zu führen. Im Laufe<br />

<strong>des</strong> ganzen Tages und der Nacht, da ich bei ihr blieb, besprach sie diese<br />

Sorge mit mir. Ich versicherte ihr, daß sie keinen Grund zur Beunruhigung<br />

hätte, da ich solche falschen Auffassungen berichtigen würde.<br />

Ich hatte sie oft gewarnt, sich nicht zu überanstrengen, wobei ich darauf<br />

hingewiesen hatte, daß das dem Wahren Gesetz entgegen sei, und weiterhin,<br />

daß jene, die den Willen dazu hätten, die <strong>Zen</strong>-Übung betreiben könnten,<br />

ohne sich zu überanstrengen. Es ist natürlich nicht unmöglich, daß sie<br />

unwissentlich meine Warnungen nicht beachtet hat und, wenn man ihre<br />

31. Siehe KUNG Tze: «Sieht man am Morgen den Weg, so kann man am Abend<br />

freudig sterben.»<br />

396


zarte Gesundheit berücksichtigt, ihre Kräfte durch übermäßige Anspannung<br />

untergraben hat, was ihren Tod beschleunigte. Ihre größte Furcht 32<br />

war, daß die Ursache ihres To<strong>des</strong> von Menschen (die, da sie dem Dharma<br />

schuld geben würden, daß es übermäßige Anforderungen an sie gestellt<br />

habe) mißverstanden werden dürfte, und jene daraufhin dazu verleitet würden,<br />

es zu verachten.<br />

Wie immer das auch sein mag, die wirksame Kraft ihres Lebens liegt in<br />

dem dadurch gegebenen bewährten Beispiel, daß es durchaus möglich ist,<br />

einfach im eigenen Hause und teils auf dem Krankenlager <strong>Zen</strong> recht zu<br />

üben und sogar vollkommene Erleuchtung zu finden. Wenn fester Wille<br />

vorhanden ist, kann man immer Zazen üben, selbst bei gebrechlicher Konstitution<br />

und ohne Sesshin besuchen zu können. Das ist es, was ihre bemerkenswerte<br />

Erfahrung so heraushebt und was in der neueren Geschichte <strong>des</strong><br />

<strong>Zen</strong> festgehalten werden muß.<br />

Nun ist YAEKO tot - ein wahrhaft großer Verlust. Ihr mutiges Leben ist<br />

jedoch derart inspirierend und sein Einfluß so weitreichend, daß es mit<br />

Sicherheit die Verbreitung <strong>des</strong> Buddhismus fördern und der Menschheit<br />

zum Wohle dienen wird.<br />

32. YAEKOS Sorge über mögliche Mißverständnisse im Hinblick auf ihr Ableben<br />

mag übertrieben und sogar unvernünftig erscheinen, denn wie kann sie für die<br />

Auslegung ihrer To<strong>des</strong>ursache durch andere verantwortlich gemacht werden? Man<br />

muß jedoch daran denken, daß tiefe Erleuchtung, indem sie die wechselseitige<br />

Abhängigkeit allen Daseins klarmacht, ein starkes moralisches Verantwortungsgefühl<br />

für die unmittelbaren und mittelbaren Rückwirkungen eigenen Tuns und<br />

Lassens auf das Leben anderer schafft.<br />

397


Dritter Teil<br />

Ergänzungen


Siebtes Kapitel<br />

Dôgen<br />

über «Sein-Zeit»<br />

Einführung<br />

In diesem Buch hatten wir mehrfach Gelegenheit, den großen DÔGEN<br />

<strong>Zen</strong>ji und sein Hauptwerk Shôbôgenzô (Schatzkammer <strong>des</strong> Auges<br />

<strong>des</strong> Wahren Dharma 1 ) zu erwähnen. Der Mann wie seine Schriften<br />

verdienen ein Buch für sich allein. Hier können wir nur einen Hinweis<br />

auf ihren hohen Rang geben.<br />

DÔGEN KIGEN (auch als DÔGEN EIHEI bekannt, nach dem Namen<br />

seines Tempels Eihei-Ji, oder Tempel <strong>des</strong> Ewigen Friedens) lebte von<br />

1200-1253 und war wahrscheinlich der glänzendste Geist, den der<br />

japanische Buddhismus je hervorgebracht hat. Obgleich man DÔGEN<br />

das Verdienst, die Lehren der Sôtô-Sekte von China nach Japan<br />

gebracht zu haben, zuschreibt, scheint es doch klar zu sein, daß er<br />

niemals beabsichtigte, eine Sôtô-Sekte als solche zu gründen, sondern<br />

daß er vielmehr ein ganzheitliches <strong>Zen</strong> fördern wollte, das sich auf<br />

die höchsten Lehren und Übungsweisen von SHAKYAMUNI Buddha<br />

gründete. Ja, er mißbilligte vielmehr alle sektiererischen Einteilungen,<br />

ob es sich nun um Sôtô, Rinzai und Ôbaku oder um die umfassenderen<br />

Kategorien von Hīnayâna und Mahâyâna handeln mochte<br />

Es ist irreführend, DÔGEN als einen «scharfsinnigen Denker» zu<br />

bezeichnen, wie es manche getan haben, als sei er eher ein Philosoph<br />

denn ein <strong>Zen</strong>-Meister. DÔGEN als hochgesinnter Lehrer, der lebte,<br />

was er lehrte, suchte die Menschen von den Fesseln der Habgier,<br />

1. Das dem Wahren Dharma geöffnete Auge <strong>des</strong> Geistes.<br />

401


Angst und Verblendung zu befreien, indem er sie lehrte, wie man ein<br />

wahrhaft sinnvolles Leben führt, das auf dem Weg <strong>des</strong> Buddha<br />

basiert. Es ging ihm nicht darum, ein System spekulativer Gedankengänge<br />

darzulegen.<br />

Shôbôgenzô, das aus fünfundneunzig Kapiteln besteht, wurde innerhalb<br />

von fünfundzwanzig Jahren geschrieben und kurz vor DÔGENS<br />

Tod vollendet. DÔGEN behandelt darin so einfache und erdnahe<br />

Dinge wie die richtige Art <strong>des</strong> Benehmens auf der Toilette in einem<br />

Kloster und so hoch metaphysische wie die Beziehung von Zeit und<br />

Sein zu Schulung-Erleuchtung. DÔGENS ganze Ausdrucksweise ist<br />

einzigartig; das kann zweifellos sowohl dem Wesen seiner Erleuchtung<br />

zugeschrieben werden, die von vielen für die tiefreichendste im<br />

japanischen Buddhismus angesehen wird, als auch seinem von Natur<br />

aus glänzenden, höchst schöpferischen Geist. In unterrichteten <strong>Zen</strong>-<br />

Kreisen sagt man, daß die tiefsinnigen Kapitel <strong>des</strong> Shôbôgenzô der<br />

Mount Everest <strong>des</strong> japanischen Buddhismus seien, und daß der, der<br />

bis zu jenem Gipfel aufsteigen wolle, das geöffnete Auge voller<br />

Erleuchtung haben müsse und die Sicherheit <strong>des</strong> Fußfassens von<br />

einem Kletterer, wie man sie nur durch jahrelange Schulung gewinnt.<br />

Um dem Leser eine Ahnung von Stil und Dimension von DÔGENS<br />

Shôbôgenzô zu geben, legen wir einen kurzen Auszug aus dem<br />

11. Kapitel vor, der die Überschrift «Sein-Zeit» trägt, vermutlich<br />

das tiefsinnigste Kapitel <strong>des</strong> Buches. Unserer Meinung nach ist der<br />

übersetzte Abschnitt, der ungefähr ein Drittel <strong>des</strong> Kapitels ausmacht,<br />

im wissenschaftlich orientierten zwanzigsten Jahrhundert für <strong>Zen</strong>-<br />

Schüler besonders bedeutsam, da er in einzigartiger Weise den Sinn<br />

von Zeit und Weltall offenbart. Darüber hinaus macht er klar, daß<br />

DÔGENS Ein-Sichten, wie er sie im <strong>drei</strong>zehnten Jahrhundert introspektiv<br />

durch Zazen gewann, den Auffassungen gewisser zeitgenössischer<br />

Mikro- und Makrophysiker über Zeit und Raum, zu denen sie<br />

durch wissenschaftliche Prinzipien und Methoden gelangten, in<br />

bemerkenswerter Weise parallel laufen. Der Unterschied jedoch, der<br />

ein tief bedeutsamer ist, liegt in der Wirkung, die diese Einsichten<br />

auf jene Menschen hatten. DÔGENS Erkenntnis, die eine Selbst-Entdeckung<br />

war, befreite ihn von der Urangst der menschlichen Exi-<br />

402


stenz und brachte ihm innere Freiheit, Frieden und tiefe moralische<br />

Sicherheit. Aber soweit man zurzeit sehen kann, ist in der Spur der<br />

wissenschaftlichen Entdeckungen keine solche innere Entfaltung<br />

erfolgt.<br />

Ein Wort zur Warnung: <strong>Die</strong>se Zeilen sollten nicht als abstrakte<br />

Metaphysik gelesen werden. DÔGEN denkt nicht über die Beschaffenheit<br />

von Zeit und Sein nach, sondern spricht aus tiefstem Erleben<br />

jener Wirklichkeit. Sein Hauptanliegen geht stets um Übung und<br />

Erleuchtung, stets darum, seine Leser zur Erkenntnis der Wahrheit<br />

ihrer selbst wie <strong>des</strong> Universums zu führen. Das wird im Fukan<br />

Zazengi (Ratschläge zu <strong>Zen</strong> für die Allgemeinheit) in folgender<br />

Ermahnung deutlich ausgesprochen:<br />

«Ihr müßt; aufhören, euch um die Dialektik <strong>des</strong> Buddhismus zu kümmern,<br />

und statt <strong>des</strong>sen lernen, wie ihr in Zurückgezogenheit in eure eigene Seele<br />

blickt.»<br />

«Sein-Zeit»<br />

Ein <strong>Zen</strong>-Meister alter Zeit 2 hat gesagt:<br />

«Sein-Zeit steht auf dem obersten Gipfel und in der tiefsten Tiefe <strong>des</strong><br />

Meeres; Sein-Zeit ist <strong>drei</strong> Köpfe und acht Ellbogen; eine Höhe von sechzehn<br />

oder achtzehn Fuß ist Sein-Zeit; der Stab eines Mönchs ist Sein-Zeit;<br />

hossu 3 ist Sein-Zeit; die Steinlaterne ist Sein-Zeit; TARÔ ist Sein-Zeit,<br />

JIRÔ 4 ist Sein-Zeit; Erde ist Sein-Zeit, Himmel ist Sein-Zeit.»<br />

«Sein-Zeit» heißt, daß Zeit Sein ist. Jegliches daseiende Ding ist Zeit.<br />

<strong>Die</strong> goldene Statue von sechzehn Fuß ist Zeit. Da sie Zeit ist, hat sie<br />

die Großartigkeit der Zeit. Man muß lernen, daß sie die zwölf Stun-<br />

2. YAKUSAN IGEN <strong>Zen</strong>ji, ein chinesischer Meister der T'ang-Zeit.<br />

3. Ein kurzer Holzstab, wie ihn <strong>Zen</strong>-Meister bei sich führten, um Fliegen und<br />

Mücken zu verscheuchen, mit einem Schweif.<br />

4. <strong>Die</strong>se Namen werden in gleicher Weise gebraucht wie bei uns HANS, KARL und<br />

FRITZ.<br />

403


den 5 der «Jetztheit» ist. Drei Köpfe und acht Ellbogen sind Zeit. Da<br />

sie Zeit sind, müssen sie identisch sein mit diesen zwölf Stunden, eben<br />

diesen Augenblick. Obgleich wir zwölf Stunden nicht als lange oder<br />

kurze Zeit messen, nennen wir sie doch (willkürlich) zwölf Stunden.<br />

<strong>Die</strong> Spuren von Flut und Ebbe der Zeit sind so offensichtlich, daß<br />

wir sie nicht anzweifeln. Doch obgleich wir sie nicht anzweifeln,<br />

sollten wir daraus nicht schließen, daß wir sie begreifen. Menschen<br />

sind wankelmütig: Einmal zweifeln sie an dem, was sie nicht begreifen,<br />

und zu anderer Zeit zweifeln sie nicht mehr an demselben Ding.<br />

So deckt sich ihr früheres Zweifeln nicht immer mit dem gegenwärtigen.<br />

Das Zweifeln selbst aber, wie es ist, ist Zeit in diesem Augenblick.<br />

Der Mensch schafft sich eine Ordnung und legt diese Ordnung als<br />

die Welt aus. Es gilt zu erkennen, daß ein jegliches Ding, ein jegliches<br />

Lebewesen im ganzen Weltall Zeit ist. Kein Ding behindert ein<br />

anderes, ebenso wie keine Zeit eine andere behindert. Also besteht<br />

die ursprüngliche Hinwendung eines jeden Geistes zur Wahrheit<br />

innerhalb der gleichen Zeit, und für jeden Geist gibt es ebensowohl<br />

auch einen Augenblick, da seine Hinwendung zur Wahrheit beginnt.<br />

Mit Übung-Erleuchtung ist es nicht anders.<br />

Der Mensch schafft sich eine Ordnung und sieht diese Ordnung (als<br />

die Welt) an. Es ist ebenso unbestreitbar, daß der Mensch Zeit ist.<br />

Man muß anerkennen, daß es in dieser Welt Millionen von Dingen<br />

gibt, und daß ein jegliches gleichermaßen die gesamte Welt ist - das<br />

ist es, womit das Studium <strong>des</strong> Buddhismus beginnt. Wenn man das<br />

erkennt (wird man gewahr), daß ein jegliches Ding, ein jegliches<br />

lebendige Ding das Ganze ist, obgleich es selbst das nicht erkennt.<br />

Da es keine andere Zeit als diese gibt, ist eine jegliche Sein-Zeit die<br />

Gesamtheit der Zeit. Jeder Zeitpunkt schließt jegliches Sein und jegliche<br />

Welt ein. Denkt einmal nach, ob es irgendein denkbares Sein<br />

oder irgendwelche denkbaren Welten gibt, die nicht in dieser gegenwärtigen<br />

Zeit eingeschlossen sind.<br />

5. Das heißt: der 12-Stunden-Tag und könnte gleichermaßen der 24-Stunden-Tag<br />

mit Tag und Nacht sein.<br />

404


Wenn ihr gewöhnliche Menschen seid, unbewandert im Buddhismus,<br />

werdet ihr zweifellos, wenn ihr die Worte am toki 6 hört, darunter<br />

verstehen, daß (sie «einmal», «zu einer Zeit» bedeuten, also) zu einer<br />

Zeit das Sein als <strong>drei</strong> Köpfe und acht Ellbogen erschien, daß zu einer<br />

Zeit das Sein eine Höhe von sechzehn bis achtzehn Fuß war, oder<br />

daß ich zu einer Zeit durch den Fluß watete und zu einer Zeit über<br />

das Gebirge ging. Ihr mögt denken, daß jener Fluß und jenes Gebirge<br />

Dinge der Vergangenheit sind, daß ich sie hinter mir gelassen habe<br />

und nun in diesem palastartigen Gebäude lebe - daß sie von mir so<br />

getrennt sind wie der Himmel von der Erde.<br />

<strong>Die</strong> Wahrheit jedoch hat noch eine andere Seite. Als ich auf den Berg<br />

stieg und den Fluß überquerte, war ich (Zeit). Zeit muß notwendigerweise<br />

mit mir sein. Ich bin schon immer; Zeit kann mich nicht<br />

verlassen. Wenn Zeit nicht als ein Phänomen aufgefaßt wird, das<br />

verebbt und flutet, so ist die Zeit, da ich den Berg erstieg, der gegenwärtige<br />

Augenblick der Sein-Zeit. Wenn Zeit nicht als kommend und<br />

gehend gedacht wird, ist dieser gegenwärtige Augenblick für mich<br />

die absolute Zeit. Zu der Zeit, da ich den Berg erstieg und den Fluß<br />

überquerte, erlebte ich da nicht die Zeit, die ich in diesem Gebäude<br />

bin? Drei Köpfe und acht Ellbogen ist die gestrige Zeit; eine Höhe<br />

von sechzehn bis achtzehn Fuß ist die heutige; aber «gestern» und<br />

«heute» bedeuten die Zeit, da man geradewegs in die Berge geht<br />

und die zehntausend Gipfel 7 sieht. Sie ist nie vergangen. Drei Köpfe<br />

und acht Ellbogen ist meine Sein-Zeit. Sie scheint vergangen zu sein,<br />

aber sie ist gegenwärtig. Also ist die Kiefer Zeit und also der Bambus.<br />

Fasse Zeit nicht so auf, als verflöge sie nur; verfliegen ist nicht ihr<br />

einziges Wirken. Auf daß die Zeit verfliegen könnte, müßte es eine<br />

Trennung geben (von ihr und den Dingen). Da ihr meint, daß Zeit<br />

lediglich vergeht, lernt ihr nicht die Wahrheit über Sein-Zeit. Mit<br />

einem Wort: Jegliches Sein in der gesamten Welt ist eine gesonderte<br />

Zeit in einem Kontinuum. Und da Sein Zeit ist, bin ich meine Sein-<br />

6. <strong>Die</strong> gleichen chinesischen Schriftzeichen können entweder als aru toki (= einmal,<br />

zu einer Zeit) gelesen werden, oder als uji, was «Sein-Zeit» bedeutet.<br />

7. <strong>Die</strong> «zehntausend Gipfel der Berge» sollten symbolisch verstanden werden als<br />

die zahllosen, verschiedenen Umstände und Tätigkeiten <strong>des</strong> Lebens.<br />

405


Zeit. Zeit hat die Eigenschaft, sozusagen von heute auf morgen überzugehen,<br />

von heute auf gestern, von gestern auf heute, von heute auf<br />

heute, von morgen auf morgen. Da dieses Übergehen eine Eigenschaft<br />

der Zeit ist, überschneiden sich gegenwärtige und vergangene<br />

Zeit nicht, noch stoßen sie einander. Aber der Meister SEIGEN ist<br />

Zeit, ÔBAKU ist Zeit, KÔSEI ist Zeit, SEKITÔ 8 ist Zeit. Da ihr und ich<br />

Zeit sind, ist Übung-Erleuchtung Zeit.<br />

8. Chinesische <strong>Zen</strong>-Meister alter Zeit.<br />

406


Achtes Kapitel<br />

<strong>Die</strong> zehn Ochsenbilder<br />

mit Kommentaren<br />

und Lobsprüchen<br />

Von den mancherlei Darstellungen der verschiedenen Ebenen <strong>des</strong><br />

Satori beim <strong>Zen</strong> ist keine besser bekannt als jene durch die Ochsenbilder,<br />

eine Folge von zehn Illustrationen, versehen mit Anmerkungen<br />

und Lobsprüchen. Wahrscheinlich wurde der Ochse auf Grund<br />

seiner im alten Indien geheiligten Natur dazu ausersehen, das Urwesen<br />

oder den Buddha-Geist <strong>des</strong> Menschen zu symbolisieren.<br />

<strong>Die</strong> ursprünglichen Zeichnungen und die Kommentare, die sie begleiten,<br />

werden KAKUAN SHIEN (KUO-AN SHIH-YÜAN), einem chinesischen<br />

<strong>Zen</strong>-Meister <strong>des</strong> zwölften Jahrhunderts, zugeschrieben. Aber er<br />

war nicht der erste, der die Entwicklungsstadien der <strong>Zen</strong>-Erleuchtung<br />

durch Bilder veranschaulichte. Es gibt ältere Versionen mit fünf<br />

und acht Bildern, bei denen der Ochse allmählich immer weißer<br />

wird; das letzte Bild stellt einen Kreis dar. Das besagt, daß die<br />

Erkenntnis <strong>des</strong> Eins-Seins (d. h. das Austilgen jeder Vorstellung von<br />

«Ich» und «Anderes») das höchste Ziel <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> war. Da KAKUAN das<br />

aber für unvollständig hielt, fügte er zwei weitere Bilder nach dem<br />

Kreis hinzu, um klarzumachen, daß der <strong>Zen</strong>-Mensch von höchster<br />

geistiger Entwicklung in der irdischen Welt der Formen und Vielfalt<br />

lebt und sich mit völliger Freiheit unter die gewöhnlichen Menschen<br />

mischt, die er durch sein Erbarmen und seine Strahlkraft dazu inspiriert,<br />

den Weg <strong>des</strong> Buddha zu gehen. <strong>Die</strong>se Version hat in Japan weiteste<br />

Verbreitung gefunden. Sie hat sich all die Jahre hindurch als nie<br />

versiegender Quell der Anregung und Belehrung für <strong>Zen</strong>-Schüler<br />

erwiesen. Wir zeigen sie hier, wie schon auf Seite 22 erwähnt, als<br />

moderne Tuschzeichnung von GYOKUSEI JIKIHARA 1 .<br />

407


1. <strong>Die</strong> Suche nach dem Ochsen<br />

Der Ochse ist in Wirklichkeit nie verloren gegangen; warum also ihn<br />

suchen? Da der Mensch sich aber von seinem Wahren Wesen abgewandt<br />

hat, ist der Ochse ihm fremd geworden; er hat ihn im Staub 2<br />

aus den Augen verloren. Weit ist der Mensch von seiner Heimat<br />

abgeirrt und sieht sich nun einem Wirrsal von Wegen gegenüber.<br />

Gier nach Gewinn und Furcht vor Verlust schießen wie sengende<br />

Flammen empor; Vorstellungen von Recht und Unrecht stehen gleich<br />

Dolchen auf.<br />

Trostlos in endloser Weite<br />

bahnt er sich auf und ab den Weg<br />

in wucherndem Gras<br />

und sucht seinen Ochsen.<br />

Weites Wasser, ferne Berge,<br />

und der Weg zieht sich endlos dahin.<br />

408<br />

Völlig erschöpft ist der Körper,<br />

verzweifelt ermattet das Herz;<br />

wo nur soll er suchen?<br />

Im Abendnebel hört er einzig<br />

Zikaden im Ahorn zirpen.


2. Erblicken der Spuren<br />

Durch Sûtras und Lehren findet er die Spur <strong>des</strong> Ochsen. Er hat genau<br />

verstanden, daß verschieden geformte (goldene) Gefäße doch alle<br />

von gleichem Gold sind und daß gleichermaßen alles und je<strong>des</strong> eine<br />

Offenbarung <strong>des</strong> Selbst ist. Doch kann er noch nicht Gut und Böse<br />

unterscheiden, nicht Wahrheit von Trug. Noch ist er nicht wirklich<br />

durch das Tor eingetreten. Deshalb nennt man dieses Stadium «Erblicken<br />

der Spuren».<br />

Im Wald und am Gestade <strong>des</strong> Wassers<br />

finden sich unzählige Fußspuren;<br />

sieht er wohl das zerteilte Gras?<br />

Selbst die tiefsten Schluchten der höchsten Berge<br />

können <strong>des</strong> Ochsen Nase nicht verbergen,<br />

reicht sie doch bis in den Himmel.<br />

409


3. Erblicken <strong>des</strong> Ochsen<br />

Wenn er nur gespannt auf die alltäglichen Laute horcht 3 , wird er zur<br />

Erkenntnis gelangen und in eben dem Augenblick den wahren<br />

Ursprung erblicken. <strong>Die</strong> sechs Sinne unterscheiden sich nicht von diesem<br />

wahren Ursprung. In jedem Wirken ist der Ursprung unverhüllt<br />

gegenwärtig. Er entspricht dem Salz im Wasser, dem Leim in<br />

der Farbe <strong>des</strong> Malers 4 . Wenn der Hirte die Augen weit aufschlägt,<br />

wird er inne, daß das Gesehene vom Ursprung nicht verschieden ist.<br />

Eine Nachtigall schlägt auf einem Zweig,<br />

warm scheint die Sonne, sanft weht der Wind,<br />

die Weiden grünen.<br />

Dort steht der Ochse, wo könnt' er sich verbergen?<br />

Das herrliche Haupt, die stattlichen Hörner,<br />

kein Maler kann solches je malen.<br />

410


4. Einfangen <strong>des</strong> Ochsen<br />

Heute hat er den Ochsen getroffen, der lange in der Wildnis umhergestreift<br />

war. Doch der Ochse schwelgte so lange in dieser Wildnis,<br />

daß es nicht leicht ist, ihn von seinen alten Gewohnheiten loszureißen.<br />

Er sehnt sich noch nach dem süß duftenden Gras, noch ist er<br />

eigensinnig und wild. Will der Hirte ihn zähmen, so muß er zur<br />

Peitsche greifen.<br />

Fest muß der Hirt das Leitseil packen,<br />

darf es nicht loslassen,<br />

denn noch hat der Ochse schlimme Neigungen und wilde Kraft.<br />

Bald rennt er ins Hochland hinauf,<br />

bald läuft er tief in Stätten voller Dunst und Nebel<br />

und verweilt dort.<br />

411


5. Zähmen <strong>des</strong> Ochsen<br />

Erhebt sich ein Gedanke, so folgen weitere und weitere. Gedanken<br />

werden durch Erleuchtung wirklich; infolge der Verblendung werden<br />

sie unwirklich. <strong>Die</strong> Dinge erhalten ihr Dasein nicht durch die<br />

Umwelt, sondern sie erheben sich einzig im eigenen Geiste. Fest muß<br />

der Ochshirt das Leitseil packen und darf keinen Zweifel eindringen<br />

lassen.<br />

Der Hirte darf Peitsche und Leitseil<br />

keinen Augenblick aus der Hand lassen,<br />

sonst läuft der Ochse davon in den Staub.<br />

Recht gezähmt jedoch, wird er sauber und sanft,<br />

gelöst vom Seil, folgt er willig dem Hirten.<br />

412


6. Heimritt auf dem Ochsen<br />

Der Kampf ist vorüber: «Gewinn» und «Verlust» haben sich in Leere<br />

aufgelöst. Der Hirt singt die ländliche Weise der Holzfäller und<br />

spielt auf der Flöte die einfachen Lieder der Dorfkinder. Er sitzt<br />

bequem auf dem Rücken <strong>des</strong> Ochsen und blickt heiter zu den Wolken<br />

droben auf. Ruft man ihn an, so sieht er sich nicht um; will man ihn<br />

festhalten, so bleibt er doch nicht hier.<br />

Er reitet auf dem Ochsen heim<br />

in heiterer Gelassenheit.<br />

Den fernhinziehenden Abendnebel<br />

begleitet weithin der Klang seiner Flöte.<br />

Ein Klatschen, der Takt eines Lie<strong>des</strong><br />

ist von unumschränktem Sinn.<br />

Wer diesen Sinn kennt,<br />

braucht der denn noch Worte? 5<br />

413


7. Der Ochse ist vergessen, der Mensch bleibt<br />

Im Dharma gibt es keine Zweiheit. Der Ochse ist unser urinnerstes<br />

Wesen - das hat er nun erkannt. Eine Falle ist nicht mehr erforderlich,<br />

wenn der Hase gefangen ist, ein Netz nicht mehr vonnöten,<br />

wenn der Fisch geködert wurde. Es ist, als wäre Gold von der<br />

Schlacke befreit worden; als wäre der Mond zwischen den Wolken<br />

zum Vorschein gekommen. Ein Strahl von klarstem Glanz scheint<br />

immerdar von Urbeginn an.<br />

Heimkehren konnte er nur auf dem Ochsen,<br />

nun gibt es den Ochsen nicht mehr.<br />

Allein sitzt der Hirte, heiter und ruhig.<br />

<strong>Die</strong> rote Sonne steht schon hoch am Himmel,<br />

doch er träumt friedlich weiter.<br />

Unter dem Strohdach liegen nun<br />

Peitsche und Leitseil nutzlos herum.<br />

414


8. Ochse und Mensch sind vergessen<br />

Aller Verblendung ist er ledig, und auch alle Vorstellungen von Heiligkeit<br />

sind verschwunden. Nicht länger mehr braucht er «In-Buddha»<br />

zu verweilen, und schnell geht er durch «Nicht-Buddha» hindurch<br />

weiter. Auch die tausend Augen können an ihm, der an keinem<br />

von beiden mehr haftet, nichts bemerken 6 . Wollten Hunderte von<br />

Vögeln ihm nun Blumen streuen, er würde sich seiner selbst<br />

schämen 7 .<br />

Peitsche und Leitseil, Ochs und Hirte<br />

gehören gleichermaßen der Leere an.<br />

Der blaue Himmel 8 ist so allumfassend weit,<br />

daß alles Mitteilen in ihm beinah endet.<br />

Ober loderndem Feuer kann keine Schneeflocke bestehen 9 .<br />

Ist diese Geistesverfassung erreicht,<br />

begegnet er endlich<br />

dem Geist der Patriarchen alter Zeit.<br />

415


9. Zum Ursprung zurückgekehrt<br />

Von Urbeginn an gibt es keinerlei Staub (der die ursprüngliche Reinheit<br />

befleckte). Der Hirte beobachtet das Werden und Vergehen <strong>des</strong><br />

Lebens in der Welt und weilt in gelassener Ruhe. All das (Werden<br />

und Vergehen) ist kein Wahn. Warum sollte es notwendig sein, um<br />

irgend etwas zu ringen 10 . Grün sind die Gewässer, blau die Berge. In<br />

sich ruhend betrachtet er den Wandel der Dinge.<br />

Er ist zum Ursprung zurückgekehrt,<br />

doch waren seine Schritte umsonst.<br />

Besser ist es für ihn, wie blind und taub zu sein 11 .<br />

In seiner Hütte sitzt er,<br />

sieht von all dem da draußen nichts 12 .<br />

<strong>Die</strong> Ströme fließen, wie sie fließen,<br />

und rote Blumen blühen von selber rot.<br />

416


10. Betreten <strong>des</strong> Marktes 13 mit offenen Händen<br />

<strong>Die</strong> Tür seiner Hütte ist verschlossen, und selbst der Weiseste kann<br />

ihn nicht ausfindig machen 14 . <strong>Die</strong> Gefilde seines Innern sind tief<br />

verborgen. Er geht seinen Weg und folgt nicht den Schritten früherer<br />

Weiser. Er kommt mit der Kürbisflasche 15 auf den Markt und<br />

kehrt mit seinem Stab in die Hütte zurück. Schankwirte und Fischhändler<br />

führt er auf den Weg, ein Buddha zu werden.<br />

Mit entblößter Brust kommt er barfuß zum Markte.<br />

Schmutzbedeckt und mit Asche beschmiert,<br />

lacht er doch breit übers ganze Gesicht.<br />

Ohne Zuflucht zu mystischen Kräften<br />

bringt er verdorrte Bäume schnell zum Blühen 16 .<br />

417


Anmerkungen zu den 10 Ochsenbildern<br />

1. <strong>Die</strong> Texte wurden neu aus dem Japanischen übersetzt. Siehe Nachwort zur<br />

Übersetzung, d. Ü.<br />

2. Staub = Verunreinigungen, Verfehlungen.<br />

3. Siehe S. 232.<br />

4. Zieht man die Analogie von Form-und-Leere heran, so entspricht das Salz der<br />

Leere, das Wasser der Form. Ehe man nicht den «Geschmack» <strong>des</strong> Satori gekostet<br />

hat, weiß man nichts von der Leere und beachtet lediglich die Form. Nach der<br />

Erleuchtung werden beide als nicht verschieden voneinander gesehen.<br />

5. Wörtlich: Braucht der denn noch Lippen und Zähne zu bewegen?<br />

6. Buddhas und Patriarchen können zwar mit ihrer spiegelgleichen Weisheit leicht<br />

den Charakter gewöhnlicher Menschen durchschauen, da dieser von Verunreinigungen<br />

getrübt ist; doch selbst ein Buddha kann bei einem, der sich von allen<br />

Unreinheiten, einschließlich auch <strong>des</strong> leisesten Stolzes, gereinigt hat, nicht mehr<br />

sagen, er sei dieses oder jenes.<br />

7. Hiermit wird auf eine Parabel angespielt, die sich auf HÔYÛ <strong>Zen</strong>ji, einen <strong>Zen</strong>-<br />

Meister der T'ang-Dynastie, bezieht, der auf dem Berge Gozu lebte und allenthalben<br />

gepriesen wurde <strong>des</strong> Eifers wegen, mit dem er in seiner Bergklause Zazen<br />

übte. Selbst die Vögel sangen sein Lob, so heißt es, und brachten ihm Blumen dar,<br />

wenn er in seiner Hütte saß. Es wird erzählt, daß die Vögel, nachdem er unter<br />

dem Vierten Patriarchen volle Erleuchtung gefunden hatte, mit ihren Blumenopfern<br />

aufhörten, da er, indem er vollkommene Erleuchtung erlangt hatte, keine<br />

Aura mehr von sich gab, nicht einmal die der Hingabe und Tugend.<br />

8. «Der blaue Himmel» bedeutet Reiner-Geist.<br />

9. Bei voller Erleuchtung verschwinden alle trügerischen Gedanken, einschließlich<br />

derer über «Erleuchtung» und «Verblendung».<br />

10. «Wenn, wie die Sûtras sagen, unsere Wesens-Essenz Bodhi (Vollkommenheit)<br />

ist, warum mußten dann alle Buddhas um Erleuchtung und Vollkommenheit<br />

ringen?» so fragte sich DÔGEN und konnte dieses Paradoxon erst nach Jahren<br />

erschöpfender Anstrengungen lösen, die in seiner tiefen Erleuchtung kulminierten.<br />

11. Obgleich der voll Erleuchtete vorzüglich sieht und hört, haben doch Gesehenes<br />

und Gehörtes keinen Einfluß auf ihn, so daß er wie «blind und taub» ist. <strong>Die</strong>ser<br />

Geisteszustand läßt sich annähernd mit einem klaren Spiegel vergleichen: Was<br />

immer der Spiegel spiegelt, keine Spur von Farbe oder Form davon bleibt auf<br />

dem Spiegel zurück.<br />

12. <strong>Die</strong> Dinge «draußen» rufen keine weitere Wirkung in ihm hervor; sie enden in<br />

seinem erleuchteten Geist. So schaffen Gesehenes und Gehörtes keine neuen Ursachen:<br />

gesehen, gehört, eingegangen in die Leere-Weite. <strong>Die</strong>se erhabene Entwicklungsstufe,<br />

die nur von den allerbedeutendsten Meistern erreicht wird, läßt sich<br />

in Worten kaum andeuten.<br />

13. Markt = die Welt voller Wirren und Verfehlungen.<br />

14. Nun ist er so geläutert, so vollkommen, daß selbst der Weiseste kein «Merkmal»<br />

der Vollkommenheit an ihm entdecken kann.<br />

418


15. Im alten China wurden Kürbisse häufig als Weinflaschen benutzt. Hier wird<br />

darauf hingewiesen, daß der Mensch von höchster Geistigkeit es nicht verabscheut,<br />

mit denen, die Alkohol lieben, zu trinken, um ihnen zu helfen, ihre Verblendung<br />

zu überwinden. Darin liegt ein Grundunterschied in den Rollen geistig entwickelter<br />

Menschen im Hīnayâna und Mahâyâna. Im Hīnayâna ist der geistig höchste Typ<br />

der Mönch im Zölibat, abgesondert von den Laien. Im Idealfall muß er einem<br />

Heiligen gleichen, ein Muster an Tugend sein, wenn er der Rolle entsprechen soll,<br />

die ihm von der Gemeinde zugedacht wird. Würde es bekannt, daß er z. B.<br />

Alkohol genießt, so würde das als sicheres Zeichen dafür erachtet, daß in ihm noch<br />

Unreinheiten zurückgeblieben sind, als ein Beweis, daß seine Geistigkeit noch<br />

nicht ganz durchgebildet worden ist. Im Mahâyâna-Buddhismus hingegen gibt ein<br />

tief Erleuchteter, der auch ein Laie sein kann und oft ist, keinen «Geruch» von<br />

Erleuchtung mehr von sich, keine Aura der Heiligkeit. Würde er das tun, so würde<br />

man seine Geistigkeit für noch mangelhaft halten. Er hält sich auch nicht dem<br />

Bösen der Welt fern; vielmehr taucht er in diese Übel ein, wann immer es nötig<br />

ist, um Menschen von ihren Torheiten zu befreien, wobei er selbst jedoch von<br />

diesem Bösen nicht besudelt wird. Darin gleicht er dem Lotus, dem buddhistischen<br />

Symbol der Reinheit und Vollkommenheit, der im Schlamm wächst, doch davon<br />

nicht beschmutzt wird.<br />

16. Hiermit wird ausgedrückt, daß der voll Erleuchtete denen, die in Dunkelheit<br />

und Verzweiflung leben, Licht und Hoffnung bringt, da sein ganzes Wesen von<br />

innerer Strahlkraft durchleuchtet ist.<br />

419


Neuntes Kapitel<br />

Körperhaltungen<br />

beim Zazen,<br />

mit Illustrationen<br />

<strong>Die</strong> Haltungen, die auf den folgenden Seiten abgebildet sind, reichen<br />

von der klassischen Lotus-Haltung <strong>des</strong> Altertums quer durch die<br />

Geschichte bis zur Zazen-Haltung auf einer besonderen Zazen-Bank<br />

<strong>des</strong> zwanzigsten Jahrhunderts. Obgleich die <strong>Zen</strong>-Meister alter und<br />

neuer Zeit einstimmig erklären, daß die Lotus-Haltung allen anderen<br />

überlegen sei (aus Gründen, die man im l. Kapitel findet), kann doch<br />

der Herausgeber aus eigener Erfahrung bezeugen, daß jede dieser<br />

Haltungen angemessen sein kann für jemanden, der fest entschlossen<br />

ist, Zazen zu üben.<br />

Das Sitzen mit dem Fuß eines jeden Beines auf dem Schenkel <strong>des</strong><br />

anderen ist eine der ältesten Sitzweisen und stammt noch aus vorbuddhistischen<br />

Zeiten. Wir wissen nicht allein durch archäologisches<br />

Beweismaterial aus Indien, daß schon Jahrtausende vor Buddhas<br />

Geburt die Lotus-Haltung in jenem Lande angewandt wurde, sondern<br />

wir erhalten auch durch gemeißelte Wandbilder, wie man sie<br />

aus altägyptischen Grabstätten ausgegraben hat, die Gestalten in<br />

voller Lotus-Haltung zeigen, den Beweis, daß außer Indien auch<br />

andere Kulturen die Macht dieser einzigartigen Haltung kannten.<br />

Zugegeben, für Menschen aus dem Westen, die nicht zum Sitzen mit<br />

verschränkten Beinen erzogen wurden, kann die Lotus-Haltung<br />

schwierig sein, wenn auch keineswegs unmöglich. Erwachsene,<br />

unsportliche Menschen aus Amerika und Europa haben die halbe<br />

Lotus-Haltung durch hartnäckig geübtes Zazen in weniger als sechs<br />

421


Monaten erlernt. Ergänzt wurden die Übungen durch einfache<br />

Streck-Gymnastik der Beine (zu der auch Niederpressen der Knie<br />

mit den Händen nach einem heißen Bad gehört), um allmählich die<br />

Knie auf die Sitzmatte hinunter zu bringen. <strong>Die</strong> volle Lotus-Haltung<br />

gibt natürlich eine härtere Nuß zu knacken. Systematische Anstrengungen<br />

werden jedoch auch hier zum Erfolg führen.<br />

<strong>Die</strong> auf Abb. 4 gezeigte Haltung wird viel in Burma und den buddhistischen<br />

Ländern Südost-Asiens angewandt. Sie bietet den Vorteil,<br />

daß sie für Anfänger weniger unbequem ist als die halbe oder volle<br />

Lotus-Haltung, da die Beine nicht verschränkt werden. Aber sie bietet<br />

dem Rumpf keinen so kräftigen Halt wie die Lotus-Haltung.<br />

Deshalb kann die Wirbelsäule dabei nicht längere Zeit hindurch<br />

mühelos vollkommen aufrecht gehalten werden.<br />

<strong>Die</strong> traditionelle japanische Sitzhaltung auf Abb. 5 kann für Abendländer<br />

dadurch bequem gemacht werden, daß man zwischen die Fersen<br />

ein Kissen legt, auf das man sich setzt. Noch bequemer wird<br />

diese Haltung, wenn man eine niedrige Bank, wie auf Abb. 6 gezeigt,<br />

zwischen Gesäß und Fersen stellt, da hierbei die Fersen völlig frei<br />

von Druck durch das Körpergewicht sind. Für den Anfänger ist es in<br />

dieser Haltung am leichtesten, mit vollkommen gerade aufgerichtetem<br />

Rücken zu sitzen.<br />

Eine einfache Bank nach dem Entwurf, der auf Abb. 7 gezeigt wird,<br />

ist jenen von Nutzen, die all die genannten Haltungen nicht einnehmen<br />

können. Sie hat im Vergleich zu einem gewöhnlichen Stuhl viele<br />

Vorzüge; dazu gehören auch ihre Festigkeit und Tragbarkeit. Rumpf<br />

und Beine finden Halt durch Kniestützen, die so konstruiert sind,<br />

daß die Schenkel ein wenig abwärts geneigt sind, wodurch ein Zusammenpressen<br />

<strong>des</strong> Unterleibs und eine dadurch bedingte Behinderung<br />

<strong>des</strong> Atems vermieden werden. Der Rücken kann mühelos aufrecht<br />

gehalten werden, da der Sitz leicht nach vorn geneigt ist.<br />

Ein gewöhnlicher Stuhl ist für Zazen nicht angemessen, wenn man in<br />

der üblichen Weise, also mit gebeugtem Rücken, darauf sitzt. Wenn<br />

man ihn aber so wie auf Abb. 8 benutzt, mit einem Polster unter dem<br />

Gesäß, was dazu verhilft, die Wirbelsäule aufrecht zu halten, und die<br />

Füße fest auf den Boden stellt, dann kann er für Zazen dienlich sein.<br />

422


Abb. 1: Volle Lotus-Haltung mit<br />

rechtem Fuß auf linkem Schenkel<br />

und linkem Fuß auf rechtem<br />

Schenkel. Beide Knie berühren die<br />

Matte. Das Gesäß soll herausgestreckt<br />

und das Rückgrat aufrecht<br />

sein. <strong>Die</strong> Knie sollen in einer Linie<br />

liegen, und der Unterleib soll<br />

entspannt sein. <strong>Die</strong> Hände ruhen<br />

auf den Fersen beider Füße. <strong>Die</strong>se<br />

Haltung kann umgekehrt werden,<br />

wenn der linke Fuß müde wird:<br />

Dann liegt der rechte Fuß zuoberst,<br />

über dem linken.<br />

Abb. 2: Seitenansicht der vollen<br />

Lotus-Haltung. <strong>Die</strong> Ohren sind in<br />

einer Linie mit den Schultern,<br />

die Nasenspitze befindet sich in<br />

einer Linie mit dem Nabel. Das<br />

Gesäß ist herausgestreckt, das<br />

Rückgrat aufrecht. In dieser Haltung<br />

wird ein einziges, niedriges<br />

Kissen bevorzugt.


Abb. 3: Halbe Lotus-Haltung mit<br />

dem linken Fuß auf dem rechten<br />

Schenkel und rechtem Fuß unter<br />

linkem Schenkel. Beide Knie berühren<br />

die Matte. Damit die Knie<br />

leichter auf der Matte ruhen,<br />

benötigt man eventuell ein Stützkissen<br />

unter dem gewöhnlich runden<br />

Kissen.<br />

Abb. 4: Viertel Lotus-Haltung. Der<br />

linke Fuß ruht auf der Wade.<strong>des</strong><br />

rechten Beins, beide Knie ruhen<br />

auf der Matte.


Anmerkung: In allen Haltungen,<br />

auch wenn Bank und Stuhl<br />

gebraucht werden, ist das Gesäß<br />

herausgestreckt, das Rückgrat aufrecht,<br />

die Hände eng am Körper,<br />

ganz oben auf den Schenkeln oder<br />

auf den Fersen der Füße. <strong>Die</strong> Knie<br />

liegen in einer Linie, der Unterleib<br />

ist entspannt.<br />

Abb. 5: <strong>Die</strong> sogenannte burmesische<br />

Haltung, bei der die Beine nicht<br />

verschränkt werden, sondern nur<br />

ein Fuß locker vor dem anderen<br />

liegt und beide Knie die Matte<br />

berühren.<br />

Abb. 6: Seitenansicht der traditionellen<br />

japanischen Sitzhaltung.<br />

Man kniet dabei auf der Matte und<br />

legt ein Sitzpolster (mit Schoten<br />

gefüllt) zwischen Fersen und Gesäß,<br />

um die Fersen zu entlasten.


Abb. 7: Seitenansicht der Zazen-Haltung<br />

auf einer niedrigen, leicht gepolsterten<br />

Holzbank. Damit die Hände nicht heruntergleiten,<br />

kann ein Stützkissen aufrecht<br />

auf die Matte unter die Hände gelegt<br />

werden.<br />

Abb. 8: Seitenansicht der Zazen-Haltung<br />

auf einem Stuhl mit gerader Rückenlehne.<br />

Zwischen Lehne und Rücken wird ein<br />

Kissen gelegt, die Füße stehen fest auf dem<br />

Boden.<br />

Abb. 9: Seitenansicht von Matte, rundem<br />

Kissen und Stützkissen in der richtigen<br />

Lage für Zazen. Das runde Kissen oder<br />

Polster hat einen Durchmesser von 30 bis<br />

45 cm und eine Dicke von 7 bis 15 cm.<br />

<strong>Die</strong> beste Füllung ist Kapok, das wieder<br />

locker wird, wenn man das Polster in die<br />

Sonne legt. Schaumgummi neigt dazu,<br />

Klumpen zu bilden, während gewöhnliche<br />

Baumwollfüllung flach und hart wird. <strong>Die</strong><br />

beste Matte ist nicht dicker als 5 cm und<br />

mißt 70 bis 90 cm im Quadrat. Sie hat<br />

weder Rippen noch Tapezierknöpfe. Dasselbe<br />

gilt für das runde Polster und das<br />

Stützkissen. Das letztere ist etwa 30 cm<br />

breit, 40 cm lang und 6 cm dick. Das runde<br />

Polster hat eine Schlaufe zum Tragen<br />

und Falten zum «Nachgeben».<br />

Abb. 10: Mit Schoten gefülltes Kissen und<br />

niedrige Zazen-Bank. Das Kissen kann<br />

mit den Schoten von Buchweizen, Reis<br />

oder anderen Schoten gefüllt sein, die nicht<br />

zu hart sind und trotzdem Festigkeit<br />

haben. <strong>Die</strong> Bank ist etwa 48 cm lang und<br />

17 cm breit. Hinten ist sie 19 cm hoch,<br />

vorne 75 cm. Der Sitz ist zur größeren<br />

Bequemlichkeit gepolstert.


Zehntes Kapitel<br />

Wort- und<br />

Begriffserklärungen<br />

Hier werden Fachausdrücke <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>, Namen und Wörter, die im Zusammenhang<br />

mit <strong>Zen</strong> stehen (z. B. kendô), besondere buddhistische<br />

Bezeichnungen und Redewendungen, buddhistische Lehren, Sekten<br />

und Sûtras, die im Text erwähnt, doch nicht erklärt wurden, im einzelnen<br />

erläutert 1 . <strong>Die</strong>se Notizen sollen kein Fachwörterverzeichnis <strong>des</strong><br />

<strong>Zen</strong> darstellen und noch viel weniger endgültige Feststellungen über<br />

die buddhistische Lehre und Philosophie sein. Sie sind jedoch auch<br />

mehr als nur ein Glossar mit akademischen Erklärungen. Ihr Zweck<br />

ist es, dem Leser beim Verständnis <strong>des</strong> Buches behilflich zu sein und<br />

ihm sein weiteres Studium und Üben zu erleichtern.<br />

Für japanische und chinesische Namen und Ausdrücke habe ich<br />

anstelle der chinesischen Schriftzeichen, die nur für Kenner der japanischen<br />

und chinesischen Sprachen sinnvoll wären, die lateinische<br />

Umschrift gewählt. Ist ein Wort unter seinem ursprünglichen Namen<br />

auf Sanskrit oder Chinesisch eher bekannt als unter dem deutschen,<br />

japanischen oder englischen Ausdruck, so wird meist zuerst der<br />

ursprüngliche Ausdruck angegeben und der deutsche oder japanische<br />

Name, oder auch beide, in Klammern gesetzt. <strong>Die</strong> Namen der chinesischen<br />

<strong>Zen</strong>-Meister werden gemäß ihrer japanischen Aussprache aufgeführt<br />

und die chinesische Lesart in Klammern dahinter angegeben.<br />

<strong>Die</strong> Namen der Sûtras werden ausnahmslos nach ihrer Aussprache im<br />

Sanskrit wie auch auf Japanisch verzeichnet und in manchen Fällen<br />

auch auf Deutsch. <strong>Die</strong> Kennzeichnung Jap. bedeutet Japanisch, Skt.<br />

Sanskrit und Chin. Chinesisch.<br />

1. Da in der deutschen Ausgabe auf einen Index verzichtet wurde, habe ich das<br />

Wörterverzeichnis mit Seitenzahlen versehen und durch eine ganze Reihe von<br />

wichtigen Begriffen erweitert, die zwar im Text schon erklärt, hier aber - damit<br />

sie rascher aufgefunden werden können - mit Seitenzahlen versehen wurden, d. Ü.<br />

427


Abhidharma (Skt.) oder Abhidhamma (Pâli): der dritte der <strong>drei</strong> «Körbe»,<br />

Tripitaka, der buddhistischen Literatur. <strong>Die</strong> beiden anderen sind: Vinayanā<br />

(also die Gebote und Regeln der Moral, die der BUDDHA seinen Jüngern<br />

gegeben hat) und die Sûtras, die aus den gesammelten Predigten,<br />

Reden und Gesprächen <strong>des</strong> BUDDHA bestehen und nach seinem Tode zusammengestellt<br />

wurden. Der Abhidharma enthält höchst abstrakte philosophische<br />

Erläuterungen zur buddhistischen Lehre.<br />

S. 29<br />

Acht Lehren (Lehrweisen) und fünf Zeitabschnitte: eine Klassifizierung der<br />

Lehren <strong>des</strong> Buddha vom Standpunkt der Tendai-Sekte, die deren chinesischer<br />

Gründer, CHISHA DAISHI, vornahm. <strong>Die</strong> Lehren werden hierbei in<br />

vier Doktrinen und zusätzlich vier Methoden der Auslegung eingeteilt<br />

und stellen fünf Stufen der Belehrung von der ersten bis zur letzten und<br />

höchsten dar, wie sie der BUDDHA gab.<br />

S. 85<br />

agura: das japanische Wort für einen losen Schneidersitz, der weder halbe<br />

noch volle Lotus-Haltung bedeutet.<br />

S. 300<br />

AMIDA: die japanische Aussprache <strong>des</strong> Sanskritwortes AMITÂBHA, «grenzenloses<br />

Licht», oder AMITÂYUS, «grenzenloses Leben». AMIDA genießt unter<br />

den nicht-historischen Buddhas (Dhyâni-Buddhas) die verbreitetste Verehrung.<br />

Ja, in der Sekte <strong>des</strong> Reinen Lan<strong>des</strong> (Jap. Jôdo-Shû) überstrahlt<br />

er sogar BIRUSHANA (Skt. VAIROCANA) und den historischen BUDDHA<br />

ŚÂKYAMUNI (auch SHAKYAMUNI geschrieben).<br />

S. 59,81,83, 23<br />

anraku sekai: Siehe unter «Buddha-Welt <strong>des</strong> Friedens und der Freude» und<br />

S. 230 12<br />

asura: das japanische Wort für «kämpfende Dämonen», oft auch mit<br />

«Titanen» übersetzt. Siehe auch unter «Sechs Bereiche <strong>des</strong> Daseins».<br />

S. 126<br />

BASO DÔITSU (Chin. MA-TSU TAO-I): 709-788, einer der großen chinesischen<br />

<strong>Zen</strong>-Meister der T'ang-Dynastie, ein Schüler von NANGAKU EJÔ.<br />

S. 50 f, 242<br />

428


Bewußtsein (Jap. shiki): Im Buddhismus unterscheidet man acht Bewußtseinsarten.<br />

<strong>Die</strong> ersten sechs sind: Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack,<br />

Tastsinn und Denken (Intellekt). Wenn der Verstand auch die Illusion<br />

eines Subjekts, <strong>des</strong> «Ich», schafft, das von den Dingen der Welt abgelöst<br />

ist, ist er sich doch nicht beständig dieses «Ich» bewußt. Nur in der siebenten<br />

Stufe, dem (Unter-)Bewußtsein (Skt. manas), ist die Bewußtheit<br />

eines abgetrennten Ich konstant. Manas befördert auch die Keim-Essenz<br />

der sinnlichen Wahrnehmungen zur achten Ebene <strong>des</strong> (Unter-)Bewußtseins<br />

(Skt. âlaya-vijñâna), von der aus als Reaktion auf Veranlassungen<br />

und Gegebenheiten spezifische «Keime» mittels Manas wieder zurückgeführt<br />

werden, die dann neue Handlungen herbeiführen, welche wiederum<br />

andere «Keime» hervorbringen. <strong>Die</strong>se Vorgänge sind gleichzeitig<br />

und endlos.<br />

Geburt<br />

und Tod<br />

Weder Geburt<br />

noch Tod<br />

Reines Bewußtsein<br />

(Gestaltloses Selbst)<br />

Bewußtseinsebenen<br />

1-6 Gesicht, Gehör, Geruch,<br />

Geschmack, Tastsinn, Intellekt<br />

7 Manas (Quelle dauernder Ich-<br />

Bewußtheit; wirkt als Übermittler)<br />

Ālaya-vijñâna («Keim»-Speicher)<br />

<strong>Die</strong>ses Diagramm, das auf einem Schema von HARADA Rôshi beruht,<br />

zeigt die Beziehung der acht Bewußtseinsarten zu Geburt-und-Tod und<br />

zu Geburt- und Todlosigkeit. Der <strong>drei</strong>eckige Teil stellt das Leben <strong>des</strong><br />

Individuums dar und zeigt seine Verbindung zu Reinem-Bewußtsein oder<br />

Gestaltlosem-Selbst. <strong>Die</strong>ses Leben ist einer Welle im weiten Meer nicht<br />

unähnlich; seine kurze Existenz scheint vom Meer getrennt zu sein — und<br />

in gewissem Sinn ist es auch nicht das Meer -, aber seiner Substanz nach<br />

ist es nicht anders als das Meer, aus dem es sich erhob und in das es<br />

zurückströmt, und aus dem es als neue Welle wieder hervorgehen wird.<br />

In ganz gleicher Weise geht das individuelle Bewußtsein aus dem Reinen-<br />

Bewußtsein hervor, und es ist seinem Wesen nach nicht davon zu unterscheiden.<br />

Ihr gemeinsames Element, die «lebensfähige Leere», wird bei<br />

429


dem Diagramm durch den alles durchziehenden weißen Hintergrund<br />

ausgedrückt.<br />

S. 38, 43, 79,112, 233 l6 , 266 f, 375<br />

BIRUSHANA (Skt. VAIROCANA): der «All-Durchstrahlende». Unter den nichthistorischen<br />

Buddhas ist BIRUSHANA der höchste; er symbolisiert<br />

kosmisches Bewußtsein, also transzendentale Buddha-Weisheit.<br />

S. 276, 381<br />

BODHIDHARMA (Jap. BODAI DARUMA): der achtundzwanzigste Patriarch<br />

nach dem BUDDHA in der indischen Linie, der erste Patriarch <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> in<br />

China. <strong>Die</strong> Gelehrten sind sich nicht einig darüber, wann BODHIDHARMA<br />

von Indien nach China kam, wie lange er dort blieb und wann er starb.<br />

Japanische <strong>Zen</strong>-Meister aber stimmen darin überein, daß er etwa um 520<br />

zu Schiff von Indien nach Südchina fuhr und daß er sich nach einem<br />

kurzen fruchtlosen Versuch, seine Lehren dort zu verbreiten, weiter nach<br />

Lo-yang in Nordchina begab und sich schließlich im Shôrin (Chin. Shaolin)-Tempel<br />

auf dem Berge Sä (Jap. Sû-zan, Chin. Su-shan) niederließ.<br />

Hier übte er neun Jahre lang unerschütterlich Zazen, wodurch diese<br />

Periode als mempeki kunen bekannt wurde, was soviel heißt wie «neun<br />

Jahre lang der Wand gegenüber».<br />

BODHIDHARMA und EKA (Chin. HUI-K'O), sein Schüler, dem er den<br />

Dharma übermittelt hatte, sind die Gestalten <strong>des</strong> 41.Beispiels im Mumon-<br />

Kan und ebenso auch die eines berühmten Bil<strong>des</strong> von SESSHU, dem größten<br />

Maler Japans. EKA, ein Gelehrter von beträchtlichem Ruf, klagt<br />

BODHIDHARMA, der still Zazen übt, daß er keinen inneren Frieden finde,<br />

und fragt, wie er das erreichen könne. BODHIDHARMA schickt ihn mit<br />

der Bemerkung weg, daß das Erlangen inneren Friedens lange und harte<br />

Schulung erfordere und daher nichts für die Hochmütigen und Furchtsamen<br />

sei. EKA, der stundenlang draußen im Schnee gestanden hatte, fleht<br />

BODHIDHARMA an, ihm zu helfen. Wieder wird er abgewiesen. In seiner<br />

Verzweiflung schneidet er sich die linke Hand ab und bietet sie BODHI-<br />

DHARMA dar. Jetzt ist BODHIDHARMA von seiner Aufrichtigkeit und Entschlossenheit<br />

überzeugt und nimmt ihn als Schüler an.<br />

Ob diese Episode historisch wahr ist oder nicht, ist weniger wichtig als<br />

die Tatsache, daß sie in symbolischer Weise enthüllt, welche Bedeutung<br />

<strong>Zen</strong>-Meister dem Zazen, der Übermittlung <strong>des</strong> Dharma von Meister auf<br />

Schüler beilegen, sowie der Aufrichtigkeit und Bescheidenheit, Ausdauer<br />

430


und Tapferkeit - alles Voraussetzungen zum Erlangen höchster Wahrheit.<br />

S. 13, 35, 41, 49, 53, 122, 125, 191, 210, 233, 248, 320<br />

Bodhi-Geist (Jap. bodai-shin, Skt. bodhicitta): wahre innere Weisheit;<br />

der eingeborene erleuchtete Herz-Geist; zudem das Streben nach vollkommener<br />

Erleuchtung.<br />

S. 29,36, 40 15 , 47,105<br />

Bodhisattva (Skt.) (Jap. bosatsu): ein erleuchtetes Wesen, das sich der<br />

Aufgabe widmet, anderen dazu zu verhelfen, Befreiung zu finden. In<br />

seiner Selbst-Bemeisterung, Weisheit und Barmherzigkeit stellt ein Bodhisattva<br />

eine hohe Stufe der Buddhaschaft dar, aber er ist noch kein vollkommen<br />

erleuchteter, gänzlich vollendeter BUDDHA. «Darum stellen die<br />

Buddhas und Bodhisattvas nicht nur ,Personifizierungen‘ abstrakter Prinzipien<br />

dar .. ., sondern sie sind die Prototypen der im Menschtum verwirklichten<br />

und wieder und wieder zu verwirklichenden Zustände höchster<br />

Erkenntnis, höchster Weisheit und vollkommener Harmonie.» (GO-<br />

VINDA, Grundlagen tibetischer Mystik, Rascher Verlag, Zürich 1956, S. 91)<br />

S. 46, 291, 388, 389<br />

Bommo-Sûtra (Skt. Brahmajâla): Darin finden sich die zehn Hauptgebote<br />

und die achtundvierzig weiteren Gebote, die die ethische Grundlage <strong>des</strong><br />

Mahâyâna-Buddliismus bilden.<br />

S. 183<br />

bonpu-<strong>Zen</strong> (Jap.): (bonpu, auch bompu = der gewöhnliche unerleuchtete<br />

Mensch). Bonpu-<strong>Zen</strong> nennt man jene Art <strong>des</strong> Zazen, die jedermann einzig<br />

zur Hebung seiner geistigen oder körperlichen Gesundheit üben kann. Sie<br />

ist frei von jedem religiösen Gehalt.<br />

S. 76 f.<br />

BUDDHA (Jap. butsu): ein Sanskritwort, das in zwei Bedeutungen angewandt<br />

wird: 1. für Höchste-Wahrheit oder Absoluten-Geist; 2. für einen,<br />

der zum Wahren-Wesen <strong>des</strong> Daseins erwacht ist, also Erleuchtung fand.<br />

«Der BUDDHA» bezieht sich auf eine historische Gestalt mit dem Vornamen<br />

SIDDHARTA und dem Familiennamen GAUTAMA. Er wurde um das Jahr 563<br />

v. Chr. als Sohn <strong>des</strong> Fürsten der Sâkyas geboren, <strong>des</strong>sen kleines Königreich<br />

im Vorgebirge <strong>des</strong> heutigen Nepal lag. Mit der Zeit wurde er als<br />

431


«ŚÂKYAMUNI» bekannt, d. h. als «schweigender Weiser (muni) aus dem<br />

Geschlecht der Śâkyas». Es wird berichtet, daß er mit sechzehn Jahren<br />

verheiratet wurde und einen Sohn hatte, der später sein Schüler wurde.<br />

Tief bekümmert über die Sorgen und Leiden der Welt und beunruhigt<br />

über die Bedeutung von Geburt-und-Tod, konnte der künftige BUDDHA<br />

im Alter von neunundzwanzig Jahren das angenehme und luxuriöse Leben,<br />

in das er hineingeboren worden war, nicht länger ertragen. So floh<br />

er aus dem Palast seines Vaters und wurde zum Einsiedler, zum Sucher<br />

nach der Wahrheit in der Einsamkeit der Wälder. Sechs Jahre lang unterzog<br />

er sich schwerster Askese, um Erleuchtung zu finden. Dem Tode<br />

nahe, auf Grund dieser Pönitenzen, sah er endlich die Vergeblichkeit<br />

solcher Selbstkasteiungen ein und gab sie auf. Schließlich erlangte er vollkommene<br />

Erleuchtung und wurde so «der BUDDHA». Von da an lehrte<br />

er, bis zum Alter von achtzig Jahren, fünfundvierzig Jahre lang nicht<br />

allein die Schar seiner Mönchsschüler, sondern er wanderte unermüdlich<br />

auf den Wegen Indiens und predigte allen, die hören wollten, wobei er<br />

seine Worte stets der Fassungskraft seiner Zuhörer anpaßte. <strong>Die</strong> Menschen<br />

wurden sowohl durch seine Heiterkeit und Lauterkeit, als auch durch<br />

die Weisheit seiner Worte dazu bewogen, seinem Weg zu geistiger Befreiung<br />

zu folgen. Schließlich wurden seine Predigten und Dialoge aufgeschrieben,<br />

und diese Sûtras («Leitfäden») machen nun die Grundlehren<br />

<strong>des</strong> Buddhismus aus.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Zen</strong>-Sekte, ebenso wie andere buddhistische Sekten, sehen den historischen<br />

BUDDHA weder als erhabene Gottheit noch als Erlöser an, der die<br />

Menschen dadurch errettet, daß er die Last ihrer Sünden auf sich nähme.<br />

Man verehrt ihn vielmehr als einen voll erwachten, zu höchster Vollkommenheit<br />

gelangten Menschen, der durch seine eigenen menschlichen<br />

Anstrengungen und nicht durch die Gnade eines übernatürlichen Wesens<br />

Befreiung von Leib und Geist erreichte. Im Buddhismus sieht man<br />

ŚÂKYAMUNI auch nicht als den einzigen wahren BUDDHA an. Ebenso, wie<br />

in vergangenen Weltepochen andere Weise die gleichen Pfade beschritten,<br />

die gleiche Stufe der Vollkommenheit erreicht und den gleichen Dharma<br />

gepredigt haben, so würde es auch in künftigen Weltzeitaltern Buddhas<br />

geben, um die Menschen zur Befreiung zu führen. Mit anderen Worten:<br />

Der historische Buddha ist einzig ein Glied in der Kette von Buddhas,<br />

wie sie sich aus grauer Vorzeit in eine unermeßliche Zukunft erstreckt.<br />

<strong>Die</strong> bekannte Feststellung der <strong>Zen</strong>-Meister, daß wir alle von Anbeginn<br />

Buddhas seien, muß dahin verstanden werden, daß ein jeder potentiell<br />

432


ein Buddha ist, d. h. von Natur begabt mit dem makellosen Buddha-<br />

Wesen; daß aber jemand, der nach Buddhaschaft strebt, dem steilen Weg<br />

zur Erleuchtung folgen muß, wenn er diese eingeborene Vollkommenheit<br />

verwirklichen will. Jeder, der sein Buddha-Wesen erlebt hat, mag das<br />

Erlebnis auch noch so schwach gewesen sein, hat das erste Stadium der<br />

Buddhaschaft verwirklicht, da seine Wesensschau der Substanz nach<br />

nicht anders als die <strong>des</strong> BUDDHA ŚÂKYAMUNI ist. BUDDHA ŚÂKYAMUNI<br />

überragt jedoch den gewöhnlichen erleuchteten Menschen turmhoch im<br />

Ausmaß seiner Erleuchtung wie auch an Vollkommenheit von Charakter<br />

und Persönlichkeit, also an Gelassenheit, Erbarmen und Weisheit.<br />

In den Sûtras kann man verschiedene Einteilungen der Stufen der<br />

Buddhaschaft finden. Ein Buddha auf der obersten Stufe ist nicht allein<br />

vollkommen erleuchtet, sondern «ein Vollkommener, ein Ganz-<br />

Gewordener. Einer, in dem alle geistigen Fähigkeiten zur Vollkommenheit,<br />

zur Reife, zu vollkommener Harmonie gekommen sind und<br />

<strong>des</strong>sen Bewußtsein das Universum umfaßt. Ein solcher kann nicht mehr<br />

mit den Grenzen individueller Persönlichkeit, individuellen So-Seins und<br />

Da-Seins identifiziert werden; von ihm heißt es mit Recht:, Kein Maß<br />

ermißt ihn - von ihm zu sprechen, gibt es keine Worte!'» (Govinda, a. a.<br />

O., S. 36)<br />

Ein Buddha hat <strong>drei</strong> «Körper» oder Ebenen der Wirklichkeit, wobei die<br />

<strong>drei</strong> in Wirklichkeit jedoch, in wechselseitiger Beziehung stehend, ein<br />

Ganzes bilden. Der erste wird als hôsshin (Skt. dharma-kâya), «Gesetzes-<br />

Körper», bezeichnet. Das ist das Erlebnis <strong>des</strong> kosmischen Bewußtseins,<br />

<strong>des</strong> Eins-Seins, das jenseits aller Begriffe liegt. Der absolute dharmakayâ<br />

ist das Substrat von Vollendung und Vollkommenheit, aus dem alle<br />

belebten und unbelebten Formen, sowie die moralische Ordnung<br />

erwachsen BIRUSHANA (Skt. VAIROCANA), der «All-Durchstrahlende»,<br />

verkörpert diesen Aspekt <strong>des</strong> universellen Bewußtseins. Der zweite<br />

«Körper» ist hôjin (Skt. sambhoga-kâya), «Körper <strong>des</strong> Entzückens». Das<br />

ist das Erlebnis der Ekstase der Erleuchtung, <strong>des</strong> Dharma-Geistes <strong>des</strong><br />

BUDDHA und der Patriarchen und der geistigen Übungen, die sie von<br />

Generation zu Generation überliefert haben. AMIDA BUDDHA in seinem<br />

Westlichen Paradies symbolisiert diesen «Körper <strong>des</strong> Entzückens». Der<br />

dritte Aspekt, ôjin (Skt. nirmâna-kâya), «Körper der Verwandlung», ist<br />

der strahlende transformierte Buddha-Leib, personifiziert durch<br />

ŚÂKYAMUNI BUDDHA, den Tathâgata, mit seinen zweiund<strong>drei</strong>ßig<br />

Merkmalen der Vollkommenheit. <strong>Die</strong> Wechselbeziehung zwischen diesen<br />

<strong>drei</strong> läßt sich durch eine einfache Analogie veranschaulichen: der<br />

dharma-kâya. kann mit dem ärztlichen Wissen verglichen werden, der<br />

433


sambogha-kâya mit der Ausbildung <strong>des</strong> Arztes, durch die er Wissen<br />

erwirbt, und der nirmâna-kâya mit der Anwendung dieses Wissens bei der<br />

Behandlung der einzelnen Patienten, die dadurch aus Kranken zu Gesunden<br />

werden.<br />

Im <strong>Zen</strong> spricht man nur von BIRUSHANA und, weniger häufig, von AMIDA,<br />

als einzigen unter den nicht-historischen Buddhas, die alle mit verschiedenen<br />

Welten und Bereichen identifiziert werden und Symbole für besondere<br />

geistige Kräfte und Mächte sind.<br />

S. 35 f, 39 f, 46, 48, 50 f, 53, 58, 79, 83, 89, 94, 97 ff, 112, 117, 125 ff,<br />

130, 136, 150, 182, 189 f, 192 f, 210, 214, 216, 228 ff, 234 ff, 252 f, 258,<br />

287 21 , 295, 341, 382 10 , 387, 392, 415 und BUDDHA ŚÂKYAMUNI: S. 35, 40,<br />

42, 44, 48, 58 f, 84, 107, 110, 112, 136, 137, 182, 192, 213, 215, 268,<br />

294 27 , 300, 308,393.<br />

Buddha-Welt <strong>des</strong> Friedens und der Freude (Jap. anraku sekai): wörtlich<br />

«friedevoll-freudige Welt». <strong>Die</strong>ser Ausdruck bezeichnet im Buddhismus<br />

den Bereich oder Zustand höchsten Friedens, höchster Freude, also die<br />

Buddha-Welt. In Übersetzungen wird er auch als «Paradies» wiedergegeben.<br />

S. 230<br />

Buddha-Wesen (Jap. busshô): oft auch mit Buddha-Natur übersetzt.<br />

Buddha-Wesen ist ein konkreter Ausdruck für das Substrat von Vollendung<br />

und Vollkommenheit, wie es sowohl Geschöpfen als auch Dingen<br />

immanent ist.<br />

S. 15 15 , 43, 82, 94, 96, 103, 113-120, 126, 178, 189, 190, 228, 233, 239,<br />

246, 249, 294 27<br />

Buddhismus: der Dharma <strong>des</strong> BUDDHA. Der Buddhismus hat zwei Hauptzweige:<br />

den südlichen oder Theravâda (Lehre der Älteren), auch als<br />

Hīnayâna (Kleines Fahrzeug, Jap. shôjô) bekannt, und den nördlichen<br />

oder Mahâyâna (Großes Fahrzeug, Jap. daljô). Der Theravâda entstand<br />

in Südindien, von wo aus es sich nach Ceylon, Burma, Thailand und<br />

Kambodscha ausgebreitet hat, während das Mahâyâna sich vom nördlichen<br />

Indien nach Tibet, in die Mongolei, nach China, Korea und Japan<br />

verbreitete.<br />

Ungleich dem Südlichen Buddhismus, der die Tendenz hat, konservativ und<br />

unelastisch zu sein, paßte sich das Mahâyâna den Bedürfnissen der Menschen<br />

verschiedener Rassen und Kulturen an, wie auch ihrem unter-<br />

434


schiedlichen Auffassungsvermögen. So entstanden in China, wohin der<br />

Buddhismus im ersten Jahrhundert seinen Weg fand, verschiedene Sekten,<br />

die unter dem Einfluß <strong>des</strong> Taoismus, Konfuzianismus und anderen Formen<br />

chinesischer Kultur bestimmte Aspekte von BUDDHAS Dharma bevorzugt<br />

ausbildeten und andere vernachlässigten. Unter diesen Sekten mögen<br />

folgende als die wichtigsten erwähnt werden: T'ien-t'ai (Jap. Tendai);<br />

Ching-tu-tsung (d. h. das Reine Land; Jap. Jôdo); Ch'an (Jap. <strong>Zen</strong>) und<br />

die Esoterische (Jap. Shingon-)Sekte. In Tibet hatten auf Grund der<br />

einzigartigen geographischen Lage, <strong>des</strong> Klimas und der schweren Lebensbedingungen<br />

die tantrischen Elemente besondere Anziehungskraft, und es<br />

entstanden Sekten, die diesen Aspekt von Buddhas Lehre hervorhoben.<br />

In Japan, mit seiner strengen Gesellschaftshierarchie, seinem komplexen,<br />

fein ausgearbeiteten Anstandskodex und hoch entwickelten ästhetischen<br />

Sinn erfuhr der Buddhismus, der im sechsten Jahrhundert von China<br />

über Korea nach Japan kam, eine weitere Ausbildung und Verfeinerung,<br />

wie es den charakteristischen Zügen japanischer Kultur und japanischen<br />

Empfindens entsprach.<br />

Das Ideal im Mahâyâna wurde der Bodhisattva, der stets bereit ist, sich<br />

zum Wohl jener aufzuopfern, die in Unwissenheit und Verzweiflung verloren<br />

sind, selbst dann, während er um eigene höchste Erleuchtung ringt.<br />

Im Hīnayâna (Theravâda) liegt die Betonung auf dem Arhat, der für<br />

sich selbst Befreiung findet, indem er entschlossen seine Leidenschaften<br />

und sein Ich überwindet.<br />

S. 13 ff, 57, 60, 88, 91, 97, 99, 125 f, 129, 182 f, 186, 191 f, 208, 215, 260,<br />

291, 312, 387, 389 24 , 390, 393, 395<br />

butsudan (Jap.): ein buddhistischer Altar-Schrein; die meisten japanischen<br />

Buddhisten haben ein kleines Modell davon zu Hause. Er enthält außer<br />

der Gestalt eines der Buddhas oder Bodhisattvas im allgemeinen eine<br />

Tafel mit den Namen der Toten der Familie. Speise- und Blumenopfer<br />

werden regelmäßig an diesem Butsudan dargebracht, und bei besonderen<br />

Anlässen werden Sûtras davor rezitiert.<br />

S. 107<br />

CHISHA (bekannt als: CHISHA DAISHI; Chin. CHIH-I oder CHIH-K'AI):<br />

538-597, Gründer der buddhistischen T'ien-t'ai (Jap. Tendai)-Sekte in<br />

China. Siehe auch unter «Acht Lehren und Fünf Zeitabschnitte».<br />

S. 85 und unter «Tendai-Sekte».<br />

435


CHUANG-TZE (im Deutschen auch: DSCHUANG-DSE oder DSCHUANG DSI;<br />

Jap. SÔSHI) : ein chinesischer Weiser <strong>des</strong> Taoismus im 4. Jh. v. Chr., der<br />

die Lehren <strong>des</strong> LAO-TZE (auch LAO DSE oder LAU DAN) voller Geist und<br />

Originalität auslegte. (DSCHUANG DSI, Das wahre Buch vom südlichen<br />

Blütenland. Verlag Eugen <strong>Die</strong>derichs, Jena 1940)<br />

S. 75<br />

CHUHO MYÔHON (Chin. CHUNG-FENG MING-PEN): 1263-1323, ein chinesischer<br />

<strong>Zen</strong>-Meister.<br />

S. 395<br />

dajo-<strong>Zen</strong> (Jap. Daijô = Großes Fahrzeug): <strong>Die</strong>se Art <strong>des</strong> Zazen übt man in<br />

dem Wunsch, aus dem Zustand der Verblendung auszubrechen und der<br />

Wahren Wirklichkeit innezuwerden, also zur Selbst-Wesensschau zu<br />

gelangen.<br />

S. 80 f<br />

daigo tettei (Jap.): wörtlich «Großes Satori, das bis zum Boden reicht», also<br />

vollkommene Erleuchtung. Zu ihrem wesentlichsten Gehalt gehört das<br />

Erlebnis der Leere, der Leeren-Weite; die Aufhebung von jeglichem Antagonismus;<br />

das Erlebnis, daß die Form (Jap. sugata) <strong>des</strong> Weltalls und<br />

die eigene Form identisch sind, und das Zunichtewerden <strong>des</strong> kleinen Ich.<br />

daishi (Jap.): wörtlich «Großer Meister», ein buddhistischer Ehrentitel, der<br />

im allgemeinen posthum erteilt wird.<br />

Daitoku-Ji: ein großes Rinzai-Kloster in Kyoto, 1327 von DAITOKOKUSHI,<br />

d. h. DAITO, Lehrer der Nation, gegründet.<br />

S. 301,345<br />

Denkô-roku (Aufzeichnungen über die Weitergabe <strong>des</strong> Lichts): von <strong>Zen</strong>-<br />

Meister KEIZAN. Das Werk besteht aus <strong>drei</strong>undfünfzig Vorträgen über<br />

den BUDDHA und die Patriarchen und wurde von KEIZANS Schülern<br />

zusammengestellt. (S. 54 und unter «Kôan».) Es darf nicht mit dem<br />

Dento-roku (Aufzeichnungen über die Weitergabe der Lampe) verwechselt<br />

werden, das von einem chinesischen <strong>Zen</strong>-Meister stammt.<br />

deva (Skt.): Bewohner <strong>des</strong> obersten der sechs Bereiche <strong>des</strong> Daseins (siehe<br />

dort), «. .. dem Menschen überlegen, aber den Gesetzen der Welt unter-<br />

436


worfen. . .» (GOVINDA, a. a. O., S. 125).<br />

S. 126<br />

Dhāranī (Skt.) (Jap. darani): wörtlich «dasjenige, durch welches etwas aufrechterhalten<br />

wird»; buddhistische Sprechgesänge ohne logischen Sinnzusammenhang.<br />

Sie dienen «zur Befestigung <strong>des</strong> Geistes (Skt. dharana =<br />

Fixierung), einer durch Meditation gewonnenen Erkenntnis oder Schauung.<br />

Sie können sowohl die Quintessenz einer Lehre als auch das Erlebnis eines<br />

bestimmten Bewußtseinszustan<strong>des</strong> verkörpern... Sie unterscheiden sich<br />

in ihrer Funktion nicht vom Mantra, sondern höchstens in ihrer Form,<br />

indem sie oftmals beträchtliche Länge erreichen ... Sie waren jedoch in<br />

erster Linie ein Produkt und Hilfsmittel der Meditation: ,Durch Vertiefung<br />

(Skt. samâdbi) eignet man sich eine Wahrheit an, durch ein<br />

Dhāranī fixiert und bewahrt man sie'.» (GOVINDA, a. a. O., S. 23 f.)<br />

S. 44 f, 52, 229<br />

Dharma (Skt.) (Jap. ho): ein Grundbegriff im Buddhismus, der verschiedene<br />

Bedeutungen hat: universelles Gesetz, Phänomene, Lebendige-Wahrheit,<br />

buddhistische Lehre, die Lehren <strong>des</strong> BUDDHA.<br />

S. 50,116f, 383, 386, 387, 392, 395, 396, 414 und unter «BUDDHA», «Drei<br />

Kostbarkeiten ...» und «takuhatsu».<br />

«Dharma-Gefecht» (Jap. hossen): «Frage und Antwort», ein Wort-Turnier<br />

oder Wort-Gefecht <strong>des</strong> «Witzes» in bezug auf den Dharma, im allgemeinen<br />

zwischen zwei erleuchteten Menschen. In der Praxis ist es manchmal<br />

schwierig, zwischen Hossen und mondô klar zu unterscheiden, aber<br />

ganz allgemein gesagt besteht ein Mondô nur aus einer Frage und einer<br />

Antwort, während ein Hossen sich zu einem ausgedehnten Treffen entwickeln<br />

kann. Hossen stellen die für <strong>Zen</strong> typische Methode dar, die<br />

Lebendige-Wahrheit ohne Rückhalt an logischen Begriffen zu demonstrieren.<br />

Siehe auch unter «mondô».<br />

S. 119, 142, 225 und unter «HÔ-KOJI», «JÔSHÛ JÛSHIN» und «Rôshi»<br />

dharma-kâya, (Skt.) (Jap. hosshin): einer der <strong>drei</strong> «Körper <strong>des</strong> Buddha,<br />

wörtlich übersetzt: «Gesetzes-Körper». Siehe auch unter «BUDDHA».<br />

S. 237, 256, 381.<br />

Dharma-Nachfolger (Jap. hassu): ein <strong>Zen</strong>-Schüler, der den gleichen Grad<br />

der Erleuchtung erreicht hat wie sein Meister und die Genehmigung<br />

437


erhielt, <strong>des</strong>sen Lehrweise weiterzuführen. Das schließt natürlich inka ein.<br />

Ein Dharma-Nachfolger kann auch ein Laie, ob Mann oder Frau, sein.<br />

ENÔ, der Sechste Patriarch, war ein Laie, als er das Siegel der Bestätigung<br />

vom Fünften Patriarchen erhielt.<br />

S. 22, 56, 374<br />

Dhyâni-Buddhas: nicht-historische Buddhas wie BIRUSHANA (Skt. VAIRO-<br />

CANA), AMIDA (Skt. AMITÂBHA) usw. Siehe auch unter «BUDDHA».<br />

Diamantschwert: Das Diamantschwert <strong>des</strong> Vajra-Königs ist ein metaphorischer<br />

Ausdruck für unzerstörbaren Geist. Siehe auch unter «vajra».<br />

Diamant-Sûtra (Jap. Kongo-kyô, Skt. Vajracchedikâ Prajñâ Päramitâ):<br />

eines der tiefsinnigsten Sûtras <strong>des</strong> Mahâyâna. Das Sûtra schließt mit den<br />

Worten: «<strong>Die</strong>se heilige Darlegung soll als Vajracchedikâ Prajñâ Pāramitâ<br />

bekannt sein, da sie hart und scharf gleich einem Diamanten ist, alle willkürlichen<br />

Begriffe abschneidet und zum anderen Ufer der Erleuchtung<br />

führt.»<br />

5.49(23), 116, 287, 312<br />

DÔGEN KIGEN: 1200-1253, bedeutender japanischer <strong>Zen</strong>-Meister, auch als<br />

DÔGEN EIHEI bekannt. Auf ihn geht die Sôtô-Sekte zurück. Er schrieb<br />

unter anderem Shôbôgenzô und Fukan Zazengi und stellte das Hotsugammon<br />

zusammen.<br />

S. 22, 29 ff, 41, 44, 46, 53, 80, 96, 178 23 , 205, 227, 289 25 , 313, 374, 391,<br />

401 ff, 418 10 und unter «Hotsugammon», «NYOJÔ» und «Sôtô-Sekte».<br />

dokusan (Jap. doku = allein, Einzel-, einzeln; san = Gang zu einem Höheren):<br />

die Begegnung mit dem Rôshi in der Zurückgezogenheit seines<br />

Lehrraumes. <strong>Die</strong> allgemeine Bezeichnung für ein Erscheinen vor dem<br />

Rôshi in aller Form ist sanzen. Es gibt <strong>drei</strong> Arten von Sanzen: sosan, das<br />

Anhören der allgemeinen Darlegungen <strong>des</strong> Rôshi über die Ausübung <strong>des</strong><br />

<strong>Zen</strong>, gewöhnlich in einer Gruppe; das ist Pflicht für jeden Anfänger.<br />

Dokusan, bei dem man einzeln und zu festgesetzten Zeiten, aber nach<br />

freier Wahl, vor dem Rôshi erscheint. Naisan, bei dem man den Rôshi<br />

«geheim» aufsucht zu irgendeiner Zeit, Tag oder Nacht, wenn das durch<br />

438


esondere Umstände gerechtfertigt ist. Bei den Sesshin von YASUTANI<br />

Rôshi wird <strong>drei</strong>mal am Tage Dokusan gehalten: um 5 Uhr früh, um 15<br />

und um 19 Uhr.<br />

S. 16, 28, 85-89, 120, 132 ff, 180, 384<br />

DÔRIN (Chin. TAO-LIN): ein bekannter <strong>Zen</strong>-Meister der T'ang-Zeit. Er<br />

wurde gewöhnlich NIAO-K'E (Vogelnest) genannt, auf Grund seiner Gewohnheit,<br />

Zazen im Gezweig der Bäume zu üben. Siehe auch unter<br />

«Hakurakuten».<br />

S. 338<br />

Drei Böse Pfade (Jap. san aku dô): die Bereiche der Hölle, der hungrigen<br />

Geister und der Tiere - mit anderen Worten: die untermenschliche Welt.<br />

S. 229, 233, 260<br />

Drei Kostbarkeiten oder Schätze (Jap. sambo, Skt. triratna): Sie bilden die<br />

Grundlage <strong>des</strong> Buddhismus, und es gibt kein buddhistisch-religiöses Leben<br />

ohne Vertrauen auf sie und ohne Verehrung für sie. Im Mahâyâna sind<br />

diese Begriffe weiter gefaßt als im Hīnayâna, bei dem sie einfach BUDDHA,<br />

dharma und sangha bedeuten. Im Mahâyâna sind sie: 1. die <strong>drei</strong> Kostbarkeiten<br />

als Eines (Jap. ittai sambô), wörtlich: die Drei Kostbarkeiten<br />

als ein Leib, 2. <strong>Die</strong> Drei Kostbarkeiten als Offenbarung (Jap. genzen<br />

sambo) und 3. <strong>Die</strong> Drei Kostbarkeiten als Bewahrung (Jap. juji sambô).<br />

Obgleich sie in Wahrheit Eines sind, werden Sie zum Zwecke der Erläuterung<br />

doch unterteilt. So bestehen die Drei Kostbarkeiten als Eines aus<br />

dem Buddha BIRUSHANA (Skt. VAIROCANA), der die Erkenntnis der Welt<br />

der Leere, <strong>des</strong> Buddha-Wesens, der unbedingten Gleichheit darstellt;<br />

zweitens, aus dem Dharma, d. h. dem Gesetz anfang- und endlosen<br />

Werdens, dem alle Erscheinungsformen zufolge von Ursachen und Bedingungen<br />

unterliegen; drittens aus der Durchdringung und Wechselwirkung<br />

der beiden ersten, was jene vollkommene Wirklichkeit ausmacht, wie sie<br />

von dem Erleuchteten erlebt wird (s. S. 63 und 105).<br />

<strong>Die</strong> erste der Drei Kostbarkeiten als Offenbarung ist der historische<br />

BUDDHA ŚÂKYAMUNI, der auf Grund seiner Vollkommenen-Erleuchtung die<br />

Wahrheit <strong>des</strong> Ittai Sambo in sich selbst verwirklicht hat. <strong>Die</strong> zweite ist der<br />

Dharma, der die gesprochenen Worte und Predigten <strong>des</strong> BUDDHA<br />

ŚÂKYAMUNI enthält, in denen er die Bedeutung <strong>des</strong> Ittai Sambo und den<br />

439


Weg zu <strong>des</strong>sen Verwirklichung erläutert hat. <strong>Die</strong> dritte umfaßt die Jünger<br />

<strong>des</strong> BUDDHA und andere seiner zeitgenössischen Anhänger, die jenes Ittai<br />

Sambo, das er lehrte, hörten, daran glaubten und in ihrem eigenen Leibe<br />

verwirklichten.<br />

Von den Drei Kostbarkeiten als Bewahrung ist die erste die Ikonographie<br />

<strong>des</strong> BUDDHA, die auf uns gekommen ist; die zweite besteht aus den geschriebenen<br />

Predigten und Gesprächen der BUDDHAS (d. h. vollkommen<br />

erleuchteter Wesen), wie sie in den Sûtras und anderen buddhistischen<br />

Texten noch vorhanden sind, während die dritte aus den zeitgenössischen,<br />

heutigen Schülern besteht, die die rettende Wahrheit <strong>des</strong> Ittai Sambo, die<br />

zuerst von ŚÂKYAMUNI BUDDHA offenbart wurde, üben und verwirklichen.<br />

<strong>Die</strong> Drei Kostbarkeiten stehen miteinander in wechselseitigem Zusammenhang.<br />

Wer das Ittai Sambo nicht durch Erleuchtung verwirklicht hat,<br />

kann weder zutiefst die Bedeutung von ŚÂKYAMUNI BUDDHAS Erleuchtung<br />

begreifen, noch weiß er die unendliche Kostbarkeit seiner Lehren zu<br />

würdigen, und er kann auch die Bildnisse und Abbilder der Buddhas nicht<br />

als lebendige Wirklichkeit schätzen. Das Ittai Sambô wäre auch unbekannt,<br />

hätte ŚÂKYAMUNI es nicht in seinem eigenen Körper und Geist<br />

offenbart und in dem Weg zu <strong>des</strong>sen Verwirklichung, wie er ihn erläuterte.<br />

Und schließlich würde das Ittai Sambo ein entlegenes Ideal, das<br />

Leben ŚÂKYAMUNIS trockene Geschichte sein und die Worte der Buddhas<br />

leblose Abstraktionen, gäbe es in unserer Zeit keine Erleuchteten, die dem<br />

Weg-<strong>des</strong>-Buddha nachfolgen, um andere auf diesem Pfad zur Selbst-<br />

Wesensschau zu inspirieren und zu leiten. Und zudem: Da jeder von uns<br />

das Ittai Sambô verkörpert, ist die Grundlage der Drei Kostbarkeiten<br />

nichts anderes als das eigene Selbst.<br />

S. 276<br />

Drei Welten (Jap. sangai): eine andere Einteilung der Wirklichkeit gemäß<br />

buddhistischer Kosmologie. <strong>Die</strong>se <strong>drei</strong> bestehen aus den Bereichen <strong>des</strong><br />

Begehrens, der Form und der Nicht-Form. <strong>Die</strong> Bewohner der ersten und<br />

niedrigsten Ebene sind noch stark ihren Sinnen verhaftet; auf der zweiten<br />

finden sich jene, die zwar körperliche Gestalt haben, sich jedoch nicht<br />

mehr an die Welt der Sinne klammern. <strong>Die</strong> Bewohner der dritten sind<br />

ohne Körperlichkeit, d. h. sie befinden sich in einem Zustand, der reinem<br />

Bewußtsein ähnlich ist. <strong>Zen</strong>-Meister fassen im allgemeinen diese Bereiche<br />

als Dimensionen <strong>des</strong> menschlichen Bewußtseins auf.<br />

S. 235, 237<br />

440


Eins-Sein (Einssein): bezeichnet das Erlebnis der Leeren-Weite, der Leere.<br />

Wird es Einssein geschrieben, so kennzeichnet es den Zustand der Versunkenheit<br />

bis zur Selbstvergessenheit.<br />

S. 49, 84, 127, 219, 268 und unter «FUGEN und MONJU».<br />

Eisai MYÔAN: 1141-1215. In Japan beginnt die <strong>Zen</strong>-Sekte offiziell mit<br />

EISAI, einem Priester von hohem Rang, der in Kyoto auf dem Hieizan,<br />

der bedeutendsten Lehrstätte <strong>des</strong> Buddhismus im Mittelalter, die buddhistischen<br />

Lehren erfolgreich studiert hatte. Er machte zwei Reisen nach<br />

China, wo er in verschiedenen Klöstern, unter anderem auch in dem<br />

berühmten <strong>Zen</strong>-Kloster T'ien-t'ung (Jap.: Tendô), die Ausübung <strong>des</strong> <strong>Zen</strong><br />

erlernte. Bei seiner Rückkehr nach Japan im Jahre 1191 brachte er sowohl<br />

die Rinzai-Lehren als auch Teesamen nach Japan. So wurde EISAI als<br />

Vater <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> und <strong>des</strong> Teeanbaus in Japan bekannt.<br />

S. 30,176 22 , 313<br />

Eisenwand (Eisenwall) und Silberberg: Metaphern, um das Gefühl inneren<br />

Vereiteltseins, ja der Verzweiflung jener zu beschreiben, die mit ihrem<br />

Üben an einen bestimmten Punkt gekommen sind, über den hinaus sie<br />

nicht weiter vordringen können. Man ist nicht imstande, sich einen<br />

Weg durch eine Eisenwand hindurch zu schlagen oder auf einem Silberberg<br />

Fuß zu fassen.<br />

S. 143, 317, 325<br />

Engaku-Ji: «Tempel umfassender Erleuchtung». <strong>Die</strong>ses berühmte <strong>Zen</strong>-Kloster<br />

wurde 1282 von dem Regenten Hôjô TOKIMUNE, einem begeisterten<br />

Schutzherrn <strong>des</strong> Buddhismus, in Kamakura gegründet. Mit seinen mehreren<br />

hundert Morgen schönster Hänge und Schluchten, bewaldet mit<br />

Bambushainen, blühenden Bäumen, riesigen Kiefern und Kryptomerien,<br />

ist es eines der größten Rinzai-Klöster im Gebiet von Tokyo-Yokohama.<br />

Engaku-Ji ist auch der Muttertempel vieler kleiner Untertempel, die verstreut<br />

in ganz Japan liegen. Außer einem <strong>Zen</strong>dô besitzt es ein großes<br />

kojirin, also eine Zazenhalle ausschließlich für Laien, die unter der Leitung<br />

eines erfahrenen Mönches steht. An Wochenenden finden sich dort<br />

oft bis zu hundert Männer und Frauen jeden Berufs und Stan<strong>des</strong>, darunter<br />

auch Studenten, zum Zazen-Sitzen ein. SOGEN ASAHINA, der derzeitige<br />

Abt, ist auch Präsident <strong>des</strong> «Japan Buddhist Council for World Föderation».<br />

S. 292, 345<br />

441


ENÔ: (voller Name DAIKAN ENO ZENJI), auch als ROKUSÔ DAISHI bekannt,<br />

was bedeutet: Der Sechste <strong>Zen</strong>-Patriarch; (Chin. HUI-NENG oder WEI-<br />

LANG), 638-713; einer der hervorragendsten chinesischen <strong>Zen</strong>-Meister<br />

der T'ang-Zeit. In der Überlieferung <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> findet sich eine Fülle von<br />

Geschichten über ihn, z. B. daß er so arm war, daß er Brennholz verkaufen<br />

mußte, um seine verwitwete Mutter zu unterstützen; daß er Analphabet<br />

war; daß er in seiner Jugend Erleuchtung fand, als er einen<br />

Abschnitt aus dem Diamant-Sûtra rezitieren hörte; daß er auf Grund<br />

eines Verses, den er geschrieben hatte und der seine tiefe Ein-Sicht darlegte,<br />

zum Sechsten Patriarchen wurde (s. S. 145 den Vers in der Fußnote).<br />

S. 49 23 , 51«, 145 14 , 256, 312, 321 und unter «Dharma-Nachfolger»,<br />

«Vier Gelübde», «NANGAKU EJÔ» und «Patriarchen».<br />

Erleuchtung: Siehe auch unter «Kenshô», «daigo tettei» und «Satori».<br />

S. 27, 34, 35, 42, 48, 61, 67, 80, 82 f, 93 f, 97, 120 ff, 139 ff, 158, 165,<br />

168, 172, 184, 195, 197 f, 200, 213, 215 f, 219, 231, 232, 240, 247 ff, 254,<br />

259, 261, 265, 271, 272, 372, 388, 391, 418 9<br />

FUGEN und MONJU (Skt. SAMANTABHADRA und MANJUSRI): Der Bodhisattva<br />

FUGEN verkörpert gelassen-ruhiges Handeln, Erbarmen und tiefsitzende<br />

Weisheit. Er wird im allgemeinen auf einem weißen Elefanten reitend<br />

dargestellt (der Elefant ist für seine Ruhe und Weisheit bekannt), wobei<br />

er zur Rechten <strong>des</strong> BUDDHA als <strong>des</strong>sen Begleiter sitzt, während der<br />

BODHISATTVA MONJU, mit seinem Verblendung abschlagenden Vajra-<br />

Schwerte in der einen Hand, zur Linken <strong>des</strong> BUDDHA auf dem Rücken<br />

eines Löwen sitzt. MONJU stellt Satori dar, also die plötzliche Erkenntnis<br />

<strong>des</strong> Eins-Seins allen Daseins, und die Macht, die daraus erwächst, für<br />

die die Kraft <strong>des</strong> Löwen symbolisch ist. Wenn das durch Satori gewonnene<br />

Wissen zum Wohl der Menschheit angewandt wird, manifestiert sich<br />

Fugens Erbarmen. So sind die Bodhisattvas FUGEN und MONJU jeder ein<br />

Arm <strong>des</strong> BUDDHA, indem sie jeweils Eins-Sein (oder Gleichheit) und<br />

Vielfalt darstellen.<br />

S. 71, 272 f, 277, 307, 328, 385, 387, 389<br />

Fukan Zazengi: Ratschläge zu <strong>Zen</strong> für die Allgemeinheit, eine Schrift<br />

DÔGEN <strong>Zen</strong>jis.<br />

S. 35 8 , 403<br />

442


Fünf Grade: Fünf Grade der Erleuchtung, wie sie TOZAN festgelegt hat (Jap.<br />

go-i): wie bei den Zehn Ochsenbildern handelt es sich hier um verschiedene<br />

Grade <strong>des</strong> im <strong>Zen</strong> Erreichten, wie sie TOZAN RYÔKAI formuliert hat.<br />

<strong>Die</strong>se Fünf Grade sind auf Japanisch (in ansteigender Reihenfolge):<br />

1. shô-chû-hen, 2. hen-chû-shô, 3. shô-chû-rai, 4. hen-chû-shi und 5. kenchû-to.<br />

<strong>Die</strong> Schlüsselzeichen sind shô und hen, die wechselseitig abhängige<br />

Aspekte <strong>des</strong> Einen darstellen. Einige ihrer ergänzenden Attribute sind<br />

(bei den folgenden Wortpaaren bezieht sich das erste Wort auf shô, das<br />

zweite auf hen): Absolutes, Relatives; Leere, Form-und-Farbe; Gleichheit,<br />

Unterschiedenheit; Einheit, Vielheit; absolutes Selbst, relatives Selbst.<br />

Das chû, das «in», «innerhalb», «darin», «darunter» bedeuten kann,<br />

drückt die gegenseitige Beziehung von shô und hen aus.<br />

1. shô-chû-hen: Auf dieser Ebene der Erkenntnis dominiert die Welt der<br />

Erscheinungen, aber sie wird als eine Dimension <strong>des</strong> absoluten Selbst<br />

erlebt. 2. Hen-chû-shô: Hier auf der zweiten Stufe tritt der Aspekt der<br />

Nicht-Unterschiedenheit stark in den Vordergrund, und die Mannigfaltigkeit<br />

weicht in den Hintergrund zurück. 3. shô-chû-rai: Auf der dritten<br />

Ebene handelt es sich um eine Erkenntnis, bei der es keine Bewußtheit<br />

von Körper und Geist mehr gibt; beide «fallen völlig weg». 4. Hen-chûshi:<br />

Auf dieser Stufe gewahrt man das Besondere eines jeden Dinges im<br />

höchsten Maße seiner Einzigartigkeit. Jetzt ist eine Tasse «eine Tasse».<br />

5. Ken-chû-to: Auf der fünften und höchsten Ebene durchdringen sich Form<br />

und Leere in solchem Maße, daß man sich keines von beiden mehr<br />

bewußt ist. Alle Vorstellungen über Satori und Verblendung verschwinden<br />

vollends. Das ist das Stadium vollkommener innerer Freiheit.<br />

S. 54, 384 f und unter «TÔZAN RYÔKAI».<br />

Fünf Todsünden: 1. Töten <strong>des</strong> Vaters, 2. Töten der Mutter, 3. Töten eines<br />

ARHAT, 4. Vergießen <strong>des</strong> Blutes eines BUDDHA, 5. Zerstören der Harmonie<br />

der buddhistischen Bruderschaft.<br />

S. 229<br />

Gasshô: das Aufheben der Hände, Handfläche gegen Handfläche, als Ausdruck<br />

der Verehrung, Dankbarkeit oder Demut oder auch aller <strong>drei</strong>.<br />

S. 272, 297, 380<br />

Gebote (Jap. kairitsu): Um offiziell ein <strong>Zen</strong>-Buddhist zu werden, muß man<br />

initiiert werden, d. h. man erhält die Gebote und anerkennt sie bei einer<br />

443


Zeremonie, jukai genannt, bei der man sich verpflichtet, sich ganz den<br />

Drei Kostbarkeiten <strong>des</strong> Buddhismus (siehe dort) hinzugeben, die zehn<br />

Hauptgebote zu halten, alles Böse zu meiden, Gutes zu tun und sich um<br />

die Errettung aller Geschöpfe zu bemühen. Jukai wird als wesentlicher<br />

Schritt auf dem Wege zur Buddhaschaft angesehen.<br />

Im Mahâyâna verbieten die zehn Hauptgebote (Jap. jûjûkinkai): 1. Leben<br />

zu nehmen, 2. <strong>Die</strong>bstahl, 3. Unkeuschheit, 4. Lügen, 5. Alkohol zu verkaufen<br />

oder zu kaufen (d. h. andere zum Trinken zu veranlassen oder<br />

selbst zu trinken), 6. über schlechte Taten anderer zu sprechen, 7. sich<br />

selbst zu loben und andere zu verunglimpfen, 8. geistige oder materielle<br />

Hilfe widerwillig zu geben, 9. Ärger, 10. <strong>Die</strong> Drei Kostbarkeiten<br />

(triratna) zu lästern. <strong>Die</strong>se Gebote sind für Laien und Mönche die gleichen<br />

(wobei allerdings Nr. 3 nur auf bestimmte Mönchsorden zutrifft).<br />

Das Halten der Gebote ist nicht allein aus ethischen Gründen wichtig. <strong>Die</strong><br />

Gebote sind die Grundlage geistiger Übungen, da man auf dem Weg zur<br />

Erleuchtung nicht fortschreiten kann, wenn Herz und Geist nicht frei<br />

von der inneren Unruhe sind, die gedankenloses oder liederliches Benehmen<br />

hervorruft. Ungeachtet ihrer Entschlußkraft sind jedoch nur<br />

wenige Novizen imstande, ein jegliches Gebot hochzuhalten, und so sind<br />

Übertretungen in diesem oder jenem Ausmaß unvermeidlich. Solche Übertretungen<br />

hindern einen jedoch nicht daran, dem Weg <strong>des</strong> BUDDHA zu<br />

folgen, vorausgesetzt, daß man sie eingesteht, wahrhaft bereut und sich<br />

anstrengt, in Zukunft den Geboten gemäß zu leben. Mit dem Fortschreiten<br />

auf dem Wege und durch zunehmende Kraft, Reinheit und Einsicht durch<br />

Zazen werden es weniger Übertretungen. Was jedoch dauernden Schaden<br />

anrichtet - ja, sich verhängnisvoll auf unser seelisch-geistiges Fortschreiten<br />

auswirkt -, das ist der Verlust <strong>des</strong> Glaubens an den BUDDHA,<br />

an die Wahrheit, die er durch das Erlebnis seiner Erleuchtung enthüllte,<br />

und an die bekräftigenden Worte der Patriarchen. In diesem Falle ist<br />

volle Erleuchtung und damit Ausrottung der tiefsten Wurzel <strong>des</strong> Bösen,<br />

nämlich der Unwissenheit und Verblendung, buchstäblich unmöglich.<br />

S. 41,182 f, 190, 247, 354<br />

Geburt-und-Tod (Jap. shôji, Skt. samsâra): die Welt der Relativität; die<br />

Verwandlungen, die alle Phänomene, einschließlich der Gedanken und<br />

Gefühle, unablässig zufolge <strong>des</strong> Kausalgesetzes durchmachen. Geburt-und-<br />

Tod, von DÔGEN das «Leben eines Buddha» genannt, kann den Wellen<br />

<strong>des</strong> Meeres verglichen werden: Entstehen und Vergehen einer Welle ist<br />

444


eine «Geburt» und ein «Tod». <strong>Die</strong> Größe einer jeglichen wird durch die<br />

Kraft der vorangehenden bedingt, wobei sie selbst Vorgänger der folgenden<br />

ist. <strong>Die</strong>ser Vorgang, endlos wiederholt, ist Geburt-und-Tod.<br />

Siehe auch unter «Sechs Bereiche <strong>des</strong> Daseins», «karma», das Diagramm<br />

bei «Bewußtsein», «Rad-<strong>des</strong>-Lebens» und S. 229, 243, 261<br />

Gedô-<strong>Zen</strong> (Jap. ge (gai) = außerhalb, do (Chin. tao) = Weg): Gedô<br />

bedeutet also «Weg außerhalb»; somit bezeichnet Gedô-<strong>Zen</strong> ein zwar<br />

religiöses, jedoch nicht buddhistisches <strong>Zen</strong>.<br />

S. 77 f<br />

Geist (Jap. kokoro, auch shin ausgesprochen): kokoro bedeutet auch Herz,<br />

Gemüt, Seele, Gesinnung, Sinn, Inneres usw., und kokoro wurde stellenweise<br />

auch mit einem dieser Wörter übersetzt. Fragt man irgendeinen<br />

Japaner, wo sein kokoro sitze, so wird er wahrscheinlich auf Herz<br />

oder Brust deuten. Fragt man im Westen jemanden nach dem Sitz seines<br />

«Geistes», so wird er meist auf den Kopf weisen. <strong>Die</strong>se beiden Gesten<br />

veranschaulichen den Unterschied <strong>des</strong> Begriffes kokoro im Osten und<br />

Geist im Westen. An keiner Stelle <strong>des</strong> Buches darf «Geist» nur für<br />

«Intellekt» oder «Verstand» genommen werden, auch nicht bei dem Satz<br />

S. 2: «DÔGEN gab schon früh Beweise seines glänzenden Geistes». In<br />

diesem Zusammenhang schließt das Wort natürlich hohe Gaben <strong>des</strong> Verstan<strong>des</strong><br />

ein. Je nach dem Sinnzusammenhang bedeutet es entweder den<br />

Geist eines Menschen im Sinne von all seinen Kräften <strong>des</strong> Bewußtseins,<br />

Gemüts, <strong>des</strong> Herzens und der Seele, oder aber Absolute-Wirklichkeit (Geist<br />

jenseits der Unterscheidung von: Materie und Geist). Im Bassui-Text,<br />

Kap. IV, findet sich häufig der Ausdruck der «Eigene Geist» (Jap.<br />

jishin). Da es Bassui nicht um psychologische Erkenntnisse geht, sondern<br />

um letzte Wirklichkeit, dürfte unser Wort «Selbst» dem am nächsten<br />

kommen. Vom Standpunkt <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>-Erlebnisses ist Geist (im Sinn Absoluter-Wirklichkeit)<br />

vollkommen Waches-Innesein - mit anderen Worten:<br />

beim Hören einzig zu hören, beim Sehen einzig zu sehen usw.<br />

Der Ausdruck «das Geistige Auge öffnen» ist eine andere Weise, über das<br />

Erlebnis <strong>des</strong> Satori oder der Selbst-Wesensschau zu sprechen.<br />

S. 48, 63, 145 f, 173, 186, 188, 205, 228 ff, 237 ff, 241 ff, 253 f, 285 ff,<br />

306, 387 19<br />

GEMPÔ YAMAMOTO RÔSHI: Früherer Abt <strong>des</strong> Ryutaku-Ji, Mishima.<br />

S. 279, 296 28<br />

445


GENKI TAJI Rôshi: ein Rôshi-Schüler von HARADA Rôshi. Er starb 1953 im<br />

Alter von vierundsechzig Jahren.<br />

S. 317, 318, 372, 393<br />

Gesicht vor Geburt der Eltern: siehe unter «Ur-Antlitz».<br />

godô (Jap.): bei der Sôtô-Sekte der Mönchs-Älteste, dem das <strong>Zen</strong>dô untersteht,<br />

im Rang der Nächste nach dem Rôshi. <strong>Die</strong> Position <strong>des</strong> jikijitsu<br />

bei der Rinzai-Sekte kommt etwa der <strong>des</strong> godô gleich.<br />

S. 272 f, 301,303, 305 f<br />

HAKUIN EKAKU: 1686-1769, war einer der vielseitigsten und glänzendsten<br />

japanischen <strong>Zen</strong>-Meister. Er wird oft als der Vater <strong>des</strong> modernen Rinzai-<br />

<strong>Zen</strong> bezeichnet, da er die Rinzai-Lehren, die mehr und mehr verfielen,<br />

durch seine Systematisierung der Kôans auf eigene Faust neu belebt hat.<br />

HAKUIN <strong>Zen</strong>ji war nicht allein ein hervorragender Meister, er war auch<br />

ein höchst befähigter Maler, Kalligraph und Bildhauer. Sein Sekishu<br />

oder «Was ist der Ton einer klatschenden Hand?» ist das bekannteste<br />

Kôan, das von einem japanischen Meister ersonnen wurde. Sein allgemein<br />

beliebter Zazen Wasan, Preisgesang <strong>des</strong> Zazen, der häufig in <strong>Zen</strong>-Tempeln<br />

rezitiert wird, beginnt mit den Worten: «<strong>Die</strong> Geschöpfe sind von Urbeginn<br />

Buddha», und er endet mit: «Eben dieser Platz ist das Lotusland,<br />

eben dieser Leib ist Buddha.»<br />

S. 95,142, 205, 295, 296<br />

HAKURAKUTEN (Chin. PAI LO-T'IEN): In Essays in <strong>Zen</strong> Buddhism: Third<br />

series, von SUZUKI DAISETZ heißt es auf Seite 376:<br />

«PAI LO-T'IEN war ein großer Dichter der T'ang-Dynastie. Da er als<br />

Gouverneur in einem bestimmten Bezirk amtierte, lebte im Bereich seiner<br />

Gerichtsbarkeit ein <strong>Zen</strong>-Meister, der allgemein als NIAO-K‘E, d. h. ,Vogelnest',<br />

bekannt war, da er Meditation auf einem Sitz zu üben pflegte, der<br />

aus dem dicht-verwachsenen Gezweig eines Baumes bestand. Der Gouverneur-Dichter<br />

besuchte ihn einmal und sagte: ,Was für einen gefährlichen<br />

Sitz Ihr da oben im Baum habt!' ,Der Eure ist weit schlimmer<br />

als der meine', versetzte der Meister. ,Ich bin der Gouverneur dieses<br />

Bezirks, und ich sehe nicht ein, was daran so gefährlich sein sollte.'<br />

,Dann kennt Ihr Euch selbst nicht! Wenn Eure Leidenschaften entbrennen<br />

und Euer Herz unbeständig ist, was könnte gefährlicher sein als das?'<br />

Daraufhin fragte der Gouverneur: ,Was lehrt der Buddhismus?' Der<br />

446


Meister rezitierte die berühmte Strophe, die in verschiedenen Mahâyânaund<br />

Hīnayâna-Sûtras steht: ,Nichts Böses zu tun, doch das Gute zu üben,<br />

den Herz-Geist rein zu halten, das sind die Lehren <strong>des</strong> Buddha.' PAI<br />

jedoch protestierte: ,Das weiß doch je<strong>des</strong> <strong>drei</strong>jährige Kind.' Je<strong>des</strong> <strong>drei</strong>jährige<br />

Kind mag das wohl wissen, doch selbst einem alten Mann von<br />

achtzig Jahren fällt es schwer, das zu üben.' So schloß der <strong>Zen</strong>-Meister<br />

oben im Baum.»<br />

S. 338<br />

hanka: die japanische Bezeichnung für die halbe Lotus-Haltung.<br />

Siehe im 9. Kapitel<br />

Hannya Haramita Shingyô (Skt. prajña Paramita Hridaya): <strong>Die</strong>ses Herz <strong>des</strong><br />

prajña Paramita Sûtra wird derart häufig in Tempeln rezitiert, daß die<br />

meisten <strong>Zen</strong>-Schüler es auswendig können. Sein Thema ist: «Form ist<br />

nicht anders als Leere, Leere nicht anders als Form.»<br />

S. 283<br />

hara: <strong>Die</strong>ses japanische Wort bedeutet Bauch, Eingeweide, Unterleib, hat<br />

aber gleichzeitig eine seelisch-geistige Bedeutung, wie es deutlich aus den<br />

Worten von HARADA Rôshi hervorgeht: «Ihr müßt erkennen, daß der<br />

Mittelpunkt <strong>des</strong> Weltalls eure Bauchhöhle ist!» Dabei ist die Bauchhöhle<br />

eben der Hara.<br />

S. 40, 47 21 ,108 ff, 306, 328<br />

Hekigan-roku (Chin. Pi-yen-lu): Niederschrift von der Smaragdenen Felswand,<br />

das berühmteste <strong>Zen</strong>-Buch. Es besteht aus hundert Kôans, die<br />

<strong>Zen</strong>-Meister SETCHÔ JÛKEN (Chin. HSÜEH-TOU CH'UNG-HSIEN, 980-1052)<br />

zusamengestellt hat, wobei er je<strong>des</strong> Kôan mit einem eigenen Kommentar<br />

in Versform versehen hat. <strong>Die</strong>se Sammlung wurde später von <strong>Zen</strong>-Meister<br />

ENGO KOKUGON (mit dem <strong>Zen</strong>-Namen BUKKA; Chin. YÜAN-WU KE-CHIN,<br />

1063-1135) aufgegriffen und je<strong>des</strong> Kôan von ihm mit einem suiji, d.h.<br />

einem Hinweis, versehen, der den Kernpunkt <strong>des</strong> Kôan enthält und dem<br />

Kôan vorangesetzt wurde, sowie mit Erläuterungen <strong>des</strong> Kôan, die ebenso<br />

wie SETCHÔ JÛKENS Vers dem Kôan folgen. Das Buch erhielt seinen<br />

Namen auf Grund einer Schriftrolle mit den chinesischen Schriftzeichen<br />

für «smaragdgrün» und «Felswand», die im Tempelraum von ENGO<br />

KOKUGON hing; so beschloß er, sie als Titel <strong>des</strong> Buches zu benutzen.<br />

S. 54, 214, 319, 342 38<br />

447


(<strong>Die</strong> erste Hälfte <strong>des</strong> Hekigan-roku ist auf Deutsch unter dem Titel<br />

Bi-Yän-Lu, übersetzt von WILHELM GUNDERT, in zwei Bänden beim Carl<br />

Hanser Verlag, München, 1960 und 1967, erschienen).<br />

Hieizan, Berg Hiei: Auf der Höhe dieses Berges in Kyoto findet sich eine<br />

ausgedehnte Tempelanlage, die im Mittelalter die bedeutendste Lehrstätte<br />

<strong>des</strong> Buddhismus in Japan war.<br />

S. 29<br />

Hīnayâna (Jap. shôjô = Kleines Fahrzeug): siehe unter «Buddhismus» und<br />

S. 41,78 f, 354 40 , 401, 419 15<br />

Höhle <strong>des</strong> Satan: auch «Grube der Schein-Befreiung» genannt. Das ist ein<br />

Zustand beim Zazen, in dem man vollkommene Heiterkeit empfindet und<br />

von dem Glauben besessen ist, daß das Selbst-Wesensschau sei. Es erfordert<br />

feurige Anstrengungen, um auszubrechen und über diesen Zustand<br />

hinauszugehen.<br />

S. 327<br />

HÔ KOJI (Chin. FANG CHÛ-SHIH; wörtlich, Der «Laienschüler HÔ»): ein<br />

Gelehrter <strong>des</strong> Konfuzianismus in der T'ang-Zeit, ein wohlhabender Mann,<br />

der, wie berichtet wird, sein gesamtes Goldvermögen in den Fluß warf<br />

und danach mit seiner Familie im Lande herumwanderte, wobei er seinen<br />

Unterhalt als Bambusflechter verdiente und mit berühmten <strong>Zen</strong>-Meistern<br />

«Dharma-Gefechte» führte.<br />

S. 142 12 , 242 f<br />

honrai-no memmoku (Jap. wörtlich, honrai = ursprünglich; men = Angesicht,<br />

moku = Auge; memmoku - Antlitz, Angesicht): übersetzt mit Ur-<br />

Antlitz, Ur-Angesicht; gleiche Bedeutung wie «Gesicht vor Geburt der<br />

Eltern». Siehe unter «Ur-Antlitz».<br />

hossen: das japanische Wort für «Dharma-Gefecht»; siehe dort.<br />

Hosshin-Ji: «Kloster zur Erweckung <strong>des</strong> Bodhi-Geistes», ein Kloster der<br />

Sôtô-Sekte in Obama, im Bezirk Fukui gelegen. HARADA Rôshi war über<br />

vierzig Jahre lang <strong>des</strong>sen Abt.<br />

S. 34, 52, 55, 168, 278 11 , 281, 297 f, 375, 377<br />

448


Hotsugammon: eine Zusammenstellung von Gebeten und Bittgebeten von<br />

DÔGEN für Anfänger im Zazen.<br />

5.394 30<br />

HYAKUJÔ EKAI (Chin. PAI-CHANG HUAI-HAI): 720-814. Er schuf als erster<br />

Meister eine mönchische <strong>Zen</strong>-Gemeinde in China mit genauen Regeln und<br />

Ordnungen, wobei Nachdruck auf körperliche Arbeit gelegt wurde.<br />

S. 52, 279, 289 23<br />

ich: im Sinne <strong>des</strong> lateinischen ego. Im Buddhismus erachtet man die Vorstellung<br />

eines Ich, also die Bewußtheit unserer selbst als abgelöste Individualitäten,<br />

als Verblendung. <strong>Die</strong>se Ich-Vorstellung erhebt sich, da wir<br />

von unserem zwiespältigen Intellekt (dem sechsten Sinn) dazu verleitet<br />

werden, einen Dualismus von Ich und Nicht-Ich als gegeben vorauszusetzen,<br />

und demzufolge denken und handeln, als ob wir abgetrennte<br />

Entitäten seien und uns einer Welt, die außerhalb unserer selbst liegt,<br />

gegenüber befänden. So festigt sich im Unterbewußtsein die Idee eines<br />

«Ich», einer Selbstheit, aus der sich Gedankengänge wie «ich hasse dies,<br />

ich liebe das; dies ist mein, das ist dein» ergeben. Von solchem Futter<br />

genährt, kommt es dazu, daß das Ich die Seele beherrscht und alles<br />

angreift, was immer seine Herrschaft bedroht, und begierig ist nach allem,<br />

was seine Macht erweitert. Feindschaft, Gier und Entfremdung, die in<br />

Leiden kulminieren, sind die unausweichliche Folge dieses Kreislaufs.<br />

S. 46, 148, 160, 211 f, 213 f, 247, 260 f, 302, 306, 324, 366, 393<br />

IKKYÛ SÔJUN: 1394-1481, ein früherer Abt <strong>des</strong> Daitoku-Ji, <strong>des</strong> großen<br />

Rinzai-Klosters in Kyoto. Er ist in der Geschichte <strong>des</strong> <strong>Zen</strong> ebenso für<br />

seinen tiefsinnigen Witz, der sich in zahlreichen Versen ausdrückt, bekannt,<br />

wie auch seiner tiefen <strong>Zen</strong>-Einsicht wegen. <strong>Die</strong>se beiden Eigenschaften<br />

lassen sich im folgenden Vers erkennen, den er im Alter von<br />

siebenundachtzig Jahren schrieb, als er dem Tode nahe war: «Bläßlich<br />

<strong>drei</strong>ßig Jahre lang / Schwächlich <strong>drei</strong>ßig Jahre lang / Bläßlich und<br />

schwächlich sechzig Jahre lang / Beim Tode scheide ich meinen Abfall<br />

aus und opfere ihn Brahma.» (Nach der englischen Übersetzung von<br />

R. H. BLYTH.)<br />

S. 36<br />

inka shômei (Jap.) «das rechte Siegel <strong>des</strong> deutlich erbrachten Beweises»: das<br />

rechte Siegel der Bestätigung, daß wahre Erleuchtung deutlich erwiesen<br />

449


ist. Inka, wie es allgemein genannt wird, ist die offizielle Bestätigung<br />

seitens <strong>des</strong> Meisters, daß der Schüler seine Schûlung unter ihm vollends<br />

abgeschlossen - also «bestanden» hat. Das bedeutet bei Meistern, die das<br />

Kôan-System anwenden, daß der Schüler alle vom Meister vorgeschriebenen<br />

Kôans bewältigt hat. Bei Meistern, die keine Kôans verwenden,<br />

heißt die Verleihung von Inka, daß sie mit dem Grad Wahren-Begreifens<br />

bei ihrem Schüler zufrieden sind. Wer Inka erhält, bekommt von seinem<br />

Meister entweder die Genehmigung zu lehren, oder aber er bekommt sie<br />

nicht. Das hängt ganz von der Tiefe der Erleuchtung <strong>des</strong> Schülers ab,<br />

von seiner Charakterstärke und von der Reife seiner Persönlichkeit. Viel<br />

hängt jedoch dabei auch von den Eigenschaften <strong>des</strong> Rôshi ab: Ist er<br />

weise und befähigt, und stellt er hohe Ansprüche, so wird er seine Lehrgenehmigung<br />

nicht leicht geben. Ist er jedoch mittelmäßig, so wird sein<br />

Schüler wahrscheinlich «der armselige Stempel eines armseligen Stempels<br />

sein», einerlei ob er nun Inka erhält oder nicht. Im <strong>Zen</strong> heißt es oft:<br />

«<strong>Die</strong> Frucht kann nicht besser sein als der Baum, der sie hervorgebracht<br />

hat.»<br />

S. 22, 30, 55, 225 und unter «Dharma-Nachfolger»<br />

innen (Jap. in-nen): direkter und indirekter Grund, übersetzt mit «Anlaß-<br />

Grund-Ursache», und zwar in karmischem Sinn.<br />

S. 229 9<br />

JIZÔ (Skt. KSITIGARBHA): <strong>Die</strong>ser Bodhisattva der Güte und <strong>des</strong> Erbarmens<br />

ist eine im japanischen Buddhismus sehr geliebte Gestalt. Auf volkstümlicher<br />

Ebene ist JIZÔ nicht allein der besondere Beschützer der Kinder,<br />

sondern auch der Ratgeber und Führer eines jeden, der in Gefahr ist,<br />

vom rechten Wege abzuirren. An Weg- und Straßenkreuzungen oder an<br />

einem Platz, wo ein Kind einen gewaltsamen Tod erlitten hat, findet man<br />

Steinstatuen <strong>des</strong> JIZÔ, seinen Mönchsstab in der Hand, und mit geschorenem<br />

Kopf.<br />

S. 237<br />

Jôriki (Jap.): jene besondere Kraft oder Macht, die aus gesammeltem Geist<br />

erwächst, wie er durch die Schulung im Zazen bewirkt wird. Jôriki<br />

befähigt unter anderem zu höchster Geistesgegenwart selbst in unvorhergesehenen<br />

und schwierigsten Situationen.<br />

S. 49, 81 f, 83, 84, 165 f<br />

450


JÔSHÛ JUSHIN (Chin. CHAO-CHOU TS'UNG-SHEN) : 778-897, ein berühmter<br />

Meister der T'ang-Zeit. Sein Mu ist das bekannteste aller Kôans. Es heißt,<br />

daß JÔSHÛ mit achtzehn Jahren Kenshô erlangte und mit fünfundvierzig<br />

vollkommene Erleuchtung fand. Von seinem fünfundvierzigsten Lebensjahr<br />

an bis zu seinem achtzigsten wanderte er als Pilger in China umher,<br />

hielt sich bei hervorragenden Meistern auf und führte mit ihnen «Dharma-<br />

Gefechte». Erst als er achtzig Jahre alt war, eröffnete er ein Kloster und<br />

begann zu lehren. Er fuhr bis zum Tode fort, Schüler zu unterweisen,<br />

und starb im Alter von hundertzwanzig Jahren.<br />

Wie sein Meister, NANSEN, war JÔSHÛ von sanftem Gebaren. Er vermied die<br />

kraftvolle Rede und heftige Handlungsweise eines Rinzai, doch waren<br />

seine Weisheit und sein Scharfsinn im Umgang mit seinen Schülern derart,<br />

daß er mit seinem sanften Spott oder hochgezogenen Augenbrauen mehr<br />

vermitteln konnte als andere Meister durch Anbrüllen oder Stockhiebe.<br />

Das geht aus den zahllosen Kôans hervor, die ihn zum Mittelpunkt haben.<br />

JÔSHÛ <strong>Zen</strong>ji wird in Japan hoch verehrt.<br />

S. 103, 113 ff, 195,227, 233«<br />

kalpa (Skt.): ein Sûtra. definiert ein Kalpa als die Zeitspanne, die es erfordern<br />

würde, einen meilenhohen Berg einzuebnen, wenn dazu nur einmal<br />

im Jahr ein Engel vom Himmel käme und einmal mit seinen Flügeln über<br />

die Spitze <strong>des</strong> Berges führe.<br />

S. 250, 288<br />

Kamakura-Zeit: 1186-1336, jene unruhige Zeit der japanischen Geschichte,<br />

da der Sitz der Regierung nach Kamakura verlegt wurde. Damals entstanden<br />

die <strong>Zen</strong>-, Nichiren- und Reine-Land-Sekte.<br />

S. 221<br />

KANNON, auch KANZEON, KWANNON (Skt. AVALOKITESVARA, Chin. KUAN-<br />

YIN): der «All-Erbarmende». Er ist der Bodhisattva der allumfassenden<br />

Liebe und Güte. Er spielt bei den Andachtsübungen aller buddhistischen<br />

Sekten eine Hauptrolle. Obgleich er an sich männlich ist, ist er doch in<br />

Japan in der volkstümlichen Vorstellung zu einer weiblichen Gestalt<br />

geworden.<br />

S. 71, 150, 193, 232, 237, 287, 297, 385<br />

karma (Skt.) (Jap. gô): einer der Grundbegriffe der buddhistischen Lehren;<br />

er bedeutet Aktion und Reaktion, den unaufhörlichen Vorgang von Ur-<br />

451


sache und Wirkung. Somit sind unser gegenwärtiges Leben und unsere<br />

Lebensumstände das Ergebnis vergangener Gedanken und Handlungen,<br />

und gleichermaßen bilden unsere Handlungen in diesem Leben unsere<br />

zukünftige Daseinsform aus. Das Wort Karma wird auch auf schlechte<br />

Neigungen angewandt, die aus früherem falschem Handeln resultieren.<br />

Siehe auch unter «Geburt-und-Tod», «Bewußtsein» und «Sechs Bereiche<br />

<strong>des</strong> Daseins».<br />

S. 118,119,190, 244,250<br />

katsu (Jap.) (Chin. ho): Obgleich dieser Ausruf keine eindeutige Bedeutung<br />

hat, vermittelt er doch sehr viel. Er wird von Meistern benutzt, um alle<br />

dualistischen, ich-bezogenen Gedanken aus dem Sinn <strong>des</strong> Schülers zu<br />

vertreiben. Der Ausruf wird meistens mit RINZAI in Verbindung gebracht,<br />

<strong>des</strong>sen Geschrei und Stockschwingen im <strong>Zen</strong> legendär sind. Er wurde<br />

zuerst von BASO benutzt, der auch für seine Donnerstimme berühmt war.<br />

RINZAI unterscheidet vier Arten von Katsu: «Manchmal ist es wie das<br />

Diamant-Schwert <strong>des</strong> Vajra-Königs; manchmal ist es wie der goldhaarige<br />

Löwe, der am Boden kriecht; manchmal ist es wie eine an der<br />

Spitze mit Gras bewachsene Lockstange; und manchmal ist es überhaupt<br />

kein katsu».<br />

S. 247, 387<br />

Kegon-Sûtra (Skt. Avatamsaka-Sûtra): ein tiefsinniges Mahâyâna-Sûtra,<br />

in dem sich die Predigten <strong>des</strong> BUDDHA finden, die er unmittelbar nach<br />

seiner vollkommenen Erleuchtung gehalten hat.<br />

S. 58, 60<br />

KEIHO SHUMITSU (Chin. KUEI-FENG TSUNG-MI): ein höchst gelehrter <strong>Zen</strong>-<br />

Meister der T'ang-Zeit.<br />

S. 75<br />

keisu (Jap.): eine schalenförmige Bronzetrommel, die beim Rezitieren von<br />

allen buddhistischen Sekten Japans benutzt wird. Sie wird am Rande<br />

mit einem gepolsterten Knüttel angeschlagen, den man mit beiden Händen<br />

hält.<br />

S. 45<br />

KEIZAN JÔKIN: 1268-1325, der Vierte Patriarch der japanischen Sôtô-Sekte<br />

in der Linie nach DÔGEN. Er ist der Begründer <strong>des</strong> Sôji-Ji (heute in<br />

452


Yokohama), eines der beiden Hauptklöster der Sôtô-Sekte. Das Denkôroku<br />

ist eine Sammlung seiner Werke. Er ist auch der Verfasser <strong>des</strong> Zazen<br />

Yôjinki (siehe dort).<br />

S. 35<br />

kendô (Jap.) wörtlich «Der Weg <strong>des</strong> Schwertes»; das Fechten im japanischen<br />

Stil, bei dem das Schwert mit beiden Händen geführt wird. Früher<br />

war es üblich, daß sich die Adepten <strong>des</strong> Kendo im <strong>Zen</strong> schulten -, um<br />

dadurch um so besser flinke, rückhaltlose Reaktionsfähigkeit und furchtlose<br />

To<strong>des</strong>bereitschaft zu entwickeln.<br />

S. 71,75, 320<br />

Kenshô (Jap.) wörtlich, ken = sehen, schauen; shô = Natur, Wesen. Da es<br />

sich dabei um die Schau ins eigene Wesen handelt, wurde es mit Selbst-<br />

Wesensschau übersetzt. Semantisch haben Kenshô und Satori im Grunde<br />

die gleiche Bedeutung, und sie werden oft synonym gebraucht. Es ist<br />

jedoch üblich, das Wort «Satori» anzuwenden, wenn man von der Erleuchtung<br />

<strong>des</strong> BUDDHA und der Patriarchen spricht, da es ein tieferes<br />

Erlebnis als das Wort Kenshô bezeichnet. <strong>Die</strong> genaue japanische Bezeichnung<br />

für volle Erleuchtung ist daigo tettei. Wenn das Wort godô (wörtlich,<br />

«der Weg der Erleuchtung») Kenshô hinzugefügt wird, so bekommt<br />

letzteres einen subjektiveren und eindringlicheren Sinn. Siehe auch unter<br />

«Satori» und «daigo tettei». (Seitenhinweise siehe unter «Erleuchtung».)<br />

kinhin: Zazen im Gehen, wie es zwischen den einzelnen Sitzzeiten geübt<br />

wird. Bei der Rinzai-Sekte geht man schnell und energisch, oft im Laufschritt,<br />

bei der Sôtô-Sekte hingegen äußerst langsam, im Schneckentempo.<br />

Bei HARADA Rôshis Methode, die auch von YASUTANI Rôshi angewandt<br />

wird, liegt die Gangart etwa in der Mitte zwischen beiden.<br />

S. 65 f, 70 (Zazen-Gehen), 348<br />

Kôan (Jap.) (Chin. kung-ari): Im Chinesischen bedeutete es ursprünglich<br />

einen juristischen Präzedenzfall. Im <strong>Zen</strong> ist ein Kôan eine in verwirrender<br />

Ausdrucksweise abgefaßte Formulierung, die auf Letzte-Wahrheit hinweist.<br />

Kôans lassen sich nicht mit Hilfe logischen Denkens lösen, sondern<br />

nur, indem man eine tieferliegende Schicht <strong>des</strong> Geistes erweckt, die jenseits<br />

<strong>des</strong> diskursiven Intellekts liegt. Kôans werden aus den Fragen der<br />

Schüler alter Zeit und den Antworten ihrer Meister gebildet, aus Teilen<br />

453


von Predigten und Reden der Meister, aus Zeilen der Sâtras oder anderer<br />

Lehren.<br />

Das Wort oder der Ausdruck, in den sich das Kôan auflöst, wenn man<br />

damit als geistigem Schûlungsmittel ringt, wird watô (Chin. Hua-tou)<br />

genannt. Demnach bildet die Frage: «Hat ein Hund Buddha-Wesen?»<br />

zusammen mit JÔSHÛS Antwort: «Mû!» das Kôan. «Mu!» selbst ist das<br />

Watô.<br />

Insgesamt soll es 1700 Kôans geben. Von diesen verwenden japanische<br />

<strong>Zen</strong>-Meister einen Stamm von etwa 500, da viele Wiederholungen bringen<br />

oder weniger wertvoll für die Schûlung sind. <strong>Die</strong> verschiedenen Meister<br />

bevorzugen verschiedene Kôans, doch stets benutzen sie, sofern sie überhaupt<br />

Kôans anwenden, die Kôan-Sammlungen <strong>des</strong> Mumon-kan und <strong>des</strong><br />

Hekigan-roku. Ein Schüler, der unter YASUTANI Rôshi seine Schûlung<br />

durchmacht, muß folgende Kôans und andere Probleme solcher Art<br />

bewältigen: gemischte Kôans 50, Mumon-kan (mit Versen) 96, Hekiganroku<br />

100, shôyo-roku 100, Denkô-roku (mit Versen) 110, Jûjukinkai und<br />

andere 90. Das ergibt zusammen 546.<br />

S. 34, 38 f, 52, 84, 86 f, 103 ff, 130, 184, 239<br />

KÔBÔ DAISHI: 774-835, einer der höchst verehrten japanischen Buddhisten.<br />

KÛKAI, wie er zu Lebzeiten genannt wurde, brachte den Shingon-<br />

Buddhismus von China nach Japan, nachdem er diese Form <strong>des</strong> Buddhismus<br />

<strong>drei</strong> Jahre lang in China studiert hatte. Er ist gleichermaßen berühmt<br />

als hervorragender religiöser Lehrer wie als begabter Schriftsteller, als<br />

Künstler und unübertroffener Kalligraph. Da er zudem noch die hiragana-<br />

Schriftzeichen erfunden hat, wird er von den Japanern als großer Wohltäter<br />

angesehen.<br />

S. 387 18<br />

Kôgaku-Ji: wörtlich, «dem Berge zugewandtes Kloster», der Berg ist dabei<br />

Fuji. Er wurde von BASSUI <strong>Zen</strong>ji gegründet und liegt in der Stadt Enzan<br />

im Bezirk Yamanashi.<br />

S. 226<br />

kotsu (Jap.): der etwa 35 cm lange Stab <strong>des</strong> Rôshi, leicht gebogen, wie eine<br />

menschliche Wirbelsäule. Der Rôshi benutzt ihn, um einer Stelle Nachdruck<br />

zu verleihen, um sich im Sitzen darauf zu lehnen oder gelegentlich<br />

einem Schüler einen Klaps damit zu versetzen.<br />

S. 134,164 (Meisterstab)<br />

454


kriya yoga (Skt.): die ersten Schritte bei der Schûlung im Yoga.<br />

S. 345, 346<br />

kû (Jap.) (Skt. sünyatâ): übersetzt mit «Leere». Hierzu die Worte <strong>des</strong><br />

Sechsten Patriarchen ENÔ: «Wenn ihr mich von der Leere sprechen hört,<br />

so laßt euch nicht zu der Auffassung verleiten, daß ich die Leerheit<br />

(eines bloßen Vakuums) meine.» Zum Erlebnis tiefer Erleuchtung (Satori,<br />

daigo tettei) gehört das Erlebnis dieser unqualifizierten Leere, die allen<br />

Erscheinungsformen zugrunde liegt. Obgleich umfangreiche Werke über<br />

Kû geschrieben worden sind, lassen sich Sinn und Gehalt doch nicht<br />

durch Worte vermitteln und werden nur dem begreiflich sein, der diese<br />

Leere in der Erleuchtung erlebt hat.<br />

S. 117,119<br />

(Obiges Zitat stammt aus Grundlagen tibetischer Mystik von Lama A.<br />

GOVINDA, O. W. Barth Verlag, München, 4 1975, S. 133)<br />

K'UNG-TZE (auch KUNG-TZE, KONFUZIUS; Chin. K'UNG FU-TZE; Jap.KÔSHI):<br />

551-479 v. Chr., ein gefeierter chinesischer Weiser. Das Rückgrat von<br />

K'UNG-TZES moralischen und religiösen Lehren findet sich in LUN Yü,<br />

Gespräche <strong>des</strong> K'ung-tze.<br />

S. 75, 396 31<br />

Kusharon (Skt. Abhidharma-kosa-sâstra): ein im 5. Jh. n. Chr. von VASU-<br />

BANDHU (Jap.: SESHIN) geschriebenes Werk.<br />

S. 80<br />

kyosaku (Jap.): hölzerner Stock von etwa 75-100 cm Länge und einem<br />

Durchmesser von etwa 7,5 cm. Von einem erleuchteten godô geführt,<br />

dient er den Sitzenden im <strong>Zen</strong>dô als Ansporn, niemals als Züchtigung.<br />

S. 92, 135 ff, 153, 168, 196, 208 f, 262 (Stock), 273 ff, 307, 311, 355, 357<br />

LAO-TZE (auch LAO DSE, LAOTSE; Jap. RÔSHI): Obgleich LAO-TZE als einer<br />

der größten chinesischen Weisen angesehen wird, weiß man doch wenig<br />

über sein Leben. Es heißt, daß er um 604 v. Chr. geboren wurde und der<br />

Autor <strong>des</strong> Tao Teh King («Der Weg und seine Macht», Jap. Dôtokkyo)<br />

sei, eines Werkes, das die Bibel <strong>des</strong> Taoismus ist, also jener Religion, die<br />

um dieses Buch herum erwuchs. Das Tao wurde als der Urgrund allen<br />

Daseins definiert oder als die Macht <strong>des</strong> Universums. Wörtlich übersetzt<br />

bedeutet Tao (Jap. dô) «Weg».<br />

S. 75, 201 24<br />

455


Lotus (Skt.: padma): Im Buddhismus ist der Lotus das Symbol der Reinheit<br />

und Vollkommenheit <strong>des</strong> Buddha-Wesens, das allem immanent ist.<br />

«So wie die Lotusblume aus der Dunkelheit <strong>des</strong> Schlammes zur Oberfläche<br />

<strong>des</strong> Wassers emporwächst und sich erst öffnet, nachdem sie sich über die<br />

Wasseroberfläche erhoben hat, und obwohl aus Erde und Wasser geboren,<br />

von beiden unberührt bleibt, so entfaltet der in der Welt, im menschlichen<br />

Körper geborene Geist seine Blütenblätter (Qualitäten), nachdem<br />

er sich über die trüben Fluten der Leidenschaften und <strong>des</strong> Nichtwissens<br />

erhoben hat, und verwandelt die dunklen Kräfte der Tiefe in die lichte<br />

Reinheit <strong>des</strong> Blütennektars, <strong>des</strong> Erleuchtungsbewußtseins...» (GOVINDA,<br />

a. a. O., S. 97).<br />

S. 241, 419 15<br />

Lotus-Haltung (Skt.: padmīsana, Jap. kekka fusa): die Haltung, in der<br />

der Buddha ikonographisch auf einem Lotus dargestellt wird.<br />

Siehe im 9. Kapitel und S. 47 f, 107, 196<br />

Lotus-Sûtra (auch «Sûtra <strong>des</strong> Lotus <strong>des</strong> Wunderbaren Gesetzes», Skt.<br />

Saddharma Pundarika, Jap. Myoho-renge-kyô, auch als Hokke-kyô<br />

bekannt): dieses Mahâyâna-Sûtra, das aus dem 1. Jh. stammen soll, hat<br />

auf die Buddhisten Chinas und Japans großen Einfluß gehabt. «In<br />

lebendiger Sprache, die die Einbildungskraft überwältigt, gibt es die<br />

letzte Rede von ŚÂKYAMUNI auf dem Geier-Gipfel wieder, ehe er ins<br />

Nirvana einging. Hier bietet er seinen versammelten Jüngern eine Vision<br />

unendlicher Buddha-Worte dar, erleuchtet von Buddhas, die zahllosen<br />

Schülern die Wahrheit offenbaren, ebenso wie ŚÂKYAMUNI es in dieser<br />

Welt tut. Das ist eine Vorwegnahme der späteren Offenbarung, daß<br />

ŚÂKYAMUNI ebenso eine Manifestation <strong>des</strong> Ewigen Buddha ist, der in<br />

diesen unendlichen Bereichen stets dann erscheint, wenn die Menschen<br />

vom Bösen verschlungen zu werden drohen. <strong>Die</strong> Rettende Wahrheit, die<br />

er enthüllt, Mahâyâna genannt, ist so tiefsinnig, daß nur Wesen höchster<br />

Intelligenz sie begreifen können... ŚÂKYAMUNI fährt fort, indem er<br />

erklärt, warum es für ihn notwendig war, zuerst die Hīnayâna-Lehren<br />

zu predigen, die auf die Selbst-Vervollkommnung <strong>des</strong> Einzelnen abzielen,<br />

als Vorbereitung für die endgültige Offenbarung Universeller Erlösung...»<br />

(Aus The Lotus of the Wonderful Law, einer gekürzten Übersetzung von<br />

W. E. SOOTHILL, zitiert in Sources of Japanese Tradition, herausgegeben<br />

von WILLIAM THEODORE DE BARY, S. 121.)<br />

S. 73, 215, 216 28 und unter «Nichiren-Sekte» und «Sûtra».<br />

456


Mahâyâno, (Jap. Daijô = Großes Fahrzeug): Siehe unter «Buddhismus» und<br />

S. 41,78, 80,105,419 15<br />

Makyô (Jap.), (ma = akuma = Teufel; kyô - Phänomene, objektive Welt):<br />

Somit bedeutet Makyô das Erscheinen «diabolischer» Phänomene beim<br />

Üben von Zazen: Gesichte, Gerüche, Töne usw. Sie sind durchaus nicht<br />

«diabolisch», solange der Übende ihnen keinerlei Beachtung schenkt.<br />

S. 71-74, 149 ff, 167, 180, 255 34 , 335, 347 (Halluzinationen), 359<br />

mandala (Skt.): siehe unter «Tantrischer Buddhismus».<br />

mantra (Skt.): siehe unter «Tantrischer Buddhismus».<br />

mâyâ (Skt.): <strong>Die</strong>ses Sanskritwort wird im allgemeinen als Illusion, Täuschung<br />

definiert, aber Mâyâ ist lediglich das Mittel, mit Hilfe <strong>des</strong>sen wir<br />

die Welt der Erscheinungsformen messen und abschätzen. Es ist die<br />

Ursache einer Täuschung, wenn diese Welt der Formen fälschlich als<br />

statisch und unwandelbar wahrgenommen wird. Wenn sie dagegen als<br />

das, was sie ist, angesehen wird, nämlich als lebendiges Strömen, das sich<br />

auf Leere gründet, so ist Mâyâ Bodhi oder eingeborene Weisheit. Siehe<br />

auch unter «Verblendung».<br />

S. 126<br />

Meiji-Restauration: jenes Ereignis in der japanischen Geschichte, das den<br />

Zusammenbruch <strong>des</strong> Tokugawa-shôgunats (1867) kennzeichnet und<br />

damit die Wiederherstellung der Macht <strong>des</strong> Kaisers MEIJI und den Beginn<br />

der MEiji-Zeit (1867-1912).<br />

S. 75<br />

MENG-TZE (Chin.) (auch MENCIUS oder MENG DSE; Chin. MENG-TZE;<br />

Jap. MOSHI):? - 370 v. Chr., ein chinesischer Philosoph und Weiser. Sein<br />

Hauptwerk, Das Buch <strong>des</strong> MENG-TZE, wird als eines der klassischen<br />

Kommentare zu den Schriften von KUNG-TZE angesehen.<br />

S. 75<br />

MIROKU (Skt. MAITREYA): der «All-Liebende», der BODHISATTVA, der im<br />

nächsten Welt-Zyklus zum vollkommenen BUDDHA wird, um die Menschen<br />

aus den Banden <strong>des</strong> Ich in die Freiheit zu führen.<br />

S. 152 (Maitreya), 252, 389<br />

457


mokugyo (Jap.): wörtlich «Holzfisch». Das Mokugyo ist ein hölzernes,<br />

annähernd kugelförmiges Gebilde mit einem Ansatz, ausgehöhlt und in<br />

Form einer Art von Seegeschöpf geschnitzt, mit einem breiten horizontalen<br />

Schlitz (Mund), um der Resonanz willen. Es wird als Begleitung<br />

beim Sûtra-Rezitieren in buddhistischen Tempeln verwendet. Wenn es mit<br />

einem kurzen, gepolsterten Schlägel angeschlagen wird, gibt es einen<br />

eigentümlich sonoren Laut von sich. <strong>Die</strong>se «Holz-Trommel» ist chinesischen<br />

Ursprungs. Sie kann bis zu einem Meter hoch sein oder auch so<br />

klein (etwa 15 cm hoch), daß man sie auf dem Schoß halten kann.<br />

Häufig ist das Mokugyo leuchtend rot lackiert. Im Buddhismus symbolisieren<br />

Fische, da sie niemals schlafen, die Sprungbereitschaft und Wachsamkeit,<br />

die auf dem Wege zur Buddhaschaft erforderlich sind.<br />

S. 45, 276<br />

mondô (Jap.): wörtlich, «Frage-und-Antwort». Jene einzigartige Form <strong>des</strong><br />

<strong>Zen</strong>-Dialogs zwischen Meister und Schüler, bei dem der Schüler eine<br />

Frage über den Buddhismus stellt, die ihn tief beunruhigt hat, und die der<br />

Meister, indem er Theorie und Logik umgeht, in einer Weise beantwortet,<br />

die im Schüler eine Antwort aus tieferen Schichten seines Herz-Geistes<br />

hervorrufen soll. Siehe auch unter «Dharma-Gefecht».<br />

S. 140<br />

MONJU: siehe unter FUGEN und MONJU und S. 71, 272 f, 277, 307, 328.<br />

Mönch: auch Priester - denn in der japanischen Sprache gibt es keinen<br />

Unterschied zwischen den beiden religiösen Ständen. Bô-San, oder weniger<br />

respektvoll bôzu, ist die allgemeine Bezeichnung für einen ordinierten<br />

Schüler <strong>des</strong> BUDDHA. Es gibt noch zwei andere Bezeichnungen: unsui für<br />

einen Novizen in einem Kloster (siehe unter «Wolken und Wasser») und<br />

oshô-San für den leitenden Priester eines buddhistischen Tempels. <strong>Die</strong><br />

chinesischen und japanischen <strong>Zen</strong>-Meister alter Zeit und ihre Schüler, die<br />

man auf Deutsch als Mönche bezeichnen würde, waren Männer, die die<br />

Mahâyâna-Gelübde abgelegt hatten, um den Pfad <strong>des</strong> BUDDHA zu gehen,<br />

und die, unverheiratet, das einfache Leben der Wahrheitsucher führten,<br />

entweder als Mitglieder einer mönchischen Gemeinschaft oder als umherwandernde<br />

Jünger <strong>des</strong> Großen Weges. Im heutigen Japan sind es die<br />

Rôshi der <strong>Zen</strong>-Klöster und ihre Schüler, die diesem mönchischen Ideal<br />

am nächsten kommen, obgleich sich einige Verheiratete unter ihnen<br />

finden.<br />

458


Das deutsche Wort «Priester» wird gewöhnlich auf die in Tempeln ansässigen<br />

Bô San angewandt, die für die zum Tempel Gehörigen die<br />

mancherlei buddhistischen Riten vollziehen, Unterricht in der buddhischen<br />

Lehre erteilen und gelegentlich Zazen-Kurse abhalten, wenn ihr<br />

Tempel zur <strong>Zen</strong>-Sekte gehört. <strong>Die</strong>jenigen unter ihnen vom Range eines<br />

Rôshi halten in ihrem eigenen Tempel und auch anderenorts periodisch<br />

Sesshin ab, meist für Laien. <strong>Die</strong> meisten japanischen Priester sind verheiratet<br />

und leben mit ihren Familien in dem von ihrem Vater ererbten<br />

Tempel. Heutzutage verlangen weder die <strong>Zen</strong>-Sekte, noch andere japanisch-buddhistische<br />

Sekten das Zölibat von ihren Priestern, obgleich<br />

<strong>Zen</strong>-Nonnen, ob sie nun im Nonnenkloster (Jap. ni-sôdô) leben oder in<br />

ihrem eigenen Tempel, nicht heiraten dürfen. Siehe auch unter «Tempel».<br />

S. 52, 140, 142<br />

Mu (Jap.): wörtlich, «nichts», «nicht», «das Nichts», «kein» und «un- . . .».<br />

Im <strong>Zen</strong> das wato <strong>des</strong> bekanntesten Kôan. Siehe auch unter «Kôan» und<br />

«JÔSHÛ JÛSHIN».<br />

S. 38, 55, 100, 103-107, 157 ff, 300, 358 ff<br />

mudrā (Skt.): siehe unter «Tantrischer Buddhismus».<br />

mujôdô-no taigen (Jap.): wörtlich, mujô = nichts über, unübertrefflich;<br />

do = Weg; taigen — Verkörperung, Verwirklichung. <strong>Die</strong> «Verwirklichung<br />

<strong>des</strong> Unübertrefflichen-Weges» - und zwar mit dem ganzen Sein <strong>des</strong><br />

Menschen bei allen alltäglichen Verrichtungen.<br />

S. 81-83<br />

Mumon-kan (Chin. Wu-men-kuan), <strong>Die</strong> torlose Schranke: <strong>Die</strong>ses Buch mit<br />

achtundvierzig Kôans, das von dem Kompilator, dem <strong>Zen</strong>-Meister<br />

MUMON EKAI (Chin. WU-MEIN HUI-K'AI) mit Kommentaren in Prosa und<br />

Versen versehen wurde, ist neben dem Hekiganroku die bekannteste<br />

Sammlung chinesischer Kôans. Der Vers, der je<strong>des</strong> Kôan begleitet, wird<br />

im allgemeinen als gesondertes Kôan behandelt.<br />

S. 54, 104, 120, 142 12 , 171, 233 15 , 256 35 , 289 23 , 341<br />

mushinjô (Jap.): wörtlich, mu = nicht, nichts, kein, un- . . .; shin = Herz,<br />

Seele; jo = festsetzen, ein Zustand, in dem alles Denken aufhört und<br />

Geist und Seele völlig veröden. Das darf keinesfalls mit der<br />

«Abgeschiedenheit <strong>des</strong> Geistes» (Jap. mushin) verwechselt werden.<br />

S. 79<br />

459


NAKAGAWA Rôshi: siehe unter «SOEN NAKAGAWA Rôshi».<br />

NANGAKU EJÔ (Chin. NAN-YÜ HUAI-JANG): 677-774, ein hervorragender<br />

<strong>Zen</strong>-Meister der T'ang-Zeit, Schüler von ROKUSÔ ENÔ, dem Sechsten<br />

Patriarchen.<br />

s.50 f<br />

NICHIREN-Sekte: eine japanisch-buddhistische Sekte, die NICHIREN (1222<br />

bis 1282) gründete. <strong>Die</strong> NICHIREN-Gläubigen rezitieren andächtig «Namu<br />

Myôhô Renge-kyô» (Ich vertraue mich dem Sûtra <strong>des</strong> Wunderbaren-<br />

Gesetzes mit unbedingtem Glauben an), kraftvoll begleitet von ihren<br />

eigenen Trommelschlägen.<br />

S. 73 und unter «Sûtra»<br />

nirvâna (Skt.; Jap. nehan): Wesensschau <strong>des</strong> Selbst; Satori; das Erlebnis der<br />

Unwandelbarkeit, Inneren-Friedens, Innerer-Freiheit. Das Wort Nirvana<br />

wird in zwei Bedeutungen angewandt: einmal als Gegensatz zu samsâra,<br />

d. h. dem Kreislauf von Geburt-und-Tod, und zum anderen im Sinne<br />

von pari-nirvâna als Rückkehr zur ursprünglichen Reinheit <strong>des</strong> Buddha-<br />

Wesens, nach Auflösung <strong>des</strong> leiblichen Körpers, d. h. nach Rückkehr zur<br />

Vollkommenen-Freiheit eines Zustan<strong>des</strong> der Unbedingtheit.<br />

S. 53, 113 und unter «Lotus-Sûtra»<br />

Nirvâna-Sûtra (Jap. Nehan-kyô; Skt. Mahâparinirvâna-Sûtra): unter anderem<br />

enthält dieses Sûtra die letzten Worte <strong>des</strong> BUDDHA.<br />

S. 115,119<br />

Nô: das höchst verfeinerte klassische Tanz-Drama der Japaner.<br />

«Noch ein Schritt!»: ein Ausdruck, der oft vom Rôshi im Dokusan gebraucht<br />

wird, um anzudeuten, daß der Herz-Geist <strong>des</strong> Schülers einen<br />

Punkt erreicht hat, da es nur noch eines letzten Vorstoßes oder Sprunges<br />

bedarf, um zu seiner eigenen Selbst-Wesensschau zu kommen. Das ist<br />

kein definierbarer Punkt, aber ein Zustand, den der Rôshi jeweils bei<br />

jedem Einzelnen erfühlt.<br />

S. 167, 328<br />

NYOJÔ (Chin. JU-CHING): 1163-1238, jener chinesische <strong>Zen</strong>-Meister, unter<br />

dem DÔGEN ZENJI volle Erleuchtung fand: Abt <strong>des</strong> Klosters T'ien-t'ung<br />

460


(Jap. Tendô).<br />

S. 30-32<br />

NYORAI (Skt. TATHÂGATA), die Bezeichnung, die der Buddha in bezug auf<br />

sich selbst anwandte. Es bedeutet wörtlich: «Der Also-Gekommene»,<br />

wobei das «Also» oder die «Alsoheit» den erleuchteten Zustand bezeichnet.<br />

TATHÂGATA kann somit wiedergegeben werden mit «Also<br />

erleuchtet komme ich» und ist daher nicht allein auf SÂKY AMUNI, sondern<br />

auch auf andere BUDDHAS anwendbar.<br />

S. 59<br />

ÔBAKU KIUN (Chin. HUANG-PO HSI-YÜN):? - 850, einer der hervorragenden<br />

<strong>Zen</strong>-Meister der T'ang-Zeit. RINZAI war einer seiner gefeiertsten Schüler.<br />

S. 51 (Huang-Po), 406<br />

ÔBAKU-Sekte (Jap. ÔBAKU--shû): <strong>Die</strong>se <strong>Zen</strong>-Sekte wurde 1654 von INGEN<br />

in Japan eingeführt. Ihr Haupttempel, im chinesischen Stil erbaut, ist<br />

Manpuku-Ji («Der Zehntausend-Glück-Tempel») in der Nähe von Kyoto.<br />

Unter den <strong>Zen</strong>-Sekten im heutigen Japan ist ÔBAKU die am wenigsten<br />

einflußreiche.<br />

Om (Skt.): <strong>Die</strong>se heilige Silbe ist eines der wichtigsten Mantras im tantrischen<br />

Buddhismus. (Siehe die heilige Formel «Om mani padme hüm» in<br />

Grundlagen tibetischer Mystik von Lama A. GOVINDA, O. W. Barth Verlag,<br />

München, 4 1975.)<br />

S. 358<br />

PATANJALI: der angebliche Kompilator eines Buches von Yoga-Aphorismen,<br />

die Philosophie, Schûlung und Meditationsmethoden zum Gegenstand<br />

haben, die «zur Erkenntnis der Gottheit führen». Man weiß über<br />

PATANJALI so wenig, daß die Vermutungen über die Daten seines Werkes<br />

vom 4. Jh. v. Chr. bis zum 4. Jh. n. Chr. reichen.<br />

S. 345<br />

Patriarchen (Jap. sôshigata): <strong>Die</strong> Patriarchen sind die großen Meister, die<br />

Buddhas Dharma empfingen und offiziell weitergegeben haben. In Indien<br />

sind es ihrer achtundzwanzig und in China sechs, wobei BODHIDHARMA<br />

sowohl der achtundzwanzigste indische als auch der erste chinesische<br />

Patriarch ist. Der Sechste Patriarch, ROKUSÔ ENÔ, hat das Patriarchat<br />

461


niemals in aller Form an einen Nachfolger weitergegeben, und so ist es<br />

erloschen. In<strong>des</strong>sen werden die hervorragenden <strong>Zen</strong>-Meister der folgenden<br />

Generationen, sowohl der chinesischen als auch der japanischen Linie,<br />

aus Verehrung und Hochachtung für ihre großen Leistungen von den<br />

Japanern einfach als Patriarchen bezeichnet.<br />

S. 35, 46, 113 ff, 125, 137, 229, 249, 254, 258, 287, 380 f, 418 6 .<br />

preta (Skt.): siehe unter «Sechs Bereiche <strong>des</strong> Daseins» und S. 126.<br />

Priester: siehe unter «Mönch».<br />

Rad-<strong>des</strong>-Lebens (Jap. rinne; rin = das Rad; e = sich [im Kreise] drehen):<br />

von den Schriftzeichen her also wiederzugeben mit «Kreislauf», «sich<br />

drehen<strong>des</strong> Rad», wobei das im Kreislauf von Geburt-und-Tod in den<br />

Sechs Bereichen <strong>des</strong> Daseins sich drehende Rad gemeint ist. Es wird abgekürzt<br />

wiedergegeben mit «Rad-<strong>des</strong>-Lebens». Siehe auch unter «Sechs<br />

Bereiche <strong>des</strong> Daseins».<br />

S. 228, 229<br />

Reines Land: ein metaphorischer Ausdruck für die Welt der Wahrheit und<br />

Reinheit, wie sie sich in der Erleuchtung offenbart.<br />

S. 385<br />

Reine-Land-Sekte (Jap. Jôdo-shû oder Nembutsu-shû): <strong>Die</strong> zentrale Lehre<br />

der Reinen-Land-Sekten besteht darin, daß alle, die den Namen AMIDAS<br />

voller Aufrichtigkeit und mit dem Glauben an die rettende Gnade seines<br />

Gelüb<strong>des</strong> anrufen, in seinem Reinen Land <strong>des</strong> Friedens und Segens wiedergeboren<br />

werden. <strong>Die</strong> wichtigste Meditationsübung dieser Sekten ist daher<br />

das beständige Anstimmen der Worte namu Amida butsu (Ich unterwerfe<br />

mich gläubig AMIDA BUDDHA); auf Japanisch lautet diese Anrufung<br />

nembutsu (nen = Gedanke, Vorstellung, in diesem Zusammenhang: Gebet,<br />

Anrufung; butsu = Buddha).<br />

<strong>Die</strong> japanische Reine-Land-Sekte wurde 1175 von HÔNEN, einem weisen<br />

und frommen Mönch, gegründet. Sein erlauchter Schüler SHINRAN wurde<br />

seinerseits die zentrale Gestalt jener Reinen-Land-Sekte, die Jôdo-Shin-shû<br />

oder Shin-shû (Wahre-Reine-Land-Sekte) genannt wird. Siehe auch unter<br />

«Amida».<br />

RINZAI GIGEN (Chin. LIN-CHI I-HSÜAN): ?-867, der bekannte chinesische<br />

Meister der T'ang-Zeit, um <strong>des</strong>sen Lehre sich eine besondere Sekte gebildet<br />

462


hat, die seinen Namen trägt. RINZAIS Gesammelte Worte (RINZAI-roku)<br />

stellen einen Text dar, der von RINZAI-Meistern in Japan viel benutzt<br />

wird. RINZAI ist für seine anschauliche Redeweise und seine gewaltsamen<br />

Erziehungsmethoden bekannt.<br />

S. 20, 50, 242, 248, 256, 260 f und unter JÔSHÛ JÛSHIN, «katsu» und<br />

«ÔBAKU KIUN».<br />

RINZAI-Sekte: RINZAIS Lehren wurden von Eisai in Japan eingeführt. <strong>Die</strong><br />

RINZAI-Sekte ist in Kyoto, wo viele ihrer Haupttempel und -klöster<br />

liegen, besonders stark.<br />

S. 30, 84, 85 3«, 135,198, 275 9, 278 11<br />

rôhatsu-sesshin (Jap.): das Gedenk-Sesshin für BUDDHAS Erleuchtung, die<br />

sich am 8. Dezember zugetragen haben soll. Es ist das schwerste Sesshin<br />

<strong>des</strong> Jahres, nicht allein, weil es das kälteste ist, das letzte, ehe die Sesshin<br />

in den Wintermonaten aussetzen, sondern auch, weil der Rôshi und die<br />

Mönchs-Ältesten höchste Anforderungen an die Teilnehmer stellen, damit<br />

diese bei diesem Sesshin Erleuchtung finden.<br />

S. 282, 296, 297, 356<br />

rôshi (Jap.): wörtlich: verehrungswürdiger, geistlicher Lehrer oder Meister.<br />

<strong>Die</strong> traditionelle Schûlung im <strong>Zen</strong> findet unter einem Rôshi statt, der<br />

auch ein Laie, Mann oder Frau, sein kann und nicht unbedingt ein Mönch<br />

oder Priester sein muß. Aufgabe <strong>des</strong> Rôshi ist es, seine Schüler und<br />

Anhänger auf dem Wege zur Selbst-Wesensschau zu leiten und zu inspirieren.<br />

Er trachtet jedoch nicht danach, ihr Privatleben unmittelbar zu<br />

kontrollieren und zu beeinflussen.<br />

In alter Zeit ließ sich der Titel eines Rôshi nur schwer erringen. <strong>Die</strong><br />

Öffentlichkeit legte diesen Titel einem Menschen bei, der den Dharma<br />

<strong>des</strong> Buddha von innen her gemeistert hatte (d. h. durch sein eigenes<br />

unmittelbares Erlebnis der Wahrheit), der es seinem Leben einverleibt<br />

hatte und andere zu dem gleichen Erlebnis führen konnte. Zumin<strong>des</strong>t<br />

waren dazu ein reiner, standhafter Charakter und eine reife Persönlichkeit<br />

erforderlich. Um ein voll entwickelter Rôshi zu werden, waren viele<br />

Jahre der Schûlung und <strong>des</strong> Studiums erforderlich, zudem volle Erleuchtung<br />

und die Verleihung <strong>des</strong> Siegels der Bestätigung durch seinen Lehrer<br />

und danach weitere Jahre <strong>des</strong> Ausreifens mittels der «Dharma-Gefechte»<br />

mit anderen Meistern. Heutzutage sind die Maßstäbe weniger streng,<br />

aber der Titel eines Rôshi ist noch immer eine Auszeichnung, wenn er<br />

463


echtmäßig erworben wurde. Unglücklicherweise werden im heutigen<br />

Japan viele fast nur aus Hochachtung vor ihrem Alter als Rôshi angesprochen.<br />

Meister im wahren Sinne <strong>des</strong> Wortes sind selten.<br />

S. 20, 34, 42, 44 (<strong>Zen</strong>-Meister), 50 (<strong>Zen</strong>-Meister), 87 f, 104 (<strong>Zen</strong>-Meister),<br />

107 ff, 134 ff, 269 ff, 285.<br />

Ryôgon-Sûtra (Skt. Sûrangäma-Sutia.; Sûrangama = BUDDHAS große Krone):<br />

dieses tiefsinnige Sûtra, das ursprünglich im 1. Jh. n. Chr. auf Sanskrit<br />

geschrieben wurde, wird in allen Ländern <strong>des</strong> Mahâyâna-Buddhismus sehr<br />

verehrt. 1935 übersetzten BHIKSHU WAI-TAO und DWIGHT GODDARD etwa<br />

ein Drittel <strong>des</strong> Originaltextes ins Englische. <strong>Die</strong>ser Text erschien in ihrem<br />

Buch A Buddhist Bible. Unter anderem behandelt dieses Sûtra ausführlich<br />

die aufeinanderfolgenden Stufen' zum Erlangen tiefster Erleuchtung.<br />

S. 71, 91<br />

Ryutaku-Ji, «Kloster zum Drachenteich»: ein RINZAI-Kloster, das HAKUIN<br />

<strong>Zen</strong>ji gegründet hat. Es liegt außerhalb der Stadt Mishima im Bezirk<br />

Shizuoka. Der Drache mit seinen übermenschlichen Kräften symbolisiert<br />

im Osten Reinen-Geist. Der heutige Abt ist NAKAGAWA Rôshi.<br />

S. 279, 292, 301, 308, 345, 346, 354<br />

Saijôjô-<strong>Zen</strong> (Jap. sai = best..., jô = oberst..., höchst..., jô = Fahrzeug):<br />

das vorzüglichste, hervorragendste Fahrzeug. <strong>Die</strong>se Zazen-Art übten alle<br />

Buddhas. DÔGEN <strong>Zen</strong>ji empfahl sie vor allem.<br />

S. 80 f<br />

samâdhi (Skt.) (Jap. zammai oder sammai): <strong>Die</strong>ses Sanskritwort hat verschiedene<br />

Bedeutungen. Im vorliegenden Buch bezeichnet es nicht allein<br />

inneres Gleichgewicht, Ruhe und Sammlung <strong>des</strong> Geistes in einen Punkt,<br />

sondern einen Zustand intensiver, doch müheloser Konzentration, völliger<br />

Versunkenheit <strong>des</strong> Geistes in sich selbst, erhöhter und erweiterter Wachheit.<br />

Vom Standpunkt <strong>des</strong> erleuchteten Bodhi-Geistes aus sind samâdhi<br />

und Bodhi identisch. Von den Stufen aus gesehen, die zum Satori-<br />

Erwachen hinführen, sind jedoch samâdhi und Erleuchtung verschieden.<br />

S. 47,124,130, 393<br />

samsâra (Skt.): siehe unter «Geburt-und Tod».<br />

satori (Jap.): das japanische Wort für das Erlebnis der Erleuchtung, d.h.<br />

der Selbst-Wesensschau, für das öffnen <strong>des</strong> Geistigen-Auges, das Er-<br />

464


wachen zum eigenen Wahren-Wesen und damit zum Wesen alles Daseins.<br />

Siehe auch unter «Kenshô» und «daigo-tettei» und Seitenhinweise unter<br />

«Erleuchtung».<br />

Sechs Bereiche <strong>des</strong> Daseins (Jap. rokudô; roku = sechs; dô = Weg): in<br />

ansteigender Reihenfolge sind das die Bereiche: 1. der Hölle (Jap.:<br />

jigoku), 2. der preta (Skt.) (Jap. gaki = hungrige Geister), 3. der Tiere<br />

(Jap. chikushô), 4. der asura (Skt.) (Jap. shura; kämpfende Dämonen,<br />

Titanen), 5. der Menschen (Jap. ningeri) und 6. der deva (Skt.) (Jap.<br />

tenjô; himmlische Wesen). Alle Geschöpfe in diesen Bereichen unterliegen<br />

dem unaufhörlichen Kreislauf von Geburt-und-Tod, also dem Kausalgesetz,<br />

demzufolge ein Dasein in jedem dieser Bereiche durch vorangegangene<br />

Handlungen bewirkt wurde. Im Buddhismus werden diese<br />

Bereiche als die Abschnitte oder Speichen <strong>des</strong> Rad-<strong>des</strong>-Lebens dargestellt.<br />

Durch unsere Handlungen, die der Unwissenheit über das wahre Wesen<br />

<strong>des</strong> Daseins entstammen, und durch karmische Anlagen aus unermeßlicher<br />

Vergangenheit wird dieses «Rad» in Bewegung gesetzt und in Bewegung<br />

gehalten durch unser Verlangen nach Sinnesfreuden und unser Haften<br />

daran, das zu einem unendlichen Zyklus von Geburten, Toden und<br />

Wiedergeburten führt, an die wir gebunden bleiben. <strong>Die</strong> Sechs Bereiche<br />

sind die Welt der Unerleuchteten.<br />

<strong>Die</strong> Erleuchteten hingegen kennen die Freude inneren Friedens und<br />

schöpferischer Freiheit, da sie, indem sie ihre Unwissenheit und Verblendung<br />

durch Wissen überwunden haben, befreit sind von der Versklavung<br />

durch karmische Anlagen, wie sie sich aus früheren Handlungen<br />

aus Verblendung ergeben, und da sie nicht länger mehr Samen säen, die<br />

in Form neuer karmischer Bande Frucht tragen würden. Erleuchtung<br />

hebt jedoch das Kausalgesetz nicht auf. Wenn der Erleuchtete sich in<br />

den Finger schneidet, so blutet er, und wenn er verdorbenes Essen ißt,<br />

so hat er Magenschmerzen. Auch er kann den Folgen seiner Handlungen<br />

nicht entgehen. Der Unterschied liegt darin, daß er sein Karma akzeptiert<br />

- d. h. es durchschaut - und dadurch nicht länger daran gebunden<br />

ist, sondern sich frei darin bewegt.<br />

S. 114, 125 f, 228 6 , 236, 237, 240<br />

seiza (Jap.): die traditionelle japanische Sitzhaltung, bei der man kniend<br />

auf den Fersen sitzt, den Rücken gerade aufgerichtet hält.<br />

S. 300 und im 9. Kap.<br />

465


SEKITÔ KISEN (Chin. SHIH-T'OU HSI-CH'IEN) : 700-790, ein führender chinesischer<br />

<strong>Zen</strong>-Meister der T'ang-Zeit. Sein Name SEKITÔ (wörtlich: «Steinkopf»,<br />

«Steingipfel») stammt daher, daß er in einer Hütte lebte, die er<br />

sich auf einem großen, flachen Stein erbaut hatte.<br />

S. 82, 406<br />

Selbst-Wesensschau (Jap. Kenshô): «Selbst» bezeichnet das ich-lose, egolose<br />

Ich (siehe S. 44), die Wahre Wirklichkeit, die allem zugrunde liegt.<br />

«Eigener Geist» oder «Ur-Antlitz» sind andere Bezeichnungen dafür.<br />

Selbst-Wesensschau ist demnach die Schau <strong>des</strong> Eigenen Wesens, <strong>des</strong> Selbst.<br />

Siehe auch unter «Erleuchtung», «Kenshô», «daigo tettei», «satori».<br />

sesshin (Jap.): Das Schriftzeichen für die erste Silbe bedeutet hier «sammeln»,<br />

das zweite, shin (= kokoro), heißt: Herz, Geist usw. Sesshin sind Tage<br />

geistiger Sammlung, der intensiven Übung <strong>des</strong> Zazen unter einem Rôshi.<br />

<strong>Die</strong> Teilnehmer sind Mönche oder Laien oder auch Mönche und Laien.<br />

S. 31, 52, 72, 103, 135 4 , 140, 268-284, 337, 339<br />

SESSHÛ TÔYÔ: 1420-1506. SESSHÛ war nicht allein ein ausgezeichneter <strong>Zen</strong>-<br />

Mönch, der etwa zwanzig Jahre im Shôkoku-Ji verbracht hatte, einem<br />

großen <strong>Zen</strong>-Kloster in Kyoto, das auch ein Mittelpunkt von Kunst und<br />

Kultur war, sondern er wird auch allgemein als Japans bester Meister<br />

im suiboku (sui = Wasser; boku = Tusche; suiboku = Tuschmalerei) anerkannt.<br />

Das berühmte Bild von BODHIDHARMA und seinem Schüler EKA<br />

(siehe S. 115 und 273) hat SESSHÛ in seinem siebenundsiebzigsten Lebensjahr<br />

gemalt.<br />

S. 191 und unter «BODHIDHARMA»<br />

Shingon-Sekte (Skt. Mantrayâna, «wahre Worte»): <strong>Die</strong> Lehren und Übungsweisen<br />

dieser buddhistischen Sekte wurden im 9. Jh. von KÛKAI (oder<br />

KÔBÔ DAISHI, unter welchem Namen er allgemein bekannt ist) von<br />

China nach Japan gebracht. Regeln und Schûlung beim Shingon bewegen<br />

sich um <strong>drei</strong> Mittel zur Meditation: das mandala, das mantra. und die<br />

mudrâ. Siehe auch unter «Tantrischer Buddhismus».<br />

S. 46<br />

shôyo-roku (Chin. Ts'ttng-jttng-lu): ein Buch mit hundert Kôans, das von<br />

WANSHI SHÔKAKU (Chin. HUNG-CHIH CHENG-CHÛEH), einem chinesischen<br />

Sôtô-<strong>Zen</strong>-Meister von Ruf zusammengestellt wurde. Der Titel wurde vom<br />

466


Namen von WANSHIS Einsiedelei «Shôyô-an» (Einsiedelei zur Großen<br />

Heiterkeit) abgeleitet.<br />

S. 54 und unter «Kôan»<br />

shôjô-<strong>Zen</strong> (Jap.): Bei dieser Art <strong>des</strong> Zazen wird das Bewußtsein ausgeschaltet.<br />

Das führt zu mushinjô. Siehe dort und S. 79 f.<br />

Shushôgi: eine Klassifizierung von DÔGENS Shôbôgenzô gemäß den Lehren<br />

der Sôto-Sekte, die OUCHI SEIRAN, ein japanischer Priester-Gelehrter in<br />

der MEIJI-Zeit, vornahm.<br />

S. 374<br />

SÔEN NAKAGAWA Rôshi: der derzeitige Abt <strong>des</strong> Ryutaku-Ji, Mishima.<br />

S. 285, 292, 308, 309, 347, 355<br />

Sôji-Ji: einer der beiden Haupttempel der japanischen Sôtô-Sekte, 1321 von<br />

KEIZAN gegründet. Er liegt heute nahe bei Yokohama.<br />

S. 34<br />

Sôtô-Sekte (Chin. Ts'ao-tung): eine der beiden führenden <strong>Zen</strong>-Sekten in<br />

Japan; die andere ist die Rinzai-Sekte. Es gibt verschiedene Theorien<br />

über die Entstehung <strong>des</strong> Namens «Sôtô». Nach der einen stammt er von<br />

den ersten Schriftzeichen in den Namen der beiden chinesischen Meister<br />

SÔZAN HONJAKU (Chin. TS'AO-SHAN PEN-CHI) und TÔZAN RYÔKAI (Chin.<br />

TUNG-SHAN LIANG-CHIEH). Nach einer anderen Theorie soll sich das So<br />

auf den Sechsten Patriarchen beziehen, der als SÔKEI ENÔ bekannt war.<br />

<strong>Die</strong> japanische Sôtô-Sekte verehrt DÔGEN als ihren Gründer. Eihei-Ji,<br />

einer ihrer beiden Haupttempel, im Bezirk Fukui, wurde 1243 von<br />

DÔGEN unter dem Patronat <strong>des</strong> Fürsten der Provinz Echizen gegründet.<br />

Heute besteht Eihei-Ji aus einem riesigen Gebäudekomplex auf dem<br />

Grund und Boden, wo sich einst DÔGENS kleiner Bergtempel fand. Er<br />

wurde vor langer Zeit vom Feuer zerstört. In Japan übersteigt die Zahl<br />

der Sôtô-Klöster, -Untertempel und auch der Anhänger bei weitem die<br />

der Rinzai-Sekte.<br />

S. 20, 29, 33, 35 9 , 55, 81, 85, 85 36 , 191 f, 275<br />

Substanz: Im vorliegenden Buch hat es durchweg die Bedeutung von «Wahrem-Wesen»<br />

oder «Essenz» (Essentia). Es darf auf keinen Fall als irgend<br />

467


etwas Materielles aufgefaßt werden.<br />

S. 233, 234, 246<br />

Sûtra. (Skt.) (Jap. kyô): wörtliche Bedeutung dieses Sanskritwortes: Leitfaden.<br />

<strong>Die</strong> Sûtras sind die buddhistischen Schrifttexte, d. h. sie haben die<br />

Gespräche und Predigten <strong>des</strong> BUDDHA ŚÂKYAMUNI zum Inhalt. Es heißt,<br />

daß es über zehntausend geben soll; davon ist nur ein kleiner Teil ins<br />

Englische und Deutsche übersetzt worden. Der sogenannte Theravāda<br />

wurde in Pāli niedergeschrieben, das Mahâyâna in Sanskrit.<br />

<strong>Die</strong> meisten buddhistischen Sekten gründen sich auf ein besonderes Sûtra,<br />

aus dem sie ihre Ermächtigung ableiten: die Tendai- und die NICHIREN-<br />

Sekten aus dem Hokke-kyô (Lotus-Sûtra), die Kegon-Sekte aus dem<br />

Kegon-kyô (Avatamsaka-Sûtra) usw. Einzig die <strong>Zen</strong>-Sekte beruht auf<br />

keinem Sûtra, und das gibt den Meistern die Freiheit, die Schriften<br />

heranzuziehen, wie und wann sie es für richtig halten, oder sie vollends<br />

zu ignorieren. Ja, sie verhalten sich den Sûtras gegenüber nicht viel anders<br />

als ein guter Arzt Medikamenten gegenüber: er verschreibt vielleicht<br />

eines oder mehrere gegen eine bestimmte Krankheit, oder er verordnet<br />

auch gar keines. <strong>Die</strong> bekannte Feststellung, daß <strong>Zen</strong> eine besondere<br />

Überlieferung außerhalb der Schrifttexte darstellt, unabhängig von Worten<br />

und Buchstaben, heißt nur, daß nach Ansicht der <strong>Zen</strong>-Sekte die<br />

Lebendige-Wahrheit unmittelbar erfaßt werden muß und nicht auf Grund<br />

irgendeiner Autorität hingenommen werden darf, sei es selbst die der<br />

Sûtras, und noch viel weniger in leblosen intellektuellen Formulierungen<br />

oder Begriffen gesucht werden soll. <strong>Die</strong> japanischen Meister betrachten<br />

jedoch das Lesen von Sûtras nicht stirnrunzelnd, wenn der Schüler Kenshô<br />

erreicht hat und es ihm als Ansporn zu voller Erleuchtung dienen mag.<br />

S. 44 f, 52, 58, 107, 205 ff, 246, 276, 355<br />

Taihei-Ji (Tempel <strong>des</strong> tiefsten Friedens): ein Tempel, den YASUTANI RÔSHI<br />

früher innehatte.<br />

S. 355, 356<br />

TAJI Rôshi: siehe unter GENKI TAJI Rôshi.<br />

takuhatsu (Jap.): religiöser Bettelgang. Es gibt viele Arten von Takuhatsu,<br />

aber <strong>Zen</strong>-Mönche, die sich in einem Kloster schulen, gehen gewöhnlich<br />

in Gruppen von zehn oder fünfzehn. Während sie, einer hinter dem<br />

anderen, durch die Straßen der Stadt ziehen, rezitieren sie «Ho», d. h.<br />

468


Dharma. Gläubige und Wohlwollende bieten ihnen, wenn sie ihren Ruf<br />

hören, Unterstützung, entweder in Form von Geld, das sie in ihre<br />

hölzernen Schalen werfen, oder ungekochten Reis, den die Mönche in<br />

einem Stoffsack in Empfang nehmen, den sie zu diesem Zweck bei sich<br />

führen. Empfänger und Geber verneigen sich dann voreinander in<br />

wechselseitiger Dankbarkeit, in Demut und Hochachtung. Der Gedanke,<br />

auf dem das Takuhatsu beruht, ist folgender: <strong>Die</strong> Mönche, die die<br />

Wächter <strong>des</strong> Dharma sind, bieten es der Öffentlichkeit am Beispiel ihres<br />

eigenen Lebens dar, und im Austausch dafür werden sie von denen<br />

unterstützt, die an die Wahrheit <strong>des</strong> Dharma glauben.<br />

S. 309<br />

tan (Jap.): ein hölzernes Po<strong>des</strong>t, etwa einen Meter hoch und zwei Meter<br />

tief, das sich an den beiden Längswänden <strong>des</strong> <strong>Zen</strong>dô hinzieht. Am Tage<br />

sitzt man dort Zazen, und nachts schläft man darauf.<br />

S. 272<br />

TANKA (Chin. T'IEN-JAN VON TANHSIA) : ? - 824, ein <strong>Zen</strong>-Meister der T'ang-<br />

Zeit, Schüler von BASO DÔITSU. <strong>Die</strong> Episode, da TANKA eine hölzerne<br />

Buddhastatue zerschlug und als Brennholz verwandte, wird oft zitiert<br />

und häufig mißverstanden.<br />

S. 294<br />

Tantrischer Buddhismus: (auch Esoterischer Buddhismus genannt; Jap.<br />

mikkyô). Das buddhistische Tantra besteht aus Sûtras sogenannt mystischer<br />

Art, die darauf abzielen, die innere Beziehung zwischen der äußeren<br />

Welt und der Welt <strong>des</strong> Geistes zu lehren, die Identität von Geist und<br />

Universum. Unter den Mitteln, die bei tantrischen Meditationspraktiken<br />

angewandt werden, finden sich folgende:<br />

1. Mandala: <strong>Die</strong>ses Wort bedeutet «Kreis», «Versammlung» und «Bild».<br />

Es gibt verschiedene Arten von Mandala, aber die folgenden zwei sind<br />

im Esoterischen Buddhismus am üblichsten:<br />

<strong>Die</strong>se Bildkomposition zeigt die Gestalt <strong>des</strong> BUDDHA VAIROCANA (Jap.<br />

BIRUSHANA), den «All-Durchstrahlenden» im Mittelpunkt und um ihn<br />

herum in symbolischen Quadraten und Kreisen verschiedene Arten von<br />

Dämonen, Gottheiten, Buddhas und Bodhisattvas, die mannigfache Gewalten,<br />

Kräfte und Tätigkeiten darstellen.<br />

<strong>Die</strong> andere Art zeigt eine Darstellung in Form eines Diagramms, bei<br />

469


der heilige Sanskrit-Schriftzeichen (bīja = Samen) an Stelle der Gestalten<br />

stehen.<br />

2. Mantra: <strong>Die</strong>se heiligen Laute wie z. B. Om — werden vom Meister<br />

auf den Schüler übermittelt, zur Zeit der Einweihung. Es heißt, daß diese<br />

Wort-Symbole in Verbindung mit ihren Assoziationen im Bewußtsein<br />

<strong>des</strong> Eingeweihten den Geist <strong>des</strong> Schülers zu höheren Dimensionen erwecken,<br />

wenn <strong>des</strong>sen Sinn entsprechend abgestimmt ist.<br />

3. Mudrâ: Gebärden, besonders symbolische Handstellungen, die ausgeführt<br />

werden, um mit ihrer Hilfe Geisteszustände hervorzurufen, parallel<br />

zu denen von BUDDHAS und BODHISATTVAS.<br />

S. 39<br />

Teishô (Jap. tei = vorbringen, vorlegen, darbringen shô = tonaeru = rezitieren,<br />

hersagen, vortragen): Der Rôshi bringt das Teishô dem Buddha<br />

dar. Es ist keine Erläuterung, kein Kommentar im üblichen Sinn, <strong>des</strong>halb<br />

wurde «Teishô» mit «Darlegung» übersetzt. Dabei ist das Wort «Darlegung»<br />

in seinem ursprünglichen Sinn zu verstehen (darlegen, darbringen).<br />

<strong>Die</strong>se Darlegung ist frei von allem Intellektuellen.<br />

S. 92, 94, 103, 106, 107, 111, 112, 120, 130<br />

Tempel (Jap. tera, o-tera oder einem Namen nachgestellt: -dera oder -ji,<br />

wobei -Ji die andere Lesart <strong>des</strong> Schriftzeichens für Tera ist): mit dem<br />

Suffix -Ji werden sowohl Tempel wie Klöster bezeichnet. Dabei kann es<br />

sich um einen Gebäudekomplex handeln, der aus Haupthalle, Lehrhalle,<br />

dem Raum <strong>des</strong> Gründers und den Wohnquartieren innerhalb <strong>des</strong> Grundstücks<br />

besteht, das man durch ein massives Turmtor betritt. Es kann aber<br />

auch ein einzelnes kleines Bauwerk sein. Hat der Tempel auch ein sôdô,<br />

d. h. eine besondere Übungshalle zur Schûlung der Mönche unter einem<br />

Rôshi, so dürfte das deutsche Wort «Kloster» angebracht sein.<br />

Unter allen buddhistischen Sekten hält <strong>Zen</strong> allein ein authentisches<br />

klösterliches System aufrecht, nach den Grundprinzipien organisiert, wie<br />

sie HYAKUJÔ im 8. Jh. in China festgelegt hat. Einfachheit und Genügsamkeit<br />

zeichnen dieses Klosterleben aus. Ziel der Schûlung ist nicht<br />

allein Satori und damit Selbst-Erkenntnis, sondern es gilt auch, Tapferkeit,<br />

Bescheidenheit und Dankbarkeit - mit anderen Worten: einen starken<br />

Charakter - zu entwickeln. Zur klösterlichen Schûlung gehören vor<br />

allem tägliches Zazen, hier und da Sesshin, körperliche Arbeit und<br />

Takuhatsu. Bei der <strong>Zen</strong>-Sekte müssen Novizen durchschnittlich <strong>drei</strong><br />

Jahre in einem <strong>Zen</strong>-Kloster verbringen, ehe sie dazu qualifiziert sind, als<br />

470


Tempelpriester zu dienen. <strong>Die</strong> Kloster-Sesshin werden viel von Laien<br />

besucht, deren Zahl oft die der Mönche übersteigt. Unter besonderen<br />

Umständen dürfen sie als Laien-Mönche im Kloster bleiben, wobei die<br />

Länge der Zeit variiert.<br />

Tendai-Sekte (Chin. T'ien-t'ai): <strong>Die</strong> japanische Tendai-Sekte beginnt mit<br />

SAICHÔ (767-622), posthum als DENGYÔ DAISHI bekannt, der diese Lehren<br />

805 von China her einführte. <strong>Die</strong> Tendai-Lehren und -Übungen gründen<br />

sich vor allem auf das Lotus-Sûtra und auf Acht Lehren und Fünf Zeitabschnitte,<br />

jene Einteilung von BUDDHAS Lehren, wie sie von SHISHA<br />

DAISHI, dem chinesischen Gründer, vorgenommen wurde. Auf konfessioneller<br />

Ebene ist die Tendai-Sekte heute in Japan nicht sehr einflußreich.<br />

S. 85 und unter «Buddhismus», «CHISHA DAISHI» und «Sûtra».<br />

TOKUSAN SENKAN (Chin. TE-SHAN HSÜAN-CHIEN) : 782-865, einer der<br />

großen <strong>Zen</strong>-Meister der T'ang-Zeit. Er ist die zentrale Gestalt vieler<br />

Kôans. In einem dieser Kôans, dem 28. Beispiel im Mumon-kan, wird<br />

berichtet, wie er Erleuchtung fand, als sein Meister eine Kerze ausblies.<br />

S. 262<br />

TÔZAN RYÔKAI (Chin. TSUNG-SHAN LIANG-CHIEH) : 807-869, der Erste<br />

Patriarch der Sôtô-Sekte in China. Er formulierte die Fünf Grade (der<br />

Erleuchtung).<br />

Siehe dort und S. 384 f<br />

UMMON BUNEN (Chin. YÜN-MEN WEN-YEN): 864-949, ein bekannter Meister<br />

der späten T'ang-Zeit, der gleich RINZAI kräftige Worte und heftige<br />

Maßnahmen anwandte, um seine Schüler zum Selbst-Erwachen aufzurütteln.<br />

<strong>Die</strong> Umstände von UMMONS eigener Erleuchtung sind allen<br />

<strong>Zen</strong>-Schülern bekannt: UMMON wollte zu BOKUSHÛ, der später sein<br />

Meister wurde, zum Dokusan gehen und klopfte an der kleinen Seitenpforte<br />

<strong>des</strong> großen Tors an, das in BOKUSHÛS Tempel führte. BOKUSHÛ<br />

rief: «Wer da?» und UMMON antwortete: «BUNEN». BOKUSHÛ, der allen<br />

mit Ausnahme der feurigsten Wahrheitssucher Dokusan zu verweigern<br />

pflegte, erkannte an UMMONS Klopfen und dem Ton seiner Stimme, daß<br />

dieser ernsthaft um Wahrheit rang, und ließ ihn ein. UMMON war kaum<br />

eingetreten, als BOKUSHÛ, der den Zustand seines Geistes gewahrte, ihn<br />

an den Schûltern packte und ihn anherrschte: «Schnell, sag es, sag es<br />

doch!» Aber UMMON, der noch nicht begriff, konnte nicht antworten.<br />

471


Auf daß er UMMONS Geist zu dem Großen-Begreifen aufrüttle, stieß<br />

BOKUSHÛ ihn plötzlich zur halboffenen Tür hinaus und schlug sie so zu,<br />

daß er UMMONS Bein einklemmte; dabei rief er: «Du Nichtsnutz du!»<br />

Mit dem Schrei «Autsch!» fand UMMON, <strong>des</strong>sen Sinn in jenem Augenblick<br />

bar jeden Gedankens war, plötzlich Erleuchtung.<br />

Ur-Antlitz (oder Ur-Angesicht, Jap. honrai-no memmoku: honrai = ursprünglich;<br />

men = Gesicht, Antlitz, Angesicht; moku = Auge) in der<br />

Übersetzung auch wiedergegeben mit «Gesicht vor Geburt der Eltern».<br />

Das Ur-Antlitz erblicken heißt <strong>des</strong> Selbst innewerden, mit anderen<br />

Worten: zur Selbst-Wesensschau kommen, also Erleuchtung finden.<br />

Honrai-no memmoku ist ein bekanntes Kôan, übersetzt: «Was ist mein<br />

Ur-Angesicht?»<br />

S. 189, 199, 237, 250, 254, 259, 390<br />

vajra (Skt.): wörtlich «Diamant, demanten»: das Symbol höchster geistiger<br />

Kraft; als solche wird diese Kraft mit dem Edelstein von höchstem Wert,<br />

dem Diamanten, verglichen, in <strong>des</strong>sen Reinheit und Glanz andere Farbtöne<br />

reflektiert werden, während er selbst farblos bleibt, der Diamant,<br />

der alles zerschneiden, doch selbst von nichts zerschnitten werden kann.<br />

Siehe auch unter «Diamant-Schwert».<br />

S. 249, 256<br />

Verblendung (auch Täuschung und Wahn): Verblendet sein heißt vollends<br />

irregehen. Verblendung bezeichnet einen Glauben an etwas, das der<br />

Wirklichkeit widerspricht. Mit Täuschung andererseits ist gemeint, daß<br />

das Gesehene zwar objektive Wirklichkeit hat, jedoch falsch gesehen<br />

oder gedeutet wird. Im Buddhismus ist Verblendung soviel wie Nicht-<br />

Wissen, ein Nicht-Gewahrwerden <strong>des</strong> Wahren-Wesens der Dinge oder<br />

der wahren Bedeutung <strong>des</strong> Daseins. Wir werden von unseren Sinnen<br />

(einschließlich <strong>des</strong> sechsten Sinnes, <strong>des</strong> Intellekts und <strong>des</strong> diskriminierenden<br />

Denkens) verblendet, irregeführt insofern, als sie uns veranlassen, die<br />

Welt der Erscheinungen als die Ganze-Wirklichkeit anzusehen, während<br />

sie tatsächlich doch nur ein begrenzter und flüchtiger Aspekt der Wirklichkeit<br />

ist; das veranlaßt uns zu handeln, als sei die Welt außerhalb<br />

von uns, während sie doch in Wahrheit eine Projektion unserer selbst<br />

ist. Das heißt jedoch nicht, daß die relative Welt überhaupt keine Wirklichkeit<br />

hat. Wenn die Meister sagen, daß alle Phänomene trügerisch<br />

sind, so meinen sie, daß im Vergleich mit dem Geist die Welt der<br />

472


Sinneswahrnehmungen nur ein begrenzter Teilaspekt der Lebendigen-<br />

Wahrheit und somit gleich einem Traum ist. Siehe auch unter «Sechs<br />

Bereiche <strong>des</strong> Daseins».<br />

S. 40 15 , 59, 119, 123, 174, 190, 213, 235, 239, 240, 244, 249, 260, 378,<br />

386,390,412<br />

Vier Arten der Geburt (Jap. shishô): 1. Geburt durch den Schoß, 2. Geburt<br />

aus dem Ei durch Brüten, 3. Geburt aus Feuchtigkeit, 4. Geburt durch<br />

Metamorphose.<br />

S. 125 f<br />

Vier Gelübde (Jap. shiku seigan):<br />

1. Der Geschöpfe sind zahllose — ich gelobe, sie alle zu retten.<br />

2. Der Leidenschaften sind unzählige - ich gelobe, sie alle auszurotten.<br />

3. Der Dharma-Tore sind mannigfache - ich gelobe, durch alle zu gehen.<br />

4. Der Buddha-Weg ist unübertrefflich - ich gelobe, ihn zu verwirklichen.<br />

<strong>Die</strong>se Gelübde sind so alt wie der Mahâyâna-Buddhismus und gehören<br />

zu den Gelübden eines Bodhisattvas. In einem <strong>Zen</strong>-Tempel werden sie<br />

bei Beendigung der Zazen-Übung <strong>drei</strong>mal hintereinander rezitiert. Der<br />

Sechste Patriarch gibt in dem Sûtra, das seinen Namen trägt, eine tiefsinnige<br />

Deutung dafür.<br />

5. 46,112, 282 f, 337, 384<br />

Wesen (Jap. shô; im Englischen mit «nature» wiedergegeben): Der Sinn<br />

entspricht ziemlich genau dem, was Meister Eckehart mit «Wesen»<br />

bezeichnet. Der Unterschied von Natur und Wesen wird besonders klar<br />

an den Adjektiven: natürlich-wesentlich, naturhaft-wesenhaft usw. So<br />

wurde hier durchweg «Buddha-Wesen» und «Wesensschau» gesetzt.<br />

Wille (Jap. kokorozashi): BASSUI wendet dieses Wort nicht im alltäglichen<br />

Sinn an, sondern etwa so wie Meister ECKEHART. <strong>Die</strong>sem Willen eignet<br />

das Verlangen nach der Wahrheit, der Wirklichkeit; so wurde es im<br />

Englischen mit yearning übersetzt.<br />

S. 230 f, 239, 243, 258<br />

Wolken und Wasser (Jap. unsui, wörtlich = «Wolken-Wasser»): Novizen in<br />

<strong>Zen</strong>-Klöstern werden unsui genannt, und Ornamente in <strong>Zen</strong>-Tempeln<br />

zeigen oft stilisierte Wolken- und Wassermotive. Wolken bewegen sich<br />

frei, bilden sich und bilden sich um, gemäß den äußeren Umständen und<br />

473


ihrer eigenen Natur, ungehemmt von Hindernissen. «Von allen Elementen<br />

sollte der Weise das Wasser als seinen Lehrmeister wählen. Wasser ist der<br />

All-Besieger. Wasser löscht Feuer; selbst unter Druck entweicht es<br />

als Dampf und bildet sich zurück. Wasser wäscht die Erde weg, oder,<br />

durch Felsen aufgehalten, sucht es sich nebendurch einen Weg. Wasser<br />

zermürbt Eisen, bis sich solches in Staub auflöst; es sättigt die Luft,<br />

so daß der Wind erstirbt. Wasser weicht allen Widerständen in einer<br />

Art trügerischer Bescheidenheit aus, aber keine Macht kann es hindern,<br />

seiner vorbestimmten Bahn zum Meer zu folgen. Wasser siegt durch<br />

Demut; es greift niemals an und gewinnt dennoch die letzte Schlacht.<br />

Der Weise, der sich selbst wie Wasser macht, zeichnet sich durch seine<br />

Demut aus; er wirkt durch Passivität, handelt durch Nicht-Handeln und<br />

besiegt dadurch die Welt.» (TAO CHENG von NAH YEO verfaßt, einem<br />

taoistischen Gelehrten <strong>des</strong> 11. Jh.; zitiert von BLOFELD in seinem Rad<br />

<strong>des</strong> Lebens, Rascher Verlag, Zürich, 1961, S. 82 f.). <strong>Die</strong>se Tugenden von<br />

Wolken und Wasser sind die Tugenden eines vollkommenen <strong>Zen</strong>-Menschen,<br />

<strong>des</strong>sen Leben von Freiheit, Spontaneität, Bescheidenheit und innerer<br />

Kraft gekennzeichnet ist, wobei noch seine Spannkraft hinzukommt, mit<br />

der er sich wechselnden Umständen ohne Mühe und Angst anpaßt.<br />

S. 53 27 , 56 28 , 336 und unter «Mönch»<br />

wu wei (Chin.) (Jap. mu-i): <strong>Die</strong>ser umstrittene taoistische Begriff heißt<br />

wörtlich «nicht-handeln» oder «nicht-ringen» oder «nicht-machen». Das<br />

bedeutet jedoch nicht Untätigkeit oder Faulheit. Wir sollen aufhören,<br />

uns um unwirkliche Dinge zu bemühen, um Dinge, die uns blind machen<br />

für unser wahres Selbst, und statt<strong>des</strong>sen danach streben, unseren Herz-<br />

Geist zu läutern, auf daß wir zur Verwirklichûng unseres allumfassenden<br />

Buddha-Wesens gelangen.<br />

yakuseki (Jap.): «Arzneistein». So wird die letzte Mahlzeit <strong>des</strong> Tages in<br />

einem Kloster bezeichnet. Man nimmt sie in den einzelnen Klöstern zu<br />

etwas verschiedenen Zeiten ein: um 16.00, 16.30 oder 17.00 Uhr.<br />

S. 28l 15<br />

YAMA RĀJA (Jap. EMMA SAMA): in der buddhistischen und hinduistischen<br />

Mythologie der Herr und Richter der Toten, vor dem alle, die sterben,<br />

erscheinen müssen, um gerichtet zu werden. YAMA RĀJA zieht die Bilanz,<br />

indem er seinen Spiegel-<strong>des</strong>-Karma, in dem die guten und bösen Werke<br />

<strong>des</strong> Verstorbenen widergespiegelt werden, zu Rate zieht. Er schickt die<br />

474


einen in glückliche Bereiche und unterwirft andere, deren Taten vorwiegend<br />

böse waren, schrecklichen Martern. Eine dieser Foltern besteht<br />

darin, daß man eine glühend-rote Eisenkugel schlucken muß.<br />

S. 252<br />

yang und yin (Chin.) (Jap. yô-in): meistens in-yô; in der chinesischen<br />

Kosmologie das Prinzip der Polarität, also von himmlisch (yô) und<br />

irdisch (in), männlich (yô) und weiblich (in) usw.<br />

S. 70<br />

yaza (Jap.) (ya = yoru = die Nacht; za = Zazen): Zazen nach 21 Uhr, der<br />

sonst in <strong>Zen</strong>-Klöstern üblichen Schlafenszeit.<br />

S. 282<br />

yoga: Im weitesten Sinne genommen, umfaßt dieses Sanskrit-Wort den<br />

ganzen Komplex geistiger Schulungsmethoden, einschließlich der Lehren,<br />

der Körperhaltungen und Atemübungen, die darauf abzielen, Einheit (die<br />

wörtliche Bedeutung von Yoga) mit dem universellen Bewußtsein zu<br />

erzielen. In den Augen der breiten Öffentlichkeit ist Yoga synonym mit<br />

Hatha-Yoga, einem Zweig <strong>des</strong> Yoga, bei dem Nachdruck auf Körperhaltungen<br />

und Atemübungen gelegt wird, um dieses Ziel zu erreichen.<br />

Gemeinhin verbindet sich mit Yoga auch die Vorstellung von körperlicher<br />

und geistiger Gesundheit oder von übernatürlichen Kräften. Im<br />

Mahâyâna-Buddhismus wird dieses Wort hauptsächlich auf die Schulungsmethoden<br />

und Lehren der tantrischen Sekten angewandt.<br />

S. 77,185<br />

YOKA GENKAKU (Chin. YUNG-CHIÄ HSÜAN-CHÜEH): 665-713, ein großer<br />

chinesischer <strong>Zen</strong>-Meister der T'ang-Zeit, Schüler <strong>des</strong> Sechsten Patriarchen.<br />

Sein shôdôka (Sang der Erleuchtung) ist eine bekannte <strong>Zen</strong>-Schrift.<br />

S. 234<br />

zazen (Jap. za = sitzen): Zazen ist also das Sitzen im <strong>Zen</strong>, und zwar in<br />

geistiger Sammlung, in Versenkung.<br />

Siehe unter:<br />

beseitigt Angst S. 59 - keine Askese S. 270 - Argumente gegen S. 49 f -<br />

und Atmung S. 37,63 - und Aufmerksamkeit S. 36 - und Augen S. 62,270 -<br />

in Bewegung S. 37 - kein Anhalten <strong>des</strong> Bewußtseins S. 64 - und BUDDHAS<br />

Erleuchtung S. 58 f - DÔGENS Ansicht über- S. 34 f - Einzigartigkeit von-<br />

475


S. 39 - nach Erleuchtung S. 266 ff, 384, 394 - und Essen S. 70, 270 - und<br />

Gebote S. 41 - für Gesundheit S. 76, 99 und Jôriki S. 81 f, 279 - und<br />

Kôan S. 38, 184 - und Körper-Geist Gleichgewicht S. 40 - keine Meditation<br />

S. 39 - mehr als Mittel zur Erleuchtung S. 49, 80 - moralische<br />

Verantwortung S. 42 - wandelt Persönlichkeit S. 42 - Schlacht zwischen<br />

Verblendung und bodhi S. 40 - während Schwangerschaft S. 193 f - auf<br />

Stuhl S. 62, 422, 426 - und Tageszeit S. 68 f - Theorie nicht wesentlich<br />

S. 57 - «Torweg zu vollkommener Befreiung» S. 35 - unentbehrlich<br />

S. 394 - Vergegenwärtigung <strong>des</strong> Wahren Wesens S. 49, 80, 185 - und<br />

Wirbelsäule S. 63 - und Zeitbegriffe S. 95.<br />

zazen-kai: ein eintägiges Treffen von <strong>Zen</strong>-Anhängern, um Zazen zu üben,<br />

die Darlegung eines Rôshi zu hören und zum Dokusan zu gehen.<br />

S. 54, 339, 341<br />

Zazen Yôjinki: Vorkehrungen, die beim Zazen zu beachten sind. <strong>Die</strong>se sehr<br />

bekannte Schrift über das Üben von Zazen wurde im 14. Jh. von KEIZAN<br />

<strong>Zen</strong>ji, einem der Patriarchen der japanischen Sôtô-Sekte verfaßt.<br />

S. 70, 73<br />

Zehn böse Werke: 1. töten, 2. stehlen, 3. Ehebruch begehen, 4. lügen, 5. unmoralische<br />

Worte gebrauchen, 6. klatschen, 7. verleumden, 8. begehren,<br />

9. dem Ärger freien Lauf lassen und 10. falsche Ansichten hegen. Siehe<br />

auch «Fünf Todsünden».<br />

S. 229<br />

Zehn-Weltrichtungen (Jap. jippô): Sie umfassen den ganzen Kosmos. Abgesehen<br />

von den Welten der Himmelsrichtungen Nord, Süd, Ost, West<br />

und den vier Richtungen dazwischen (NO, NW, SO, SW) schließen sie<br />

auch den <strong>Zen</strong>it und den Nadir ein, so daß sich zehn Weltrichtungen<br />

ergeben.<br />

S. 232, 240, 244<br />

<strong>Zen</strong>: eine Abkürzung <strong>des</strong> japanischen Wortes zenna, das die Übertragung<br />

<strong>des</strong> Sanskritwortes dhyâna, bzw. <strong>des</strong> chinesischen ch'an oder ch'anna<br />

bedeutet und den Vorgang der Konzentration und Versunkenheit bezeichnet,<br />

durch welchen der Sinn beruhigt und zu geschlossener Sammlung<br />

gebracht wird. Als Sekte <strong>des</strong> Mahâyâna-Buddhismus ist <strong>Zen</strong> eine Religion,<br />

476


deren Lehren und Praktiken darauf gerichtet sind, zur Selbst-Wesensschau<br />

hinzulenken, also zu Satori zu führen, wie es ŚÂKYAMUNI BUDDHA<br />

selber nach äußerst anstrengender Selbst-Schûlung unter dem Bô-Baum<br />

erlebte. <strong>Die</strong> <strong>Zen</strong>-Sekte umfaßt <strong>drei</strong> Sekten: Sôtô, RINZAI und ÔBAKU.<br />

<strong>Zen</strong>dô oder sôdô (Jap.): eine große Halle oder ein Raum - in Klöstern ein<br />

besonderes Bauwerk -, in dem Zazen geübt wird. Der Fußboden besteht<br />

gewöhnlich aus Beton oder Schieferplatten, so daß es im Sommer kühl,<br />

im Winter kalt ist.<br />

S. 269<br />

zenji (Jap.): die zweite Silbe dieses Wortes ist die Laut-Übertragung von<br />

«shi», was Lehrer oder Meister bedeutet (Chin. tze). Das ganze Wort hat<br />

die Bedeutung: großer oder berühmter <strong>Zen</strong>-Meister. <strong>Die</strong>ser Titel wird im<br />

allgemeinen posthum erteilt, aber einige Meister erhielten diese Auszeichnung<br />

bereits zu Lebzeiten.<br />

477


Nachwort zur deutschen Übersetzung<br />

Bei der Übersetzung <strong>des</strong> englischen Textes ins Deutsche wurden die<br />

japanischen Originale soweit als möglich und erforderlich herangezogen.<br />

Solch ein Vergleich erübrigte sich beim 1. und 2. Kapitel, da<br />

ich als Schülerin von YASUTANI Rôshi mit <strong>des</strong>sen Ausdrucksweise<br />

einigermaßen vertraut bin und den Inhalt dieser Kapitel <strong>des</strong> öfteren<br />

von ihm oder seinen langjährigen Schülern auf japanisch gehört<br />

habe. Beim 3. Kapitel war ein Vergleich gar nicht möglich, da diese<br />

Dokusan-Gespräche nirgends sonst vorliegen. Alle Stellen, die nicht<br />

völlig eindeutig waren, konnten zudem im Gespräch mit dem Herausgeber<br />

geklärt werden, ehe er in die USA übersiedelte. Ich bin<br />

Herrn PHILIP KAPLEAU herzlich dankbar für seine großzügige Unterstützung.<br />

<strong>Die</strong> Schriften von BASSUI <strong>Zen</strong>ji, 4. Kapitel, und die Texte der «Zehn<br />

Ochsenbilder», 8. Kapitel, wurden neu aus dem Japanischen übersetzt,<br />

da es auch für einen mit der Materie vertrauten Übersetzer fast<br />

unmöglich ist, den treffendsten Ausdruck zu finden, ohne von den<br />

Originalen auszugehen. Altjapanische <strong>Zen</strong>-Texte sind jedoch selbst<br />

für literarisch gebildete Japaner schwer verständlich, und so gingen<br />

die Anforderungen weit über meine Sprachkenntnisse hinaus. Ohne<br />

die unermüdlichen Belehrungen und Kontrollen durch YAMADA<br />

KYÔZÖ Rôshi wäre eine völlig sinnentsprechende Übertragung gar<br />

nicht möglich gewesen. YAMADA Rôshi war es auch, der einige besonders<br />

schwierige Stellen im 7. Kapitel, dem Ausschnitt aus DÔGEN<br />

<strong>Zen</strong>jis Schriften, für mich klärte. In diesen Gesprächen erhielt ich<br />

jedoch weit mehr als nur eine Klärung <strong>des</strong> Textes. Ich bin froh, daß<br />

ich an dieser Stelle YAMADA Rôshi einmal in aller Form meine tiefe<br />

Verehrung und Dankbarkeit aussprechen kann.<br />

Aber bei der Übersetzung wirkten noch andere wesentlich mit: So<br />

half mir Frau KYÔKO SATÔ voll größter Hilfsbereitschaft. Sie arbeitete<br />

als erste die BASSUI-Texte und die der «Zehn Ochsenbilder» mit<br />

mir durch, klärte mich über Druck- und Lesefehler, manch alte<br />

Schriftzeichen oder Redewendungen auf. Ihre anschaulichen Wort-<br />

478


Erklärungen auf japanisch haben mir die Arbeit sehr erleichtert, und<br />

ich bin Frau SATÔ von Herzen dankbar dafür.<br />

Professor MASAAKI SATÔ half in freundlichster Weise beim Lesen der<br />

Kanbun-Texte 1 der «Zehn Ochsenbilder». Hier und da erhielt ich<br />

auch wertvolle Hinweise von Professor JUNZÔ KARAKI. Beiden Herren<br />

gehört mein aufrichtiger Dank.<br />

Hier möchte ich auch Dr. MASAMICHI YAMADA, dem Sohn von<br />

YAMADA Rôshi, dafür danken, daß er sich noch in den Wochen vor<br />

seiner Abreise zur Harvard-Universität, USA, die Zeit nahm,<br />

schwierige Stellen im BASSUI-Text mit mir durchzuarbeiten. Er ist<br />

der einzige meiner vielen Helfer, der fließend Englisch spricht.<br />

Beim 5. und 6. Kapitel wurden die japanischen Texte nur stellenweise<br />

zu Rate gezogen. <strong>Die</strong> japanischen Erlebnisberichte im 5. Kapitel<br />

und ebenso die Briefe von YAEKO IWASAKI sind in einfachem heutigem<br />

Japanisch abgefaßt, so daß sie der Übersetzung keine wesentlichen<br />

Schwierigkeiten bieten und die englische Fassung großenteils<br />

glatt ins Deutsche übertragen werden konnte. <strong>Die</strong> Anmerkungen von<br />

HARADA Rôshi im 6. Kapitel wurden jedoch alle mit dem Original<br />

verglichen.<br />

Bei der Angabe der chinesischen Namen im Wörterverzeichnis<br />

belehrte mich die Sinologin Dr. BARBARA YOSHIDA-KRAFFT über die<br />

gebräuchlichen Umschriften. Sie war es auch, die einige Abschnitte<br />

<strong>des</strong> Manuskripts auf ihre Allgemeinverständlichkeit hin durchlas -<br />

eine Hilfe, die ich dankbar anerkenne.<br />

Mein Dank gehört auch all jenen, die durch Beschaffen von Büchern,<br />

die es im Buchhandel nicht gibt, die Arbeit gefördert haben.<br />

Meinem hochverehrten Lehrer, HAKUUN YASUTANI Rôshi, gebührt<br />

ein Dank besonderer Art. Er hat mit der Übersetzung unmittelbar<br />

zwar nichts zu tun, mittelbar jedoch umso mehr. Hätte er mich nicht<br />

vor Jahren als Schülerin angenommen und geduldig geschult, so wäre<br />

mein Verständnis <strong>des</strong> Textes um vieles mangelhafter gewesen. Heute<br />

ist YASUTANI Rôshi 84 Jahre alt; dabei belehrt und führt er Menschen<br />

aus Ost und West mit immer gleicher Intensität und Geduld.<br />

1. Kanbun ist Chinesisch, das von den Japanern nach ihrer eigenen Art abgeändert<br />

wurde. Es unterscheidet sich beträchtlich von dem heutigen Japanisch.<br />

479


Ein Wort kann Europäer zu Mißverständnissen führen: Konzentration.<br />

Es handelt sich dabei nicht um jene Konzentration, mit<br />

der wir eine wissenschaftliche Arbeit betreiben, sondern um Versenkung<br />

etwa jener Art, mit der sich ein Künstler in sein Werk vertieft.<br />

Doch gibt es hier kein Werk; es gibt nur den Eigenen Geist.<br />

Es ist zu hoffen, daß das Buch auch in seiner deutschen Fassung dem<br />

einen oder anderen ein wenig hilft, sich in solcher Versenkung zu<br />

üben und schließlich zu seinem Wahren Wesen zu erwachen.<br />

Kamakura<br />

Mai 1968 <strong>Die</strong> Übersetzerin

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